Loslassen und sich selber finden - Verena Kast - E-Book

Loslassen und sich selber finden E-Book

Verena Kast

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Beschreibung

Die eigenen Kinder loszulassen gehört zu den schwierigsten Aufgaben für Eltern. In den Prozess der Ablösung mischen sich Gefühle wie Trauer, Wut, Zärtlichkeit, auch Zukunftshoffnung. Ein Klassiker der Erfolgsautorin.

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Das Buch

Loslassen und sich selbst finden ist die zentrale Lebensfrage von Eltern, deren Kinder heranwachsen, erwachsen werden und das Haus verlassen. Es steht eine neue Lebensphase an, die vielfältige positive und negative Gefühle mit sich bringt. Diese Gefühle können in eine fruchtbare, neue Beziehung zu den Kindern und zum Lebenspartner, zur Lebenspartnerin münden. Die Autorin zeigt, wie diese Wandlung im Leben positiv gestaltet werden kann, wie sich die Chance einer stabilen Identität eröffnet.

Die Autorin

Verena Kast, geboren 1943, Psychotherapeutin, Dozentin am C. G.-Jung-Institut in Zürich, Professorin an der Universität Zürich, Vorsitzende der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie. Autorin zahlreicher Bücher.

Verena Kast

Loslassen und sich selber finden

Die Ablösung von den Kindern

Impressum

Titel der Originalausgabe: Loslassen und sich selber finden

Die Ablösung von den Kindern

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2001, 2009, 2013

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung und -konzeption:

R·M·E / Eschlbeck / Botzenhardt / Kreuzer

Umschlagmotiv: © Getty Images / Joseph Drivas

ISBN (E-Book): 978-3-451-80329-1

ISBN (Buch): 978-3-451-06077-9

Inhalt

Vorwort

Sich einlassen und loslassen

Ablöseprozesse

Ablösephasen sind Abschiedsphasen

Der Trauerprozeß

Die verschiedenen Phasen

Der Unterschied von Trauer und Depression

Trauern im Ablöseprozeß – Ein Lebensabschnitt geht zu Ende

Wie Jugendliche sich von ihren Eltern trennen

Die vermiedene Ablösung

Gerda: Ein Beispiel

Der Prozeß der Veränderung

Die Schwierigkeiten, eine neue Identität zu finden

Die Bedeutung der Identität

Von der abgeleiteten zur autonomen Identität

Die Auseinandersetzung mit der Mutter

Die Ablösung der Töchter von den Müttern

Ablösearbeit, wenn keine Trauerarbeit möglich scheint

Probleme der Ablösung von berufstätigen Müttern

Die schwierige Ablösung von schwierigen Kindern

Die zentrale Frage nach der Identität

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Ablösungsprozesse von den Kindern können besser gelebt werden, würde man mehr darauf achten und bewußter Abschied nehmen.

Dadurch könnte in einem an sich leidvollen Prozeß dennoch auch viel Leid vermieden werden. Aus diesen Gedanken und Erfahrungen heraus ist dieses Buch entstanden, und ich hoffe, daß es eine Hilfe ist, auf diesen speziellen Trauerprozeß aufmerksam zu machen, ihn besser zu verstehen und zu bestehen.

Ein Buch wie das vorliegende lebt von der mitgeteilten Erfahrung von Betroffenen – und Betroffene sind wir in dieser Beziehung alle.

Ich danke aber vor allem den Frauen, die mir erlaubt haben, ihren dornigen Weg der Ablösung stellvertretend für viele zu schildern, sehr herzlich für die Bereitschaft, mir ihre Erfahrungen zur Veröffentlichung zu überlassen.

Sehr dankbar bin ich meiner Tochter Renata, die mit viel Liebe und Ausdauer die Endfassung meines Manuskriptes hergestellt hat.

Verena Kast

St. Gallen, im Herbst 1990

Sich einlassen und loslassen

„Sind Ablösungsprobleme Frauenprobleme?“ wird in einem Zeitungsartikel mit dem Titel „Ablösung beginnt im Kindergarten“1 von Annemarie Stüssi gefragt. „Bis zu einem gewissen Grade schon“, gibt sie die Antwort, „Männer tun sich in der Regel leichter mit solchen Situationen, weil sie im Berufsleben stehen und daher weniger mit der Leere konfrontiert werden.“

Es ist bekannt, daß Frauen, die ausschließlich die Mutterrolle leben, in der Regel große Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Ablösung der Kinder haben, schließlich geht es darum, daß sie ihren Lebensinhalt verlieren. Es ist auch nachgewiesen, daß diese Frauen auf die Ablösung ihrer Kinder mehr mit Depressionen reagieren als Frauen, die sich nicht ausschließlich den Kindern gewidmet haben2. Die Ablösung ist ein Problem. Aber ist sie wirklich nur deshalb problematisch, weil diese Frauen keinen Beruf haben, keinen anderen zentralen Lebensinhalt? Und was ist mit jenen Frauen, die durchaus einen Beruf haben, der sie ausfüllt, und die die Ablösung von den Kindern dennoch als sehr schmerzhaft erleben? Und was ist mit den Männern, die ebenfalls sehr leiden darunter, daß die Kinder das Haus verlassen, die alles dafür tun, daß sie noch bleiben?

Ablösungsprobleme sind nicht nur Frauenprobleme, es sind Menschenprobleme. Da sich aber Frauen in der Regel auf die Beziehung zu ihren Kindern total einlassen, wird auch die Ablösung von diesen Kindern und von diesem Engagement zu einem zentralen Konflikt, der zu Krisen und anschließender Neuorientierung führen kann.

Wir Menschen müssen uns einlassen, und wir müssen auch immer wieder loslassen – und das fällt uns schwer. Wir müssen lernen, so loszulassen, daß wir uns nicht einfach beraubt vorkommen, so daß wir auch immer wieder den Mut haben, uns neu einzulassen, obwohl wir wissen, daß sich einzulassen auch bedeutet, immer wieder loslassen zu müssen, mit dem damit verbundenen Schmerz, mit der damit zusammenhängenden dringenden Notwendigkeit der Neuorientierung. Eine Leere bleibt allemal zurück, wenn ein Mensch, mit dem uns viel verbunden hat, aus unserem Leben weggeht. Man kann diese Leere rasch wieder auffüllen oder sie auch zuschütten, man kann aber auch innehalten und sich fragen, ob man ausschließlich Gefühle der Leere spürt? Ist neben der Leere vielleicht auch Dankbarkeit zu erleben, Freude, daß eine Lebensphase vorbei ist, oder machen sich etwa auch Schuldgefühle bemerkbar? Man kann sich auch fragen, wofür Raum – Freiraum – in unserem Leben geworden ist, zu welchen Phantasien also uns die Leere führt.

Jeder Prozeß der Ablösung wirft uns auf uns selbst zurück: wir sind allein, wir bleiben zurück, sind verlassen worden, vielleicht sind wir sogar einsam. Eine Frage drängt sich dabei unabweisbar auf: Wer sind wir, und wer können wir sein, wenn wir uns nicht mehr aus der gewohnten Beziehung, aus den gewohnten Beziehungen, heraus verstehen können? Diese Neuorientierung erfordert Selbstbesinnung, dieser Prozeß ermöglicht aber auch neue Selbstbestimmung.

Ablöseprozesse

Spricht man von Ablöseprozessen im Zusammenhang mit Kindern, dann denkt man gewöhnlich zuerst an die Adoleszenten3, die aus dem Elternhaus ausziehen, in eine Wohngemeinschaft, in eine eigene Wohnung, meistens auch sich hinwenden zu Menschen, die für sie wichtiger geworden sind als die Eltern. Es handelt sich bei diesem Ablöseprozeß in der Adoleszenz auch gewiß um den einschneidendsten Ablöseprozeß zwischen Eltern und Kindern, einem Prozeß von großer Wichtigkeit, lernen die Kinder doch dabei, sich zu trennen, lernen die Eltern dabei, loszulassen.

Aber die Ablöseprozesse beginnen viel früher und begleiten den ganzen Prozeß der Beziehung der Eltern zu den Kindern. Ablöseprozesse begleiten überhaupt alle Beziehungsprozesse: Sich einlassen – loslassen – und neu sich wieder einlassen – manchmal auf einer neuen Ebene sich wieder einlassen, sind Rhythmen, die zu jeder menschlichen Beziehung gehören.

Da sagt eine junge Mutter, die ihr Kind übertragen hat: „Wahrscheinlich wollte ich es bei mir behalten, wollte es nicht loslassen.“ Und sie fragt sich, ob das notwendigerweise heiße, daß sie auch im späteren Leben Schwierigkeiten haben werde, das Kind in die Selbständigkeit hinein loszulassen. Unaufgefordert erzählt sie, daß sie sowieso Schwierigkeiten habe, loszulassen, Schwierigkeiten damit habe, wenn sich die Situationen veränderten, sie habe lieber, wenn alles beim alten bleibe, beim Vertrauten, beim Gewohnten: festhalten aus Angst vor dem Neuen; festhalten aus Angst davor, neuen Situationen nicht gewachsen zu sein; festhalten aus mangelndem Selbstvertrauen?

Bei der Geburt beginnt die Ablösung, bei der Geburt aber müssen sich Eltern auch ganz neu auf das Kind einlassen. Gewiß wird zum Zeitpunkt der Geburt weniger der Trennungsschmerz im Vordergrund stehen, mehr die mehr oder weniger ängstliche Erwartung auf das gemeinsame Leben. Und doch kann auch der Trennungsschmerz gefühlt werden.

Ablösung, Loslösung wird dann gespürt, wenn das Kind die ersten selbständigen Schritte macht: Das ist der Anfang vom Ende. Der Stolz über die ersten selbständigen Schritte des Kindes vermischt sich leicht mit einer leisen Wehmut, „einem kleinen Stich im Herzen“ – aber auch mit einem Gefühl der Erleichterung. Die Ablösung der Kinder von uns, ihr immer mehr und mehr Selbständigwerden, ist ja gleichzeitig etwas, das wir anstreben. Unsere Gefühle sind angesichts dieses Selbständigerwerdens, einer normalen Folge der Entwicklung, widersprüchlich, unsere Botschaften sind es nicht selten ebenfalls: Wir stimulieren zwar die autonomen Tendenzen in unseren Kindern, zumindest verbal, wir hemmen sie aber auch, indem wir etwa übertrieben auf die Gefahren aufmerksam machen, die in der Welt drohen, und auf die Sicherheit hinweisen, die wir selber zu bieten meinen, oder indem wir unseren Schmerz über unser Alleinsein sehr deutlich zeigen, vielleicht sogar die Kinder damit erpressen. „Mami ist aber traurig, wenn du so weit weg gehst“, hörte ich kürzlich eine Mutter zu ihrem etwa 15 Monate alten Kind sagen, das strahlend in die Welt hineinwackelte, zwar immer noch wieder ängstlich Blickkontakt aufnahm mit der Mutter, aber sehr deutlich machte, daß es jetzt auf einen Spaziergang in die Welt hinein Lust hatte ... Dieses Kind ließ sich von den Worten der Mutter nicht beeindrucken, es faßte sie offenbar als Teil eines Spiels auf. Die Mutter wartete dann gelassen, bis das Kind wieder zurückkam, und schloß es liebevoll, wie nach langer Trennung, wieder in die Arme.

Der Ausdruck „Mami ist traurig, wenn du weggehst“ kann viel problematischere Wirkungen haben als in dieser geschilderten Situation: Er kann den Kindern im Laufe ihrer Entwicklung immer wieder das Gefühl geben, daß sie sich nicht ablösen dürfen, daß sie sich nicht altersgemäß entwickeln dürfen, daß sie nicht mit vollen Händen ins Leben greifen dürfen. Der intensive Wunsch einer Bezugsperson, das Kind möge sich nicht ablösen, wird mit der Zeit vom Kind verinnerlicht. Es selbst gibt sich dann in der Folge nicht die Erlaubnis, sich abzulösen und dadurch sich anderen Menschen und der Welt zuzuwenden: Ein solches Leben wird zunehmend gehemmt; solche Kinder bleiben zu lange abhängig, werden zu lange nicht autonom, nicht selbständig. Sie möchten auf die Welt zugehen, auf die Menschen zugehen, aber sie dürfen es nicht. Sie bleiben, bildlich gesprochen, an der Grenze zur Welt und zu den anderen Menschen stehen, können nicht vor und gehen auch nicht wirklich zurück. Ihre Eroberungslust wird gebremst, sie werden ängstlich4.

Werden Kinder nicht losgelassen, dann können sie sich auch schlechter ablösen. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Reaktionen zwischen Bezugspersonen und Kindern: Da gibt es Kinder, die die Eltern geradezu provozieren, sie doch festzuhalten, andere Kinder, bei denen kommt es nicht den klammerndsten Eltern in den Sinn, diese über die Zeit hinaus festzuhalten, und wenn sie es tun, dann wirkt das geradezu kontraproduktiv. Erziehung ist nicht einfach etwas, was Eltern über ihre Kinder ergießen und diese einfach genießen oder genießen müssen: Jede Bezugsperson hat mit jedem Kind eine besondere Beziehung, es ist ein Zusammenklingen – manchmal mit Mißtönen –, und die beiden stimulieren oder hemmen sich gegenseitig wie in jeder anderen Beziehung auch.

Der Ablöseprozeß findet während der ganzen Kindheit statt; es sind auch Wegmarken der Ablösung auszumachen, Einschnitte, an denen uns deutlich wird, daß sich die Qualität der Beziehung zu einem Kind verändert. Als solche Wegmarken erscheinen uns bestimmte Situationen: Ein Kind geht zum ersten Mal in die Spielgruppe – und schaut nicht mehr zur Bezugsperson zurück, die es gebracht hat; das Kind geht in den Kindergarten und verkündet, es wolle jetzt die Kindergartentante und nicht mehr die Mami heiraten. Auch Schuleintritt, Schulübertritte usw. sind alles unübersehbare Wegmarken der Ablösung. Dazwischen liegen viele Situationen, in denen es deutlich wird, daß das Kind uns nicht mehr so sehr braucht, wie es uns einmal gebraucht hat, vielleicht auch auf eine andere Weise braucht als zuvor: Es sind Situationen, die einen Verlust signalisieren, Situationen, die aber auch einen Gewinn anzeigen: Das Kind kann das Leben immer mehr auch selber gestalten, es wird eigenaktiver, und auch die Eltern werden wieder unabhängiger, werden frei für andere Lebensaufgaben.

Die Ablösephasen verlaufen in einer gewissen Regelhaftigkeit: Kinder stürmen in die Welt hinein, sie sind stolz auf ihre Selbständigkeit, übernehmen sich dabei manchmal auch ein wenig, werden etwas irritiert oder erschrecken sich, sie kommen zurück – man nennt das den Schritt der Wiederannäherung5 nach der Trennung. Bei der Wiederannäherung werden etwa schon recht unternehmungslustige Kinder wieder weinerlich, hängen am Rockzipfel von Mutter oder Vater und werden wieder ganz klein. Werden sie in dieser Phase liebevoll wieder aufgenommen, ohne entwertende Bemerkungen über den vermeintlichen Rückfall in eine frühere Phase, dann ereignet sich recht bald die sogenannte Wiederannäherungskrise: Die Verbindung, aus dem Schrecken heraus geknüpft, ist zu nah, läßt zu wenig Spielraum für die mögliche Autonomie. Das Kind wird quengelig, aggressiv und wird wieder selbständiger. Bei manchen Kindern kann man beobachten, daß das Maß der Selbständigkeit jetzt etwas korrigiert wird – auf ein verträglicheres Maß hin als beim ersten Aufbruch. Die neue Distanz und die neue Autonomie spielen sich ein, bis neue Entwicklungsschritte wieder einen neuen „Trennungsschub“ einleiten.

Trennungen im Leben des Menschen – auch im Erwachsenenalter – verlaufen in diesen Rhythmen, wobei zur zunehmenden Entwicklung von Autonomie auch eine zunehmende Bezogenheit auf die Menschen, mit denen man zusammenlebt, erfolgen muß6.

Ablösephasen sind Abschiedsphasen

Um die Ablösephase in der Adoleszenz gut durchzustehen, ist es hilfreich, wenn die Ablösephasen auch schon vorher bemerkt und bestanden werden. Viele Probleme, die Erwachsene mit Kindern haben, haben damit zu tun, daß nicht wirklich von Phasen Abschied genommen werden kann, die vorbei sind.

Da sagt etwa ein Vater zu seinem fünfzehnjährigen Sohn: „Es war eine wunderbare Zeit, als du so mit zehn und elf an meinen Lippen gehangen hast, als ich richtig wichtig war für dich. Warum kann das nicht so bleiben, warum mußtest du in dieses schwierige Alter kommen!“ Das Alter wäre für den Vater bedeutend weniger schwierig und dennoch noch schwierig genug, hätte er Abschied genommen von der Idee, daß die Beziehung zu seinem Sohn dieselbe bleiben müsse, die er zu ihm als dem zehn- oder elfjährigen gehabt hat.

Abschied nehmen will gelernt sein. Die Emotion, die uns hilft, Abschied zu nehmen, Verluste aufzuarbeiten, das ist die Trauer. Wenn wir etwas verlieren, das für uns einen großen Wert darstellt, dann erleben wir einen Verlust, wir sind traurig. Die Trauer ist die Emotion, die den Verlust ausdrückt, die uns aber auch hilft, den Verlust zu verarbeiten, wenn wir uns den verschiedenen Emotionen überlassen, die in dem „Trauern“ sich verdichten. Ich werde in folgendem den Trauerprozeß in seiner Regelhaftigkeit schildern, wie er zu beobachten ist bei Menschen, die einen geliebten Menschen durch den Tod verloren haben, ein Extremerlebnis von Verlust. Er kann mit leichten Modifikationen, die ich in einem zweiten Schritt aufzeigen werde, auf die Trauerarbeit übertragen werden, die notwendig ist, wenn wir erwachsene Kinder ins Leben hinein freigeben müssen.

Der Trauerprozeß

Wir sind vom Gefühl der Trauer erfaßt, wenn wir einen Menschen oder ein Lebensgut verloren haben, das für unser Leben einen besonderen Wert dargestellt hat. Mit diesem Gefühl der Trauer verdichtet sind Gefühle des Kummers, der Angst, des Zorns, der Schuld usw.

Das Erleben dieses Gefühls, das Zulassen dieses Gefühls bewirkt, daß wir in einen Trauerprozeß eintreten, einen Entwicklungsprozeß, durch den wir langsam – und sehr schmerzhaft – lernen, den Verlust zu akzeptieren und ohne den Menschen, den wir verloren haben, ohne das Gut, das wir verloren haben, uns wieder neu auf das Leben einzulassen.

Der Trauerprozeß und die Trauerarbeit müssen im Zusammenhang mit der Beziehung gesehen werden, aus der wir uns durch den eingetretenen Verlust herauslösen müssen. Wenn wir zu einem Menschen eine intensive Beziehung aufbauen, dann wachsen wir mit ihm zusammen, mit ihm zusammen wachsen wir aber auch. Das ist der Grund, weshalb Trauernde sagen, sie würden sich jetzt entzweigerissen fühlen, sich wie eine blutende Wunde anfühlen, sich entwurzelt vorkommen. Der Prozeß dieses gemeinsamen miteinander Verwachsens wird durch den Tod abrupt unterbrochen und verändert das ganze Leben: Im Laufe des Trauerprozesses müssen wir uns wieder auf uns selbst als einzelne besinnen, neu auch wieder als einzelner, als einzelne einen Bezug zur Welt finden. Wir müssen uns von einem Beziehungsselbst auf unser individuelles Selbst zurück-organisieren. Der Verlust betrifft unser ganzes Leben, besonders wenn es sich um den Verlust eines uns sehr nahestehenden Menschen handelt.

So ist denn der Trauerprozeß ein sehr schmerzhafter Prozeß von einer eigentümlichen Lebendigkeit, der viel Kraft und Zeit kostet und uns zwingt, uns mit uns selbst und mit der Beziehung, die abgebrochen worden ist, auseinanderzusetzen.

Die verschiedenen Phasen

Aus der Beobachtung von trauernden Menschen, besonders auch aus den Träumen, die Trauerprozesse regelmäßig begleiten, kann der typische Ablauf eines Trauerprozesses beschrieben werden7.

Die erste Phase des Trauerprozesses nenne ich die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens. Man weigert sich zu glauben, daß ein Mensch wirklich gestorben ist, man steht unter Schock und versucht sich zunächst dadurch vor den Gefühlen des Verlustes zu retten, daß man sich einredet, alles wäre nur ein böser Traum, aus dem man erwachen werde.

Diese erste Phase, die Stunden oder Tage dauern kann, geht in die zweite Phase, die Phase der „aufbrechenden chaotischen Emotionen“