Losgelöst - Wilma Müller - E-Book

Losgelöst E-Book

Wilma Müller

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Beschreibung

Wir wussten, dass es bevorstand. Wir wussten, dass es Opfer fordern würde. Doch wir wussten nicht, wie wir es aufhalten könnten. Vielleicht konnten wir es auch gar nicht. Vielleicht war die Welt dazu bestimmt, zu zerbrechen. Aber so lange es noch einen Funken Hoffnung gab, würden wir weiter für diese Welt kämpfen. Wir waren Ilka und Jolanda. Wir hatten es angefangen und wir würden es nicht so enden lassen.

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Wilma Müller, geboren 2003, hat gerade ihr Abitur bestanden. Mit 13 Jahren begann sie ihre Ideen zu Papier zu bringen. „Losgelöst – Nur Asche und Rauch bleiben“ ist der finale Band der Gelöst-Trilogie. Außerdem stammen diverse Fantasyromane und die Kinderbuchreihe „Bougoslavien“ – eine Katzenwelt aus ihrer Feder.

Für alle, denen Geister

im Kopf rumspuken.

;-)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Ilka

Kapitel 2 – Jolanda

Kapitel 3 – Ilka

Kapitel 4 - Jolanda

Kapitel 5 – Ilka

Kapitel 6 – Jolanda

Kapitel 7 – Ilka

Kapitel 8 – Jolanda

Kapitel 9 – Ilka

Kapitel 10 – Jolanda

Kapitel 11 – Ilka

Kapitel 12 – Jolanda

Kapitel 13 – Ilka

Kapitel 14 – Jolanda

Kapitel 15 – Ilka

Kapitel 16 – Jolanda

Kapitel 17 – Ilka

Kapitel 18 – Jolanda

Kapitel 19 – Ilka

Kapitel 20 – Jolanda

Kapitel 21 – Ilka

Kapitel 22 – Jolanda

Kapitel 23 – Ilka

Kapitel 24 – Jolanda

Epilog

Kapitel 1 – Ilka

Direkt neben mir ging eine Granate hoch. Noch gerade rechtzeitig konnte ich mich mit einer Nebelwand schützen. Trotzdem riss mich die Druckwelle der Explosion von den Füßen. Hart knallte mein Kopf gegen einen Brustpanzer, der seinem Träger nicht viel gebracht hatte.

Benommen blieb ich für einen Moment liegen. In meinen Ohren surrte es und kurz bildete ich mir ein, das Lied aus dem Radio zu hören und ich verlor mich in der Erinnerung.

Ich wusste nicht einmal wie es hieß, es war nur irgendeins von den tausenden, neumodischen Pop-Liedern. Wenn man mal genauer auf den Text achtete, war es wahrscheinlich der totale Schrott, aber die Melodie war eingängig und ich hatte nichts dagegen, so etwas im Hintergrund laufen zu haben.

Vor mir schlängelte sich die mit Schlaglöchern übersäte Straße ihren Weg durch die im ruhigen Wind wiegenden Felder. So oft war ich diese Strecke schon gefahren, dass ich sie im Schlaf hätte finden können (vorausgesetzt ich könnte im Schlaf auch Auto fahren oder gehen).

Sanft stieg die Straße an, bis auf die Höhe des kleinen Waldstücks, dort hatte man dann den Hügel überwunden und man konnte Widanbach sehen. Mein wunderschönes zu Hause.

Über den Himmel ziehende Wolken malten wandernde Schatten auf die goldbraunen Ähren. Alles wirkte so friedlich und natürlich. Doch diese Schatten jagten mir unwillkürlich einen Schauer über den Rücken.

„Ilka“, drang eine Stimme zu mir wie aus weiter Ferne. Etwas verwirrt schaute ich mich um, aber ich war alleine im Auto und auch am Wegesrand und auf den Feldern war keine Menschenseele zu sehen.

„Ilka!“, dieses Mal war sie drängender und lauter. Am Rand meines Bewusstseins wurden Schreie hörbar, das Klirren von Waffen. Immer mehr verblasste meine Erinnerung und ich kam wieder in der Gegenwart an.

Etwas desorientiert blinzelte ich nach oben. „Wilhelm?“, murmelte ich und fasste mir gegen meinen brummenden Schädel. „Hoch mit dir!“, auf seine typisch feinfühlige Art riss er mich auf die Beine.

Für einen Herzschlag schaute ich auf das Kampfgetümmel vor mir. „Das ist doch Irrsinn“, sprach ich meine Gedanken laut aus. „Ist halt eine Großoffensive“, meinte die kämpferische Seele als wäre es nichts weiter. Locker blockte er mit seinem Schwert einen Pfeil ab, der in unsere Richtung flog, doch ich konnte ihm seine Anspannung ansehen.

„Dann treten wir diesem Schattenvolk mal ordentlich in den Allerwertesten“, entschlossen ließ ich etwas Nebel aus meinen Händen strömen, auch wenn es hier sowieso schon ziemlich dunstig aussah.

Eine Granate kam auf uns zu. Keine Ahnung, ob sie von den Schattenseelen oder von uns stammte. War mir auch egal, ich wollte nicht noch einmal durch die Luft geschleudert werden. Also lenkte ich sie durch ein geschicktes Zusammentreffen mit einem meiner Flager um, sodass sie stattdessen über den Köpfen einer kleinen Gruppe Schattenseelen explodierte, die sich gerade formiert hatten. Jetzt wurde nichts mehr aus ihrem kleinen Angriff.

„Nicht töten lassen!“, rief mir Wilhelm noch über die Schulter zu, als er sich wieder mitten ins Gefecht stürzte. Und auch ich machte mich wieder daran Schattenseelen auszuschalten. Ständig flogen mir Granaten, Tränke, Pfeile und noch so manch anderes um die Ohren. Es war unmöglich auf alles gleichzeitig zu achten. Alles war völlig chaotisch und es kam mir so vor, als würde die Flut an Feinden nie abreißen.

Irgendwann hatte ich fast alle meine eigenen Waffen verloren und ich machte einfach mit dem weiter, was mir so in die Finger fiel. Einen meiner Flager fand ich wieder, den benutzte ich danach natürlich. Ansonsten bemächtigte ich mich größtenteils anderer Flager, die auf dem Boden lagen oder ziellos durch die Luft zogen. Wenn es wirklich kritisch wurde, griff ich auch mal nach einem Schwert oder einer Axt, allerdings konnte ich damit nicht so besonders gut umgehen.

Plötzlich blieb mein Fuß an etwas hängen und ich verlor den Halt. Um Haaresbreite wäre ich durch meine Tollpatschigkeit von einem zerbrochenen Speer, der im Boden steckte, aufgespießt worden. Das wäre echt ein peinlicher Tod gewesen! Neben mir lag jemand auf dem Boden. Angespannt schaute ich genauer hin. Nicht dass ich neben einer verwundeten Schattenseele lag, die ihre Chance nutzte, um mich mit in den Tod zu holen. Doch ich hatte nichts zu befürchten.

Mit ausdruckslosen Augen schaute mich ein mittelalter Mann an. Seine hellen Haare klebten ihm blutig an der Stirn. Gerade als ich seine ebenfalls blutverschmierte Kleidung unter die Lupe nahm, um festzustellen ob er einer von uns oder einer von denen war (auch wenn das jetzt nichts mehr änderte), löste er sich vor meinen Augen auf.

Mit einem kämpferischen Aufschrei stach eine Frau ganz in schwarzer Kleidung mit ihrem Schwert nach mir. Doch ich kam ihr zuvor. Zielsicher trennte ich ihr mit einem Flager den Kopf ab. Und noch bevor die Leiche auf dem Boden aufkommen konnte, zerfiel auch ihr Körper in winzige, flimmernde Stückchen, die innerhalb von Sekunden vollkommen verblasst waren.

Nur ihr Schwert fiel klirrend zu dem anderen Zeug, das sich hier schon angesammelt hatte. So viele waren hier schon umgekommen und niemand war bereit nachzugeben. Einfach nur schrecklich.

Mühsam stand ich wieder auf. Erst jetzt bemerkte ich die Wunde an meinem Bein, bis jetzt war sie mir dank all dem Adrenalin gar nicht aufgefallen, doch langsam gewann die Erschöpfung die Oberhand.

Kaum dass ich wieder auf den Füßen war, knallte mir ein Geist gegen den Rücken. Und wieder landete ich im Dreck. Gereizt schob ich den regungslosen Körper von mir runter. Scheinbar hatte jemand seinen Gegner einfach in der Gegend rumgeworfen und ich hatte das Pech gehabt in Wurfrichtung zu stehen.

Warum mussten mich so Sachen immer treffen?!

Grimmig stand ich erneut auf und klopfte mir ein bisschen den Dreck von den Klamotten, auch wenn ich mir das eigentlich hätte sparen können. Ich war sowieso übersät mit kleinen Blutspritzern, Ascheresten von etlichen explosiven Geräten und noch jede Menge anderen Arten von Schmutz, die sich bei diesem ganzen Gekämpfe ansammelten.

Und dann erkannte ich sie. Mir stockte der Atem. Oh mein Gott! Meike!

Sofort ließ ich mich wieder zu ihr auf den Boden fallen. Ein Schwertknauf ragte aus dem Bauch meiner Freundin und eine dünne Spur Blut lief ihr aus dem Mundwinkel.

Mit rasendem Herzen tastete ich nach ihrem Puls. Ja, da war er, zwar schwach, aber noch da. Ohne lang zu fackeln startete ich eine Nebelreise zum Spiegelsee. Dort versorgten die Heiler die zahlreichen Verwundeten. Hoffentlich konnten sie auch Meike helfen.

Hätte ich nur früher hingesehen! Meine Freundin fällt schwerverwundet auf mich und was mache ich?! Schmollen, aufstehen, klamottenrichten. Wütend auf mich selbst starrte ich geradeaus, während ich mit Meike im Arm nach oben schwamm.

Endlich durchstieß mein Kopf die Wasseroberfläche. „Ich brauche Hilfe!“, meine Stimme klang ganz schrill vor Sorge. Mit leicht zittrigen Händen legte ich meine verrückte Freundin vorsichtig ans Ufer. Sie sah so blass aus.

„Ilka!“, rief eine bekannte Stimme und Flora kam auf mich zugelaufen. Gerade hatte sie einem jungen Mann mit rabenschwarzen, in alle Richtungen abstehenden Haaren, eine Armschlinge umgelegt. Im Gesicht hatte er noch einige Schrammen und auch der Oberkörper schien noch ein wenig Pflege vertragen zu können, aber Meike brauchte dringender Hilfe.

Konzentriert musterte Flora für einen Herzschlag den Schwertknauf. Dann zog sie ihn mit einem Ruck raus. Sofort sickerte dunkelrotes Blut aus der Wunde. Schnell drückte die Heilerin irgendwelche Kräuter in den Schnitt, schüttete einen ordentlichen Schluck einer übelriechenden Flüssigkeit dazu und verteilte eine rosa Salbe um die Wundränder.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit fing Flora an, irgendetwas in einer Schale anzurühren.

„Das Schwert ist vergiftet. Ich kriege Meike schon wieder hin, aber sie wird Zeit brauchen, um sich zu erholen“, informierte sie mich nebenbei. „Und wie sieht die Lage hier ansonsten aus?“, fragte ich und ließ den Blick zum ersten Mal wirklich über die Lichtung schweifen.

Das hier war mein zweites zu Hause und jetzt waren überall Blut und Schmerz.

„Es ist gut, dass wir schon Vorräte angelegt hatten. Aber wir kommen trotzdem kaum nach. Keine Ahnung wie es mit den Toten aussieht“, antwortete mir Flora und schaute ernst auf Meike herab.

„Ich sollte vielleicht wieder los…“, meinte ich von einem eiskalten Gefühl ergriffen. Langsam entfernte ich mich ein wenig vom Ufer. „Pass auf dich auf, ja?“, Floras sonst so unbeschwerte Art war von Angst überschattet. „Natürlich“, sagte ich darauf nur irgendwie mechanisch.

Warum machten wir diesen ganzen Wahnsinn überhaupt? Na ja, eigentlich wusste ich es schon. Die Schattenseelen waren uns schon zu nahe gekommen und wenn wir ihnen nicht die Stirn boten, würden sie uns vollkommen zurückdrängen und wir müssten versteckt und in Angst leben, so wie die Lichtseelen. Trotzdem wünschte ich mir, dass es aufhörte.

Mit einem gewaltigen Knoten im Bauch tauchte ich unter. Ich wollte den See nutzen, um wieder zurückzugehen, aber eigentlich wollte ich das nicht.

Kleine Auseinandersetzungen machten ja fast schon Spaß. Doch das hier war etwas ganz anderes. Freund und Feind waren kaum zu unterscheiden. Und Seelen starben, ohne dass ihre Kameraden es merkten.

So wollte ich nicht sterben. In mich hatte sich eine unfassbare Angst gekrallt. Nur eine falsche Bewegung und ich könnte tot sein oder schlimmer noch, sterbend am Boden liegen, während um mich herum weiter die Schlacht tobte und niemand sah mich…

Ziellos trieb ich durch die blauen Weiten. Der Kampf war unvermeidbar gewesen oder vielleicht doch? Alles hätte anders laufen können. Nur wie? Nie würden die Schattenseelen genug haben und wer von uns wollte diesen verkommenen Seelen schon das geben was sie wollten? Aussichtslos. Alles war aussichtslos…

„Jetzt reiß dich doch mal zusammen! Willst du feige die ganze Zeit hier rumtreiben wie eine Wasserleiche?! Man kann auch sterben, wenn man über eine Teppichkante stolpert! Also geh jetzt da raus und zeig diesen Schattenseelen, dass sie uns nicht kleinkriegen, klar?“, rückte ich mir selbst den Kopf zurecht.

Dann mal los.

Auch wenn sich immer noch mein Selbsterhaltungstrieb dagegen sträubte, konzentrierte ich mich auf den Wald, nur wenige Kilometer von Widanbach entfernt. Fast sofort erschien etwa eine Armlänge vor mir das schwammige Fenster.

Noch konnte ich einen Rückzieher machen. Aber was wäre ich dann für eine Nebelseele? Man musste doch zusammenhalten. Außerdem war ich schon als Jungseele nicht vor der Verantwortung weggelaufen, jetzt war nicht die Zeit damit anzufangen.

Entschlossen tauchte ich durch das blasse Portal und landete direkt neben einem der Windräder im Wald. Auf der abgeholzten Fläche standen fünf Nebelseelen dicht an dicht. Um sie herum hatte eine kleine Schar Schattenseelen einen Angriffsring gebildet, einer von ihnen hielt so einen beschissenen Nebelreisen-Blockierer in der Hand.

Für einen Augenblick blieben die Schattenseelen einfach stehen, wahrscheinlich wollten sie den Moment der Angst ihrer Opfer auskosten. Typisch! Doch dieses Mal würde ihnen ihr Verhalten auf die Füße fallen oder in diesem Fall auf den Kopf.

Wütend landete ich auf dem Kopf der Schattenseele mit dem Nebelreisen-Blockierer. Weil ich aus einiger Höhe gefallen gekommen war, hatte ich den kleinen Mistkerl glatt ausgeknockt. Die allgemeine Verwunderung nutzte ich für einen passenden Spruch: „Hat euch denn niemand beigebracht, dass man mit seinem Essen nicht spielt?“

Betont ruhig zertrat ich den Nebelreisen-Blockierer. Dann hatten sich die Schattenseelen wieder eingekriegt und sie gingen prompt zum Angriff über. Drei Flager hatte ich noch bei mir, die anderen hatte ich zurückgelassen als ich Meike zum Spiegelsee gebracht hatte. Mussten halt die drei reichen.

Konzentriert ließ ich meine scharfen Stricknadeln durch die Luft sausen. Eine Schattenseele nach der anderen ging zu Boden. Auch in meine eingekesselten Kameraden war wieder Leben gekommen und sie stürzten sich auf ihre Widersacher.

Zwei der dunklen Krieger wollten sich mit Schattenreisen verpissen, doch bevor sie sich auflösen konnten, hatte ich sie schon erwischt.

Innerhalb kürzester Zeit hatten wir den Haufen Schattenseelen fertiggemacht. Mit einem Pfeil durch die Schulter und einer ordentlichen Schnittwunde am linken Hinterbein lag ein Puma am Boden. „Henry!“, rief ein Junge und ging neben der Raubkatze in die Knie. „Bring ihn mit einer Nebelreise zum Spiegelsee, die kümmern sich dann um deinen Freund“, ordnete ich an und machte mich schon für den nächsten Angriff bereit.

Zwischen den Bäumen wurde wild gekämpft und schon drangen die ersten auf die gerade freigeräumte Lichtung vor. Gekonnt ließ ich meine Flager durch die Luft wirbeln und auch die drei noch anwesenden Nebelseelen kämpften mit mir von der Lichtung aus.

So war es deutlich angenehmer als in diesem Getümmel, in dem ständig etwas von hinten, vorne, eigentlich von allen Seiten, kam. Trotzdem war ich bald so abgekämpft, dass meine Flager zunehmend an Genauigkeit verloren. Außerdem konnte das Adrenalin die Schmerzen nicht mehr überdecken. Schlimm war ich zwar nicht verletzt, aber es tat weh. Plötzlich tauchten um mich herum haufenweise Schattenseelen auf. Ach, du Scheiße! Hatten die es etwa auf mich abgesehen? Ich hatte nicht vor lange genug zu bleiben, um das herauszufinden.

Weil ich fast schon wetten würde, dass sich diese Schattenheinis mit einem Nebelreisen-Blockierer ausgestattet hatten, versuchte ich erst gar nicht auf diesem Weg zu verschwinden.

Kurzerhand flog ich senkrecht nach oben. Einfach aber effektiv.

Pfeilschnell schoss ich an all den verdutzten Gesichtern vorbei und immer höher. Schließlich durchbrach ich den Nebel. Neben mir tauchte ein Rotorblatt des Windrades gemächlich wieder in den grauen Schleier ein und ich tat es ihm nach.

Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen ließ ich mich rückwärts fallen. Für solche Spielereien war jetzt eigentlich kein Platz. Immerhin hatten wir gerade Krieg. Aber ich liebte den Nebel einfach, ich liebte mein Leben. Und solche kleinen Augenblicke hielten einen lebendig.

Weich umgab mich wieder der Nebel. Von links kam ein dunkler Schatten auf mich zu. Jetzt hatte ich den Moment genug genossen. Sofort startete ich wieder durch. Immer mehr Schattenseelen schlossen sich meinem Verfolger an, aber ich ließ mich nicht so einfach einfangen.

Ich musste mich voll und ganz aufs Fliegen mit meinen riskanten Ausweichmanövern konzentrieren, weshalb meine Flager ziemlich ziellos hinter mir hertrieben. Trotzdem schaffte ich es wie durch ein Wunder eine der Schattenseelen abzusäbeln. Dummerweise waren noch genug andere da, um sie zu ersetzen.

Meine Situation wurde immer heikler. Das würde nicht gut ausgehen.

Mir fiel nur eine Möglichkeit ein, wie ich sie vielleicht loswerden konnte. Auch wenn ich von der nicht besonders angetan war. Also dann, auf in den Kampf.

Entschlossen sauste ich nach unten. Allen entgegenkommenden Schattenseelen wich ich spielend aus. Sie hatten halt nicht damit gerechnet, dass ihnen ihr Opfer plötzlich entgegenkommt.

Der Schlachtlärm wurde immer lauter. Ein auf Irrwege geratener Pfeil schoss an mir vorbei und bohrte sich in einen meiner Verfolger, der mir schon unangenehm nahe gekommen war. Jetzt war ich ihn wieder los.

Während ich noch überlegte, wo ein strategisch günstiger Platz zum Landen war, flog wieder etwas auf mich zu. In dem ganzen Durcheinander bemerkte ich es erst ziemlich spät. Hektisch flog ich einen kleinen Haken, um ihm noch auszuweichen. Es erwischte mich leicht kurz unterm Kinn… und blieb hängen. Ernsthaft?! Ein Tirio?! Scheiße!

Augenblicklich war es aus mit der Magie und schon ging es abwärts. Von meinem Sturzflug hatte ich noch so viel Schwung, dass ich weder strategisch noch besonders elegant landete.

Gerade so schaffte ich es mich noch im Fall umzudrehen, sodass ich statt mit dem Kopf, mit den Füßen aufkam. Das hatte zur Folge, dass ich bis zur Hüfte in der Erde versank. Oh man! Seit Jahren hatte ich nicht mehr ungewollt im Boden gesteckt!

Aber es hätte schlimmer kommen können. Nur einen Meter weiter lag eine besitzerlose, zweischneidige Axt rum, die mit der Klinge nach oben zeigte. Wenn ich darauf gelandet wäre… Nein, ich wollte es mir lieber nicht ausmalen.

Ich brauchte meine Magie wieder, sonst war ich schon so gut wie tot. Also biss ich meine Zähne zusammen und riss den Tirio aus meiner Haut. Vor Schmerz keuchte ich auf. Widerlich warmes Blut lief mir den Hals hinab.

Zwei Schattenseelen landeten nicht viel mehr als eine Nasenlänge von mir entfernt. Erschöpft warf ich mit dem Tirio nach ihnen. Doch mein Wurf war so lasch, dass sie ihm selbst auf diese kurze Entfernung locker ausweichen konnten. Über meinen Angriff lachten sie nur.

Ja. Hahaha. Sehr witzig.

Wütend packte ich mir die Axt und schwang sie nach den Beinen dieser beiden Spaßvögel. Damit hatten sie nicht gerechnet. Ich hatte zwar nicht genug Wucht um ihre Beine abzutrennen, aber ich konnte sie zumindest in die Knie zwingen. Jetzt musste ich sie nur noch einen Kopf kleiner machen.

Entschieden holte ich wieder mit der schweren Axt aus, doch mein Opfer hielt die Waffe einfach fest. Dann eben Plan B. Bevor sich die Schattenseelen richtig aufrappeln konnten, nahm ich erneut den Kontakt zu meinen Flagern auf und schickte sie schnell auf Mordmission.

Weitere Schattenseelen waren im Anmarsch. Von meiner jetzigen Position aus konnte ich nicht viel unternehmen. Also krabbelte ich etwas schwerfällig aus dem Boden. Der Tirio hatte mir ordentlich eins ausgewischt und auch schon vorher war ich nicht mehr gerade in Bestform gewesen.

Schnell verdichtete ich den Nebel um mich herum zu einer kuppelförmigen Nebelmauer. Das sollte mir eine kleine Pause verschaffen. Ziemlich fertig legte ich mich auf den Rücken. Ich konnte spüren wie sie auf meine Mauer einschlugen, ewig würde sie nicht mehr halten.

Kurz schloss ich die Augen und stöhnte, mit den Nerven total am Ende. Danach wandte ich mich wieder den praktischen Dingen zu. Oder anders gesagt, ich schaute mir an, was ich noch mit mir in meiner schützenden Kuppel eingeschlossen hatte. Vielleicht war ja was Nützliches dabei.

Es gab ein Messer, mit abgebrochener Spitze, zwei Stiefel mit schicken Klingenspitzen und einen Metallhandschuh mit Stachelaufsätzen an den Knöcheln. Warum nicht. Zog ich mir ein paar neue Sachen an.

Zuerst wechselte ich in aller Ruhe meine Schuhe, als würde da draußen, auf der anderen Seite der Wand aus Nebel, keine erbitterte Schlacht toben. Als nächstes holte ich mir den Handschuh, an dem bei genauerem Betrachten noch ein bisschen Blut hing. Nett.

Klirrend rutschte etwas aus dem stachelbesetzten Accessoire. Ein kleines Fläschchen fiel auf den Boden. Schnell hob ich es auf. Der Deckel fehlte, aber es war noch beinahe voll. Vorsichtig roch ich daran.

War das etwa… ein Heiltrank? Das war fast schon zu schön um wahr zu sein.

Weil ich keinen anderen Weg kannte, als einfach zu probieren, nippte ich an der hellgrünen Flüssigkeit. Tatsächlich! Es war wirklich ein Heiltrank! Gierig trank ich ihn aus. Der eigentliche Besitzer dieses Elixiers war wohl gestorben bevor er dafür die Gelegenheit gehabt hatte.

Augenblicklich fingen meine Wunden an, sich zu verschließen. Erleichtert fuhr ich über mein frischverheiltes Kinn.

Plötzlich tauchte ein schwarzer Schatten neben mir auf. Mit dem Handschuh schlug ich nach der ankommenden Schattenseele. Doch noch bevor sie wirklich da war, machte sie wieder einen Rückzieher. Was sollte das denn?

Nur einen Augenblick später merkte ich es. Mir wurde schwindelig. Meine Mauer löste sich auf. Alles verschwamm um mich herum. Der Schlachtlärm, die auf mich herab starrenden Gesichter. Nichts kam mehr durch. Und dann war einfach alles weg.

Ich konnte ja nicht wissen, dass sie mich für eine Opferung zum Steinsee bringen würde. Aber selbst mit dieser Gewissheit hätte ich nichts tun können. Unaufhaltsam trieb mich der Schleichangriff der Schattenseelen in die Dunkelheit der Ohnmacht.

Kapitel 2 – Jolanda

Der Pfeil bohrte sich in ihre Brust. Mir blieb die Luft weg. Sie taumelte einen Schritt nach hinten. Gegen mich. Ich hielt sie fest oder ich versuchte es. Meine Gedanken waren wie betäubt.

Mit ihr in meinem Arm ging ich langsam auf die Knie und legte sie vorsichtig zu Boden. Ihr Oberteil glänzte feucht von ihrem Blut. Bei jedem ihrer röchelnden Atemzüge bebte der Pfeil.

Sollte ich ihn rausziehen? Oder machte es das nur noch schlimmer?

Hilflos kniete ich neben ihr und starrte ungläubig auf meine Oma herab. Sie konnte doch nicht einfach sterben! Nicht sie! Nicht für mich!

Schwach griff sie nach meiner Hand.

„Igh, igh“, würgte sie keuchend. Irgendetwas wollte sie mir sagen, das sah ich in ihren Augen, doch ich wusste nicht was. Dann sackte sie zusammen, leblos. Ihre freie Hand rutschte haltlos auf den versteinerten See und etwas klirrte leise.

„Oma?“, fragte ich mit erstickter Stimme. Eine warme Träne lief mir über die Wange. Meine Augen brannten und es fühlte sich an, als würde jemand meine Kehle zudrücken. „Bitte!“, es war nicht viel mehr als ein Krächzen.

Was sollte ich nur tun? Sie war wirklich tot. Ich wusste es, aber es war so falsch.

Ihr Körper wurde blasser, durchscheinender. Und dann zerfiel sie einfach in winzig kleine Funken, von denen nichts mehr übrigblieb.

Fassungslos sah ich dabei zu wie feine, glühende Linien wie Adern die steinerne Fläche durchzogen. Dafür war sie gestorben? Gestorben… Meine Oma war tot. Sie war weg und würde nicht wiederkommen. Es war aus.

„Was für ein tragisches Schauspiel“, belustigt grinste der Interficientis sein Raubtier-Lächeln. „Es funktioniert“, hauchte Katarina fast schon ungläubig. Bestimmt arbeiteten sie schon Jahrzehnte hieran, dann verlor man sicher irgendwann den Glauben daran, sein Ziel wirklich zu erreichen.

„Jetzt noch die Enkelin“, befahl der herzlose Anführer zufrieden. Erwartungsvoll legte die eiskalte Bogenschützin den nächsten Pfeil an die Bogensehne. Sie ließ sich Zeit mich anzuvisieren. Verzweiflung, Angst, Wut und Trauer krallten sich in mein Herz und lähmten mich vollkommen.

Meine Oma war tot und jetzt sollte ich auch sterben…

Ich hatte doch schon einmal alles für diesen See gegeben! Ich wollte nie wieder dieses Gefühl haben! Ich wollte nicht sterben! Ich wollte das alles hier nicht!

Katarina ließ die Sehne los. Zischend durchschnitt der Pfeil die Luft. Zitternd kniff ich meine Augen zu. Aber der Schmerz blieb aus.

Ein nervtötendes Piepen drang an mein Ohr. Verwundert öffnete ich meine Augen, doch es fiel mir unglaublich schwer.

Über mir war eine weiße Decke. Der Geruch von Desinfektionsmittel lag in der Luft. Mein Körper war zu erschöpft, ich konnte ihn nicht vernünftig bewegen. Trotzdem war ich mir ziemlich sicher, dass ich in einem Krankenhaus lag.

Wie viele Tage war ich eigentlich von meinem Körper getrennt gewesen? An diesem blöden Schulausflug war ich rausgeschmissen worden und dann… Es war so viel passiert.

Oma Ilka. Bei dem Gedanken an sie traten mir wieder Tränen in die Augen. Stumm lag ich in meinem Krankenbett und weinte vor mich hin. Warum war sie nicht auch einfach in ihren Körper zurückgekehrt? Warum musste sie sterben?

Irgendwann bemerkte auch mal jemand, dass ich aufgewacht war und die Hölle brach los. Jede Menge Tests und Fragen. In meinem Kopf schwirrte alles herum. Mein Körper fühlte sich fast schon fremd an und ich wollte nur noch nach Hause.

Aber obwohl meine Vitalfunktionen wohl erstaunlich normal waren, wollten sie mich noch für zwei Tage zur Beobachtung da behalten.

Als sie mich fertig durchgecheckt hatten, war es schon sehr spät. Die Sonne war längst verschwunden. Von draußen kam nur noch das dämmrige Licht der Straßenlaternen in mein Zimmer.

Zwar war die Besuchszeit eigentlich schon vorbei, aber wegen den besonderen Umständen machten sie für mich eine kleine Ausnahme. Für ein paar Minuten durfte meine Familie mich besuchen. Alle waren da, meine Schwester, meine Eltern, Opa Titus… Nur sie fehlte. Eine riesige Faust zerknüllte meine Eingeweide.

„Oma Ilka?“, fragte ich mit zittriger Stimme. Bei dem Gedanken an die Antwort brannten mir wieder Tränen in den Augen. „Keine Sorge. Sie hat sich nur eine kleine Erkältung eingefangen und schläft momentan zu Hause. Bald kannst du sie auch wieder sehen“, liebevoll legte Opa Titus seine Hand auf meinen Scheitel.

Schluchzend schüttelte ich den Kopf: „Nein, sie ist tot. Ich hab’s gesehen.“ „Schhhh. Ist schon gut. Es ist alles gut“, besänftigend nahm mich meine Mama in den Arm. Für einen Moment schaute ich über ihre Schulter. Opa Titus erwiderte meinen Blick. Er verstand mich und ich sah die Sorge in seinen Augen.

Dann drückten mich auch Alma und mein Papa an sich und ich ließ mich von ihrer Nähe trösten. Viel zu früh kam die Krankenschwester wieder rein und sagte, dass sie gehen mussten.

„Morgen kommen wir wieder“, versprach mir meine Mama und gab mir einen kleinen Kuss auf die Stirn. Eigentlich war ich dafür ja schon zu alt, aber jetzt gerade war das vollkommen in Ordnung.

„Bald kannst du wieder nach Hause“, zum Abschied umarmte mich Alma noch einmal extra fest. Am liebsten hätte ich sie nie wieder losgelassen. „Schlaf schön“, wünschte mir mein Papa fürsorglich. „Nichts gegen Krankenhausessen, aber wenn du wieder zu Hause bist, wird zuerst mal schön ordentlich gegrillt“, verabschiedete sich Opa Titus mit seinem typischen Humor.

Traurig schaute ich ihnen hinterher. Alleine blieb ich in der Dunkelheit meines Zimmers zurück. Gedämpft hörte ich von draußen das Geräusch des Martinshorns und ein Vogel flog mit einem leisen Aufprall gegen mein Fenster.

Bei dem Gedanken die Nacht hier zu sein, kamen mir fast wieder die Tränen. Ich wollte in mein eigenes Bett! In meinem Zimmer! Mit meinen Fischen und meinen Kuscheltieren!

Vorsichtig legte ich mich auf die Seite und zog meine Beine an. Langsam hatte ich wieder ein bisschen Gefühl für meinen Körper, doch es war immer noch komisch. Und dann all die Fragen, die ich einfach nicht aus meinem Kopf verbannen konnte.

Wie konnte Omas Körper noch leben, wenn ihre Seele doch gegangen war? Wollte mich Opa Titus vielleicht nur schonen, weil ich ja im Krankenhaus lag und mich erst erholen sollte? Aber er hatte so aufrichtig gewirkt. Wenn Oma für ihn wirklich tot wäre, wäre er doch viel erschütterter gewesen und nicht einfach nur sorgenvoll.

Und Theo. Hatten sie ihm vielleicht etwas angetan, als ich verschwunden war? Wie hatte ich mich überhaupt so von ihm trennen können? Was wenn ich mir über unsere Verbindung unbewusst die nötige Energie gezogen und ihn somit umgebracht hatte? Nein! An sowas durfte ich einfach nicht denken! Es wäre so leicht Antworten zu bekommen. Ich musste mich nur von meinem Körper loslösen und wieder zurück zu den Geistern.

Aber irgendetwas hielt mich zurück. Pummelchen war gestorben, um mich zu retten. Oma Ilka hatte sich für mich geopfert. Und ich war immer noch hier und ich hatte eine Heidenangst zurückzukehren.

Was, wenn sie es nächstes Mal wirklich schafften mich umzubringen? Oder wenn noch mehr gute Seelen für mich ihr Leben gaben?

Ich wollte das nicht! Ich konnte das einfach nicht!

Mein normales Leben war so ruhig und schlicht. Hier war ich nichts Besonderes, von mir hing nichts ab und meine größte Herausforderung war es, im Geschichtsunterricht nicht einzuschlafen.

Vielleicht sollte ich einfach alles hinter mir lassen. All die Kämpfe und die düsteren Geheimnisse. Immerhin war ich noch am Leben, da sollte ich mich nicht von der Welt nach dem Tod kontrollieren lassen.

Doch das würde auch heißen, dass ich Theo im Stich ließ und auch Fuchszahn, Boudica, Laila, all die netten Seelen würde ich einfach aufgeben. Und natürlich meine Leidenschaft an magischen Geräten zu tüfteln… Drüben war nicht alles schlecht. Nur war es das wert?

Die ganze Zeit wog ich das eine gegen das andere ab und all die offenen Fragen, bei denen ich nicht mal wusste, ob ich die Antworten hören wollte. So bestand wenigstens noch Hoffnung…

Trotz all der Zweifel und der Angst, die mein Herz regelrecht zu Sushi verarbeiteten, fielen mir doch irgendwann die Augen zu.

Asche schwebte vom Himmel wie graue Schneeflocken. Mit bloßen Füßen ging ich über die dicke Schicht Asche, die alles unter sich begraben hatte. Klagend ragten um mich herum verkohlte Bäume in den wolkenschweren Himmel. Kein Geräusch war zu hören, alles Leben hier war längst verstummt. Irgendetwas sagte mir, dass ich daran schuld war. Nur wegen mir wurde hier alles zerstört.

Fröstelnd schlang ich meine Arme um mich. Ich trug ein weißes Kleid, das definitiv nicht aus meinem Kleiderschrank kam. Aber gerade kam mir das gar nicht mal so seltsam vor. Beklemmt setzte ich im immer gleichen Rhythmus einen Fuß vor den anderen. Ich wusste nicht wie lange ich hier schon ging, nur dass ich nicht aufhören durfte.

„Erinnerst du dich daran? Der Traum mit dem alles begann. In der Nacht vor dem Unfall träumte Ilka von einem verschneiten Wald in China und ich besuchte sie, um sie zu warnen. Und jetzt? Sieh dir nur an was du getan hast. Von der zerbrechlichen Ruhe sind nur Asche und Rauch geblieben“, drang plötzlich eine Stimme durch die Totenstille.

Erschrocken fuhr ich herum. Hinter mir saß auf einem abgebrannten Baumstumpf Pummelchen. Aus ihrer Brust ragte ein Pfeil.

„Ich wollte das nicht“, brachte ich heiser hervor. „Trotzdem hast du es zugelassen!“, abfällig schaute mich die tote Katze an. „Es tut mir leid“, betroffen machte ich einen verlorenen Schritt auf sie zu.

„Ilka hat wenigstens versucht ihren Fehler wieder gut zu machen, aber du verkriechst dich einfach nur feige!“, warf mir Pummelchen hasserfüllt vor.

Schuldbewusst senkte ich meinen Blick.

„Wenn ich gewusst hätte, wie schwach du bist, hätte ich nie mein Leben für dich aufgegeben. Du bist es einfach nicht wert. Du wirst nie sein wie deine Oma“, mit diesen Worten wandte sie sich von mir ab und zerfiel zu einem Haufen Asche.

Allein und innerlich ganz hohl stand ich da und kleine Ascheflöckchen verfingen sich in meinen Haaren. Ich erkannte Pummelchen kaum wieder. Wie hatte sie sich nur so verändern können? War das auch meine Schuld?

Plötzlich wurde ich von hinten gepackt und gegen einen der verkohlten Bäume geschleudert. Mein erschrockener Schrei wurde erstickt, als ich mit meinem Gesicht in der Asche landete.

Schnell richtete ich mich wieder auf. Keine zwei Meter von mir entfernt stand meine Oma. Ausdruckslos schaute sie zu mir rüber. Auch in ihrer Brust steckte noch der tödliche Pfeil. In ihrer Hand lag eine schwere Metallkette.

„Es wird Zeit, dass du dorthin kommst, wo du schon längst sein solltest. Der Abgrund wartet“, kaum dass sie geendet hatte, schwang sie die Kette wie eine Peitsche nach mir. Gerade so konnte ich zur Seite springen. Bei meiner Landung stob eine kleine Aschewolke auf.

„Oma?“, fragte ich zaghaft. Sofort folgte der nächste Schlag. Wieder konnte ich der Kette nur knapp entgehen. Nein, das war nicht mehr meine Oma. Sie war gestorben und sie würde nicht wiederkommen.

Entschlossen griff ich nach einem Schwert, das einfach so rumlag und stellte mich ihr entgegen. Besser als ich je kämpfen könnte, blockte ich die Angriffe der Toten ab und startete eine Attacke nach der anderen.

Ich musste es irgendwie schaffen, ihr die Kette wegzunehmen. Vielleicht konnte ich dann mit ihr reden. Immerhin war sie noch meine Oma… irgendwie.

Auf einmal verfing sich ihre Kette in einem Baum. Wütend zog sich daran, doch bis auf ein klagendes Knarzen war nichts zu holen. Das war meine Chance!

Völlig selbstverständlich holte ich mit meinem Schwert aus und zerschnitt sie in der Körpermitte. Augenblicklich zerfiel auch sie zu Asche. Langsam segelten die Aschefetzen zu Boden und in mir machte sich schleichend die Erkenntnis breit.

Ich hatte meine Oma getötet! Nein! Oh nein, bitte nicht! Warum hatte ich das getan?! So war ich nicht! So konnte ich nicht sein! Ich war keine Mörderin! Und schon gar nicht konnte ich Oma Ilka das antun!

Erschüttert taumelte ich ein paar Schritte rückwärts. Klirrend fiel mir das Schwert aus der Hand. Kalt drückte sich der raue Stein gegen meine Fußsohlen.

Warte… Stein? Hier war doch überall Asche…

Mit einer üblen Vorahnung drehte ich mich um. Ich stand am Rand des versteinerten Sees. In rasendem Tempo zogen sich Risse wie ein Spinnennetz über die Oberfläche. Bevor ich den rettenden Schritt zurück machen konnte, zerbrach der Boden unter meinen Füßen.

Verzweifelt schlug ich mit meinen Armen in der Gegend rum, doch es gab nichts, an dem ich mich festhalten könnte. Vollkommene Leere umgab mich. Umso tiefer ich fiel, desto mehr hatte ich das Gefühl verloren zu gehen. Ich wurde vergessen…

„Jolanda“, flüsterte eine warme Stimme und mit einem Mal wurde mir das Herz viel leichter. Sanft endete mein Sturz und ich fing an zu schweben. Er war bei mir, er würde mich nie vergessen.

„Theo“, antwortete ich hoffnungsvoll. Ich hatte solche Angst gehabt, auch ihn verloren zu haben. Über unsere übersinnliche Verbindung schickte mir mein Seelenverwandter als Bestätigung eine Welle von Zuneigung.

Ruhe kehrte in mir ein. Es gab noch Hoffnung. Ich hatte nicht alles zerstört.

Kapitel 3 – Ilka

Oh man! Ich fühlte mich wie von einem Bus überfahren (ich weiß, wovon ich rede)! Aber was sollte man auch erwarten, wenn man gerade von einem Pfeil durchbohrt worden war und so ziemlich seine gesamte Energie einem ehemaligen See überschrieben hatte? Wenigstens hatte ich mit diesem Manöver Jolanda die Flucht zurück in ihren Körper ermöglicht.

Langsam streckte ich meine steifen Glieder und blinzelte ein paar Mal, um wieder klar zu sehen. Meine Sicht war zwar etwas grünlich, aber alles schien noch anstandslos zu funktionieren.

Wann war ich das letzte Mal in diesem Körper gewesen? Vor zehn Jahren? Vor zwanzig? Ich konnte es beim besten Willen nicht genau sagen. Auf jeden Fall hatte ich damals Meike einen kleinen Streich gespielt. Bei der Erinnerung daran huschte mir ein kleines Lächeln über das befremdliche Gesicht. Das war wirklich ein schöner und vor allen Dingen lustiger Moment gewesen.

Gedankenverloren blieb ich noch einen Augenblick liegen.

Glasklar sah ich vor mir Meike, wie sie mit diesem total bescheuerten Gesichtsausdruck in ihrem Stuhl umkippte und dabei wild mit ihrer Zeitschrift wedelte, als wäre sie eine Fahne. Und natürlich Lailas grunzendes Lachen.

Damals hatte sich alles besser angefühlt. Jetzt kam ich mir so losgelöst vor. Ich war nicht länger ein richtiger Teil dieser Welt. Etwas zog mich weg und es kostete mich enorm viel Willensstärke dem nicht zu folgen.

Ganz langsam krabbelte ich auf alle Viere. Drei Tage hatte ich mir hiermit erkauft und ich hatte noch nicht den Hauch einer Ahnung, wie ich die mir noch verbliebene Zeit nutzen sollte.

Außer mir war niemand mehr hier. Wer achtete schon auf eine kleine, silberne Figur, die während all dem Chaos auf den Boden fiel? Alle hielten mich jetzt für tot. Das bot schier unendliche Möglichkeiten, was Überraschungsangriffe und dramatische Sprüche anging. Theoretisch.

Nur praktisch bräuchte ich wahrscheinlich meine drei Tage, um überhaupt an einen Ort zu kommen, an dem ich etwas erreichen konnte. Meine magischen Fähigkeiten waren nämlich nicht mit mir in diese kleine Katzenfigur geschlüpft, die mir Fuchszahn bei meinem ersten Treffen mit ihr geschenkt hatte. Und hier war auch keine Menschenseele, der ich meine Auferstehung mit pfiffigen Worten verkünden konnte.

Ratlos tapste ich einfach mal auf die halb zusammengefallene Villa zu.

Wer weiß, vielleicht hatten die Wanderseelen da ja irgendwelche Schätze versteckt, die man noch retten konnte. Allerdings glaubte ich kaum daran. Besonders weil wir das Gebäude eigentlich schon gründlich durchsucht hatten und schon damals nur eher mittelklassisches Zeug gefunden hatten.

Leise wirbelte ein Windhauch die Asche auf und bedeckte meine Pfoten mit einer dünnen Schicht der grauen Flocken. Flora hatte sich so liebevoll um die Wiese gekümmert und jetzt war nichts mehr als Asche davon übrig.

Melancholisch ließ ich meinen Blick über die trostlose Landschaft schweifen. Zerstörte Villa, Wiese aus Asche, zu Stein erstarrter See. Als wäre die Situation an sich nicht schon deprimierend genug.

Gedankenverloren setzte ich meinen Weg zur Ruine fort. Wie viele der Wanderseelen hatten wohl überlebt?

Bei dieser schmierigen Ratte Robin war ich mir ziemlich sicher, dass er gerade die schrecklichen Freuden der Schattenseelen genoss. Die anderen konnten mir auch gerne gestohlen bleiben, zumindest so lange bis ich einen Weg fand sie endgültig aus der Welt zu schaffen. Aber Theo…

Ich hatte nicht die Kraft gehabt mich umzudrehen. Doch ich hatte alles gehört.

Der arme Junge. Er hatte das nicht verdient und Jolanda hatte nicht verdient ihn zu verlieren. Auch wenn ich seine Verbindung zu diesen Fanatikern nicht gerade guthieß, hatte er das Herz am rechten Fleck und Jolanda schien ihm wirklich was zu bedeuten. Wie auch umgekehrt…

Manchmal konnte das Leben unfassbar grausam sein. Ich wünschte, ich hätte die Kraft gehabt, etwas zu unternehmen. Und selbst wenn mein Trick dann in Rekordgeschwindigkeit aufgeflogen wäre, hätte ich wenigstens etwas erreicht. Aber so hatte ich nur tatenlos auf dem kalten Stein gelegen.

Schuldgefühle nagten an mir und in meinem Kopf ging ich ein ausgeweitetes hätte-hätte-Fahrradkette-Spiel durch. Allerdings machte mich das im Grunde nur noch verzweifelter und niedergeschlagener, weil ich sowieso nichts mehr ändern konnte.

Mittlerweile war ich bei der Villa angekommen. Der Eingang war für nichts mehr zu gebrauchen, zumindest wenn man menschliche Größe hatte. Als gerade mal handgroßes Kätzchen fand ich spielerisch einen kleinen Spalt zum Reinschlüpfen.

Meine Pfoten klirrten immer ganz leise, wenn ich sie aufsetzte. Ansonsten war es gespenstig still. Aufmerksam drehte ich meine Ohren automatisch in alle Richtungen. So ein Katzenkörper war schon ein bisschen ungewohnt, aber nichts mit dem ich nicht klarkommen würde.

Nur mit jedem Schritt, den ich mich vom See entfernte, hatte ich das Gefühl schwächer zu werden. Vielleicht lag das daran, dass dort eine fast geöffnete Verbindungsstelle zum Abgrund war und ich eigentlich jetzt dort sein müsste.

Obwohl ich versuchte alles im Blick zu behalten, merkte ich wie mir meine Gedanken immer weiter entglitten. Ständig kamen Erinnerungen hoch und ich trottete beinahe wie in Trance vor mich hin. Es war fast schon so, als würde mein Leben an mir vorbeiziehen und ich konnte es einfach nicht festhalten.

Plötzlich roch ich Blut und ich schaffte es wieder aus diesem seltsamen Schwebezustand aufzutauchen. Irgendjemand war noch hier und wahrscheinlich nicht in der besten Verfassung.

Immer der Nase nach stieg ich in den Keller hinab. Hier war meine Größe ein wenig unpraktisch. Von einer Stufe zur nächsten musste ich jedes Mal springen. Auf der dritten Stufe verkalkulierte ich mich dann und legte eine tolle Bruchlandung hin.

Scheppernd kullerte ich von Stufe zu Stufe und rollte am Ende noch ein gutes Stück über den Boden. Etwas mühselig rappelte ich mich danach wieder auf. Ich glaube ich hatte mir dabei eine Feder im Nacken angeknackst. Zumindest hatte ich das Gefühl mein Kopf würde jetzt etwas schief hängen.

Ach egal, war nur halb so wild. Nach meinem spektakulären Sturz folgte ich weiter dem stärker werdenden Geruch nach Blut. Vor dem geräumigen Kellerraum blieb ich stehen. Die zweite Treppe, die eigentlich direkt hier runter führte, war vollkommen zerstört und auch der Eingang war ziemlich verschüttet.

Und unter den schweren Trümmern lag eine Seele. Ulrich! Seine Haut war ganz bleich und sein Atem kaum noch vorhanden. Panisch lief ich die letzten Schritte zu ihm und schaute mir den Schutthaufen genauer an.

Da war nichts zu machen. Die Steinbrocken waren viel zu schwer für mich als kleine Katzenfigur. Ich brauchte unbedingt Hilfe! Jede normale Seele könnte Ulrich mit einer Nebelreise da rausholen oder sonst wie die Trümmer verschieben. Es gab tausende Möglichkeiten. Doch die einzige Seele, die hier war, war Ulrich.

Was, wenn er mir helfen konnte? Ja… Das könnte funktionieren, ich musste ihn nur irgendwie wieder ein bisschen aufpäppeln. Vielleicht war der Keller ja nicht vollständig eingestürzt und ein paar Heiltränke hatten überlebt.

Hoffnungsvoll quetschte ich mich durch den Schutt unter dem mein Kamerad begraben war. So ein bisschen fühlte ich mich dabei wie ein Wurm, der sich durchs Erdreich wühlt.

Aber ich hatte Recht gehabt. Hinter dem fetten Trümmerhaufen befand sich ein noch ziemlich gut erhaltener Raum.

Durch die Erschütterungen von den Explosionen waren die meisten Fässer und auch eins der Regale umgekippt. Die fünf Feldbetten für die Wanderseelen waren von einem runtergefallenen Stück Decke zerquetscht worden. Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass unsere kleinen Drecksmaden noch lebten.

Nach dieser kurzen Lagebeurteilung lief ich zum Regal. Ulrich blieb nicht mehr viel Zeit. Ich konnte es mir nicht leisten zu trödeln. Jede Menge Scherben von zerbrochenen Flaschen lagen im Staub. Das sah nicht gut aus.

Verzweifelt suchte ich nach einer noch intakten Flasche. Komm schon! Hier musste doch noch etwas sein! Für Theo hatte ich schon nichts tun können, jetzt konnte ich nicht auch noch Ulrich hängen lassen! Die beiden hatten etwas Besseres verdient!

Etwas fiel mir ins Auge. Ein Farbklecks in all dem staubigen Grau. Mit rasendem Herz lief ich zu der Flasche, die quer durch den Raum zur anderen Ecke gerollt war. In ihr befand sich eine orangene Flüssigkeit. Sah ein bisschen aus wie ungesund leuchtender Orangensaft.

Vielleicht war es irgendetwas Explosives oder ein anderer Kampftrank. Doch genauso gut könnte es sich um einen Heiltrank handeln.

Woher sollte ich das wissen?! Mein Gebiet war die Magie und nicht die Küche!

Kurz zögerte ich, dann fing ich an die Flasche durch den Raum in Richtung Trümmer zu rollen.

Ich glaube, ich hatte mal einen orangenen Heiltrank bekommen. Auch wenn das echt nichts zu heißen hatte, bestimmt gab es alle möglichen Arten von orangenen Tränken. Ausschlaggebend war allerdings die Gewissheit, dass ich Ulrichs Lage nicht schlimmer machen konnte. Er würde so oder so sterben, wenn dieses Gesöff keine heilende Wirkung hatte.

Am schwierigsten war es den gläsernen Behälter unversehrt durch den Steinhaufen zu kriegen. Total hektisch suchte ich erst einmal eine Lücke, die überhaupt groß genug dafür war und weil sich diese dummerweise ziemlich weit oben befand, hieß es danach klettern und zwar so richtig dämlich.

Keine Ahnung wie ich es am Ende schaffte diese Flasche die Trümmer hochzutragen. Ich probierte gefühlt alles aus und hing da manchmal sowas von komisch. Aber immerhin kam ich bis zu meiner Lücke und dann irgendwie auch noch hindurch. Das war eine einzige Tortur!

Endlich kam ich auf der anderen Seite der Steine wieder raus. Jetzt nur noch schön vorsichtig runter klettern und voilà! Man wäre es übel, wenn ich mir die ganze Mühe gemacht hätte, nur um Ulrich zu vergiften.

Nein, schon bei meiner letzten Rettung hatte ich mehr Glück als Verstand gehabt, auch dieses Mal würde alles gut gehen! Ich musste nur ganz fest dran glauben. Auch wenn diese Einstellung ein wenig kindlich und dumm war.

Plötzlich knirschte es neben mir unheilverkündend. Oh nein! Nicht!

Verzweifelt versuchte ich noch die Flasche richtig zu packen, doch sie rutschte mir mit einem quietschenden Geräusch durch die metallischen Pfoten und fiel. Entsetzt schaute ich ihr nach. Gleich würde meine letzte Hoffnung einfach am Boden zerschellen.

Klirrend schlug sie unten auf.

Doch sie zerbrach nicht! Gott sei Dank! Für einen Moment konnte ich mein Glück kaum fassen.

Dann eilte ich Hals über Kopf nach unten. Von Klettern konnte da wirklich nicht mehr die Rede sein, es war mehr ein Schlittern und Stürzen. Besonders das letzte Stückchen rutschte ich eigentlich nur noch abwärts.

Unglaublich erleichtert sah ich mir die Flasche an. An einer Stelle hatten sich ein paar Risse gebildet, aber die waren nicht besonders tief, nichts war ausgelaufen. Zufrieden rollte ich die Flasche zu Ulrich rüber. So, jetzt musste ich ihn nur noch dazu bringen, daraus zu trinken. Das sollte doch nicht allzu schwer sein.