Liebesnähe - Hanns-Josef Ortheil - E-Book

Liebesnähe E-Book

Hanns-Josef Ortheil

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Beschreibung

Welche Sprache spricht die Liebe?

Ein Mann und eine Frau treffen in einem Hotel im Alpenvorland ein. Sie bemerken einander und tauschen von da an geheime Zeichen aus. Kleine Botschaften, Hinweise auf Lektüren und Musikstücke – und ohne dass sie auch nur ein einziges Wort miteinander wechseln, verwickeln sie sich in das Mysterium der Annäherung und einer ungewöhnlichen Liebe, für die nur die Liebe selber zählt.

»Liebesnähe« ist die Geschichte einer Frau und eines Mannes, die sich zufällig in einem einsam gelegenen Hotel treffen. Vom ersten Augenblick dieser Begegnung an erleben beide eine rasch wachsende Anziehung. Sie sind zu vorsichtig, miteinander zu sprechen und verlegen sich stattdessen auf ein virtuoses Spiel von Zeichen und Andeutungen. Im Hintergrund dieser Annäherung zieht die Besitzerin der Hotelbuchhandlung als geheime Mittlerin ihre eigenen Fäden: Sie »füttert« die beiden Liebenden mit Büchern, die – wie der Liebestrank in »Tristan und Isolde« – eine ganz eigene, magische Wirkung entfalten und aus dem Liebesspiel schließlich ein kaum noch durchschaubares Labyrinth aus Erlebtem, Geträumtem und Gelesenem machen.

»Liebesnähe« ist nach den Romanen »Die große Liebe« (2003) und »Das Verlangen nach Liebe« (2007) der dritte Band einer Trilogie von in sich abgeschlossenen Romanen, in denen es um das Geheimnis der Liebesverständigung geht. »Liebesnähe« greift aber auch die Themen von stummer und sprachlicher Kommunikation in Ortheils letztem Roman »Die Erfindung des Lebens« auf: Erst langsam entdecken die Liebenden die jeweils eigene Sprache der Liebe mit all ihrem unverwechselbarem Vokabular.

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Seitenzahl: 451

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© 2011 Luchterhand Literaturverlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 München.
Satz: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-10872-4V002
www.luchterhand-literaturverlag.dewww.randomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

1 - Die Annäherung
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13
2 - Die Nähe
Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27
3 - Die Liebesnähe
Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40
Copyright

1

Die Annäherung

every word is like an unnecessary stain on silence …

(Samuel Beckett)

1

ER FÄHRT die schmale, hellgraue Straße entlang, die jetzt von dunklen, dichten Nadelwäldern gesäumt wird, die wenigen, vereinzelten Wolken hoch oben setzen sich scharf vom tiefen Himmelsblau ab, er fährt immer langsamer, diese stille Vorgebirgslandschaft hat etwas wohltuend Einsames. Die Straße hat keinen Mittelstreifen, und ihr heller Asphalt wirkt wie improvisiert oder bloß wie eine dünne Erdschicht, die den Weg bahnt und sich kaum abhebt von den noch schmaleren Seitenstreifen. Er lässt die Fenster des Wagens herunter, der Wagen rollt aus und kommt dann zum Stehen.

Er stellt den Motor aber nicht ab, weil er die Fahrt nicht unterbrechen, sondern nur für einen Moment die Waldluft atmen und einen Schluck Wasser trinken will. Seit Tagen hat er sich auf diese Ankunft gefreut, und nun ist diese Freude sogar regelrecht spürbar, denn sein Herz klopft und reagiert damit instinktiv auf all diese starken Bilder.

Er trinkt Wasser aus einer Sprudelflasche, er schüttet eine kleine Ladung davon in die hohle Hand und fährt sich mit ihr durchs Gesicht, diese Frische passt genau zu der Frische der Landschaft, die an diesem Spätsommermorgen etwas Hellwaches und Aufgekratztes hat, als forderte sie einen auf, sofort aufzubrechen und auf einer langen Wanderung dem nächstbesten Pfad hinauf in die Berge zu folgen.

Er atmet tief durch, dann fährt er weiter, er lässt den Wagen bei sehr niedriger Geschwindigkeit dahinrollen, als fände er ganz alleine den Weg. Die Bäume gleiten vorbei wie ein scheues Spalier und treten dann immer weiter zurück, die Szene öffnet sich, während die Straße in leichten Schwingungen abschüssig ins Tal führt.

Dann, plötzlich, ist der Blick frei, und er sieht die ganze Weite des Raums: Die hellgrünen, gemähten, welligen Wiesen, den sich anschließenden Ringsaum der dunkleren Nadelwälder und das Schiefergrau der hohen Berge, über deren Spitzen einige kleine Wolken verstreut sind.

In der Mitte dieses Bildes aber lagert das so genannte Schloss, in dem ein großes Hotel untergebracht ist. Seine Flügel kauern sich auf eine kleine, unmerkliche Erhebung, und hinter ihnen ragt ein weißer, mächtiger Turm mit einer hellgrünen Spitze wie ein markantes Zeichen in die Höhe. Er hält noch einmal an und nimmt einen weiteren Schluck Wasser, jetzt ist er endgültig den üblichen Tagesgeschäften entkommen, ja, jetzt wird er sich für einige Tage in diese Stille zurückziehen, um mit nur sehr wenigen Menschen ein Wort zu wechseln.

Vor lauter Vorfreude schlägt er mit der rechten Hand auf das Lenkrad und stellt das Radio an, als bräuchte diese Freude nun auch einen hörbaren Ausdruck, etwas Musik, am besten wäre so etwas wie hohe Oper, eine starke Arie oder ein guter Song, der den Raum noch weiter öffnet.

Er sucht kurz danach, gibt dann aber schnell auf, und so summt er, statt Radio zu hören, lieber selbst vor sich hin, er summt etwas bei herabgelassenen Fenstern und fährt mit dem Wagen jetzt weiter die hellgraue Straße auf das Schloss zu, in dem er vor etwa einem Monat ein Zimmer gebucht hat.

Schließlich biegt er nach links ab und fährt dann die schmale Auffahrt hinauf, die aussieht wie eine Allee mit lauter kleinen, in die Landschaft getupften Pappeln. Vor dem Hoteleingang parkt er den Wagen an diesem sonnigen, beinahe strahlenden Tag, den er sich genau so erträumt hat: ein Tag in der Mitte der Woche, an dem nicht allzu viele Hotelgäste an- oder abreisen, ein günstiger Tag für eine unauffällige Ankunft.

Kaum dass er ausgestiegen ist, kommt auch schon ein Hotelangestellter nach draußen, um sich nach seinem Gepäck zu erkundigen. Er öffnet die Heckklappe des Wagens und zeigt dem Mann seinen Koffer, die Reisetasche und die schwere Kiste mit den Büchern und dem Arbeitsgerät. Der Mann beginnt sofort, alles hineinzutragen, während er selbst das Hotel betritt und nach den ersten Schritten kurz stehen bleibt.

Ein Geruch von reifen Äpfeln, einem schwach flackernden Feuer und etwas Zimt, zu dieser Jahreszeit ist oft genau dieser Geruch da, als wäre der ganze Bau mit einem Herbstduft geschwängert und als wäre die Küche unablässig dabei, die reifen Äpfel einzukochen oder einen Most herzustellen, den man dann zu einem frischen Zwiebelkuchen trinkt. Äpfel, Zwiebelkuchen, Steinpilze – mit dem Betreten des großen Foyers hat er diese Herbst-Palette vor Augen, er geht jetzt gut gelaunt auf die Rezeption zu und begrüßt die jungen Frauen, die ihn anlächeln, als hätten sie gerade ihn seit Tagen herbeigesehnt. Natürlich weiß er, dass das nicht so ist, diese jungen Frauen lächeln jeden so an, der an der Rezeption auftaucht, sie haben dieses Lächeln gut drauf, denn es wirkt weder verbraucht noch künstlich, sondern immer wieder so frisch, dass er darauf hereinfällt und selbst zu lächeln beginnt, als wäre wirklich er gemeint.

Er wird herzlich begrüßt, er ist in diesem Hotel kein Fremder, denn er ist früher schon einmal von München aus für einige Tage hierhergekommen, um ungestört zu arbeiten, spazieren zu gehen und in den schön gelegenen Pools des Hotels ausgiebig zu schwimmen. Die junge Frau, die sich um ihn kümmert, braucht ihm also kein Anmeldeformular zu reichen, das Formular ist vielmehr längst ausgefüllt, so dass er nur noch zu unterschreiben braucht. »Johannes Kirchner« schreibt er, und in der Zeile direkt über dieser Unterschrift steht bereits seine Münchener Adresse.

Er plaudert noch einige Sätze mit der jungen Frau, er spricht kurz von der kaum einstündigen Fahrt hierher, erwähnt aber nicht, wie sehr er diese Vorgebirgslandschaft mag und wie sehr er sie gerade im Spätsommer und Herbst mag, wenn die Reisehektik allmählich zum Erliegen kommt und die oft tief stehende Sonne einen flimmernden, weichen Glanz über sie legt. Dann aber bricht er gleich ab, er hat bereits zu viel geredet, eigentlich hatte er sich vorgenommen, dieses Empfangszeremoniell kurz zu halten, denn er möchte sofort untertauchen und anonym werden, ja, er möchte sich in einen Hotelgast verwandeln, der von niemandem bemerkt wird.

Er räuspert sich etwas verlegen, dann merkt er sich den Namen der jungen Frau, der auf dem kleinen Schild am Revers ihres Kostüms steht, er lächelt noch einmal, dann bedankt er sich bei ihr und nennt dabei bewusst nur ihren Vornamen, ein paar geheime Verbündete benötigt er für seinen Aufenthalt, und diese junge Frau mit Vornamen Lea wird, das ahnt er jetzt schon, zu ihnen gehören.

Er wendet sich ab und geht dann die breite Treppe aus dem Foyer hinauf in den ersten Stock, er durchläuft einen angenehm zurückhaltend erleuchteten Flur und sieht an dessen Ende schon die Tür seines Zimmers. Wie bei seinem letzten Aufenthalt hat man ihm auf seinen Wunsch hin ein Eckzimmer mit Blick auf das steil hinter den Wiesen und Wäldern aufsteigende Gebirgsmassiv gegeben, er geht hinein und bedankt sich bei dem Angestellten, der das Gepäck bereits hinaufgebracht hat. Er gibt ihm ein Trinkgeld, dann schließt er die Tür hinter ihm, zieht das Sacco aus und betritt kurz das Bad, um sich die Hände zu waschen.

Auf dem breiten Schreibtisch zwischen zwei großen Fenstern steht eine Schale mit Obst und eine Wasserflasche, er schenkt sich ein Glas ein, trinkt, zieht die Vorhänge der Fenster beiseite, nimmt Platz und wartet still einige Minuten. Dann schaut er auf die Liste der Telefonnummern und wählt die Nummer der hoteleigenen Buchhandlung. Er lächelt, wie eben an der Rezeption. Als sich die Stimme einer älteren Frau meldet, sagt er:

– Guten Morgen, Katharina. Ich bin gerade angekommen, es ist alles in Ordnung. Wenn ich ausgepackt habe, komme ich sofort bei Dir vorbei. Ich freue mich.

2

SIE VERLÄSST den Zug und bleibt dann auf dem schmalen, kleinen Bahnsteig zwischen den wenigen Gleisen stehen. Sie dreht sich um, jemand reicht ihr das Gepäck hinterher: Zwei Koffer, eine große Reisetasche und eine Aktentasche, die sie als Einziges in der Hand behält, während sie sich nach dem Fahrer des Hotelbusses umschaut, der sie anscheinend sofort erkannt hat und über die Gleise hinweg zu ihr kommt. Sie begrüßen sich herzlich, sie kennen einander, schon mehrmals hat dieser Fahrer sie von hier abgeholt und die wenigen Kilometer bis zum Hotel gefahren.

Er verstaut ihr Gepäck, und sie setzt sich nach hinten, und wie schon oft macht er einen Scherz darüber, dass sie sich nicht neben ihn, sondern nach hinten setzt, sie setzt sich in jedem Taxi und also auch in diesem Hotelbus nach hinten, weil sie einmal einen Unfall in einem Taxi erlebt hat, sie saß vorne, neben dem Fahrer, und war verletzt worden. Der Wagen fährt los, und sie lehnt sich etwas zurück, sie öffnet noch einen weiteren Knopf ihrer Bluse und fährt sich mit der rechten Hand kurz über den Hals, als müsste sie die Haut straffen und nach der Zugfahrt ein wenig aufmöbeln.

Der Fahrer schaut in den Rückspiegel und lächelt ihr zu, er spricht nicht sofort, sondern konzentriert sich zunächst darauf, den Weg aus der kleinen Ortschaft um den entlegenen Bahnhof herum hinter sich zu bringen. Ein paar wenige Abbiegungen, noch drei oder vier Straßen, dann verschwindet der Ort auch schon, und sie fahren nun auf dem hellgrauen Asphalt einer Landstraße ohne Mittelstreifen, auf der sie in kaum einer Viertelstunde das Hotel erreichen werden.

Sie stellt ein paar höfliche Fragen, sie erkundigt sich nach dem Befinden des Fahrers, nach seiner Frau und dem vor zwei Jahren geborenen Kind. Der Fahrer antwortet langsam und spricht davon, was er Tag für Tag mit dem Kind anstellt, er spricht sehr begeistert und so, als dächte er an nichts anderes mehr als an diese Tochter, seine Frau erwähnt er kaum, sie kommt nur noch zusammen mit dem Kind vor, als lenkte und dirigierte das Kind alle Bewegungen der Eltern von früh bis spät.

Diesmal fällt ihr dieses Sprechen von den Vorlieben und Leistungen des Kindes auf, es erscheint ihr beinahe etwas manisch und zu viel, sie sagt das aber nicht, sondern erkundigt sich pflichtbewusst weiter. Der Fahrer hört daraufhin nicht mehr auf, sondern schwelgt in seiner Vaterliebe und in Erzählungen darüber, wie er das Kind Tag für Tag mit einer anderen Kleinigkeit, die er aus dem Hotel mitbringt, überrascht.

Nach einigen Minuten hat sie dann aber endgültig genug von diesen Berichten, sie bittet den Fahrer, die Fenster herunterzulassen und langsamer zu fahren, dann holt sie das Aufnahmegerät aus ihrer Aktentasche und postiert es auf ihren Knien. Sie überzeugt sich, dass es funktioniert, dann hält sie das Gerät bereit und sagt dem Fahrer, dass er nun ganz langsam fahren und für einige Minuten nicht sprechen solle, weil sie diese Fahrt aufnehmen wolle. Der Fahrer kennt das schon, sie hat ihm einmal ausführlich erzählt, dass sie immer wieder ihre Umgebung aufnimmt, sie hält das Mikrophon einfach in das Spätsommerlicht und fängt dieses schwache Rauschen und Summen ein. Kurze Zeit später bittet sie ihn, am Straßenrand zu halten. Als der Wagen stehen bleibt, ist es vollkommen still, nicht einmal der Wind ist zu hören.

Sie schließt die Augen und horcht in diese Stille hinein, das Aufzeichnungsgerät läuft, und der Fahrer sitzt unbeweglich und etwas verkrampft auf seinem Sitz, als versuchte er, sich unsichtbar zu machen. Eine schwache Kühle legt sich auf ihr Gesicht, sie hat die Augen weiter geschlossen, und obwohl anscheinend nichts zu hören ist, glaubt sie doch, etwas zu hören: ein Ausatmen, ein kaum merkliches Strömen, gleichmäßig und konstant, etwas Dunkles, Tiefes. Kurz darauf aber ist auch noch etwas anderes da, ein Flirren, hell, sanft an- und abschwellend, als hätten die Spätsommerstrahlen der Sonne sich in einen Cluster aus lauter dicht nebeneinanderliegenden Tönen verwandelt.

Sie weiß, dass sie noch viel mehr hören würde, wenn sie sich jetzt Zeit dafür nehmen würde, sie kann sich regelrecht in die Klangräume ihrer Umgebung vertiefen und von Minute zu Minute mehr und mehr hören, oft nimmt sie eine ganze Palette von Klangfarben wahr, und diese Klangfarben sind auch bereits orchestriert, als wäre zum Beispiel das helle Flirren ein Flirren von Querflöten und als wäre der dunklere, tiefere Klang ein Rumoren von Tuben.

Ihre Anspannung ist so groß, dass sie sich unmerklich mit der Zunge über die Lippen fährt. Als sie aber die Zunge spürt, öffnet sie die Augen und schaltet das Aufnahmegerät gleich wieder aus. Sie bittet den Fahrer weiterzufahren, und damit sie sich nicht weitere Familiengeschichten anhören muss, erzählt sie von ihren letzten Tagen in München und davon, wie sehr sie sich nach dem Aufenthalt in dieser Vorgebirgslandschaft gesehnt habe. Manchmal, erzählt sie, sei während eines Einkaufs plötzlich das Bild des Schlosses da gewesen, wie eine Erscheinung, und einmal, als ihr das Herumlaufen durch die Stadt am frühen Abend endgültig zu viel gewesen sei, habe sie bloß die Augen schließen müssen und gleich wieder dieses Bild gesehen, die geduckten Flügel des Baus und den dahinter aufragenden Turm mit der grünen Spitze.

Sie fahren jetzt etwas bergab, der Fahrer bremst ein wenig, dann aber fährt er langsamer und sagt auch noch, dass er langsamer fahre, denn jetzt ist das eben noch beschworene Bild des Schlosses auch wirklich da, und sie sagt nichts mehr, sondern sie schaut nur noch starr: Die grauen Schieferdächer der beiden Hotelflügel mit den vielen kleinen Mansardenluken liegen im Licht, und die hellgrüne Turmspitze ragt aus diesem Licht hervor, als wollte sie ihr Grün wie ein mächtiger Sender in die ganze Umgebung der Wälder verstreuen.

Der Fahrer schweigt, und auch sie spricht jetzt nicht mehr, sie fahren langsam die schmale Straße entlang und biegen dann ab und auf das Hotelgebäude zu, durch die Allee mit den Pappeln, die ihr vorkommen wie eine Prozession von beinahe gleich großen Paaren. Sie ist jetzt etwas aufgeregt, jedes Mal, wenn sich der Bus dem Hotel nähert, befällt sie diese Unruhe, dort hinzukommen kann ihr gar nicht schnell genug gehen, und so öffnet sie die Tür des Wagens schon, während er ausrollt und dann direkt neben dem Eingang zum Stehen kommt.

Der Fahrer lacht und ruft ihr nach, dass er das Gepäck gleich aufs Zimmer bringen werde, sie aber hört kaum noch darauf, sondern ist schon in der Lobby und winkt den jungen Frauen an der Rezeption zu. Sie wird erkannt, und die jungen Frauen lachen mit ihr, weil sie bereits wissen, dass sie jetzt nicht sofort an der Rezeption vorbeikommt, sondern erst einen kleinen, sehr raschen Gang machen wird: durch das Restaurant, an dem am Abend ein Büffett für die Hotelgäste aufgebaut wird, durch den Tearoom und die große Bar mit dem schwarzen Flügel, nach draußen, wo jetzt an der Front eines Hotelflügels entlang einige Liegen postiert sind.

Sie beachtet das aber kaum, sie geht weiter, einen kleinen Pfad quer über eine Wiese, bis sie an ihrem Rand endlich zum Stehen kommt und hinab in die Schlucht blickt, wo das Sonnenlicht auf dem hellblauen Wasser eines leeren Pools tanzt. Genau diesen Pool wollte sie jetzt als Erstes sehen, genau diesen Lichttanz und all diese Helligkeit, sie verengt die Augen und blickt jetzt auf dieses Detail: ein blaues Rechteck mit einigen gleißenden, sprunghaft umherzuckenden Linien. Am liebsten würde sie sofort hinunterlaufen und ein Bad nehmen, sie versucht stattdessen aber, sich zu beruhigen: Alles stimmt, alles ist so, wie sie es bereits seit Tagen vor Augen hatte.

Sie wendet sich von der Schlucht ab und geht jetzt bewusst langsamer und schlendernd zurück ins Hotel, einige Frauen vom Service haben von ihrer Ankunft erfahren und wollen sie begrüßen, sie gibt ihnen allen die Hand und spricht kurz mit jeder, das Wetter, hört sie immer wieder, wird in den nächsten Tagen sehr gut, das Wetter könnte nicht besser sein.

Sie geht durch das Restaurant zur Rezeption, die jungen Frauen haben das Anmeldeformular schon ausgefüllt, und sie unterschreibt mit ihrem Namen, während in der Zeile darüber bereits ihre Münchener Adresse eingetragen ist.

Sie spricht mit den jungen Frauen über ihre Zugfahrt von München hierher und darüber, was ihr alles aufgefallen ist und was sie beobachtet hat, der Zugführer hat die Durchsagen diesmal nicht nur auf Deutsch und Englisch, sondern auch noch auf Französisch und Italienisch vorgetragen, die halbe Fahrt verging mit all diesen in der entlegenen Landschaft kurios klingenden Details, so dass einige Fahrgäste in einem Anfall von Komik in anderen Sprachen weitergemacht haben: in Spanisch und Portugiesisch, schließlich sei ein mitfahrender Japaner sogar noch gebeten worden, eine Durchsage auf Japanisch beizusteuern.

Ein ganzer Zug als Sprachenkonzert, das hat ihr gefallen, und sie will noch weitere Details schildern, bricht ihre Erzählung dann aber doch ab, indem sie sich nach ihrer Zimmernummer erkundigt und schließlich den Aufzug hinauf in den zweiten Stock nimmt. Ihre Zimmertür ist verschlossen, und sie muss ein Plastikkärtchen vor ein kleines, rot aufglimmendes Licht halten, bis direkt hinter dem Licht ein leicht schnurrendes Geräusch zu hören ist und das Rot danach sofort auf Grün springt.

Sie betritt das große Zimmer und sieht gleich, dass der Fahrer ihr Gepäck bereits im Raum verteilt hat. Die große Reisetasche steht neben dem niedrigen Tisch, einer der Koffer ruht schwer auf einer hölzernen Ablage, während der andere vor einem der Schränke kauert. Sie zieht ihre helle Jacke aus und geht kurz ins Bad, sie schaut in den Spiegel und kippt dann das Fenster, sie wäscht sich die Hände, geht zurück in den Schlafraum, sucht in ihrer Tasche nach einer Bürste und fährt sich damit mehrmals durchs Haar.

Dann nimmt sie einen Schluck aus der bereitstehenden Wasserflasche und setzt sich an den Schreibtisch. Sie räumt alles, was an Prospekten darauf herumliegt, in ein Fach und holt das Aufnahmegerät aus ihrer Aktentasche. Sie postiert es vor sich, lässt es laufen und beginnt, einen Pfirsich in mundgerechte Stücke zu schneiden. Sie schneidet die Stücke zurecht und isst sie dann langsam auf, während sie hinaus auf die mächtigen grauen Rücken der nahen Berge schaut.

Sie ist etwa eine halbe Stunde in ihrem Zimmer, dann wählt sie die Nummer der hoteleigenen Buchhandlung. Als sie die Stimme einer älteren Frau hört, sagt sie:

– Guten Morgen … – ja, ich bin’s, Jule, ich bin gerade angekommen. Ich packe meine Sachen aus, nehme ein Bad und komme dann bei Dir vorbei. Ich freue mich.

3

ALS ER das Gepäck ausgepackt und alles in den Schränken und im Badezimmer untergebracht hat, wirft er noch einen letzten Blick auf den großen Schreibtisch. Der Laptop ist geöffnet und angeschlossen, steht aber ganz am linken Rand, während sich in der Mitte des Tisches ein Stoß weißer Blätter befindet, neben dem unzählige Stifte und mehrere Füller in Reih und Glied liegen. Am anderen Rand des Tisches aber sind Bücher und einige schwarze Notizkladden untergebracht, er schaut sich das alles an, als hätte nicht er selbst dieses Bild komponiert, sondern ein Fremder, dessen Arbeit er begutachten müsse. Schließlich steckt er eines der Notizhefte in die rechte Tasche seiner Jacke und nimmt noch zwei Stifte zum Schreiben mit: einen Bleistift und einen Kugelschreiber. Dann verlässt er sein Zimmer und geht hinunter ins Erdgeschoß, wo er sich auf die Suche nach der Buchhandlung begibt.

Wie schon bei seinem ersten Aufenthalt in diesem Hotel irrt er zunächst wieder ein wenig herum, weil er den Plan der Anlage noch nicht im Kopf hat. Das Ganze hier hat etwas Labyrinthisches, in dem er sich erst wieder zurechtfindet, wenn er alle Stockwerke einmal durchlaufen hat. Diesmal kommt er in der Lobby des Erdgeschosses an, wo die jungen Frauen an der Rezeption ihn etwas ratlos anstarren, weil er dort stehen bleibt und sich umschaut. Rasch tut er so, als betrachte er eines der Bilder an den Wänden, dann geht er vorsichtig weiter um eine Ecke und trottet dann leicht verlegen den Gang entlang. Er weiß wahrhaftig nicht, wo er jetzt landen wird, erst als er erneut um eine Ecke biegt, begreift er, dass er den richtigen, direkten Weg gewählt hat, denn nun sieht er von ferne bereits die großen Glasscheiben der Buchhandlung, die in einem der langen Hotelflure untergebracht ist.

Er geht langsamer und bleibt dann einen Moment stehen, er genießt es, Katharina, die Buchhändlerin, wiederzusehen, wie sie da in ihrem Lehnstuhl in einer eher dunkleren Ecke der Buchhandlung neben einem kreisrunden Tisch unter einer an einem Regal angebrachten Leselampe sitzt. Sie trägt ein langes, dunkelrotes Kleid, die schwarzen Haare hat sie hochgebunden, zum Lesen benutzt sie eine kleine, ebenfalls schwarze Brille, aber sie ist so in ihr Buch vertieft, dass sie nicht einmal aufschaut, als er den Raum betritt.

Er sagt zunächst nichts, er bleibt im Eingang stehen und schaut sie weiter an, sie ist eine schöne, bereits ältere Frau mit einem markanten, schmalen Gesicht. An der rechten Hand trägt sie einen Goldring, und auf dem kreisrunden Tisch steht eine Schale mit Tee, den sie gerade erst eingegossen zu haben scheint, denn auf der goldbraunen Flüssigkeit dreht sich noch eine kleine Dampfwolke.

Schließlich löst er sich vom Eingang und geht auf sie zu. Er begrüßt sie, da schaut sie auf und lächelt sofort. Sie legt das Buch beiseite, erhebt sich und kommt ihm entgegen, dann umarmen sie sich und verweilen in dieser Umarmung ein paar Sekunden.

– Ich habe uns einen Tee gekocht, sagt sie und lächelt weiter, ihm geht die herzliche Begrüßung etwas nach, deshalb antwortet er nicht gleich, vielmehr steht er da wie ein Kind, dem man erst erklären muss, was es als Nächstes zu tun hat.

– Was ist? Warum sagst Du denn nichts? fragt sie, er schluckt einen Moment und beginnt dann endlich zu reden. Er erzählt etwas umständlich von der Anfahrt und dass er sich reichlich Arbeit mitgebracht habe, sie nickt und holt eine zweite Schale, die sie mit dem noch heißen Tee füllt. Dann setzen sie sich beide an den kreisrunden Tisch und trinken, während er nun etwas freier zu sprechen beginnt.

Sie unterbricht ihn nicht, sie hört ihm eine Weile lang zu, dann erzählt sie von der Buchhandlung, sie arbeitet erst seit Kurzem in diesem Hotel, vorher hatte sie eine eigene Buchhandlung in München.

– Hier ist es natürlich viel ruhiger, sagt sie, und hier kann ich mir jetzt endlich auch ein viel kleineres Sortiment leisten. Nur Bücher, die ich selbst mag und von denen ich glaube und hoffe, dass die Hotelgäste sie auch mögen. Viele der Gäste kenne ich inzwischen schon gut, sie kommen zu mir in die Buchhandlung und erzählen mir ihre Geschichten und von ihren Sorgen, und dann überlege ich, welches Buch das richtige für sie wäre.

– Na so was, sagt er, eigentlich hattest Du doch immer eine Distanz zu allem, was mit Therapeutischem zu tun hat, Du hast darüber doch immer Deine Witze gemacht.

– Früher habe ich das, antwortet sie, aber je älter ich werde, umso mehr therapeutische Qualitäten entdecke ich an mir. Dabei sage ich den Hotelgästen ja gar nichts Besonderes, ich sage nur ein paar klare und vernünftige Dinge und überlege, wie ich selbst in dieser oder jener Situation handeln würde. Und genau das reicht vielen Gästen schon, denn sie schätzen die Eindeutigkeit und die Klarheit, und dass ihnen einfach mal jemand sagt: Das würde ich tun und das nicht, das mag ich, das nicht, und zwar aus diesen oder jenen Gründen. Daneben aber erfahre ich natürlich auch etwas über die Bücher, ich gebe vielen Gästen eine kleine Auswahl mit aufs Zimmer, sie lesen die Bücher an und erzählen mir dann, wie ihnen diese Buchanfänge gefallen haben. Inzwischen habe ich sogar begonnen, die Kommentare der Gäste auf kleinen Karteikarten zu notieren. Mit Datum und Namen, einfach nur das, was sie erzählen.

Sie erhebt sich und verschwindet hinter einem kleinen Vorhang. Dann taucht sie wieder auf und winkt ihn zu sich heran. Er kommt zu ihr und schaut in die kleine Kammer, die sich hinter dem Vorhang befindet. Auf den Regalen stehen lauter Karteikästen mit Hunderten von Karteikarten, anscheinend in den verschiedensten Farben beschriftet.

– Das ist mein geheimes Archiv, flüstert sie, und er muss nun doch darüber lächeln, wie sie das alles mit beinahe kindlichem Stolz präsentiert.

– Darf ich mal hineinschauen? fragt er sofort.

– Vielleicht später einmal, antwortet sie.

Dann aber schließt sie die Kammer wieder ab und zieht den Vorhang hinter sich zu, sie nimmt ihn für einen Moment an die Hand und geht mit ihm zum Eingang.

– Komm, sagt sie, wir laufen ein paar Schritte, Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie ich mich darauf gefreut habe, mit Dir ein paar Schritte zu laufen.

Sie holt ein kleines Schild aus ihrem Schreibtisch und hängt es an einem Haken an der Innentür auf: Ich bin gleich wieder da, steht darauf, und weiter: Wenn Sie es eilig haben, rufen Sie folgende Nummer an …

– Du benutzt jetzt ein Handy? fragt er.

– Ja, antwortet sie, während sie die Buchhandlung abschließt, ich sagte doch, ich bin jetzt auch eine Therapeutin, und Therapeutinnen sollten eben gleich zur Stelle sein.

Sie verlassen das Hotel und biegen auf einen Spazierweg ein, der in die nahen Wälder und weiter hinauf bis ins Gebirge führt. Er ist von ihrem Projekt, Karteikarten mit Notizen über die Lektüren ihrer Kunden anzulegen, beeindruckt, er fragt sie, warum sie nicht schon während ihrer gemeinsamen Telefonate in den letzten Wochen davon erzählt hat.

– Weil ich mir nicht sicher war, ob ich das Projekt durchhalten würde, antwortet sie. Hätte ich das Projekt aber nicht durchgehalten, hätte ich Dir auch nichts davon erzählt, nein, bestimmt nicht, das wäre mir zu peinlich gewesen.

– Ich erzähle Dir immer von meinen Projekten, antwortet er, Du bist der einzige Mensch, dem ich davon erzähle, das weißt Du, Du bist in diesen Dingen meine wichtigste Vertrauensperson. Immer, wenn ich ein Projekt habe oder an einem schwierigen oder heiklen Punkt angekommen bin, spreche ich mit Dir. Das hilft, ja, es hilft wirklich fast immer.

– Und, wie steht es? fragt sie, bist Du wieder an einem heiklen Punkt angekommen und brauchst meine Hilfe?

– Ja, sagt er, Du vermutest richtig, ich brauche Deine Hilfe.

Sie hakt sich bei ihm ein, sie gehen nun den ockergelben Spazierweg entlang, und er spricht sie noch einmal auf ihr Notierprojekt an. Er kommt nicht von diesem Thema los, es erstaunt ihn, dass sie derart konsequent an diesem Projekt gearbeitet hat, ein so unermüdliches Notieren und Schreiben passt eigentlich gar nicht zu ihr, während ihrer Münchener Jahre hat sie nie von so etwas gesprochen.

Während sie weiter davon erzählt, denkt er darüber nach, ob sie sich verändert hat. Ja, wahrhaftig, es kommt ihm so vor, als hätte sie sich gegenüber ihrer Münchener Zeit stark verändert und als wäre sie ruhiger und entschiedener geworden, vielleicht ist ihr das gar nicht so genau bewusst, er selbst empfindet die Veränderungen an diesem Vormittag aber ganz deutlich. Er sagt nichts und denkt vorerst auch nicht weiter darüber nach, stattdessen hört er ihr genau zu, bis ihr Handy sich plötzlich durch ein lautes Summen bemerkbar macht.

– Aha, sagt er, leicht ironisch, das ist wohl ein Notfall?

Sie lächelt und meldet sich an ihrem neuen, winzigen, in ihrer Hand beinahe verschwindenden Handy. Sie geht ein paar Schritte zur Seite und spricht sehr leise, nach dem kurzen Gespräch kommt sie wieder zu ihm.

– Ich gehe zurück in die Buchhandlung, sagt sie, ich möchte einen lieben Kunden nicht länger warten lassen.

– Weißt Du schon, mit welchen Texten Du ihn ruhig stellen wirst? fragt er.

– Du hast mein Projekt anscheinend noch nicht richtig verstanden, antwortet sie, Du wirst es aber sehr bald verstehen, da bin ich sicher.

Sie umarmt ihn kurz, dann dreht sie sich um und geht eilig den Feldweg zurück. Er überlegt, ob er allein noch weiter in die Höhe gehen soll, aber nein, dazu hat er jetzt keine Lust, und so macht auch er kehrt und geht langsam zurück zum Hotel. Dort durchquert er die Lobby und das Hotelrestaurant, bis er auf der anderen Seite des Flügels die Liegewiesen erreicht, die sich direkt an das Hotel anschließen. Er geht bis zu ihrem Rand, wo eine einzelne Bank steht, er setzt sich und schaut hinab auf das im Sonnenlicht hell vibrierende Wasser des Pools unten in der Schlucht.

4

NACH EINER Weile holt er das kleine Notizheft aus seiner rechten Jackentasche und legt es auf seine Knie. Er schlägt es aber nicht sofort auf, er muss erst seine Gedanken sortieren. Seit Katharina ihre Münchener Buchhandlung geschlossen hat und hierher gezogen ist, hat er sie nicht mehr gesehen. Ungefähr einmal pro Woche haben sie telefoniert, aber es waren kurze Gespräche, schließlich weiß sie, dass er nicht gern telefoniert. Vor wenigen Minuten sind sie sich zum ersten Mal wieder begegnet, und obwohl sie kaum eine Stunde miteinander gesprochen haben, spürt er doch schon, wie gut ihm dieses Sprechen tut.

In ihrer Münchener Buchhandlung war sie eine umtriebige Buchhändlerin mit zwei jungen Angestellten, immer auf der Suche nach dem Neusten, dem Interessanten, dem Besonderen. Sie war eine hemmungslose, unersättliche Leserin, und wenn sie vom vielen Lesen genug hatte, trieb sie sich in Cafés, im Theater oder im Kino herum. Nun aber lebt sie auf einer Insel, stundenlang sitzt sie allein in ihrer Buchhandlung und vertieft sich in ihre Bücher, vielleicht sind sie in ihren Augen inzwischen zu Therapeuten geworden, und vielleicht versucht sie sogar, solche Therapien dann auch an ihre Kunden weiterzugeben, ja, so könnte es sein. Letztlich hat sie aber wohl nach Lesedrogen gesucht, nach Lektüren, die gleich in die Gehirn- und Blutströme gehen, ohne einen umwegigen Bezug zu so etwas wie Bildung oder zu flüchtigen Tagesthemen  – das nämlich sucht sie nicht, sie sucht Lesedrogen, deren Lektüren einen nicht unberührt lassen.

Er schaut auf, als er eine Frau erkennt, die sich dem Pool in der Schlucht nähert. Sie trägt einen hellgrünen Bademantel und beugt sich hinab, um mit der rechten Hand kurz durch das Wasser zu fahren. Dann zieht sie den Bademantel aus und legt ihn auf eine Liege, neben der auch bereits eine dunkelblaue Sporttasche steht. Sie bindet ihre langen, blonden Haare zusammen, dann geht sie langsam an den Beckenrand und springt mit einem Kopfsprung ins Wasser.

Er zuckt kurz zusammen, als spürte auch er die plötzliche Kühle, er sitzt da mit leicht geöffnetem Mund, als hätte er noch nie eine Schwimmerin gesehen, die in diesen hell leuchtenden Pool dort unten springt. Er schaut ihr zu, wie sie langsam eine Bahn schwimmt, sie wendet und bleibt dann eine Weile unter Wasser. Sie schwimmt in einem sehr konstanten, zügigen Tempo, ändert aber immer wieder den Stil, meist schwimmt sie Brust, dann aber auch auf dem Rücken, er starrt jetzt hinunter auf dieses kleine Schauspiel, als würde es eigens für ihn gespielt und präsentiert.

Nach einigen Minuten schüttelt er über sein unablässiges Starren aber den Kopf, er versucht, sich an etwas zu erinnern: Wo hat er einmal Bilder eines Pools mit einem derartig gleißenden Hellblau gesehen, war es nicht neulich in einer Ausstellung, oder war ein solches Motiv unter den Fotografien, die er sich vor Kurzem in einer Münchener Galerie angeschaut hat?

Die junge Frau trägt einen schwarzen Badeanzug aus einem Stück mit einem orangefarbigen Oberrand, sie wirkt wie eine geübte Schwimmerin, vielleicht ist sie sogar eine Leistungssportlerin, jedenfalls macht dieses Schwimmen einen durchaus gekonnten Eindruck. Ohne ihr Tempo auch nur minimal zu verändern, zieht sie ihre Bahnen, das alles sieht sehr leicht und lässig aus, als machte es ihr nicht die geringste Mühe.

Er beginnt, die Bahnen im Stillen zu zählen, er bekommt den Blick gar nicht los von diesem glitzernden Schwarz, das wie aufgedreht im Wasser hin und her gleitet.

Als müsste er auf das alles sofort reagieren, öffnet er sein Notizbuch und schreibt, nachdem er zunächst Zeit und Ort notiert hat: Der tief gelegene Pool und die Schwimmerin … – mein hypnotisiertes Schauen auf diese Erscheinung von Hellblau und Schwarz, mit einer Minimalspur von Orange. Dazu das starke Blond ihrer Haare. Eine reine Erscheinung von Farben, für das Auge sehr wohltuend, weil das Hellblau sich kaum verändert, während das Schwarz eine sehr einfache, vorhersehbare Spur zieht. Die reine Entspannung, für diese Frau, aber vielleicht noch mehr für mich, dessen Sehgenuss noch größer sein mag als der Genuss, den die Schwimmbewegungen verursachen.

Er zieht einen kleinen Strich unter diese Notiz, als wollte er strikt dafür sorgen, dass er nicht weiterschreibt, er starrt in die Tiefe, seine Gedanken aber treiben noch einmal zu Katharina zurück. Früher hat er ihre Münchener Buchhandlung regelmäßig besucht, er fühlte sich als ein Teil dieser Buchhandlung, oft hat er sich stundenlang dort aufgehalten, und immer gab es in den drei kleinen, durchgehenden Räumen mit den schön geschwungenen Jugendstilpfeilern etwas zu entdecken.

Er hat den Geruch dieser Buchhandlung sehr gemocht, diesen leichten, sofort etwas melancholisch stimmenden Bücherdunst, dieses Ausatmen der gedruckten Werke, von denen manche schon etwas Versumpftes, Müdes, Unbewegliches hatten, weil sie nie aus dem Regal geholt wurden, sondern oft Monate, ja vielleicht sogar Jahre darauf warteten, endlich beachtet und gekauft zu werden. Den Büchern, die Katharina besonders mochte, räumte sie lange Aufenthaltsfristen ein, obwohl das natürlich nicht effizient war.

Manchmal hat sie auch noch geraucht, und dann setzte sich der Duft ihrer kleinen Zigarillos wie sinkender Nebel in der Buchhandlung ab und vermischte sich aufs Schönste mit dem ja ebenfalls trockenen Geruch der Bücher. Er hat sie noch genau vor Augen, wie sie häufig in der Tür ihres Geschäftes stand, ein Zigarillo in der Rechten, die Brille auf der Stirn, neugierig auf jeden, der sich der Buchhandlung näherte.

Er hat sie oft zum Schreiben animiert, aber sie hat sich seinem Drängen mit leicht fadenscheinigen Ausreden entzogen. Jetzt aber hat sie anscheinend wirklich zu schreiben begonnen, und das wohl nicht zufällig hier, in dieser Abgeschiedenheit. Vielleicht sind ihr Schreiben und Notieren genau das Projekt, auf das ihr Leben zuläuft. Vielleicht erlebt sie an diesem Ort, abseits von München und abseits von all den Begegnungen und Aktivitäten ihres bisherigen Lebens, eine Art von neuer Erfüllung.

Er starrt noch immer hinunter auf den Pool, die Schwimmerin zieht ihre Bahnen jetzt etwas langsamer, sie schwimmt aus und aalt sich beinahe im Wasser, mal auf dem Rücken, mal auf der Seite, sie spielt einen leicht selbstverliebten Fisch, der in einem Aquarium von Hunderten müder Augen beobachtet wird und schließlich resigniert und sich kaum noch bewegt. Und wahrhaftig, er sieht jetzt, wie sie sich am Beckenrand hochzieht und das Becken verlässt, sie schüttelt sich kurz und eilt dann hinüber zur Liege, wo sie ein Handtuch aus ihrer Sporttasche zerrt.

Er befürchtet einen Moment, dass sie zu ihm hinaufblicken könnte, deshalb duckt er sich ein wenig, als könnte ihn diese Verlegenheitsgeste wirklich unsichtbar machen. Er überlegt auch, ob er aufstehen und davonschleichen soll, dann aber ruft er sich zur Vernunft und senkt den Kopf und blickt stur in sein Notizheft, in das er auf einer neuen Seite notiert: Wer ist diese Schwimmerin? Ich habe ihr beim Schwimmen zugeschaut, und ich habe noch nie jemanden so gelöst und entspannt schwimmen sehen.

Er reißt die Seite heraus und faltet sie zusammen. Dann steckt er den Zettel in eine kleine Spalte der Holzbank. Vielleicht sieht und findet sie ihn, vielleicht auch nicht – er will das dem Zufall überlassen. Er schaut noch einmal hinunter in die Schlucht, sie trocknet sich gerade die Haare und schwingt sie zwischendurch heftig nach links und rechts. Dann reibt sie sich mit dem Handtuch sehr gründlich ab und schlüpft in den Bademantel. Gleich wird sie ihre Sachen zusammenpacken und den schmalen Pfad hinaufkommen.

Er atmet aus, dann steht er auf, steckt den gefalteten Zettel noch etwas tiefer in die Holzspalte und verschwindet, um die Sache wirklich ganz dem Zufall zu überlassen.

5

IM BAD ihres Hotelzimmers öffnet sie ihre Sporttasche und greift nach den nassen Handtüchern. Sie breitet sie über dem Rand der Badewanne aus, entledigt sich ihres Bademantels und streift dann ihren Badeanzug ab, den sie neben die Handtücher legt. Einen langen Moment schaut sie in den großen Spiegel, sie steht jetzt nackt da, eine schlanke, durchtrainierte Frau, müde und etwas kraftlos geworden vom schnellen Schwimmen. Sie tritt näher an den Spiegel heran und streicht sich mit zwei Fingern über die dunklen Ringe unter den Augen, dann holt sie eine Hautcreme hervor und maskiert das Gesicht mit einem dünnen weißen Film, der schon kurz nach dem Auftragen seinen Glanz verliert und matter wird.

Sie geht hinüber in den Wohnbereich und drückt kurz auf die Wiedergabe-Taste ihres Aufnahmegeräts, dann legt sie sich mit dem Rücken auf das breite Bett. Sie schließt die Augen und hört nun plötzlich die Naturmusik ihrer Ankunft vor kaum zwei Stunden, sie hört das Knistern und Flirren des Lichts, als wären die Sonnenstrahlen Musik geworden, und sie hört das regelmäßige Atmen eines sehr schwachen Windes wie ein kindliches, feines Pusten.

Wer ist diese Schwimmerin? – die seltsame Frage geht ihr nicht aus dem Kopf. Seit sie den kleinen weißen Zettel, der wie eine winzige Flagge aus dem Spalt einer Holzbank direkt auf ihrem Weg herausragte, gefunden hat, denkt sie ununterbrochen über diese Zeile nach. Stammt er von einem Voyeur, der sie beobachtet und jeden ihrer Schritte verfolgt? Oder steckt etwas Harmloseres dahinter? Jedenfalls glaubt sie sicher zu wissen, dass ein Mann diese Frage notiert hat, sie hat die bestimmte, ruhige und graphisch sehr ausdrucksstarke Handschrift dauernd vor Augen und bringt sie mit einem Mann in Verbindung, mit einem Mann, der allein ist …, mit einem Mann, der sich die Zeit genommen hat, sie aufmerksam und in aller Ruhe beim Schwimmen zu beobachten … – so treiben ihre Gedanken und bekommen nichts Konkretes zu fassen.

Sie kann von ihnen aber nicht loslassen, denn diese ersten Bilder eines noch fernen Fremden wecken eine gewisse Sehnsucht in ihr, sie spürt diese Sehnsucht genau, es ist die Sehnsucht nach einer starken, wohltuenden, fast brüderlichen Nähe, die Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem zusammen man auf diesem Bett liegen könnte, ohne in irgendwelche Problemdebatten verwickelt zu sein. Diese Gedanken und Bilder beherrschen sie so stark, dass sie ihre stärker werdende Müdigkeit überlagern. Normalerweise wäre sie jetzt vielleicht für einige Minuten eingeschlafen und hätte sich so von ihrem anstrengenden Schwimmen erholt, nun aber wird sie von Minute zu Minute wacher, die Wachheit kriecht unter dem Müdigkeitsmantel ihres Körpers hervor und macht sie etwas unruhig.

Als die Naturmusik beendet und in ein monotones, stumpfes Rauschen übergegangen ist, steht sie auf und schaltet das Aufnahmegerät aus. Sie schaut nach, ob in der im Kleiderschrank versteckten Minibar eine kleine Flasche Sekt für sie bereitsteht, und als sie eine dunkelgrüne, gut gekühlte Flasche findet, öffnet sie rasch den Verschluss und gießt den gesamten Inhalt in das große Wasserglas auf ihrem Schreibtisch.

Sie mag kleine, schmale Sektgläser nicht, sie mag höchstens Sektkelche, häufig trinkt sie den Sekt aber auch aus großen Gläsern, so wie jetzt, als wäre Sekt gar nichts Besonderes, sondern ein ganz normales Getränk, das sie jetzt einfach braucht, um den Durst etwas zu stillen. Überhaupt kann sie mit all der Feierlichkeit, die das Trinken von Champagner, Sekt oder Wein begleitet, nichts anfangen, sie hasst all dieses Getue, das Anheben eines Glases, das Zuprosten, das Zurschaustellen des Genusses.

Ein Genuss, den man zur Schau stellt, verliert doch sofort an Wirkung, Genuss stellt man niemals zur Schau, der reichste Genuss ist der vollkommen stille Genuss, still und selbstverständlich und zu einem gehörig wie eine bestimmte Musik – das alles geht ihr jetzt durch den Kopf, und sie erwischt sich dabei, dass sie wieder an den fernen Fremden denkt, dem sie gerne erzählen würde, was ihr gerade durch den Kopf geht. Warum aber denkt sie immer wieder an ihn? Was lässt sie eine solch starke Nähe zu einem Unbekannten empfinden, angesichts einiger weniger, flüchtig auf ein Notizblatt gekritzelter Worte?

Sie geht wieder ins Bad und zieht den Bademantel über, dann setzt sie sich an den Schreibtisch und trinkt das Glas Sekt gleich zur Hälfte leer. Sie glaubt zu spüren, wie der kräftige Schluck durch den ganzen Körper rauscht, so hellwach macht er sie. Sie greift nach der hoteleigenen Schreibmappe, öffnet sie und lächelt ein wenig, als sie die vielen Bögen Briefpapier, die Briefumschläge und den Block mit den Notizzetteln erkennt, alle in einem matten Hellgrau mit dem Namen des Hotels versehen.

In Hotels regen diese Papiermengen sie immer an, etwas zu notieren, ja sie ist geradezu versessen darauf, diese schönen Bögen vollzuschreiben. Eigens dafür hat sie immer mehrere Stifte mit sehr feinen Minen in den verschiedensten Farben dabei. An jedem Tag ihres Aufenthalts lässt sie sich neue Lagen Briefpapier aufs Zimmer bringen, und häufig schickt sie ihre Hotel-Aufzeichnungen dann an ihre eigene Adresse, nach München. Sie besitzt eine große Sammlung solcher Aufzeichnungen aus den verschiedensten Ländern der Erde, hellgrüne, dünne Briefumschläge aus London, ockergelbe, dick gefütterte aus Indien, gelbweiße mit dem päpstlichen Wappen aus Rom, im oberen rechten Eck leuchten die kleinen Briefmarkengemälde, und ihre Schrift gefällt ihr, wie sie da ihren eigenen Namen und ihre Münchener Adresse fixiert hat.

Sie nimmt einen Fineliner aus ihrer Tasche, legt eine Seite des Briefpapiers vor sich hin und notiert jeweils auf Mitte:

Wann und warum ich gern Sekt trinke

Ich trinke Sekt gern zur Begrüßung – um einen Ort zubegrüßen oder um mich selbst an diesem Ort zu begrüßen.Ich trinke Sekt gern allein, in kleinen Mengen.Ich trinke Sekt gern am späten Vormittag oder am frühenAbend, kurz vor einer größeren Mahlzeit.Ich trinke Sekt fast niemals zu Haus, sondern meist nur»auswärts«, wenn ich irgendwo »ankommen« möchte.

Während ihres letzten Aufenthaltes in diesem Hotel hat Katharina, die Buchhändlerin, ihr ein kleines Buch mit einem alten japanischen Text aus dem elften Jahrhundert geschenkt. Es war das Tagebuch einer Hofdame, die am japanischen Kaiserhof lebte und alle paar Tage ihre Vorlieben und Abneigungen notierte. Jede Notiz hatte ein Thema und unter dem Thema waren dann ein paar lose, noch ungeordnete Gedanken aufgeschrieben.

Das kleine Tagebuch hieß »Kopfkissenbuch« – dieser Titel hatte ihr sehr gefallen, wie sie auch die kurzen, nie allzu nachdenklichen, sondern eher wie spontan dahingesagten Aufzeichnungen beeindruckt hatten. Sie hatte begonnen, selbst Aufzeichnungen in dieser Art zu verfassen, und sie hatte einige dieser Aufzeichnungen Katharina geschenkt, darunter auch diese, an die sie sich noch genau erinnert:

Warum ich Katharinas Hotelbuchhandlung mag

Weil es in dieser Buchhandlung nur Bücher gibt,die Katharina ausgewählt hatWeil es in ihr nach Tee, Gewürzen und Wein duftetWeil die Bücher nicht alphabetisch geordnet sind,sondern nach ThemenWeil die Themen nicht die üblichen Themen sind, sondernpoetische, von Katharina erfunden und entworfenWeil diese Buchhandlung Katharinas große,intime Welterzählung istWeil man in dieser Buchhandlung auch Musik hören kannWeil ich in dieser Buchhandlung ein gut Stück zu Hause bin

Die Erinnerung an diesen Text stimmt sie froh, deshalb legt sie die gerade mit den Sekt-Notaten beschriebene Seite Briefpapier mit einem gewissen Schwung in die Schreibmappe und klappt sie zu, sie leert das Glas bis auf den Grund und wartet noch eine Weile, bis sie den Geschmack ganz ausgekostet hat. Dann steht sie auf, legt den Bademantel ab und zieht sich ein langes, schwarzes Kleid über.

Im Bad bürstet sie sich kurz durchs Haar, zieht mit einem Lippenstift die Schwingung ihrer Lippen nach und verlässt dann ihr Zimmer, um sich auf den Weg zur Buchhandlung zu machen. Als sie die Tür ihres Zimmers schließen will, geht sie noch einmal an den Schreibtisch zurück. Sie greift nach dem Notizzettel, den sie dort abgelegt hat, und sie überfliegt erneut die fremde Schrift: Wer ist diese Schwimmerin? Dann steckt sie den Zettel in eine Tasche ihres Kleides und verlässt nun endgültig ihr Zimmer.

6

ER ZIEHT einen dunkelblauen Pullover über und öffnet den Kragen des darunter getragenen weißen Hemdes weit. Er trägt eine dunkelbraune Cordhose und schwarze Schuhe, er fühlt sich jetzt »herbstlich« gekleidet, und in dieser herbstlichen Kleidung verlässt er sein Zimmer und geht den Hotelflur entlang, hinüber zum Aufzug.

Er muss eine Weile warten, dieser Aufzug bewegt sich unglaublich langsam, er erinnert sich jetzt daran, denn schon während seines vorigen Aufenthalts hat er sich über das Tempo dieses Aufzugs gewundert, dessen Fahrbewegung man in seinem Innern nicht einmal wahrnimmt. Endlich öffnet sich aber doch die Tür, und er schaut kurz auf. Dicht vor der Rückwand der ringsum mit Spiegeln gesäumten kleinen Kabine steht eine Frau in einem langen schwarzen Kleid. Sie zuckt kurz zusammen, während er eintritt, sie stehen sich jetzt dicht und direkt gegenüber, und er wendet den Blick kurz zur Seite, um zu überprüfen, ob die Taste des Erdgeschosses auch aufleuchtet.

Ja, die Taste leuchtet auf, und hinter ihm schließt sich jetzt die Tür, so dass er noch einen kleinen Schritt näher an die schwarz gekleidete Frau herantritt. Sie schaut ihn nicht an, sie blickt zu Boden, er aber kann den Blick nicht von ihr abwenden, denn er begreift sofort, dass es sich bei dieser Frau um die Schwimmerin handelt, die er vor Kurzem noch beim Schwimmen im Hotelpool beobachtet hat.

Sie hat eine breite, schöne Stirn, ihre blonden Haare gehen an den Spitzen leicht ins Rötliche über. Sie scheint ein wenig zu schwitzen, denn zwischen den Haaransätzen erkennt er einen schwachen Film minimaler, leuchtender Schweißperlen. Sie hat die Haare streng nach hinten gekämmt, so dass die Stirn frei ist und die Ohren das dichte Haar wie zwei hellrote Spangen rahmen. Von der Nasenwurzel aus verteilen sich einige Sommersprossen über die oberen Backenknochen, sie wirken wie künstliche Tupfer, als habe sie diese Tupfer ganz bewusst in bestimmten Abständen platziert, um in den sonst ausdrucksarmen Partien des Gesichts ein paar Akzente zu setzen.

Ihre Augenbrauen und die Augenwimpern sind dunkelblond und verdecken ihre Augen, er gäbe etwas darum, in diese Augen schauen zu können, aber das ist nicht möglich, denn sie blickt, während sich der Aufzug unmerklich bewegt, weiter starr nach unten. Er aber schaut sie ununterbrochen an, er erlaubt es sich, weil sie es anscheinend nicht mitbekommt, er schaut auf ihre breiten, mit dunkelrotem Lippenstift nachgezogenen Lippen, und er bemerkt schließlich ihre großen Hände, eng anliegend zu beiden Seiten des Kleides.

Er genießt diese langen Sekunden sehr, es stört ihn nur, dass er diese Frau nicht berühren kann, denn es drängt ihn, sie genau jetzt mit einer kleinen Geste näher an sich heranzubitten. Er glaubt sogar zu spüren, dass sie ein Paar sind, es ist seltsam und beinahe unglaublich, aber er spürt es sehr direkt, und es ist, als würden nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Empfindungen aufeinander reagieren.

Entsteht nicht bereits eine Verbindung zwischen ihnen beiden und bewegen sich ihre Körper nicht unmerklich aufeinander zu? Ja, genau dieses Gefühl hat er, es ist wie eine Art feiner Sog, als löste sich der eigene Körper wie der Inhalt eines auslaufenden Gefäßes im Körper des Gegenübers auf. Dieses Gefühl verwirrt ihn aber sofort, er will seine Gedanken ordnen und der Sache rasch auf den Grund gehen, dafür ist jetzt aber keine Zeit, denn die Tür des Aufzugs öffnet sich nun im Erdgeschoss, und er muss sich zum Ausgang hin umdrehen, damit er den Aufzug verlassen kann.

Zum Glück fällt ihm ein, dass er ihr den Vortritt lassen könnte, er macht also eine kurze Bewegung zur Seite und deutet mit der rechten Hand an, dass sie den Aufzug vor ihm verlassen soll, da schaut sie zum ersten Mal auf, sie schaut ihn an, und er erkennt jetzt ihr offenes, bestimmtes Gesicht. Genauso hatte er es sich vorgestellt: ein freies, zur Ruhe gekommenes Gesicht ohne alle Spuren von falscher Eile und Eitelkeit.

Sie schauen sich beide einen Moment lang an, und es kostet ihn starke Überwindung, sie jetzt nicht einfach an der Hand zu nehmen, es wäre doch so einfach und richtig, genau das jetzt zu tun. Sie sind etwa gleich groß, sie würden gut zueinander passen, langsam nebeneinander hergehend, sich leise unterhaltend … – so denkt er und ist zugleich irritiert darüber, was ihm da durch den Kopf geht.

Sie lächelt einen sehr kurzen Moment und nickt dann, als wollte sie sich für den gewährten Vortritt bedanken, dann verlässt sie den Aufzug und biegt nach links ab, während er ihr ganz selbstverständlich folgt, obwohl er gar nicht vorhatte, nach links und damit in die Richtung der Buchhandlung zu gehen. Er geht aber dennoch einige Schritte hinter ihr her, ihr langes schwarzes, sonst vollkommen schmuckloses Kleid gefällt ihm, auch ihr leichtes, fast flottes Gehen mag er sehr, während ihm weiter noch auffällt, dass sie nichts in Händen hält, nicht einmal eine kleine Tasche oder sonst ein Accessoire hat sie dabei, sie geht sehr locker und beinahe beschwingt den Gang entlang, und sie geht wahrhaftig direkt auf die Buchhandlung zu.

Als er das endlich begreift, macht er vorsichtig kehrt, er möchte nicht den Eindruck erwecken, sie zu verfolgen, deshalb geht er die gerade gegangene Strecke langsam wieder zurück. Es ist kurz vor zwölf. Da er nur sehr wenig gefrühstückt hat, hat er jetzt etwas Appetit. Die beiden Hotel-Restaurants im Erdgeschoss, von denen das eine im Außenbereich, das andere aber drinnen, in einem lang gestreckten Hotelflügel, untergebracht ist, haben jedoch noch nicht geöffnet, er sieht aber, dass bereits die Tische eingedeckt und die Kellnerinnen und Kellner mit den letzten Vorbereitungen für die Mahlzeiten beschäftigt sind.

Um die Zeit bis zum Mittagessen zu überbrücken, geht er in die Hotelbar, die Bar ist vollkommen leer, deshalb wird er gleich bedient, als er vor der Theke haltmacht und sich einen Campari bestellt. Er zieht sich in eine Ecke der Bar zurück, dort findet er einen bequemen, breiten Sessel und einen kleinen, runden Tisch, auf dem ihm der Barkeeper den bestellten Campari serviert. Die rote Flüssigkeit zerläuft auf einem breiten Sockel von zerstoßenem Eis so künstlich und dramatisch wie auf einem Popart Gemälde, er starrt auf das Glas und schüttelt den Kopf, dann aber trägt er es zurück zur Theke und erklärt dem Barkeeper, dass er kein Eis im Campari mag, das Glas soll vielmehr beinahe randvoll sein, gut gefüllt, ein kompakter, roter Körper ohne zerstoßenes Eis.

Der Barkeeper nickt kurz und füllt sofort ein anderes Glas mit Campari, es kommt ihm so vor, als hörte der Mann gar nicht mehr auf, Campari in das Glas zu gießen, deshalb macht er eine kurze Geste, dass es nun genug sei, und geht dann mit dem gut gefüllten Glas wieder zurück an seinen Platz. Er nippt an seinem Getränk, er schaut durch die großen Fenster ins Freie, wo einige orangefarbene Sonnenschirme die vielen weiß gedeckten Tische in ein schwaches Schattenlicht tauchen.

Etwas Unvorhergesehenes, Irritierendes ist mit ihm geschehen, er spürt es genau, und er beginnt zu grübeln, wie er mit diesen unvorhergesehenen Ereignissen und Zeichen umgehen soll.

7

SIE GEHT immer schneller auf die Buchhandlung zu, sie kann es gar nicht erwarten, Katharina endlich wieder zu sehen. Sie steht gerade hinter der Kasse an der kleinen Verkaufstheke, umrundet sie dann aber und ist sehr rasch an der Tür.

Die beiden umarmen sich, und als sie sich wieder voneinander lösen, sagt Katharina:

– Was für ein schönes Kleid!

– Ja, nicht wahr? antwortet sie, eigentlich mag ich ja keine schwarzen Kleider, aber das hier habe ich mir sofort gekauft, in einem Secondhand-Laden. Es hing ganz allein im Fenster, als hätte es irgendwer dort vergessen. Ich bin hineingegangen und habe mich nach der Größe erkundigt, und als es genau meine Größe hatte, habe ich es gekauft.

– Du hast es gekauft, ohne es anzuprobieren?

– Ja, ich habe es einfach sofort gekauft.

– Sehr gut, so ist es richtig. Auf Dinge, die einem gefallen, sollte man sofort zugehen. Kein Zögern, kein Drumherum, einfach sofort kaufen.

– Sehe ich in diesem Kleid nicht zu ernst aus?

– Zu ernst? Ach was, Du siehst doch nicht ernst aus, nein, wirklich nicht. Du bist weder ernst noch sonst was, Du bist interessant, Du erregst Interesse, das ist es. Kaum einer, der Dich zum ersten Mal sieht, wird ahnen, was Du so treibst, womit Du Dich beschäftigst und was Du so magst. Das alles ist ein schönes Geheimnis, und das sollte es auch möglichst lange bleiben.

Sie lacht etwas verlegen und umarmt Katharina ein zweites Mal, als habe sie ihr ein großes Kompliment gemacht. Dann geht sie langsam durch die Buchhandlung und schaut sich um.

– Lass mich einen Moment nach Deinen Lieblingen schauen, sagt sie, danach können wir sofort losziehen. Wollen wir zusammen zu Mittag essen?

– Gern, antwortet Katharina, wir könnten draußen im Freien sitzen, ach, ich freue mich so darauf, mit Dir zusammen bei diesem herrlichen Wetter auf der großen Terrasse zu sitzen. Bist Du schon schwimmen gewesen?

– Ja, antwortet sie, und ich behaupte jetzt einmal stolz und selbstbewusst: Niemand schwimmt so gelöst und entspannt wie ich.

– Wie bitte? Wie kommst Du denn darauf?

– Niemand schwimmt so gelöst und entspannt, Du kannst es mir glauben. Ich habe hier im Hotel nämlich bereits einen Verehrer, der es mir auch schon schriftlich bestätigt hat.

Sie holt den kleinen Zettel aus einer Tasche ihres Kleides und legt ihn auf die Verkaufstheke, dann setzt sie ihren Rundgang durch die Buchhandlung fort. Sie bemerkt, dass der Zettel Katharinas Neugierde erregt, sie hat ihn in die Hand genommen, und nun steht sie da und liest ihn anscheinend immer wieder.

– Woher hast Du das?

– Der Zettel steckte in der Rückenlehne einer Parkbank, direkt oberhalb des Pools.

– Er war dort einfach so deponiert? Und Du weißt nicht, wer ihn dorthin gesteckt und wer diese Zeilen geschrieben hat?

– Nein, das weiß ich nicht.

– Wie seltsam!

– Ja, nicht wahr?

– Und Du hast wirklich nicht die geringste Ahnung, wer das getan haben könnte?

– Na hör mal, ich bin kaum eine Stunde hier und in diesem Hotel noch kaum einem Menschen außer Dir begegnet  – wie soll ich da ahnen, wer das geschrieben hat?

– Da hast Du recht, Du kannst es nicht ahnen.

– Ich kann es nicht ahnen, aber Du