Liebe steht über dem Gesetz - Sandy Alvarez - E-Book

Liebe steht über dem Gesetz E-Book

Sandy Alvarez

4,0

Beschreibung

In ihrer Heimat Kuba führte Leyna Martinez ein schweres Leben. Doch nichts konnte sie auf das vorbereiten, was ihr in der Gewalt des Menschen- und Drogenhändlers Miguel Santino bevorsteht. Der Auftrag an FBI-Agent Alexander "Lex" Taylor lautet: Miguel Santino zur Strecke bringen und Leyna Martinez retten. Ein Blick auf Leyna. Das ist alles, was Lex braucht, um zu wissen, dass Leyna ihm gehört. Doch Leynas und Lex' Gefühle füreinander werden auf eine harte Probe gestellt. Es taucht nicht nur eine Person aus Lex' Vergangenheit wieder auf, sondern auch Leynas Bruder Gabriel, gesetzesloses Mitglied des Kings of Retribution MC, akzeptiert nicht, dass Leyna einen Mann liebt, der der Feind des Clubs ist und immer sein wird. Leyna muss beweisen, dass sie beiden Seiten gegenüber loyal ist und kann nur hoffen, dass ihr Bruder sich besinnt, bevor es zu spät ist. Lex bringt Kriminelle, die Ratten der Gesellschaft, zur Strecke. Er isst, schläft und atmet das Gesetz. Aber er ist bereit, alles zu riskieren - sein Dienstabzeichen und sogar sein Leben - um Leyna für sich zu gewinnen und sie vor dem Bösen zu beschützen. Ein Spinoff-Roman der Kings of Retribution MC-Reihe der beiden USA Today-Bestsellerautorinnen. Crystal Daniels und Sandy Alvarez entführen euch in eine fesselnde Welt voller Emotionen und Leidenschaft, die zeigt, dass die Liebe stärker ist als jedes Gesetz. "Liebe steht über dem Gesetz" spielt zeitlich nach "Kings of Retribution MC Teil 2: The Darkest of Light", kann als Einzelroman aber unabhängig davon gelesen werden.

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Crystal Daniels & Sandy Alvarez

Liebe steht über dem Gesetz

Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Paula Baker

© 2019 by Crystal Daniels & Sandy Alvarez unter dem Originaltitel „Love Above Law“

© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg

(www.art-for-your-book.de)

ISBN Print: 978-3-86495-654-6

ISBN eBook: 978-3-86495-655-3

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch oder Ausschnitte davon dürfen ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers nicht vervielfältigt oder in irgendeiner Weise verwendet werden, außer für kurze Zitate in einer Buchbesprechung.

Dieses Werk ist frei erfunden. Die Personen, Orte und Handlungen in diesem Buch sind fiktiv und entspringen der Fantasie des Autors. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Autorinnen

Kapitel 1

Lex

Arbeiten. Essen. Schlafen. Und das Gleiche wieder von vorne. Genau so schaut die ganze Woche aus, seit ich diesen Fall zugewiesen bekommen habe. Das FBI hat versucht, genug Beweise zu sammeln, um Miguel Santino festzunageln – einen Schandfleck unserer Gesellschaft. Er schmuggelt Menschen und Drogen in und aus unserem Land und schlüpft dem Gesetz dabei seit mehreren Jahren durch die Finger. Ich habe unzählige Stunden damit verbracht, jede Akte über ihn zu durchforsten, seine Vorgehensweise zu studieren, seinen Kontakten im In- und Ausland nachzugehen. Dieser Typ hat auf der ganzen verdammten Welt Kakerlaken, die für ihn arbeiten. Ich werde alles tun, damit dieses Stück Scheiße gefasst wird. Die abscheulichen Dinge, an denen er beteiligt war, widern mich an. Menschen wie er sollten nicht auf dieser Erde wandeln dürfen.

Ich fahre mir mit der Hand über mein unrasiertes Gesicht und seufze vor Müdigkeit. Es war eine verflucht lange Woche und ich würde nichts lieber tun, als nach Hause fahren, ein paar Bier zischen und möglicherweise sogar das Ende des Football-Spiels sehen – stattdessen bin ich auf dem Weg in Richtung meines Elternhauses in einem Vorort von Tacoma. Ich habe eine große Familie mit einhundert Prozent italienischen Wurzeln mütterlicherseits. Jeden Sonntag kochen meine Mutter und meine Schwestern Abendessen für alle. Würde ich auch nur versuchen, dem einmal zu entfliehen, würde ich das bis an mein Lebensende zu hören bekommen. Es ist nicht so, dass ich meine Familie nicht liebe – das tue ich. Wir stehen uns nahe. Das Problem ist, dass sie keine Grenzen kennen.

Mein Telefon klingelt. Ich tippe auf den Bildschirm am Armaturenbrett, um den Anruf anzunehmen und die Stimme meiner Schwester ertönt im Auto, während ich durch die geschäftigen Straßen fahre, um die Skyline von Seattle hinter mir zu lassen.

„Hey, Lex“, sagt Fran sanft am anderen Ende der Leitung.

„Was läuft, Schwesterherz? Du klingst so müde wie ich mich fühle.“

Sie seufzt. „Ja, es war ein langer Tag. Hör zu, ich habe vergessen, Wein zu besorgen und ich muss noch die Kinder beim Babysitter abholen, bevor ich zu Mum und Dad fahre. Könntest du unterwegs welchen besorgen?“

Bei dem Gedanken, in der Stadt anhalten zu müssen, erschaudere ich innerlich. „Ich kümmere mich darum.“ Ich werfe einen Blick auf die Uhr. „Ich sollte in einer halben Stunde da sein, wenn der Verkehr so bleibt.“

„Danke, Lex. Bis gleich.“

Ich beende den Anruf und setze meine Fahrt in Gedanken versunken fort. Dieser Fall ist nicht nur ein großes Ding für meine Abteilung, sondern auch für mich persönlich. Ich habe an vielen Fällen gearbeitet seit ich beim FBI bin. Die meisten davon hatten mit Menschenhandel zu tun und bei fast allen habe ich geholfen, die Scheißkerle hinter den Verbrechen auch zu fassen. Ich bin gut in dem, was ich tue. Mich in die Psyche von Verdächtigen hineinzuversetzen sowie ihre Gedankengänge und Vorgehensweisen zu analysieren ist mittlerweile eine meiner größten Stärken. Die Kehrseite davon ist die Einsamkeit, die meine Arbeit mit sich bringt. Die kennen alle von uns. Wenn wir nicht vorsichtig sind, drängt sich der Job in alle Aspekte des täglichen Lebens. Das bedeutet: So müde ich auch bin und so sehr mich das Arbeitspensum dieser Woche überrannt hat, ich bin dankbar für die Sonntage mit meiner absolut verrückten Familie. Sie helfen mir, nicht den Kopf zu verlieren, wenn ich mich einfach nur vor allem und jedem zurückziehen möchte.

Der Spirituosenladen kommt in Sichtweite und ich lenke meinen größten Stolz in eine Parklücke. Ich fahre einen schwarzen 1968er Chevy Camaro SS mit einem aufgebohrten 390er-Big-Block-Motor. Wenn ich Dampf ablassen möchte, entführe ich meinen Wagen an einen abgelegenen Ort und drehe richtig auf.

Ich steige aus meinem Auto und gehe in den Laden.

„Verdammt, dich habe ich ja schon ewig nicht mehr zu Gesicht bekommen, Lex. Wie behandelt dich die Stadt?“, begrüßt mich der Besitzer Frank, als ich am Tresen vorbei zur Weinabteilung auf der rechten Seite gehe. Frank ist ein guter Kerl. Er ist ungefähr so alt wie mein Dad und ich kenne ihn seit meiner Kindheit.

„Diese Woche hat sie mich zerkaut und wieder ausgespuckt.“ Ich stelle zwei Flaschen Rotwein auf den Tresen und ziehe meine Geldbörse aus der Gesäßtasche, während er lacht.

„War schön, dich wieder einmal gesehen zu haben. Pass auf dich auf.“

Frank packt meinen Einkauf in eine Tüte, während ich meine Kreditkarte wieder in die Geldtasche stecke.

„Du auch“, erwidere ich und verlasse den Laden. Ich bleibe abrupt stehen, als ich ums Eck des Gebäudes gehe, wo mein Wagen steht. Auf der Motorhaube meines Autos sitzt meine Ex. Sie ist der Grund, warum ich es vermeide, irgendwo auf dem Weg zu meinem Elternhaus anzuhalten. Mit müden, schweren Füßen trotte ich an ihr vorbei zur Fahrertür, um den Schlüssel ins Schloss zu stecken und aufzusperren.

„Das FBI scheint dich gut zu bezahlen.“ April streichelt über die Motorhaube meines Wagens und schlendert auf meine Seite, um neben mir stehenzubleiben. Ihr Parfüm drängt sich in meine Sinne. Ich habe diesen Geruch geliebt.

„April.“ Ihr Name ist das einzige Wort, das ich hervorbringe und es hinterlässt einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge. Sie greift nach meinem Arm, aber ich weiche ihrer Berührung aus, blockiere sie, indem ich die Tür öffne. Ich bin ihr schon lange nicht mehr über den Weg gelaufen. Sie scheint sich nicht wirklich verändert zu haben. Ihr Haar hat ein etwas helleres Blond, aber das ist auch schon alles. Früher einmal habe ich sie für die schönste Frau überhaupt gehalten – bis sie ihr wahres Gesicht gezeigt hat. Ich schaue wieder in ihre Richtung.

„Wir haben uns lange nicht gesehen. Du siehst gut aus“, flirtet sie mit mir und Wut beginnt in meinem Bauch zu brodeln. „Ich vermisse uns – ich vermisse dich, Lex.“

Ich steige in meinen Wagen, lege die Papiertüte auf den Beifahrersitz und blicke April an. „Du hast deine Wahl getroffen“, sage ich und schlage die Autotür zu. Der Motor dreht auf, als ich aufs Gaspedal trete, um April dazu zu bringen, auf den Bürgersteig vor mir zurückzutreten. Ihr Blick wirkt plötzlich verärgert und wegen meiner Zurückweisung kreuzt sie die Arme über ihren kleinen Brüsten. Das Letzte, was ich nach so einer Woche gebrauchen kann: Dass meine Vergangenheit an die Oberfläche kommt. Das ist alles, woran ich denken kann, als ich den Parkplatz verlasse und durch meinen Rückspiegel noch einen Blick darauf erhasche, wie sie dort immer noch steht.

Mein ganzes Leben lang wollte ich immer nur die gleiche Uniform tragen wie mein Vater und sein Vater vor ihm. Ich wollte Polizist sein. Meine gesamte Familie ist tief verwurzelt im Gesetz. Mein Urgroßvater väterlicherseits war der Erste in der Familie, der eine Dienstmarke sein Eigen nennen durfte. Danach mein Opa und seine zwei Brüder und mein Vater gemeinsam mit seinen drei Brüdern. Drei Generationen von großartigen Männern haben vor mir der Gesellschaft ihren Dienst erwiesen.

Der Vater meiner Mutter und ihr Bruder sind auch in der Strafverfolgung tätig. Mein Onkel absolvierte mit meinem Vater die Polizeiakademie und dort lernte er dann meine Mum kennen. Ich wusste bereits im Alter von sechs Jahren, dass ich genau wie sie alle sein wollte.

Meine Gedanken landen bei Chris. Chris Parker war seit der fünften Klasse mein bester Freund gewesen. Wir haben alles gemeinsam gemacht. Im Football glänzten wir während unserer gesamten Schulkarriere. Ich war der Quarterback der Bayview Eagles – von der siebten Klasse bis zu meinem Abschluss. Chris hielt mir als Left Tackle für sechs Jahre den Rücken frei. Ich hätte die Möglichkeit gehabt, am College weiter Football zu spielen. Man bot mir ein volles Stipendium an, aber Football war nie das gewesen, was ich für den Rest meines Lebens tun wollte. Eine Karriere mit einer Dienstmarke – das war immer mein Herzenswunsch. Gleich nach der Highschool sind mein bester Freund und ich auf die Akademie gegangen.

Und dann war da noch April Moretti – wunderschön, groß, blonde Haare, braune Auge. Wir gingen seit meinem ersten Jahr an der Highschool mit vierzehn miteinander aus. Das typische „Cheerleader-und-Footballspieler-Pärchen“, aber ich habe sie geliebt. Wie Chris wusste sie von meinem Traum, Polizist zu werden und unterstützte mich bei jedem Schritt auf diesem Weg. Der Abschluss an der Akademie war einer der stolzesten Momente meines Lebens. Ich hatte es geschafft. Ich war Polizist und all meine liebsten Personen waren in diesem Moment bei mir, um mich zu beglückwünschen. Gemeinsam mit meinem besten Freund wurde ich auf dem lokalen Polizeirevier in unserer Heimatstadt zum Dienst eingeteilt.

April schrieb sich am College ein, strebte einen Abschluss in Modedesign an, aber ein Jahr später hörte sie auf, um einen Modeljob bei einem Designer in Seattle anzunehmen. Alles lief gut. Ich liebte den Streifendienst und teilte mir eine Wohnung mit April. Nach ein paar Jahren wollte ich mehr aus meiner Karriere machen und beschloss, die Idee zu verfolgen, für das FBI zu arbeiten. Das bedeutete, in Vollzeit wieder die Schulbank zu drücken. Ich studierte vier Jahre, um meine Diplome für Strafrecht und Fremdsprachen zu erlangen. Ich rackerte mir den Arsch ab, um einen Notenschnitt zu erreichen, mit dem ich mich für das Praktikum beim FBI qualifizieren konnte. Letztendlich habe ich dort meine Berufung gefunden. Genau hier gehöre ich hin.

Bevor das Training in der FBI-Akademie begann, plante ich einen Heiratsantrag für April. Unsere Karrieren starteten durch und es schien einfach der nächste Schritt in unserem gemeinsamen Leben zu sein. Chris half mir bei der Überraschung. Ich führte sie ins Restaurant in der Spitze unseres Aussichtsturms, der Space Needle, aus. Unsere Familien waren dort, um mitzuerleben, wie ich vor ihr auf die Knie ging und sie Ja sagte. In der folgenden Woche ging ich fort, um zwanzig Wochen hartes FBI-Training auf der Akademie durchzuziehen – ein Training, das die Polizeiakademie wie ein Kinderspiel wirken ließ. Aber ich stellte mich der Herausforderung mit aller Hingabe. Ich gab alles – entschlossen, Jahrgangsbester zu werden.

Rückblickend hätte ich die Zeichen erkennen müssen. Ich war so auf mein Ziel fokussiert, dass ich es nicht habe kommen sehen. Ich hätte nie und nimmer geglaubt, dass gerade die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben mir den Boden unter den Füßen wegziehen würden.

Nach drei Wochen Training war es uns erlaubt, unsere Familien zu besuchen. Ich beschloss, April zu überraschen. Am späten Nachmittag kam ich zu Hause an. Mit Blumen in der einen und Essen von ihrem Lieblingschinesen in der anderen Hand, schloss ich die Tür zu unserer Wohnung auf und trat ein. Nach nicht einmal einer Sekunde hörte ich Aprils Stöhnen. Ein Geräusch, das sie nur von sich gab, wenn wir Liebe machten. Mein Herz rutschte mir in die Hose.

Mein Griff um das Lenkrad wird fester, als ich an einer roten Ampel stehe und zulasse, wie mich meine Erinnerungen quälen.

Ich wusste, was mich erwarten würde, als mich meine Füße durch das Wohnzimmer trugen. Ich zögerte einen Moment, als ich dort stand, die Hand auf den Knauf gelegt. Gequält öffnete ich die Tür zu unserem Schlafzimmer. Ich sah, wie die Körper sich unter den Laken bewegten. Ich stand da, senkte meinen Blick für einen Moment auf den Boden. Ein Keuchen ließ mich wieder aufschauen. Ich blickte in Aprils braune Augen. Sie schaute schockiert zu dem Mann auf, der über ihrem Körper schwebte. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, aber sein Hinterkopf kam mir bekannt vor. Die Haarfarbe. Der Haarschnitt. April schaute wieder zu mir. Ihr Blick war emotionslos. Kein Zeichen der Reue über das, was sie tat. Dann drehte sich der Kopf des Mannes und er sah in meine Richtung. Mein bester Freund – Chris.

Es hätte sich schmerzhafter anfühlen sollen, dass die Frau, die ich liebte, mich betrogen hatte, aber das tat es nicht. Mich verletzte viel mehr die Tatsache, dass mein bester Freund, mein Partner, mein Bruder mir in den Rücken gefallen war, mir einen Dolchstoß versetzt hatte. Am Ende kann man sich die Frage stellen, was das über die Beziehung von April und mir aussagte. Ich verließ sie an diesem Tag, ohne auch nur ein Wort zu einem der beiden zu verlieren und blickte nie zurück.

Kopfschmerzen setzen ein, als ich in die Straße einbiege, wo meine Eltern wohnen. Als ich in die Einfahrt meines Elternhauses fahre, versuche ich den ganzen Mist abzuschütteln, schnappe mir den Wein und laufe zur Eingangstür. In dem Moment, in dem ich das Haus betrete, hüllen mich die Gerüche des Sonntagsdinners ein und ich spüre, wie ich mich ein bisschen entspanne. Ich finde meinen Dad an seinem Stammplatz – ein Lehnstuhl vor dem Fernseher, in dem gerade das Footballspiel läuft, während mein Großvater in seinem Lieblingsstuhl neben dem Fenster ein Nickerchen hält.

„Wer gewinnt?“ Ich bleibe stehen und beobachte, wie der Kicker des gegnerischen Teams den Field Goal, einen Spielzug, bei dem er den Ball durch das „Goal“ treten muss, versemmelt.

„Wir, wir führen mit einem Touchdown und haben immer noch vierzig Minuten zu spielen. Schnapp uns beiden ein Bier, nachdem du bei deiner Mum warst und schau den Rest des Spiels mit mir.“ Er löst seinen Blick erst vom Fernseher, nachdem er eine Schimpftirade auf einen der Schiedsrichter für eine Entscheidung gegen unser Team losgelassen hatte. „Diese verdammten Schiedsrichter pfeifen bereits das ganze Spiel einen Blödsinn gegen unser Team. Du siehst müde und genervt aus. Arbeit?“ Seine Beobachtungsgabe meine Laune betreffend ist meistens korrekt. Er kennt mich in- und auswendig, es nützt also nichts, ihn anzulügen.

„Ein neuer Fall. Ich hole uns zwei Bier, dann setz ich mich zu dir“, sage ich zu ihm. Mein Vater schweigt, als ich mich umdrehe und in Richtung Küche gehe.

„Stibitz eins der Cannoli für mich, okay?“ Mein Dad versucht zu flüstern, damit ihn meine Mum nicht hört.

Sobald ich die Küche betrete, stürzt sich meine kleine Schwester Lily auf mich. „Lex!“

Ich umarme sie. „Hey, Kleines.“

Sie tritt zurück, sieht mich an und rümpft ihre Nase. „Was ist los?“ Alle meine Schwestern unterbrechen sofort ihre Tätigkeit und schenken mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Großartig. Lass sie deine Angst nicht wittern. Ich bin das älteste von fünf Kindern und habe vier Schwestern. Francesca, Viola, Ariana und Lily.

Die Frauen in dieser Familie haben einen sechsten Sinn für Dinge, die sie nichts angehen. Und wissen sofort, wenn du versuchst, ihnen Scheiße zu erzählen. Ihre Verhörtaktiken sind besser als meine. Sie geben nicht auf, bis du einknickst. Ich stelle den Wein auf der Arbeitsplatte gleich neben den Cannoli ab und will mir gerade eins schnappen, als mich meine Mum stoppt. „Raus mit der Sprache, wenn du dieses Cannolo willst.“

Verdammt. Will ich es so unbedingt haben? Ist es das wert, damit ich eins für meinen Dad schnappen kann? „Ich bin April über den Weg gelaufen, als ich bei Frank war.“

„Diese Bitch“, murmelt meine Schwester Vi undeutlich, während sie das Essen aus dem Ofen nimmt.

„Soll ich mich um die Schlampe kümmern?“, fragt Ari, ohne die Augen von ihrem Smartphone zu nehmen.

Ich muss lachen. „Und was planst du zu tun?“

Sie zuckt mit den Schultern. „Je weniger du weißt, umso besser.“

Ich drehe mich um, öffne den Kühlschrank und nehme mir ein paar Flaschen Bier. Ich verstehe, dass meine Schwestern April verabscheuen – für das, was sie mir angetan hat. Bei ihnen lautet die Devise: Verletzt du meine Familie, gibt es keine zweite Chance. Ich höre, wie die Eingangstür geöffnet wird. Sekunden später stürmen mein Neffe Luca und meine Nichte Emma in die Küche. Meine Mum drückt beiden etwas Süßes von der Anrichte in die Hände, küsst sie auf die Stirn und die beiden verschwinden so schnell wie sie gekommen sind.

„Ich muss also mein Herz ausschütten, um etwas zu essen zu bekommen und diese kleinen Scheißer kriegen es einfach so?“ Ich öffne mein Bier und nehme einen Schluck. Meine Mum sieht mich an, antwortet aber nicht. Das ist auch gar nicht nötig. Ihr Haus, ihre Regeln. Ende der Geschichte.

„Diese Frau hat mich kürzlich im Lebensmittelladen angehalten. Wollte mit mir reden und hat so getan, als hätte sie nicht meinem Jungen das Herz gebrochen. Sie wollte wissen, wie es dir geht und deine Telefonnummer haben. Zum Glück spricht sie kein Italienisch, ich hatte ein paar gewählte Bemerkungen für sie, bevor ich ihr freundlich mitgeteilt habe, dass ich nicht mit ihr sprechen möchte.“ Meine Mum schneidet Tomaten und wirft sie in die Salatschüssel.

„Worüber regt ihr euch alle so auf?“ Fran betritt die Küche, die ich so verzweifelt verlassen möchte.

„April hat Lex heute bei Frank in die Enge getrieben. Was auch immer sie zu ihm gesagt hat, hat seine Laune verdorben und wir warten immer noch darauf, dass er uns mehr erzählt“, meint meine kleine Schwester Lily zu ihr. Fran blickt mich an und wartet darauf, dass ich mehr Informationen preisgebe.

„Ladys, lasst meinen Principino, meinen Prinzen in Ruhe. Mischt euch nicht in seine Angelegenheiten ein und pickt hier nicht wie die Aasgeier nach mehr.“ Meine liebe Großmutter, meine Nonna, schlurft hinter ihrer Gehhilfe in die Küche. Es mag das Haus meiner Mutter sein, aber Nonna ist die Matriarchin der Familie und sie regiert mit eiserner Faust.

Ich bücke mich hinunter, um ihre Wange zu küssen. „Wie geht es dir heute, Nonna?“

Meine Großmutter bedeutet mir alles. Ich habe seit jeher eine besondere Verbindung mit ihr. Immer wieder rettet sie mich auch vor den Wölfinnen. Ihre kleine Hand tätschelt meine Wange und sie sieht mich an. „Mir gehts es gut, mein süßer Junge. Geh zu deinem Vater und deinem Nonno und überlass die Küche uns Frauen.“ Sie mustert mich noch für einen Moment. „Vergiss nicht, dass alles, was im Leben geschieht – gut oder schlecht – irgendwann Sinn ergibt. Das alles bereitet dich nur auf die besseren Dinge vor. Man nennt es mit gutem Grund Vergangenheit, Principino.“ Ihr warmes Lächeln bringt mich selbst zum Lächeln.

„Und jetzt schnapp dir ein Cannolo und bring auch deinem Vater eins mit.“ Nonna erteilt die Erlaubnis. Mit einem Grinsen im Gesicht schaue ich meine Schwestern und meine Mum an. Sie alle wissen, dass ich Nonnas Liebling bin. Mit Bier in der einen und Cannoli in der anderen Hand verlasse ich die Küche.

Kapitel 2

Leyna

Mit einem Blick auf die Uhr komme ich zur Erkenntnis, dass Thomás heute nicht mehr zum Nachhilfeunterricht erscheinen wird. Thomás ist fünfunddreißig und dreifacher Vater. Er hat zwei Jobs, um seine Frau und die drei Kinder zu unterstützen. Seit zwei Monaten bringe ich ihm Englisch bei.

Kuba – und speziell Havanna – ist eine wahre Touristenattraktion. Bei Jobs in Hotels oder Restaurants verdient man etwas besser als bei anderen und Englischkenntnisse garantieren beinahe schon eine Stelle. Thomás hat mir erzählt, dass es sein Hauptziel sei, bei einem der feinen Fünf-Sterne-Resorts eine Anstellung zu bekommen, um die beiden anderen Jobs schmeißen zu können. Ich kenne Thomás und weiß, wie ernst er seinen Unterricht nimmt – ich weiß also, dass es einen guten Grund geben muss, warum er heute nicht auftaucht.

Ich liebe meinen Job. Lehrerin zu werden war seit meinem ersten Schultag das Ziel. Als ich achtzehn war, begann ich damit, einem Freund von mir Englisch beizubringen. Ehe ich michs versah, kamen immer mehr Leute zu meinem Unterricht. Das war vor fünf Jahren. Jetzt bin ich dreiundzwanzig. Es ist mein Bruder Gabriel, dem ich alles zu verdanken habe. Als ich fünfzehn war, hat er mir eines dieser DVD-Sets geschenkt, mit denen man eine Sprache lernen kann.

Gedanken an meinen Bruder überfluten mich mit Wellen der Traurigkeit. Mein Vater floh aus Kuba, als ich noch ein kleines Mädchen war – und nahm Gabriel mit sich. Ich werde diesen Morgen nie vergessen, als Mamá und ich aufgewacht sind und Papi und Gabriel einfach fort waren. Mein Vater hatte meiner Mutter eine Nachricht hinterlassen. Bis heute habe ich ihm nicht wirklich verziehen, was er unserer Familie angetan hat. Er hat uns auseinandergerissen. Die schlechten Entscheidungen meines Vaters führten zu einer zerrütteten Ehe und einer zerbrochenen Familie. Meine Mutter weinte ein Jahr lang jeden Tag, nachdem Papi uns verlassen hatte. Sie hatte nicht nur ihren Ehemann verloren – sondern auch ihren Sohn. Für mich war mein Bruder mein einziger Verlust. Ich war zu wütend auf meinen Vater, um seinetwegen zu weinen – er hatte meine Tränen nicht verdient.

Zu dem Zeitpunkt, an dem mein Vater aus Kuba verschwand, konnte ich das Warum nicht wirklich nachvollziehen. Meine Mutter weigerte sich, mir den Inhalt des Briefes zu verraten. Ich fand ihn einige Jahre später in einer Schublade in ihrem Schrank. Ich habe ihr nie erzählt, dass ich ihn gelesen habe. Ich fühle mich schuldig, weil ich in ihre Privatsphäre eingedrungen bin, aber ich konnte es nicht länger aushalten, im Dunkeln über die Wahrheit gelassen zu werden. Und die Wahrheit ist: Mein Vater war ein Dieb. Er stahl, um unserer Familie ein besseres Leben zu sichern. Und weil er gefasst worden war, standen ihm viele Jahre Gefängnis bevor. Also traf er die Entscheidung gegen den Knast und für die Chance, es in die Staaten zu schaffen. Er und Gabriel mussten mehrere Tage auf offener See verbringen.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie das für sie gewesen sein muss. Besonders für ein Kind. Als ich zwölf war, erhielten wir die Nachricht, dass Papi gestorben war und das war der Moment, als Mamí sich komplett verlor. Ich glaube, sie hatte die Hoffnung nie aufgeben, dass Gott ihr ein Wunder schenken und Papi zurück nach Hause bringen würde. Nachdem mein Vater gestorben war, machte ich mir mehr und mehr Gedanken darüber, wie Mamí für uns beide würde sorgen können. Wir waren komplett abhängig von dem Geld, das er uns jeden Monat geschickt hatte. Aber meine Mutter – als die starke Frau, die sie war – behielt ihren Kopf über Wasser und tat alles, was nötig war, um die Rechnungen zu bezahlen und Essen auf den Tisch zu bringen. Das bedeutete, dass sie zwei Jobs meistern musste.

Ungefähr ein Jahr nach Vaters Tod begann Gabriel, Geld zu schicken. Er stellte uns so viel zur Verfügung, dass Mamá ihren zweiten Job kündigen konnte. Eigentlich schickte er genug, dass sie gar nicht mehr hätte arbeiten müssen, aber ich denke, sie behielt ihre Arbeit, um auf Nummer sicher zu gehen. Wenn man auch nur einmal im Leben so im Stich gelassen wird, dann ist Sicherheit nicht nur essenziell, sondern auch tröstlich. Meine Mutter starb, als ich neunzehn war. Ich kam eines Abends von einer Unterrichtsstunde heim und fand meine Mutter leblos in ihrem Bett. Der Arzt meinte, es sei ein Herzinfarkt gewesen. Ich glaube, sie ist an einem gebrochenen Herzen gestorben.

Auf irgendeine Art und Weise war es ein Trost, zu wissen, dass sie im Himmel endlich wieder vereint war mit ihrer wahren Liebe. Meine Mutter hatte nie mit ihrem früheren Leben abgeschlossen. Sie war ihrem Ehegelübde treu geblieben – bis ans Ende. Gabriel die Neuigkeiten zu überbringen war eine der schwersten Aufgaben meines Lebens gewesen. Er hatte immer gehofft, Mamí und mich in die Staaten holen zu können. Wir alle drei haben aufrichtig daran geglaubt, eines Tages wieder vereint zu sein. Seither hat mein Bruder hart daran gearbeitet, den Traum der Wiedervereinigung von uns Geschwistern Wirklichkeit werden zu lassen.

Gabriel meint, dass es nicht mehr lange dauern wird. Er sagt, dass sich die Zeiten verändern und somit auch die Beziehung zwischen Kuba und den Vereinigten Staaten. Ich bete, dass er recht hat. Gabriel ist alles, was ich auf dieser Welt noch habe. Klar, ich habe Tanten, Onkel und Cousins, aber seit mein Bruder von mir gerissen wurde, bin ich wie verloren. Es fühlt sich an, als würde ein Teil von mir fehlen. Jetzt, wo Mamí fort ist, hält mich nichts mehr in Kuba. Ich habe große Angst vor einem Neustart an einem neuen Ort, aber Gabriel an meiner Seite zu wissen, lässt mich diesen Sprung wagen.

Mein Bruder und ich stehen uns immer noch so nahe wie als Kinder. Wir sprechen jede Woche miteinander und erzählen uns alles, haben keine Geheimnisse voreinander. Wir haben uns versprochen – egal ob es gute, schlechte oder hässliche Dinge sind, wir würden uns nichts verschweigen. Erst letzte Woche hat Gabriel mir gestanden, dass er in eine junge Frau namens Alba verliebt ist – aber er hat es vermasselt und sie verloren. Als er mir die ganze Geschichte erzählte, verstand ich, warum er sie von sich gestoßen hatte – hielt mich aber nicht zurück, ihm zu sagen, dass er die falsche Entscheidung getroffen hatte und ein absoluter Vollidiot war.

Ich liebe meinen Bruder, aber er weiß, dass ich eine Frau bin, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Wenn er Scheiße baut, dann werde ich ihm das ganz gewiss sagen. Verdammt, er hat keine Skrupel, das Gleiche bei mir zu tun. Die Wahrheit tut weh, aber manchmal muss man sie hören. Besonders von den Menschen, die einen am meisten lieben, weil man dann sicher sein kann, dass sie es aus Liebe tun. Wie damals vor drei Jahren, als ich einen Kerl namens Emilio datete. Nach zwei Monaten hatte er mich weder Freunden noch Familie vorgestellt und mich auch nie mit zu sich nach Hause genommen. Emilio meinte, dass der richtige Moment noch nicht gekommen sei, aber mein Bruder war sicher, dass er verheiratet war. Ich war jedoch vom Gegenteil überzeugt. Außerdem hatte Gabriel diesen Kerl noch nie gesehen, wie kam er auf diese Idee? Es war lächerlich. Als Emilio begann, mich zum Sex drängen zu wollen, hörte ich die nervende Stimme meines Bruders im Kopf. Ich beschloss, Gabriels Verdacht auszuräumen. Eines Abends, nachdem mich Emilio nach einem Date zu Hause abgesetzt hatte, folgte ich ihm. Ich stellte ihm bis in die nächste Ortschaft nach, versteckte mich hinter einem Truck, der an der Straßenseite parkte und beobachtete, wie er die Eingangstür eines Hauses öffnete und begrüßt wurde von einer Frau und zwei kleinen Kindern. Mein Bruder hatte es geahnt und recht behalten.

War ich enttäuscht? Ja. Mehr als das, ich war wütend. Niemand verarscht Leyna Martinez und kommt damit davon. Manche Frauen wären zu dem Haus gegangen, hätten an die Tür gehämmert und den Mann damit konfrontiert. Das war aber nicht mein Stil. Ich wollte weder seiner Frau noch seinen Kindern die Herzen brechen. Ich zerstöre keine Familien. Die Frau wird das zweigleisige Leben dieses Bastards früh genug bemerken. Was ich tat? Ich drehte mich um, ging nach Hause und ignorierte diesen betrügerischen Arsch Emilio für ein paar Tage, bis er vor meiner Wohnung auftauchte. Als ich die Tür öffnete, sagte ich kein Wort, ballte die Faust und schlug ihm direkt auf die Nase. Ich schlug ihn so, wie ich es mit fünf Jahren von meinem großen Bruder gelernt hatte, als ein Junge in der Schule nicht damit aufhören wollte, an meinen Haaren zu ziehen.

An dem Tag, als ich Emilio die Tür vor seinem blutigen Gesicht zuschlug, realisierte ich, wie dankbar ich war, dass Gabriel mir immer die Wahrheit sagt – egal, wie hart es sein mag, sie zu hören.

Die Meinung meines Bruders hat für mich einen hohen Stellenwert. Gabriel ist der einzige Mann, dem ich komplett vertrauen kann. Ich will es so ausdrücken: Wenn es um Männer geht, bin ich ein gebranntes Kind. Es ist besser, wenn sie nicht zu nahe an mich herankommen. Lasse ich sie in mein Leben, enttäuschen sie mich – alle außer Gabriel. Mein Bruder hat eine harte Zeit erlebt und deswegen mehr Erfahrung als sein Alter vermuten lassen würde. Er musste auf der Straße leben, nachdem unser Vater ermordet worden war, und das hat ihn auf viele Arten härter gemacht, ihn aber auch Menschenkenntnis gelehrt.

Letzten Endes hat mein Bruder bei einem MC namens The Kings of Retribution ein neues Zuhause und einen Sinn im Leben gefunden. Obwohl ich nicht viel über den Club weiß, bin ich nicht naiv. Ich habe vor Jahren gelernt, nicht zu viele Fragen zu stellen. Solange mein Bruder glücklich und gesund ist, interessiert es mich nicht wirklich. Ich bin begeistert, dass Gabriel seine Liebe zur Malerei in einer Karriere als Tätowierer ausleben kann. Wenn ich ihn nach seiner Arbeit frage, kann ich am Klang seiner Stimme hören, dass er wahrhaftig liebt, was er tut.

Eine Bewegung links von mir holt mich in die Gegenwart zurück. Die Gruppe junger Frauen am Tisch neben mir beginnt, ihre Bücher einzusammeln und ihre Taschen zu packen. Als ich erneut auf die Uhr an der Wand schaue, realisiere ich, dass ich über eine Stunde in Gedanken versunken hier gesessen haben muss. Ich gebe es auf, auf Thomás zu warten und packe meine Sachen. Nachdem ich meinen Tisch abgeräumt habe, hänge ich mir die Tasche über die Schulter und verlasse die Bibliothek.

Ich springe auf mein Fahrrad und mache mich auf den knapp fünf Kilometer langen Heimweg. Gabriel hat darauf bestanden, mir ein Auto zu kaufen, aber ich habe immer noch nicht in den sauren Apfel gebissen und Fahrstunden genommen. Ich lebe sowieso in der Stadt. Jeder Ort, den ich erreichen muss, befindet sich im Umkreis weniger Kilometer um mein Haus. Wenn ich – aus welchem Grund auch immer – die Stadt verlassen muss, frage ich einen meiner Cousins oder nehme den Bus.

Da ich ein paar Lebensmittel brauche, halte ich an dem Supermarkt einige Blocks von meinem Haus entfernt an. Ich steige vom Rad und lehne es gegen die Wand neben dem Eingang zum Laden. „Hola, Señor Diaz“, begrüße ich den älteren Herren, der der Besitzer des Ladens ist. Ich kaufe hier ein seit ich ein kleines Kind bin und kenne Señor Diaz gefühlt schon immer. „Hola, Leyna. Cómo estás? Wie geht es dir?“

„Bien y tú? Gut, und dir?“, antworte ich mit einem warmen Lächeln und tausche für eine Minute ein paar Höflichkeitsfloskeln mit Señor Diaz aus, bevor ich meinen Einkauf fortsetze.

Während ich die letzten Blocks bis zu meinem Haus radle, lächle ich über die Kinder, die auf dem Bürgersteig Himmel und Hölle spielen. Ich denke zurück an die Zeit, als ich klein war und meinem Bruder überallhin gefolgt bin. Gabriel und ich waren wie Pech und Schwefel und obwohl er älter war als ich, beschwerte er sich nie darüber, dass ich wie sein Schatten an ihm klebte. Auch seine Freunde wussten genau Bescheid. Keiner von ihnen wagte es, ein Wort über seine nervige, kleine Schwester zu verlieren. Als mein Zuhause in Sichtweite kommt, durchströmt mich Traurigkeit. Ich lebe immer noch im selben Gebäude, in dem ich aufgewachsen bin. Manchmal vergesse ich, dass Mamí weg ist und ich erwarte sie auf der Veranda sitzend, beim Kaffeetrinken und Tratschen mit einer Nachbarin.

Ich nehme mein Fahrrad auf und hieve es die Stufen zu meiner Eingangstür hoch, wo ich es gegen die Wand lehne. Mit meiner Einkaufstasche in der einen Hand und meinen Schlüsseln in der anderen schließe ich die Tür auf. In dem Moment, in dem ich das Haus betrete, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken und ich spüre sofort ein ungutes Gefühl in meinem Bauch. Ich taste nach rechts und knipse die Lampe auf dem kleinen Tisch neben der Eingangstür an. Geschockt nehme ich wahr, dass drei fremde Männer in meiner Wohnung stehen. Die Tasche in meiner Hand fällt zu Boden und ich öffne meinen Mund, um zu schreien, verstumme aber sofort, da einer der Männer mit seiner Pistole direkt auf mich zielt. „Kein Wort“, befiehlt er mit ruhiger Stimme. Der Mann mit der Waffe hält sie auf mich gerichtet, bis ein Typ im grauen Anzug ihm das Signal gibt, sie wieder zu senken. Ich atme erleichtert aus, als er das tut. Es muss eine logische Erklärung geben, warum Männer, die ich noch nie gesehen habe, in meinem Haus stehen und eine Waffe auf mich richten.

„Ich merke, dass Sie verwirrt sind, also lassen Sie uns damit anfangen, dass ich mich vorstelle“, sagt der Mann im grauen Anzug, während er einen Schritt in meine Richtung macht. „Mein Name ist Miguel Santino. Ich bin ein Bekannter Ihres Bruders.“

„Meines Bruders?“, frage ich irritiert. „Ich glaube, Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.“

„Es gibt keine Verwechslung, Ms. Martinez.“

In dem Moment, als er meinen Namen ausspricht, krampft sich mein Magen zusammen. Ich weiß mit Sicherheit, dass der Mann vor mir kein Freund von Gabriel ist. Etwas Böses liegt in seinem Blick. Mein Bruder würde sich nie mit dem Bösen einlassen. Rüpelhaft? Ja. Böse? Nein.

„Sehen Sie, Ms. Martinez. Ich benötige etwas von Ihrem Bruder. Ich weiß, dass es etwas Überzeugungsarbeit brauchen wird, damit er mir gibt, was ich will – und Sie werden mir dabei helfen, ihn zu überzeugen.“

Ich straffe meine Schultern und strecke mein Kinn vor. „Ich werde Ihnen bei überhaupt nichts helfen.“ Santino lacht und macht zwei weitere Schritte auf mich zu, bis er direkt vor meinem Gesicht steht. Er langt nach oben, greift eine Handvoll meiner Haare und reißt grob meinen Kopf nach hinten. Mit aller Kraft reiße ich mich zusammen, um ihm nicht mein Knie in die Eier zu rammen. Als würde er meine Gedanken lesen, hebt einer von Santinos Männern erneut seine Pistole.

„Sie missverstehen mich, wenn Sie denken, dass Sie in dieser Angelegenheit eine Wahl haben, Ms. Martinez. Die einzige Entscheidung, die Sie treffen können, ist ob Sie mich freiwillig begleiten oder wir Sie zwingen, und glauben Sie mir – Sie werden die zweite Option nicht mögen“, warnt er mich.

Ich presse meine Lippen aufeinander, beiße mir auf die Zunge und nicke. Es liegt nicht in meiner Natur, den Mund zu halten. Ich bin immer noch eine Martinez, aber selbst ich weiß, wann ich mich zurückhalten sollte. Wenn das Arschgesicht hinter Santino keine Pistole hätte, würden wir eine andere Sprache sprechen. Miguel lässt mein Haar los, ohne mich weiter zu beachten und bellt seinen Männern Befehle zu. „Führt sie ab und lasst uns verschwinden“, sagt er, während er durch meine Vordertür geht. Der Mann mit der Waffe kommt zu mir und packt mich grob am Unterarm. „Beweg dich.“

Während ich gegen seinen Griff ankämpfe, grinse ich ihn spöttisch an.

„Mach nur weiter so, Miststück. Ich stehe drauf, wenn sie sich wehren“, flüstert er mir mit schleimiger Stimme ins Ohr, woraufhin ich zurückweiche. Irgendetwas sagt mir, dass ich diesem Typen niemals meinen Rücken zukehren sollte. Der Blick in seinen Augen macht deutlich, dass er nicht davor zurückschrecken würde, seine Aussage in die Realität umzusetzen.

Kapitel 3

Lex

Nach einer weiteren schlaflosen Nacht war ein Besuch im Fitnessstudio um vier Uhr in der Früh genau das, was ich an diesem Morgen gebraucht habe. Glücklicherweise lebe ich in einem Gebäude mit einem Gym im Erdgeschoss. Meine monatliche Miete ist lächerlich hoch für die angebotenen Zusatzleistungen, aber die Sicherheitsvorkehrungen sind erstklassig und das war meine oberste Priorität, als ich vor einigen Jahren beschlossen habe, in die Innenstadt von Seattle zurückzukehren, nachdem ich mein FBI-Training abgeschlossen hatte. Ich lebe ganz in der Nähe des berühmten Ferris Wheel, dem Riesenrad am Pier 57.

Im Treppenhaus auf dem Weg zu meiner Wohnung im zweiten Stock klingelt mein Telefon. Ich ziehe es aus der Tasche meiner Trainingshose und wische über den Bildschirm, um den Anruf anzunehmen. „Was gibts?“ Ich überspringe jede zweite Stufe, um ein Extra-Workout beim Treppensteigen zu machen.

„Wir haben neue Informationen über Santino. Ich brauche dich in vierzig Minuten im Büro“, informiert mich Kurt, einer der Ermittler im Fall Santino.

„Alles klar.“ Er ist kein Mann der großen Worte, beendet das Telefonat also schnell. Ich habe schon vorher mit Kurt gearbeitet und er ist verdammt gut in seinem Job. Bei jedem Durchbruch und jeder Razzia unserer Einheit war Kurt mit seinen Geheimdiensterfahrungen und seinem IT-Wissen eine treibende Kraft. Außerdem ist er einschüchternd wie der Teufel.

Ich sprinte die verbleibenden Stufen hinauf und betrete den Flur, der zu meiner Wohnung führt. Meine Dienststelle ist nur ungefähr zwanzig Minuten Fahrtzeit von meinem Gebäude entfernt – ein weiterer Grund, warum ich diesen Ort ausgesucht habe. Ich werde die verschwitzen Klamotten los und nehme eine schnelle Dusche. Kurz darauf bin ich angezogen und eile wieder aus der Tür.

Der Aufzug öffnet sich und enthüllt Mrs. Smith aus dem dritten Stock. Seit ich hier lebe, flirtet sie unaufhörlich mit mir. Und sie ist dabei nicht einmal ein kleines bisschen zurückhaltend. Ich lebte schon einige Monate in dem Gebäude, bevor ich auf ihren Ehemann traf. Ja. Verheiratet. Sie stellte mich ihrem Ehemann Clark vor, nur um mich danach vor seinen Augen weiter anzugraben. Der ältere Mann hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Er tat so, als wäre es das Normalste auf der Welt, dass seine Frau sich so verhält. Es stellte sich heraus, dass sie eine offene Ehe führen.

Das ist ein Konzept, mit dem ich nichts anfangen kann. Wenn und falls man den einen Menschen trifft, die eine Person, ohne die man nicht leben kann, die Person, die einem das Herz erwärmt, wieso sollte man diesen Menschen dann mit irgendjemand anderem teilen? Das ist mir schleierhaft.

Mittlerweile weiß ich, dass die Beziehung von April und mir nicht für die Ewigkeit gedacht war. So schmerzhaft die Untreue auch war, es hat mich nicht gebrochen, dass sie mich betrogen hat. Es hat mir nicht das Herz aus der Brust gerissen. Wie Nonna gestern Nacht meinte – es gibt Gründe für alles, was im Leben passiert, für das Gute und das Schlechte. Es bereitet uns auf das vor, was noch kommt. April war nicht meine Zukunft. Und mit Sicherheit werde ich die Eine, die meine Zukunft sein wird, mit niemandem teilen.

„Mr. Taylor.“ Sie verändert ihre Haltung und drückt ihre Brüste weiter heraus. Ich schätze schöne Brüste in allen Größen, aber ich mag sie natürlich. Nichts gegen Frauen, die sich ihre Brüste machen lassen oder Männer, die das mögen – es ist einfach nicht das, was ich bevorzuge. Ich nicke ihr zu, um sie zu grüßen. „Guten Morgen, Mrs. Smith.“ Ich drücke den Knopf für die Garage und trete einen Schritt zurück zur linken Wand des Lifts.

„Das Angebot steht noch, Mr. Taylor. Ich verspreche Ihnen, Sie werden nicht enttäuscht sein.“ Sie gleitet auf meine Seite der kleinen Kabine, in der wir uns befinden. „Ich schätze Ihre Entschlossenheit, Mrs. Smith, aber meine Antwort lautet immer noch Nein.“ Ich schenke ihr ein Lächeln für ihre Bemühungen. Glücklicherweise sagt sie nichts mehr, bis die Tür aufgeht und sie in die Lobby des Wohngebäudes tritt. Ihre Augen wandern über meinen Körper. „Sie können es einer Frau nicht übelnehmen, dass sie es immer wieder probiert.“ Ich schaue ihr nach, wie sie davonschlendert und ich weiß, dass sie es wieder versuchen wird.

Auf dem Weg zu meinem Büro mache ich im Coffeeshop halt und hole meine Bestellung von vor ein paar Minuten ab. Ich parke in der Tiefgarage, schließe meinen Wagen ab und mache mich erneut mit dem Lift auf den Weg in den siebten Stock. Als ich den Raum betrete, sitzen Kurt, Dean und Kai an ihren Tischen. Dean ist ein Jahr länger dabei als ich. Kai war Teil meiner Abschlussklasse und ist einer der drei, inklusive mir, denen das FBI einen Job hier in Seattle angeboten hatte.

Sobald ich mich gesetzt habe, wirft Kurt einen neuen Ordner auf den Stapel, der bereits vor mir liegt. „Unsere Brüder in Miami haben am Frachthafen eine weitere Drogenlieferung beschlagnahmt. Die Razzia war riesig. Wir reden über Drogen im Wert von siebenstelligen Beträgen – gemeinsam mit Artillerie in Militärqualität. Sie haben bei diesem Einsatz auch einen von Santinos Partnern gefasst. Unglücklicherweise traf den Verdächtigen beim Abführen von der Laderampe zu einem der Zivilfahrzeuge eine Kugel direkt in den Hinterkopf.“

„Scheiße. Scharfschütze?“, frage ich und nehme einen großen Schluck von meinem Kaffee.

„So ist es. Es wurde auch ein Ermittler getroffen. Zum Glück wird erwartet, dass er sich vollständig erholt.“