Lüttes Glück (2in1-Bundle) - Marie Schönbeck - E-Book

Lüttes Glück (2in1-Bundle) E-Book

Marie Schönbeck

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Beschreibung

Die romantische Föhr-Saga: die ersten beiden Bände der erfolgreichen Trilogie in einem E-Book!

Band 1:

Marie Schönbeck: Ein Traum am Nordseestrand – Lüttes Glück

Als die Großstädterin Anja die Pension »Lüttes Glück« auf ihrer Trauminsel Föhr kauft, hofft sie auf einen Neuanfang im wildromantischen nordfriesischen Wattenmeer. Aber die Pension ist heruntergewirtschaftet und die ehemalige Besitzerin Hilde Hinrichs weigert sich auszuziehen. Dann lernt Anja Hildes Neffen kennen, den attraktiven Joris Graf. Sofort hat sie Schmetterlinge im Bauch und verspürt den Wunsch, um ihr neues Leben auf Föhr zu kämpfen. Doch der traditionsverbundene Joris fordert die Pension von ihr zurück, damit seine Tante dort wohnen bleiben kann. Wird Anja trotz aller Widerstände ihr Glück hinterm Deich finden?

Band 2:

Marie Schönbeck: Ein Geheimnis am Nordseedeich – Lüttes Glück

Nachdem Christins Mann sie betrogen hat, findet sie Zuflucht bei ihrer besten Freundin Anja in der neu eröffneten Pension »Lüttes Glück« auf Föhr. Ihre Wunden sind noch sehr tief, als sie Tjorben Graf kennenlernt. Sofort ist Christin fasziniert von dem attraktiven Kapitän, der nebenbei im Robbenzentrum arbeitet. Wenig später entdeckt sie am Strand eine verletzte Robbe und ruft Tjorben zu Hilfe. Ein Jetski hat das Tier schlimm zugerichtet und die beiden machen sich auf die Suche nach dem skrupellosen Täter. Dabei kommen sie sich endlich näher. Doch Christin weiß nicht, ob sie sich bereits wieder auf eine neue Liebe einlassen kann …

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Seitenzahl: 1036

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Marie Schönbeck: Ein Traum am Nordseestrand – Lüttes Glück

Als die Großstädterin Anja die Pension »Lüttes Glück« auf ihrer Trauminsel Föhr kauft, hofft sie auf einen Neuanfang im wildromantischen nordfriesischen Wattenmeer. Aber die Pension ist heruntergewirtschaftet und die ehemalige Besitzerin Hilde Hinrichs weigert sich auszuziehen. Dann lernt Anja Hildes Neffen kennen, den attraktiven Joris Graf. Sofort hat sie Schmetterlinge im Bauch und verspürt den Wunsch, um ihr neues Leben auf Föhr zu kämpfen. Doch der traditionsverbundene Joris fordert die Pension von ihr zurück, damit seine Tante dort wohnen bleiben kann. Wird Anja trotz aller Widerstände ihr Glück hinterm Deich finden?

Marie Schönbeck: Ein Geheimnis am Nordseedeich – Lüttes Glück

Nachdem Christins Mann sie betrogen hat, findet sie Zuflucht bei ihrer besten Freundin Anja in der neu eröffneten Pension »Lüttes Glück« auf Föhr. Ihre Wunden sind noch sehr tief, als sie Tjorben Graf kennenlernt. Sofort ist Christin fasziniert von dem attraktiven Kapitän, der nebenbei im Robbenzentrum arbeitet. Wenig später entdeckt sie am Strand eine verletzte Robbe und ruft Tjorben zu Hilfe. Ein Jetski hat das Tier schlimm zugerichtet und die beiden machen sich auf die Suche nach dem skrupellosen Täter. Dabei kommen sie sich endlich näher. Doch Christin weiß nicht, ob sie sich bereits wieder auf eine neue Liebe einlassen kann …

Die ersten beiden Romane der Föhr-Saga von Marie Schönbeck in einem Band

Die Autorin

Marie Schönbeck hat sich in das Nordfriesische Wattenmeer verliebt. Für sie sind die Küsten und Inseln Sehnsuchtsorte. Oft fährt sie mit ihrem Mann und ihren Hunden an die Nordsee, um lange Spaziergänge am Strand zu machen und die wildromantische Natur zu genießen. Während sie eines Tages in einem Strandcafé saß, Tee trank und friesisches Mandelgebäck mit Schokoladenguss aß, kam ihr die Idee zur Romanreihe um die kleine Inselpension »Lüttes Glück« auf Föhr.

Marie Schönbeck

Ein Traum am Nordseestrand Ein Geheimnis am Nordseedeich

Zwei Romane in einem Band

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright© 2024 by Marie Schönbeck

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Loel Zwecker

Umschlaggestaltung: zero-media.net unter Verwendung folgender Motive: Ein Traum am Nordseestrand: © FinePic®, München Ein Geheimnis am Nordseedeich: © FinePic®, München

ISBN 978-3-641-32989-1V001

www.heyne.de

Ein Traum am Nordseestrand

Lüttes Glück

Teil 1 der Föhr-Saga

»Genieße die kleinen Dinge!Denn sie machen das Leben großartig.«

Autor unbekannt

Kapitel 1

Heimlich schlichen sich ihre Gedanken immer wieder nach Föhr davon. Sobald sich Anja dessen bewusst wurde, erschrak sie innerlich. Zunehmend wütend auf sich selbst, konzentrierte sie sich wieder auf Köln. Lange hielt sie aber nie durch.

Mühsam versuchte sie, Ralf zu folgen, der die erste Hälfte der Präsentation übernahm, doch sie schaffte es kaum. Sie hoffte, dass die zwei Frauen und die zwei Männer, die mit ihnen im Konferenzraum saßen, nicht bemerkten, wie unkonzentriert sie an diesem Vormittag war. Falls doch, würden sie wohl denken, dass Anja kein Interesse daran hatte, den französischen Zigarettenhersteller als Kunden zu gewinnen.

Was das betraf, war sie tatsächlich hin und her gerissen.

Es widerstrebte ihr, Tabakwaren zu bewerben. Nicht nur, weil sie ungesund waren, sondern auch, weil manche Raucher ihre Kippen einfach wegschnippten und der giftige Müll der Umwelt dann über Jahre hinweg schadete.

Unglücklicherweise war dieser Auftrag wichtig. Er würde der Werbeagentur, die Anja gemeinsam mit Ralf führte, einen großen Gewinn bescheren und sie in ganz Europa bekannt machen. Bestimmt würden weitere Kampagnen von ausländischen Konzernen folgen.

Selbst nach vier Jahren störte Anja der Name ihrer Agentur noch immer. Shine with us! Sie hätte etwas Deutsches bevorzugt, schließlich war ihr Büro in Köln. Aber Ralf hatte auf seinen Vorschlag bestanden. Sie sollten international denken, meinte er und hatte sich am Ende durchgesetzt. Wie es aussah, hatte er recht gehabt. Trotzdem fiel es Anja immer noch schwer, sich mit dem Namen zu identifizieren.

Im nächsten Moment war sie in Wyk und schritt über den Strand des Badeorts. Barfuß und mit einem großen Strohhut auf dem Kopf. Die Sonne wärmte ihre Arme. Ihr T-Shirt flatterte im Wind, und sie musste ihren Hut festhalten, damit er nicht weggeweht wurde. Der warme Sand rieselte durch ihre Zehen. Der angenehme Kitzel zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Freudestrahlend ging sie zum Wasser. Während die erste kühle Welle der Nordsee ihre Füße umspielte, fiel eine unsichtbare Last von ihr ab. Erleichtert seufzte Anja.

Plötzlich knarzten die Stühle neben ihr. Das Geräusch riss Anja aus ihrem Tagtraum und sie fand sich zurück in dem nüchternen Konferenzraum der Werbeagentur. Die Geschäftsleute hatten sich zu ihr gedreht und sahen sie überrascht an. In dem Moment merkte sie, dass sie tatsächlich geseufzt hatte, nicht bloß im Traum.

Ihre Wangen brannten. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, nahm sie eine Flasche stilles Wasser aus der Kühlbox vor ihr, in der Getränke für sie und ihre Gäste bereitstanden. Sie goss sich etwas davon in ein Glas und trank. Mit einem Blick flehte sie Ralf an fortzufahren, um die peinliche Situation zu beenden.

Er tat ihr den Gefallen. Die Aufmerksamkeit der Kunden richtete sich wieder auf seine Präsentation der Marketingoffensive, mit der Shine with us! ihre Zigaretten auf dem deutschen Markt einführen wollte. Es würde ein Leichtes werden, dem Produkt zum Erfolg zu verhelfen. Die Zigaretten steckten in schrill bunten Schachteln mit coolen Sprüchen, die den Inhalt verharmlosten und an Kaugummipackungen erinnerten.

Nun, da sie nicht mehr angestarrt wurde, sackte sie in sich zusammen. Innerlich blieb sie jedoch angespannt. Sie sollten diesen Auftrag unbedingt an Land ziehen. Sie hatten bereits viel Energie und Zeit in das Projekt gesteckt. Alles andere hatte zurückstehen müssen, vor allen Dingen ihr Liebesleben. Aber das war inzwischen schon normal.

Welches Liebesleben, fragte sich Anja bitter. Ralf und sie hatten kaum Freizeit. Das Hamsterrad drehte sich unentwegt weiter. Sie fühlte sich urlaubsreif.

Sie trank ihr Glas leer und stellte es geräuschlos ab. Das kühle Wasser, das ihre Kehle hinablief, ließ sie wieder an das Schelfmeer des Atlantischen Ozeans denken. Erinnerungen strömten auf sie ein, wie gewaltige Wellen, die heranrollten und sich dann laut am Deich brachen.

Sie dachte daran zurück, wie sie als Kind mit ihren Eltern und ihrer drei Jahre jüngeren Schwester oft Sommerurlaub auf Föhr gemacht hatte. Wie sie und Leonie auf Ponys über die Salzwiesen ritten und die ganze Zeit vor unbändiger Freude grinsten. Wie sie beide bis zu den Knien ins Meer wateten und sich gegenseitig kichernd nass spritzten. Damals hatte Anja gelernt, dass Eiscreme viel besser schmeckte, wenn man sie am Strand mit Blick auf die von den Sonnenstrahlen glitzernde Oberfläche der Nordsee genoss.

Seitdem war Föhr für Anja ein Sehnsuchtsort. Andere Menschen träumten sich auf die Seychellen, an skandinavische Fjorde oder die Küste Südafrikas. Anja erkannte den Reiz dieser Urlaubsziele, aber sie tickte eben anders. Nur wenn sie an Föhr dachte, spürte sie ihr Herz heftig pochen.

Die Insel im nordfriesischen Wattenmeer war ein besonderes Fleckchen Erde für sie. In Anjas Vorstellung war dort ihre Mutter Martina noch am Leben, ihr Vater Klaus hatte noch keine neue Freundin, die ihn ganz für sich beanspruchte, sodass sie sich kaum noch trafen. Leonie lebte noch in Deutschland und nicht im weit entfernten Thailand. Telefonate konnten niemals Nähe ersetzen, egal wie lang und intensiv die Gespräche auch waren.

Damals auf Föhr schien alles viel leichter gewesen zu sein. Das Leben hatte solch einen Spaß gemacht, heutzutage bestand es nur noch aus Arbeit. Anja wusste, dass sie die Vergangenheit verklärte, weil sie damals noch ein Kind gewesen war und von den Problemen der Erwachsenen nichts geahnt hatte.

Als sie die grüne Insel das letzte Mal mit ihrer gesamten Familie besucht hatte, kurz bevor ihr Vater ihre Mutter für die resolute Rita verließ, war sie zwölf Jahre alt gewesen. Während des Urlaubs lernte sie Erik kennen. Er hatte schneeweiße Haare und eine süße Lücke zwischen den Vorderzähnen und machte eine Kur auf der Nordseeinsel, weil er an Asthma litt. Wenn Anja mit ihm zusammen war, kribbelte ihr ganzer Körper und ihr wurde jedes Mal heiß. Sie konnte nur noch an Erik denken, so etwas war ihr noch nie passiert.

Aufgewühlt traf sie sich am Abend vor ihrer Abreise mit ihm am Leuchtturm. Die bevorstehende Trennung machte sie traurig, sie hatte feuchte Augen. Doch bevor sie weinen konnte, küsste Erik sie zum Abschied. Da versiegten ihre Tränen. Auf der Heimfahrt zog Leonie Anja damit auf, dass sie dämlich grinsen würde. Sie wisse genau, an wem das lag.

Anja hatte also ihren ersten richtigen Kuss auf Föhr bekommen. Das würde sie auf ewig mit der Insel verbinden. Selbst die Tatsache, dass ihr letzter Besuch vor sechs Jahren von Kummer begleitet worden war, trübte ihre Begeisterung nicht.

Der Krebs ihrer Mutter war schon recht weit fortgeschritten, als sie sie in ihrem Krankenbett sitzend bat: »Ich möchte es sehen, ein letztes Mal.«

»Was, Mutter?« Anja legte ihr eine Fleecedecke um die Schultern, weil sie im beheizten Wohnzimmer trotz Strickjacke und Pullover fror.

Vor Begeisterung glühten die Wangen ihrer Mutter. »Das nordfriesische Wattenmeer.«

»Bist du dafür nicht zu schwach?«, fragte Anja besorgt, denn ihre Mutter war nur noch Haut und Knochen.

Während ihre Mutter lächelte, rollte eine Träne über ihre Wange. »Jetzt oder nie mehr.«

Anja war hin und her gerissen, ob sie ihr den Wunsch abschlagen oder erfüllen sollte. Also suchte sie Rat bei dem behandelnden Arzt ihrer Mutter.

»Aus medizinischer Sicht muss ich ihr dringend von dieser Reise abraten, denn sie würde ihre Kraft übersteigen und könnte die Krankheit verschlimmern«, sagte Dr. Grohte. Nach einigem Zögern merkte er jedoch an: »Privat bin ich allerdings der Meinung, dass sie in den letzten Wochen und Monaten, die ihr noch bleiben, alles machen sollte, was ihr Freude bereitet.«

Die Zeit ihrer Mutter lief ab, das machte Anja unendlich traurig.

Ohne sich dies jedoch anmerken zu lassen, fuhr Anja mit ihrer Mutter nach Föhr. Dort verbrachten sie zu zweit vier wundervolle ruhige Tage, denn so kurzfristig konnte Leonie, die in Ko Samui mit ihrem Freund eine Strandbar betrieb, nicht nach Deutschland fliegen. Und Anjas Vater, der seit zwanzig Jahren von ihrer Mutter geschieden war, sagte nach einer Eifersuchtsszene seiner Freundin ab.

Während Anja ihre Mutter stützte, bestaunten sie bei rauem Wind die waghalsigen Manöver der Kitesurfer und bei ruhigem Wetter die ersten unsicheren Versuche einiger Stand-up-Paddler vor der Küste vor Wyk, Nieblum und Utersum.

Mit dem Friesenexpress ließen sie sich vorbei an Dünen und malerischen Dörfern über die ganze Insel fahren, weil ihre Mutter die Strecke nicht mehr zu Fuß oder mit dem Fahrrad schaffte. In dem gemütlichen Hofcafé von Hinrichsens Familienfarm in Dunsum tranken sie Tee mit Rum und Kandis. Im Hofladen kauften sie Inselkäse, Wein und Öle mit Inselkräutern.

Im Café Im Apfelgarten in Oldsum verschlangen sie einige Stücke selbst gebackener Torten, ohne die Kalorien zu zählen, in einer Friesenstube in Nieblum aßen sie Muscheln und in einem Restaurant in Midlum Salzwiesenlamm. Wenn es ihrer Mutter zu schlecht ging oder sie von ihren Ausflügen erschöpft war, kuschelten sie sich in einen Strandkorb, schauten einfach bloß aufs Meer und ließen die Seele baumeln.

Fünf Tage nachdem sie wieder zu Hause in Köln waren, starb Anjas Mutter, als hätte sie endlich einschlafen können, nun, da sie noch einmal Föhr besucht hatte. Neben Anja saßen auch Leonie und ihr Ex-Mann an ihrem Krankenhausbett, als sie ihren letzten Atem aushauchte. Ihr Tod lag bereits sechs Jahre zurück, aber Anja spürte noch immer das schwere Gewicht der Trauer, wenn sie an ihre Mutter dachte. Sie war ihr Anker gewesen. Anja vermisste sie sehr.

Sie erschrak, als Ralf ihr den Staffelstab übergab, damit sie die zweite Hälfte der Präsentation ihres Marketingplans vortrug, wie abgesprochen. Es war ein Wettlauf gegen andere Werbeagenturen, die ebenfalls Konzepte für den französischen Zigarettenhersteller entwickelt hatten.

»Was ist heute nur mit dir los, Kleines?«, raunte Ralf ihr vorwurfsvoll zu, als er sich neben sie setzte und sie sich daraufhin steif erhob.

In ihren Ohren klang der Kosename in diesem Moment wie eine Rüge. Aber er hatte ja recht, sie war nicht bei der Sache. Warum nur, fragte sie sich, als sie nach vorne ging, um einige Influencer vorzustellen, die bereit waren, im Internet für die Zigarettenmarke zu werben.

Es war ihr doch wichtig, diesen Auftrag zu bekommen. Zugleich fragte sich Anja jetzt, ob sie das überhaupt wollte. Mehr Erfolg würde nur noch mehr Arbeit nach sich ziehen, ihr war das Pensum jedoch jetzt schon zu viel. Jede Faser ihres Körpers sehnte sich nach Erholung. Nach Urlaub. Nach Veränderung. War das nicht der Grund für ihre Tagträume von Föhr?

Außerdem störte es sie, Werbung für etwas zu machen, das sie privat keinesfalls empfehlen würde. Darüber hatte sie schon oft mit Ralf diskutiert, aber er hatte kein Verständnis für sie. Das eine wäre nun einmal ihr Job und das andere ihre persönliche Meinung, beides müsste sie trennen.

Doch der Spagat setzte ihr immer mehr zu. Produkte verkaufte man, indem man die Gefühle der Zuschauer manipulierte. Jetzt sollte Anja Zigaretten anpreisen, indem sie den Eindruck vermittelte, die Glimmstängel würden irgendwie glücklich machen und die richtige Atmosphäre für Liebesbeziehungen schaffen. Das war doch großer Mist! Man nannte sie nicht umsonst Sargnägel.

Emotionslos trug sie vor, was Ralf, ihr Team von Mitarbeitern und sie erarbeitet hatten. Sie kam sich vor wie ein Roboter. Ihr wurde klar, dass ihr nichts an diesem Auftrag lag, egal wie viel Geld er einbringen und wie sehr er ihren Bekanntheitsgrad erhöhen könnte. Ihre Gleichgültigkeit bestürzte sie. Ralf hatte recht, sie war heute nicht sie selbst.

Sie fühlte sich unwohl, weil Thibaut Chacal, der Chef des französischen Unternehmens, sie mit seinen Blicken auszog. Selbstzufrieden lächelte der glatzköpfige Mann sie an und saß in seinem maßgeschneiderten Anzug in seinem Stuhl, wie ein Jäger, der sicher war, dass er die Beute, die er ins Visier genommen hatte, niederstrecken würde. Der Mann widerte sie an, aber das durfte sie sich unter keinen Umständen anmerken lassen.

Souverän wie immer beendete Anja ihren Vortrag mit einem Katalog von Below-the-line-Marketingmaßnahmen. Doch kaum hatte sie zu Ende gesprochen, war sie so erschöpft, dass sie sich förmlich in ihren Stuhl am Konferenztisch fallen ließ. Ralf zog eine Augenbraue hoch, dachte wohl, dass es besser wäre, wenn er nun wieder das Ruder übernahm, und wollte von den möglichen Kunden wissen, ob sie noch Fragen hätten. Selbstverständlich hatten sie welche, doch Chacal richtete alle an Anja. Für ihn schien Ralf nicht zu existieren. Die Situation war unangenehm.

»Bon«, sagte Chacal schließlich und erhob sich, seine Entourage tat es ihm gleich. »Alors, so machen wir es.«

Ralf sprang auf. »Bedeutet das …«

»Shine with us! bekommt den Zuschlag.« Chacal antwortete Ralf, sah aber die ganze Zeit Anja an.

Während Ralf sich freute, wünschte sich Anja, der Franzose hätte abgesagt. Vielleicht würde sie krank werden. War das der Grund für diesen merkwürdigen Gedanken? Wäre es so schlimm, krank zu sein? In dem Fall könnte sie zu Hause bleiben und in Ruhe von vergangenen glücklicheren Zeiten träumen.

In ihrer Erinnerung kreisten Möwen über ihrem Kopf. Schon ihr fröhliches Lachen verursachte ein Wohlgefühl. Wenn Anja es bei ihrer Anreise nach Föhr das erste Mal hörte, fing der Sommerurlaub für sie an. Es war der Startschuss in eine ausgelassene Zeit gewesen.

Ralfs Stimme zitterte leicht vor Freude, als er sagte: »Ich werde gleich den ersten Vertragsentwurf fertig machen und Ihnen morgen persönlich ins Hotel bringen.«

»Meine avocats werden nicht lange brauchen, um ihn zu prüfen. Wir könnten aber Änderungswünsche haben. Darauf müssen Sie sich einstellen.« Chacal zog sein Smartphone aus der Tasche seiner Anzugjacke und sah aufs Display.

Ralf nickte den Juristen hinter ihm zu. »Selbstverständlich.«

»Ich erwarte Sie, Madame Blumenthal, mit den Unterlagen.« Mit dem Mobiltelefon zeigte Chacal auf Anja.

Entgeistert schaute sie abwechselnd zu Ralf und zum Franzosen. »Aber …«

»Nichts aber! Morgen Abend neunzehn Uhr im Restaurant meines hôtels, tagsüber habe ich noch andere Termine. Dort können Sie mir den contrat aushändigen und ich leite ihn an meine Anwälte weiter. Falls mir noch Fragen einfallen, kann ich sie bei unserem gemeinsamen dîner stellen.« Chacals Worte klangen wie eine Anweisung, nicht wie eine Einladung.

»Prima. Dann machen wir es so«, antwortete Ralf für Anja, was diese verstimmte.

Hinter dem Rücken machte Anja eine Faust. Eigentlich war sie nicht so rücksichtslos, aber nun stellte sie Ralf genauso vor vollendete Tatsachen, wie er es gerade getan hatte. »Herr Griesmann wird Ihr Projekt übernehmen. Ich denke, da ist es besser, wenn Sie von Anfang an mit ihm sprechen.«

»Mais non! Sie werden mein Kontakt zu Shine with us! sein.« Ungehalten wischte Chacal mit seiner Hand durch die Luft. Sein Ton wurde schärfer. »Sollte das etwa un problème sein?«

»Natürlich nicht«, schaltete sich Ralf ein, denn er schien Anjas Unmut wahrzunehmen und befürchtete wohl, dass das Geschäftstreffen doch noch unschön enden könnte. »Sie wird Ihnen jederzeit als Ansprechpartnerin zur Verfügung stehen.«

»Und sie wird auch zu mir nach Paris kommen. Um meine Zigarettenfabrik zu besichtigen und dètails abzustimmen«, fügte Chacal rasch hinzu.

Ralf deutete eine Verbeugung an. »Kein Problem.«

Inzwischen war Anja stinksauer. Sie kam sich vor wie eine Leibeigene, die verschachert wurde. Wie konnte Ralf so einfach über sie bestimmen? Aber sie war zu sehr Geschäftsfrau, um ihrer Verärgerung vor den Kunden Luft zu machen. Sie war ja Mitinhaberin der Werbeagentur, und dieser erste internationale Großauftrag würde auch ihr Konto weiter füllen. Warum lag dann solch ein Druck auf ihrem Magen?

Chacal verabschiedete sich von Anja auf französische Art und Weise, was durchaus hätte charmant sein können. Er gab ihr jedoch keine Luftküsse, sondern küsste sie auf die Mundwinkel. Es geschah zu schnell und unerwartet, als dass sie den Kopf hätte wegdrehen können. Während sie noch überrascht die Luft anhielt, glitten seine Hände über ihren Rücken tiefer und legten sich auf ihren Hintern.

Anja war fassungslos. Sie versteifte sich. In einem privaten Umfeld hätte sie Chacal aufgebracht von sich weggestoßen, ihm vielleicht sogar eine Ohrfeige gegeben, aber auf jeden Fall gehörig die Meinung gesagt. Doch hier im Büro, wo es um Shine with us! und eine enorme Gewinnmaximierung ging, tat sie es nicht. Hilflos sah sie Ralf an.

Ihr Freund wirkte verunsichert. Verlegen wandte er sich ab und schüttelte den Rechtsanwälten und Mitarbeitern des Zigarettenherstellers eifrig die Hände.

Chacal drückte Anja unangemessen eng an sich, nur einen kurzen Moment lang, sodass die anderen im Raum diese weitere Grenzüberschreitung gar nicht richtig mitbekamen.

Hitze schoss Anja ins Gesicht, was Chacal zu amüsieren und zu gefallen schien. Widerlicher Kerl, dachte sie und rümpfte die Nase.

Mit einem Haifischgrinsen verließ er die Agentur, gefolgt von seinem Team.

Kaum dass sie allein waren, fuhr Anja ihren Freund an: »Warum hast du nichts gesagt?«

»Was meinst du?« Ralf runzelte die Stirn.

»Chacal hat mir an den Po gegriffen!«, rief sie empört.

»Unsinn.« Hitze stieg ihm in die Wangen. Umständlich ordnete er die Präsentationsunterlagen. »Das war bloß dein Rücken.«

Wenn er das glaubte, warum wurde er dann rot? »Du hast einfach weggeschaut, dabei hättest du ihn als mein Freund und Geschäftspartner in die Schranken weisen müssen.«

»Du hast ihn doch auch nicht zurechtgewiesen. Darum dachte ich«, er zuckte mit den Achseln, »es wäre nicht so schlimm. Es tut mir leid, wenn ich damit falschlag.«

Anja ärgerte sich, dass sie Chacal nicht weggestoßen hatte. Sie hätte ihm von Anfang an Grenzen aufzeigen müssen, doch sie war zu überrumpelt gewesen. Jetzt würde er sich beim nächsten Treffen wahrscheinlich weitere Unverschämtheiten herausnehmen. »Ich werde das Projekt nicht betreuen.«

»Aber das haben wir ihm doch gerade versprochen.« Ralf fuhr sich durch die kurzen aschblonden Locken.

»Du hast das getan, nicht ich«, stellte sie verschnupft klar. Enttäuscht musterte sie den Mann, mit dem sie seit fünf Jahren zusammenlebte und seit vier Jahren gemeinsam die Werbeagentur führte. Sein Erscheinungsbild machte etwas her. Er war groß und schlank, wirkte in seinem hellgrauen Anzug souverän und integer. Aber er hatte einfach zugesehen, wie der Kunde zudringlich geworden war.

»Ach, komm schon, Anja.« Er trank einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. »Der ist ja schon kalt. Sei bitte vernünftig. Noch ist der Vertrag nicht unterzeichnet. Wenn ich morgen Abend bei Chacal auftauche, wird er vielleicht Abstand davon nehmen.«

Es fühlte sich so an, als würden sich die Wände auf sie zubewegen. Sie öffnete das Fenster und ließ frische Luft in den Konferenzraum. »Warum sollte er? Es geht ihm doch nicht um mich, sondern darum, Zugang zum deutschen Markt zu bekommen.«

»Liegt das nicht auf der Hand?« Als er die Tasse auf die Untertasse stellte, schepperte es. »Wie stehen wir denn vor ihm da, wenn wir eine Abmachung brechen, bevor die eigentliche Zusammenarbeit begonnen hat? Das wirft ein schlechtes Licht auf uns. Chacal könnte sein Vertrauen in uns verlieren, bevor der Deal unter Dach und Fach ist.«

»Du hast recht, wie so oft.« Anja sank auf den Stuhl.

Sie zog einen ihrer High Heels aus und massierte ihren Fuß. Die hohen Schuhe waren schick, keine Frage, aber viel zu unbequem. Wieder einmal fragte sie sich, warum sie es sich antat, sie zu tragen. Weil alle Frauen in der Branche das taten? Weil sie mithalten wollte? Weil sie sich sonst weniger anziehend vorkam und ihr Selbstbewusstsein darunter litt? Wie sehr der ständige Kampf ums Aussehen und um Aufträge an ihren Kräften zehrte! Sie hatte sich weit von dem Mädchen in Jeanslatzhose und Turnschuhen aus den unbeschwerten Urlauben auf Föhr entfernt.

Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie lächelte Ralf an. »Lass uns ein paar Tage wegfahren.«

»Jetzt? Sofort? Wie stellst du dir das vor?«, fragte er verständnislos. »Wir werden hier gebraucht.«

Anja seufzte. Ralf war noch nie der spontane Typ gewesen. Trotzdem versuchte sie es weiter. »Bloß nach Föhr. Ein verlängertes Wochenende. Das muss doch drin sein.«

»An die deutsche Nordsee?« Verächtlich zog er eine Augenbraue hoch.

Sie bemühte sich um ein Lächeln. »Warum denn nicht?«

»Du kennst meine Meinung dazu«, sagte er. »In Deutschland kann ich immer noch Urlaub machen, wenn ich alt bin und mir Flugreisen zu anstrengend werden.«

»Aber Föhr ist ein Traum!« Wenn sie an den hohen Norden dachte, verspürte sie eine Euphorie, die sie in den letzten Monaten beruflich vermisst hatte. In diesem Moment wurde ihr klar, dass das auch auf ihre Beziehung zu Ralf zutraf. »Du kennst die Wattenmeerinsel doch gar nicht.«

»Wenn du unbedingt willst, dann fahre ich mit dir hin«, lenkte er ein. Doch gerade als Anja Hoffnung schöpfte, stellte er klar: »Aber nicht mehr in diesem Jahr.«

»Wir haben erst Januar«, rief sie entrüstet.

Er schaltete den Beamer aus, dann klappte er seinen Laptop zu, legte die Präsentationsunterlagen darauf und nahm beides in die Hand. »Chacal wird in den kommenden Monaten unsere ganze Aufmerksamkeit einfordern, und unsere anderen Projekte laufen ja auch weiter.«

»Ich brauche wirklich dringend eine Auszeit«, sagte sie mit fester Stimme, hatte aber nicht den Eindruck, zu ihrem Freund durchzudringen.

»Gerade jetzt, wo wir in eine heiße Phase kommen, willst du eine Pause machen. Ich erkenne dich nicht wieder.« Vorwurfsvoll sah Ralf sie an. »Wo ist deine Zielstrebigkeit, die ich so an dir mag? Wo sind dein Erfolgswille und dein Pflichtgefühl?«

»Ist das alles, was du an mir liebst?«, brach es aus Anja heraus.

»Selbstverständlich nicht.« Er kam zu ihr, doch anstatt sie in seine Arme zu ziehen, drückte er ihre Schulter und sah auf sie hinab wie ein väterlicher Freund, dabei war er bloß zwei Jahre älter als sie. »Aber das sind doch die Gemeinsamkeiten, die uns schon immer verbunden haben. Darum führen wir die Agentur zusammen.«

»Ich muss hier raus, ich kriege keine Luft mehr.« Ernüchtert stand Anja auf.

Doch Ralf hielt sie fest. »Geht es dir nicht gut? Entschuldige, bitte. Das war mir nicht klar. Aber ja, du bist wirklich etwas blass.«

Die Sanftheit seiner Stimme beruhigte Anja. Sie wollte sich gerade in seine Arme schmiegen, um sich von ihm trösten zu lassen, als er Laptop und Unterlagen gegen seinen Oberkörper drückte. Er hatte das nicht absichtlich gemacht, um sie fernzuhalten, da war sie sich sicher. Vielmehr nahm er ihren Wunsch nach Trost gar nicht wahr. Das führte ihr vor Augen, dass körperliche Nähe schon länger keine Rolle mehr zwischen ihnen spielte.

In diesem Moment vermisste sie mehr denn je die Wärme einer liebevollen Umarmung. Anja wünschte sich zärtliche Hände, die sie beruhigend streichelten, und heiße Lippen, die sie sinnlich küssten. Aber sie stellte mit einem Mal fest, dass es sie nicht mehr zu Ralf hinzog. Sie hatte sich bloß in seine Arme stürzen wollen, weil er nun einmal ihr Freund war. Auch er hatte anscheinend nur noch selten den Wunsch, sie anzufassen. Hatten sie nur eine kleine Krise, wie sie in jeder Beziehung vorkam? Oder war ihre Partnerschaft am Ende? Anja wurde ganz schwindelig von diesem Gedanken.

Während Ralf langsam aus dem Raum ging, schlug er vor: »Mach doch einen Spaziergang! Der wird dir guttun. Danach werden wir uns darum kümmern, den Vertrag für Chacal aufzusetzen. Einverstanden?«

»Ein Spaziergang wird nicht reichen. Das ist nicht das, was ich wirklich brauche«, wandte sie ein.

Ralf blieb in der Zimmertür stehen. Ungeduldig blickte er zwischen der Uhr, die im Konferenzraum hing, und den Präsentationsunterlagen in seinen Händen hin und her. »Dann mach halt früher und länger Mittagspause als üblich. Um eins bei mir im Büro?«

War ihm die Werbeagentur denn wichtiger als ihr Wohlergehen? Anja fühlte sich unverstanden und seufzte resigniert. Als sie ihm folgte, kam es ihr vor, als würde sie durch Morast waten. Sie fasste einen Entschluss. Entschieden teilte sie ihm mit: »Ich nehme mir den restlichen Tag frei.«

»Aber das kannst du doch nicht machen«, zischte er und sah sie entrüstet an, als hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt.

»Ich habe allerdings das Gefühl, dass selbst das nicht reichen wird.« Sie fühlte sich so erschöpft, als hätte sie einen Marathon hinter sich.

Ralfs Miene verfinsterte sich. »Was willst du damit sagen?«

»Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme hatte jegliche Kraft verloren. Anja schleppte sich durch den Korridor, um aus ihrem Büro ihre Jacke und ihre Handtasche zu holen. »Ich weiß es doch auch nicht.«

»Wirst du krank?«, rief er ihr hinterher.

»Ja«, sagte sie mehr zu sich als zu Ralf. Sie schmunzelte. »Ich leide am Nordseefieber.«

Bei dem Gedanken an Föhr roch sie den Duft von Sonnencreme auf warmer Haut. Während sie mit dem Aufzug ins Erdgeschoss des Bürohauses fuhr, tauchten vor ihrem geistigen Auge Erinnerungen aus ihrer Kindheit auf. Ihr Vater, der sich von Leonie und ihr am Strand hatte einbuddeln lassen, sodass nur noch sein Kopf herausschaute. Selbst Sturm und Regen waren damals auf Föhr wundervoll, dann tranken ihre Schwester und sie heißen Kakao und hatten die Eltern ganz für sich allein. Stundenlang spielten sie Gesellschaftsspiele, ihre Mutter flocht ihnen kunstvolle Zöpfe, und ihr Vater zeigte ihnen, wie man Papierschiffe bastelte. Sie hatten Zeit füreinander und lebten sorglos in den Tag hinein, anders als Ralf und sie heutzutage.

Als Anja aus dem Fahrstuhl trat, wurde ihr mit einem Mal klar, dass sie nicht nur an Meerweh litt, sondern etwas Grundsätzliches nicht stimmte. Die Arbeit machte ihr keine Freude mehr, und Ralf und sie waren bloß noch Geschäftspartner. Diese Erkenntnis machte ihr Angst, denn sie erschütterte Anjas Leben in ihren Grundfesten.

Kurze Zeit später verließ sie das Gebäude, in dem neben der Werbeagentur einige hippe Start-up-Firmen ihre Büros hatten. Der graue Beton des Großstadtdschungels verschmolz mit den grauen Wolken und weckte Anjas Sehnsucht nach dem grünen Marschland der friesischen Karibik, wie Föhr auch genannt wurde. An diesem Tag erschienen ihr die Häuser um sie herum viel höher, erdrückender. Sie konnte kaum atmen.

Jetzt fing es auch noch an zu nieseln. Feine Tropfen fielen auf Anjas blondes, welliges Haar, das sie locker im Nacken zusammengebunden hatte, und ihre Stirn. Auch am Todestag ihrer Mutter Martina hatte es genieselt, als hätte der Himmel geweint, weil er einen seiner Engel verloren hatte.

Jetzt musste Anja an etwas denken, das ihre Mutter auf dem Sterbebett zu ihr gesagt hatte. Ihr Gesicht war gespenstisch blass und ihre Lippen trocken und rissig. Sie brachte kaum die Kraft auf, um zu sprechen, wollte Anja und Leonie aber unbedingt noch einige gute Ratschläge geben, weil sie bald nicht mehr Teil ihres Lebens sein würde.

»Geld macht nicht reich«, hatte sie unter anderem gemeint und mit einem ihrer letzten Atemzüge gehaucht: »Ich liebe euch, bis in alle Ewigkeit, vergesst das nie.« Dann hatte es nicht mehr lange gedauert und sie war für immer eingeschlafen.

Während Anja jetzt, sechs Jahre später, in ihren Wagen stieg, füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Du hattest recht, Mama. Geld macht nicht glücklich.« Denn das war es, was ihre Mutter gemeint hatte.

Aber sie hatte ihren Töchtern auch gesagt: »Wenn der Pfad, auf dem du unterwegs bist, plötzlich endet, schlage einfach eine neue Richtung ein. Viele Wege führen zum Glück.«

Und Anja hatte das Gefühl, sich verirrt zu haben.

Kapitel 2

»Schaut euch die drei an.« Der alte Marten Haase war schon 92 Jahre alt, hatte aber noch eine kräftige Stimme, mit der er frotzelte: »Die Inselgrafen sind in ihrem Element.«

Joris Graf, der hinter dem Tresen die Kasse aufschloss und einen Block und einen Kugelschreiber suchte, warf ihm einen Blick zu, der irgendwo zwischen amüsiert und warnend lag.

Normalerweise traf sich der Rat des Fering Ferian und alle Mitglieder, die Zeit und Lust hatten, abends, um zu besprechen und zu planen, wie der Heimatverein mit seinen bescheidenen Mitteln den Erhalt des friesischen Dialektes und die Kulturarbeit, darunter die Pflege der traditionellen Föhrer Tracht, fördern konnte. Aber sie hatten keinen gemeinsamen Termin gefunden, daher machten sie heute eine Ausnahme und setzten sich mittags zusammen.

Joris hatte den Heimathafen eben erst aufgeschlossen und die ersten Teilnehmer hereingelassen. Nun schob Tjorben die Stühle und Tische zusammen, Arian machte Feuer im offenen Kamin, denn der Januar zeigte ihnen in diesen Tagen sein stürmisches und frostiges Gesicht. Joris war dankbar für die Unterstützung seiner jüngeren Brüder. Es war ein schönes Gefühl, mit ihnen zusammen an einem Strang zu ziehen. Er nahm die ersten Getränkebestellungen auf.

Normalerweise machte die urige Kneipe, die am Hafendeich in der Nähe des Robbenzentrums lag, erst abends auf. Aber der Geschäftsführer hatte Joris den Schlüssel gegeben, damit der Heimatverein, der schon einhundert Jahre lang bestand, sie als Versammlungsort nutzen konnte. Dank der zentralen Lage konnten auch ihr Vater Johan, der als Hafenmeister arbeitete, und ihre Mutter Ilse, die mit Arian mitten in Wyk eine Galerie mit Atelier führte, dabei sein. Das bedeutete aber auch, dass sie alles selbst vorbereiten, Getränke ausgeben und aufräumen mussten. Gerne übernahmen Joris und seine jüngeren Brüder das.

So verwurzelt wie ihre Familie auf Föhr war, fanden die drei Brüder es selbstverständlich, sich auf der Nordseeinsel einzubringen. Wegen ihres Engagements hatte irgendwer angefangen, sie scherzhaft »die Inselgrafen« zu nennen, andere hatten die Bezeichnung aufgegriffen, und so hatte sie sich etabliert. Bis heute wusste Joris nicht genau, ob der Ausdruck anerkennend gemeint war oder damit angedeutet wurde, dass seine Brüder und er sich zu sehr aufspielten und einmischten. Das hing wohl davon ab, wer den Begriff verwendete.

Nach einer Weile fand Joris endlich die Zeit, sich auch mal hinzusetzen. Er holte sich ein Hünjmots-Pils von Briar-Brauhüs, nahm einen Schluck. Seine Lippen waren noch kalt von der steifen Brise draußen, die Wärme des Kaminfeuers hatte sich noch nicht im Raum ausgebreitet. Entspannt sah er sich um.

Der Heimathafen hatte mit seinen Werkbänken und der industriellen Maschine etwas von einer Werkstatt. Eine einfache Einrichtung, urig und auf coole Weise verlebt. Manche der Sitzmöbel wirkten wie Flohmarktschätze, andere wie zusammengeschustert, was sie vermutlich auch waren. Joris glaubte, dass es in ganz Deutschland keine Kneipe wie diese gab, ein weiterer Grund, stolz auf seine Heimatinsel zu sein.

Seine Brüder nahmen neben ihm Platz. Sie führten gerade eine hitzige Diskussion.

»Was ist so falsch an einem Blind Date?«, fragte Arian, mit seinen 36 Jahren der Jüngste von ihnen, über die Geräuschkulisse hinweg.

Tjorben kraulte seinen Bart, der das Erscheinungsbild des hartgesottenen Seebären unterstrich. »Dass ich mir die Frau, mit der ich ausgehen muss, dann nicht ausgesucht habe.«

»Aber darum geht es doch.« Verständnislos streckte Arian die tätowierten Arme aus. »Jemand Neues kennenzulernen.«

Tjorben, dem selbst im Schneesturm zu warm war, öffnete seine dunkelblaue Schafswolljacke. »Das tue ich jeden Tag, wenn ich mit der Seewievke die Touristen übers Wattenmeer schippere.«

»Das ist doch nicht dasselbe«, sagte Arian abwiegelnd. Er kratzte die rote getrocknete Ölfarbe, die noch an seinem Handballen klebte, ab. »Du siehst deine Fahrgäste nur für wenige Stunden. Auf dem Weg kannst du nicht die große Liebe finden.«

Das war das alte Problem, dachte Joris und rieb nachdenklich über seinen Dreitagebart. Viele Frauen, die man hier traf, blieben bloß wenige Tage bis Wochen. Viele Einheimische zogen wiederum aufs Festland, weil man dort leichter eine Arbeit fand. Es war auf einer Insel nicht so einfach, die passende Partnerin zu treffen.

»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich in mein Blind Date tatsächlich verliebe?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Tjorben fort: »Ich sage es dir. Sie ist verschwindend gering.«

Lässig zuckte Arian mit den Schultern. »Aber sie ist vorhanden.«

Joris fiel auf, dass Arian sogar rote Farbe in den Haaren hatte, wies ihn aber nicht darauf hin, weil es für ihn nichts Besonderes war. Man traf seinen jüngsten Bruder selten an, ohne dass er irgendwo Farbreste kleben hatte. Malen war seine Leidenschaft, die Begeisterung dafür hatte er von ihrer Mutter geerbt. Ilse hatte vor zwanzig Jahren als Inselmalerin eine gewisse Berühmtheit erlangt und daraufhin in Wyk die Galerie Strandmohn eröffnet. Seit elf Monaten war Arian Teilhaber des Geschäfts. Die Malerei verband Arian und ihre Mutter genauso wie Tjorben die Liebe zur See mit ihrem Vater. Joris neidete seinen Brüdern die Nähe zu jeweils einem Elternteil nicht. Er fühlte sich keineswegs wie ein Außenseiter, die Liebe zu Föhr einte sie alle fünf.

»Für dich war schon immer alles möglich.« Tjorbens grüne Augen funkelten belustigt. »Früher warst du fest davon überzeugt, es gäbe Schweine, die fliegen können, nur weil wir in unserem Kinderzimmer eine blaue Tapete mit geflügelten rosa Ferkeln hatten.«

»Sehr witzig. Damals war ich noch ein Kind.« Arian ließ sich nicht reizen. Entspannt nippte er an seiner Weinschorle. »Du bist doch der Abenteurer von uns drei Inselgrafen. Fährst mit deinem Ausflugsschiff über die Nordsee wie ein Likedeeler und trotzt den Naturgewalten.«

Tjorben gab ein Brummen von sich. »Ich bin zu freiheitsliebend für eine Partnerschaft.«

»Irgendwann wird die Richtige für dich kommen.« Die nächsten Worte sprach Arian genießerisch aus, wohl weil er wusste, dass er damit seinen Bruder ärgern würde: »Und dich einfangen.«

»Niemals«, sagte Tjorben, aber sein Widerstand klang schwächer, als es früher der Fall gewesen war.

Wer blieb schon gerne allein? Joris ahnte, dass sich auch sein 39-jähriger Bruder heimlich nach einer Frau sehnte, auch er wollte einen Heimathafen finden. Tjorben liebte seine Freiheit über alles und gab sich mitunter etwas raubeinig, aber Joris war sich sicher, dass der Seebär in den Armen der passenden Partnerin wie ein zahmer Kater schnurren würde.

Tjorben strich seine schulterlangen braunen Haare zurück, die normalerweise von einer Seemannskappe zurückgehalten wurden, ihm nun aber ständig ins Gesicht fielen. Sachte knuffte er seinen älteren Bruder. »Was grinst du denn so?«

»Ihr beide seid unterhaltsam.« Joris stellte seine Bierflasche ab und knibbelte am Etikett, das feucht von Kondenswasser war. Inzwischen hatten sich fast alle Ratsmitglieder eingefunden, dazu einige Interessierte. Die Kneipe hatte sich gefüllt. Es wurde immer lauter.

»Sag doch auch mal was dazu, alter Mann.« Tjorben hielt ihm seine Flasche hin.

»Von wegen alter Mann«, warnte Joris ihn scherzhaft und stieß mit ihm an. »Ich bin nur zwei Jahre älter als du.«

Tjorben nahm einen kräftigen Schluck und seufzte genießerisch. »Würdest du zu einem Blind Date gehen?«

»Wenn ich dort eine Föhrerin treffen würde …« Joris zuckte mit den Achseln. »Warum nicht?«

»Warum willst du nur jemanden von der Insel daten?«, wollte Arian wissen, während er aufstand und jeweils ein Tablett mit Fischbrötchen und eins mit Butterkuchen von der Theke nahm. Den Imbiss hatte Joris besorgt. »Damit schließt du verdammt viele hübsche Frauen aus.«

»Das ist nicht böse gemeint. Wirklich nicht.« Joris wollte nur verhindern, erneut verletzt zu werden. »Aber ihr wisst doch, wie es ist. Saisonkräfte ziehen früher oder später weiter. Selbst bei Zugezogenen weiß man nie, ob sie nicht irgendwann in ihre alte Heimat zurückkehren, weil sie Heimweh bekommen oder ihre Familien Hilfe benötigen.«

Betreten schauten sich seine Brüder an und schwiegen. Beide vermieden es, das Thema zu vertiefen. Sie wollten nicht in Joris’ offener Wunde herumstochern.

Arian reichte Tjorben den Kuchen, der damit von Tisch zu Tisch ging und ihn anbot.

Ihr Vater Johan kam herein. »Moin.«

Alle begrüßten ihn fröhlich. Als Hafenmeister im Nordseeheilbad Wyk bekleidete er eine wichtige und angesehene Stellung. Außerdem kannte er viele Mitglieder des Fering Ferian schon seit Kindertagen. Er war auf Föhr aufgewachsen und hätte auch nirgendwo anders hingepasst, fand Joris. Die steife Brise hatte die grobporige Haut seines Vaters gerötet. Obwohl es eiskalt draußen war, trug er bloß eine dünne Windjacke über seinem Strickpullover. Sein Bäuchlein, das jedes Jahr um einige Zentimeter wuchs, füllte die Jacke deutlich aus.

Er nahm seine Fischermütze ab und strich seine grauen Haare glatt. Suchend schweifte sein Blick umher. Schließlich kam er zu Arian und fragte: »Wo ist deine Mutter?«

»Sie hatte Kopfweh und wollte sich lieber in der Mittagspause hinlegen. Am Nachmittag muss sie ja wieder im Laden stehen. Selbstverständlich habe ich ihr gesagt, dass ich die Galerie auch allein öffnen kann, aber …« Arian lächelte warmherzig, wie immer, wenn es um seine Mutter ging. »Du weißt ja, wie sie ist. Das Strandmohn ist ihr viertes Kind.«

Ihr Vater sah besorgt aus, nickte aber nur und setzte sich zu Maks Iversen, der letztes Jahr die Nachfolge von Carl Rickmers, dem langjährigen Vorsitzenden von Fering Ferian, angetreten hatte. Joris und seine Brüder hatten überlegt, für das Amt zu kandidieren, auch sie wollten die friesischen Traditionen weiterhin gepflegt sehen. Doch neben ihren Berufen hatten sie einfach zu wenig Zeit, um sich noch stärker zu engagieren als jetzt. Maks dagegen war seit Kurzem in Rente und hatte versprochen, seine Zeit ganz dem Heimatverein zu widmen.

»Soll ich nach dem Treffen bei ihr in der Mühle vorbeischauen, bevor ich zur Werkshalle fahre, und fragen, wie es ihr geht?«, schlug Joris vor, der das Gespräch mitbekommen hatte und eine eigene Strandkorb-Manufaktur in der Nähe des Flugplatzes führte. Seine Eltern wohnten in einer umgebauten Windmühle in Nieblum in der unmittelbaren Nähe des Goting Kliffs.

»Ja, mach das. Das wäre toll. Ehrlich gesagt …« Arian setzte sich noch einmal kurz zu Joris. »Ich mache mir Sorgen um sie«, gestand er leise.

Überrascht sah Joris ihn an. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in ihm aus. »Warum?«

»Sie hat sich merkwürdig verhalten. Ich weiß auch nicht. Vielleicht sehe ich mal wieder fliegende Schweine«, scherzte Arian.

Joris’ Blick fiel auf die feingliedrigen Hände seines jüngsten Bruders. Er konnte sich vorstellen, dass diese sehr sanft zu einer Frau sein konnten. Er wünschte sich, seine wären ebenso zart, aber das Flechten der Strandkörbe hatte die Haut ledrig gemacht. »Nun rück schon raus mit der Sprache! Die Versammlung fängt gleich an.«

»Kurz bevor ich hierhergekommen bin, hat sie einen Anruf auf dem Handy erhalten.« Arian wurde von Marten Haase unterbrochen, der ihm zurief, dass die Heringe und Makrelen bald ranzig wären, wenn er die Fischbrötchen nicht endlich verteilen würde. Lachend reichte er einfach das Tablett zu dem ehemaligen Apotheker durch.

Mit kräftigen Schlucken leerte Joris seine Flasche. »Was ist daran so besonders?«

»Sie ging zum Telefonieren in die Teeküche, das macht sie sonst nicht. Als sie in den Verkaufsraum zurückkehrte«, Arian schluckte schwer, »da war sie weiß wie eine Wand.«

Beunruhigt neigte sich Joris zu ihm und sprach leiser. »Hast du sie gefragt, was los ist?«

»Selbstverständlich. Was denkst du denn?« Arian hob sein Weinglas an die Lippen. »Sie meinte, es wäre nichts, sie hätte nur Kopfschmerzen und bräuchte Zeit für sich.«

»Sie hatte noch nie Kopfweh«, sagte Joris nachdenklich. »Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.«

»Sie sah aus, als würde sie jeden Moment losheulen, und ist sofort heimgefahren. Dabei hatte sie unbedingt mit in den Heimathafen kommen wollen.« Arian stellte sein Glas ab, ohne von der Schorle getrunken zu haben. »Was sollen wir jetzt machen?«

»Ich werde versuchen, sie auf den geheimnisvollen Anruf anzusprechen.« Joris bemühte sich, die Anspannung, die er und gewiss auch sein Bruder verspürten, mit einem Lächeln zu lösen, schaffte es aber nicht. »Auch Mütter dürfen Geheimnisse haben, das sollten wir nicht vergessen.«

»Damit hast du auch wieder recht.« Arian stand auf und begrüßte einige Neuankömmlinge.

Joris war der Appetit vergangen. Ihm war der Hinweis auf den mysteriösen Anruf und die heftige Reaktion ihrer Mutter auf den Magen geschlagen. Selbstverständlich wollte er seinen Vater nicht ersetzen, aber er versuchte, ihn mit Kräften dabei zu unterstützen, sich um die Familie zu kümmern. Denn Johan Graf war ein wortkarger Mann, der sich schwertat, über seine Gefühle oder die der anderen zu sprechen.

Ihre Mutter hatte einmal gesagt, er wäre verschlossen wie eine Auster, aber sie wüsste, dass sich in seinem Inneren eine Perle, sein großmütiges Herz, verbarg. Er saß die Probleme lieber aus, als sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber man konnte immer auf ihn zählen. Wenn es hart auf hart kam, war er da. Er würde sogar den Nordatlantischen Ozean durchschwimmen, wenn Arian, Tjorben, Joris oder seine Ehefrau in Seenot wären.

Maks Iversen riss Joris aus seinen Gedanken, als er in den Raum rief: »Habt ihr gehört, dass Tomme seinen Bauernhof verkauft hat? Zuletzt hat er für einen Liter Milch bloß noch um die dreißig Cent und für ein Kalb schlappe acht Euro fünfzig gekriegt. Könnt ihr euch das vorstellen? Ich kann verstehen, dass er keine Lust mehr hatte, sich und seine Kühe ausbeuten zu lassen.«

Überrascht riss Joris die Augen auf. Er hatte gar nicht gewusst, dass Tomme seinen Hof in Oevenum hatte aufgeben wollen. Tomme Jürgensens war einer der bekanntesten Mitglieder des Fering Ferian. Er schrieb Gedichte in Mundart und machte Lesungen für Schulklassen, um den Föhrer Dialekt an jüngere Generationen weiterzugeben.

»Irgend so ein dusseliger Hamburger Investor will darauf ein riesiges Wellnesshotel bauen lassen«, fuhr Maks aufgebracht fort. »Überteuerte Massagen und Indoorpool, obwohl das Meer vor der Tür liegt. So ein Quatsch! Wer braucht denn Fango-Packungen und so ’n Schiet? Sollen die Gäste ins Watt gehen und sich mit Schlick einreiben. Inselgrafen, passt auf, dass es Hilde nicht genauso geht. Nachher reißen die Landköppe das Lüttes Glück ab und bauen eine Schönheitsklinik darauf. Das hätte uns gerade noch gefehlt.«

»Ich werde alles dafür tun, was in meiner Macht steht, um das zu verhindern«, sagte Joris mit einer Inbrunst, die alle verstummen ließ. Tunlichst vermied er darauf hinzuweisen, dass das Gästehaus seiner Tante zwangsversteigert werden würde, aber Joris und seine beiden Brüder hatten einen Plan. Sie würden ihr Erspartes zusammenlegen und mitbieten, und zwar mit aller Entschlossenheit. »Föhr soll kein zweites Sylt werden. Wir Einheimischen werden uns nicht verdrängen lassen. Es darf nicht so weit kommen, dass wir uns das Leben hier nicht mehr leisten können. Das ist unsere Insel!«

»Darauf stoße ich an.« Maks hielt sein Pils hoch, doch Joris hatte nichts mehr, mit dem er ihm zuprosten konnte. Seine Flasche war leer.

Kapitel 3

Durcheinander und niedergeschlagen rief Anja aus dem Auto ihre Freundin Christin an: »Könntest du vielleicht nach der Arbeit zu mir kommen? Bitte.«

»Das klingt nach einem Notfall.« Ihrem besorgten Tonfall nach zu urteilen, saß Christin gerade allein in ihrem Büro in der Bank und konnte offen sprechen.

Anja würgte den Kloß in ihrem Hals herunter. »Ist es auch.«

»Dann werde ich bei Fairytale vorbeifahren und zwei große Portionen Frozen Yogurt mitbringen. Einverstanden?«, schlug Christin vor.

»Eine ausgezeichnete Idee.« Das erste Mal an diesem Tag lächelte Anja. »Du bist die Beste.«

Als sie dann am späten Nachmittag bei Kerzenschein zusammen auf dem Sofa in Anjas und Ralfs Wohnung saßen und Joghurteis mit köstlichen Toppings löffelten, ging es Anja gleich ein klein wenig besser. »Danke.«

»Ist doch selbstverständlich. Dafür sind beste Freundinnen doch da.« Christin steckte sich eine hellblonde Haarsträhne hinters Ohr, die beim Schlemmen störte. »Was ist denn los?«

Draußen wurde es bereits dunkel. Der Himmel zog sich immer mehr zu. Der Abend gesellte sich zum Nieselregen, die beiden waren zwei finstere Gesellen.

Anja hatte ihre langen braunen Haare am Hinterkopf locker hochgesteckt. Sie trug eine weiße Hose, einen alten Norwegerpullover, der ihr eine Nummer zu groß geworden war, weil sie oft vor Stress vergaß zu essen, und Noppensocken. Als sie die Beine anzog und sich auf die Couch kuschelte, quietschte der Bezug aus weißem Lederimitat. »Ich habe das Sofa nie gemocht. Es ist unangenehm glatt und stets kühl, was im Sommer nett ist, aber mich das restliche Jahr über stört.«

»Warum habt ihr es dann gekauft?«, fragte Christin beiläufig und verrührte das Ahornsirup-Pekan-Topping mit dem geeisten Joghurt in ihrem Becher.

Einen Moment lang war Anja versucht, die Schuld auf Ralf zu schieben, weil er das Möbelstück gewollt hatte. Aber das wäre nicht fair gewesen, schließlich hatte sie dem Kauf zugestimmt. »Es hat im Geschäft todschick ausgesehen, aber schick ist nicht gleich gemütlich. Das gilt übrigens auch für Schuhe.«

»Mein Reden.« Christin lachte und zeigte auf ihre ausgelatschten rosafarbenen Ballerinas.

Sie kleidete sich klassisch, arbeitete immer noch in derselben Bankfiliale, in der sie ihre Ausbildung gemacht hatte, und hatte ihren Schulfreund Franjo Horvat geheiratet, mit dem sie jedes Jahr nach Dubrovnik flog, wo sie immer in demselben Hotel wohnten. Aber wer daraufhin vermuten würde, sie wäre langweilig, lag Anjas Erfahrung nach falsch. Zu Schulzeiten hatte Christin auf Partys oft bewiesen, dass sie auch eine wilde Seite hatte. Inzwischen verbarg sie diese jedoch. Das fand Anja schade. Die Ausgelassenheit hatte ihrer Freundin gut gestanden.

Mit einem anderen Partner an ihrer Seite als ihrem Ehemann sähe das vielleicht anders aus, dachte Anja.

Aber Franjo saugte nach dem Essen mit einem Handstaubsauger die Krümel von der Tafel, während seine Gäste noch am Tisch saßen. Er bestand darauf, dass Christin sogar seine Unterhosen bügelte, und wusch alle zwei Wochen samstags sein Auto. Alles nach Plan. Für Übermut war in seinem Leben kein Platz.

Anja hatte sich schon oft gefragt, was Christin an ihm fand. Aber als sich die beiden kennengelernt hatten, war auch er ein anderer gewesen. Gelassener und fröhlicher. Seit dem Abitur arbeitete er im Pfandleihhaus seiner Eltern und ähnelte zunehmend seinem pedantischen Vater.

Immerhin schenkte er Christin nach zwölf Jahren Ehe immer noch jeden Freitag einen Strauß Blumen, was romantisch war. Außerdem akzeptierte er, dass sie aufgrund einer angeborenen Fehlbildung der Eierstöcke keine Kinder bekommen konnte. Christin rechnete ihm das hoch an, denn sie glaubte, dass ein anderer Mann sie deshalb womöglich verlassen hätte.

Der Frozen Yogurt schmolz cremig süß auf Anjas Zunge. Sie kaute auf den Kokosnussflocken herum, damit sie ihr volles Aroma verströmten, und seufzte vor Genuss. Schließlich stellte sie ihren leeren Becher ab. »Mir gefällt das Sofa nicht. Ich hätte lieber eine Couch mit einem flauschigen Stoffbezug. Aber das ist mir erst jetzt klar geworden, und nun ist es zu spät.«

Mit dem Löffel kratzte Christin den letzten Rest Joghurt aus dem Pappbehälter. »Verstehe.«

»Ach, ja? Wie kannst du das, wo ich mich doch selbst nicht verstehe? Es ist amtlich, ich bin kompliziert«, scherzte Anja, aber es lag ein Körnchen Wahrheit in den Worten. Sie schwang ihre Beine von der Couch. »Möchtest du Kaffee?«

»Gerne.« Christin blies die Kerze aus und folgte ihr in die Küche. »Du bist nicht komplizierter als andere. Du musstest das Sofa eben erst ausprobieren, um herauszufinden, dass du Kunstleder nicht magst. Das ist alles.«

Aus Christins Mund klang das so einfach. »Vielleicht …« Anja zögerte.

»Ja?« Aufmunternd sah ihre Freundin sie an.

Anja warf die beiden leeren Eisbecher in den Müll. »Vielleicht trifft das auch auf die Werbeagentur zu.«

»Wie meinst du das?«, fragte Christin und lehnte sich gegen den Kühlschrank.

»Ich mag es, mit Menschen zusammenzuarbeiten, kreativ zu sein, etwas zu bewegen und nach vorne zu bringen. Aber den ganzen Rest habe ich im Moment so satt. Die vielen Überstunden, der ständige Kampf darum, erfolgreich zu werden und erfolgreich zu bleiben, und diese Speichelleckerei bei den Kunden. Außerdem denke ich immer öfter, ich verführe die Zielgruppen dazu, Sachen zu kaufen, die sie gar nicht haben wollen. Ich kaufe selbst zu viel Zeug, das ich in Wahrheit gar nicht brauche, nur um mich einen kurzen Moment lang glücklich zu fühlen. Der Klimawandel hat mich nachdenklich gemacht. Für uns alle wäre es besser, wenn wir genügsamer wären und uns auf das konzentrieren, was wirklich zählt: das Miteinander. Aber ich schweife ab. Tut mir leid.« Die Worte sprudelten nur so aus Anja heraus. Erst jetzt merkte sie, wie viel sich in ihr angestaut hatte. »Ralf und ich, wir nehmen die Arbeit immer mit nach Hause. Oft hat er nachts noch den Laptop auf den Knien, während er im Sessel sitzt und der Fernseher läuft, und ich schaue beim Frühstück schon meine E-Mails durch, weil im Büro dafür wenig Zeit bleibt.«

»Aber dafür gehst du doch in die Agentur.« Christin schüttelte den Kopf. »Um dort zu arbeiten. Zu Hause hast du frei.«

Schön wär’s, dachte Anja und lächelte müde. »Erst haben Ralf und ich all unsere Energie investiert, um Shine with us! zu positionieren, und jetzt, wo wir uns einen Namen gemacht haben, bekommen wir immer mehr Anfragen.«

»Aber das ist doch gut«, sagte Christin, öffnete den obersten Knopf ihrer cremefarbenen Bluse und richtete den Bubikragen.

»Es bedeutet nur noch mehr Arbeit. Ich bin einfach keine Karrierefrau.« Anja zeigte auf Christins rechten Mundwinkel. »Da klebt noch Joghurt.«

Fröhlich, wie es ihre Art war, leckte Christin ihn weg, anstatt ein Blatt von der Küchenrolle abzureißen und sich den Mund abzutupfen. Manchmal blitzte noch das schelmische Mädchen durch, das sie einst gewesen war. »Ihr habt in der Hand, wie viele Aufträge ihr annehmt, vergiss das bitte nicht.«

Während Anja aus frisch gemahlenen Bohnen und aufgeschäumter Milch zwei Milchkaffees zubereitete, gab sie zu: »Darüber sind wir uns uneins. Ich möchte mehr Freizeit, denn ich gehe schon länger auf dem Zahnfleisch. Das hatte ich dir gegenüber ja schon oft erwähnt und auch bei Ralf anklingen lassen, aber ich habe nicht den Eindruck, dass er mir richtig zuhört oder meine Erschöpfung ernst nimmt. Er will sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen, das findet er riskant. Die Konkurrenz schläft nicht, und Erfolg kann auch wieder nachlassen. Jetzt hat er den europäischen Markt im Visier. Danach würde er gerne expandieren.«

»Kaum hat er ein Ziel erreicht, steckt er sich ein neues, höheres«, schlussfolgerte Christin nachdenklich.

»Ja, so ist es. Ich komme da nicht mehr mit und will das auch gar nicht. Mir hat schon immer die kreative Seite der Werbeagentur mehr Spaß gemacht, darum hat Ralf einen Großteil des Geschäftlichen übernommen. Wir waren ein gutes Team, doch seit heute habe ich das Gefühl, dass er denkt, ich gehöre zum Inventar.« Die Verärgerung, die sie am Vormittag verspürt hatte, kehrte zurück. Ralf sah es als selbstverständlich an, dass sie an einem Strang mit ihm zog. Er fragte gar nicht mehr nach ihren Wünschen. Er verfolgte konsequent seine Geschäftsstrategien und hatte dadurch Anja und ihre Bedürfnisse aus dem Blick verloren.

Anja gab ihrer Freundin einen Kaffee.

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Christin.

»Er bestimmt über mich wie über ein Flipchart.« Aufgewühlt erzählte Anja ihr, was bei der Präsentation geschehen war. »Ich will mich morgen nicht mit Chacal treffen. Ich will nie wieder etwas mit diesem schmierigen Kerl zu tun haben.«

Tröstend strich Christin ihr über die Wange. »Niemand kann dich dazu zwingen, Süße.«

»Doch«, sagte Anja frustriert. »Ralf.«

»Nein, auch er nicht.« Christin zwinkerte. »Es bleibt deine Entscheidung. Wenn es dir derart widerstrebt, mit diesem Chacal zusammenzuarbeiten, dann tu es nicht. Bleib standhaft. Dann wird Ralf vielleicht sauer auf dich sein, aber das musst du aushalten können.«

Plötzlich kam es Anja so leicht vor. Sie musste nur bei ihrem Nein bleiben. Ralf ging bestimmt davon aus, dass sie ihre Meinung ändern würde, weil sie oft einlenkte, um den lieben Frieden zu wahren. Aber diesmal nicht. Damit musste er sich abfinden. Im Gegenzug dazu würde sie erst seine vollkommene Verständnislosigkeit und dann seine schlechte Laune ertragen müssen. »Dieser Chacal hat mich betatscht. Ralf hat dabei zugesehen und nichts dagegen unternommen. Ich möchte einen Mann an meiner Seite, der mich beschützt. Guck mich bitte nicht so an! Selbstverständlich stehe ich mit beiden Beinen im Leben und kann für mich selbst einstehen. Aber ist es darum falsch, dass ich mir einen Partner wünsche, der anderen Kerlen Grenzen aufzeigt und mich verteidigt?«

»Absolut nicht.« Christin hielt ihr ihre Tasse hin und Anja stieß mit ihr an, ein Schulterschluss unter Freundinnen.

»Ralf hat den Erfolg unserer Agentur über mein Wohl gestellt. Als er sich so passiv verhalten hat, ist etwas in mir zerbrochen«, gestand sich Anja ein. Zu ihrer eigenen Überraschung spürte sie jedoch keinen Schmerz in ihrem Brustkorb, sondern bloß eine große Leere. Sie zeigte auf einige Flaschen. »Möchtest du Sirup?«

Christin gab einen guten Schuss Apple Pie in ihren Milchkaffee, Anja entschied sich für Lebkuchen.

»Es läuft schon lange nicht mehr wirklich gut zwischen Ralf und mir, das weißt du ja. Aber dass es so schlecht um uns steht, ist mir erst heute klar geworden. Ich habe mich in einer Beziehung noch nie so einsam gefühlt.«

»Du hast doch immer noch mich«, sagte Christin mit sanfter Stimme.

Dankbar lächelte Anja sie an. »Alles passte so gut zusammen, aber damit habe ich mir nur etwas vorgemacht. Was Ralf und mich zusammenhält, ist die Werbeagentur. Kein Ehering, keine eigene Familie, keine gemeinsamen Hobbys, nur die Arbeit. Nun macht mir die auch keinen Spaß mehr, und Ralf verhält sich wie ein Sklaventreiber. Alles um mich herum wirkt grau.« Anders als auf Föhr. Auf der Insel war sie umgeben von Farben, von dem Grün des Grases, das auf den Dünen wuchs, dem Blau des Meeres und des Himmels, dem Gelb der Sonne, dem Orange des Sanddorns und dem Rot des Klatschmohns am Rand der Ackerfelder im Inselinnern. »Ich bin frustriert und will nur noch weg. Aus Köln, aus meinem Alltag, aus meiner Haut.«

Christin sah besorgt aus. »Leidest du etwa an Burn-out?«

»Vielleicht. Aber ich glaube …« Anja ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken.

Christin setzte sich neben sie. »Ja?«

»Mir war das bisher nicht bewusst. Ich habe nur gespürt, dass irgendetwas nicht stimmt. Zuerst dachte ich, ich würde unter dem verregneten Winter leiden, dann, dass ich einfach bloß Urlaub bräuchte. Aber jetzt weiß ich es.« Während sie fortfuhr, beobachtete sie, wie die Regentropfen an der Fensterscheibe hinabrannen. »Ich bin unglücklich.«

»Womit genau?« Vorsichtig blies Christin in den heißen Kaffee.

»Mit allem. Nichts scheint mehr zu stimmen. Als wäre alles am falschen Platz.« Anja nippte an ihrem Heißgetränk. Das köstliche Gemisch aus Kaffeearoma und Lebkuchensirup breitete sich in ihrem Mund aus und spülte die Erinnerung an den Joghurt fort. »Oder vielleicht … als wäre ich am falschen Platz.«

»Das klingt furchtbar«, sagte Christin mitfühlend und drückte den Arm ihrer Freundin.

Endlich bekam Anja das Verständnis, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte und das Ralf ihr nicht entgegenbrachte. »So fühlt es sich auch an. Ralf und ich sind schon lange eher Geschäftsleute, die sich eine Wohnung teilen. Wir haben schon seit über einem Jahr nicht mehr miteinander geschlafen. Kannst du dir das vorstellen?«

»So lange?«, fragte Christin fassungslos. Plötzlich röteten sich ihre Wangen und sie trank so konzentriert, als würde das ihre ganze Aufmerksamkeit benötigen.

Verwundert musterte Anja sie. Ihre Freundin war keineswegs prüde. Ihr war es nie peinlich, über Intimes zu reden. Konnte es etwa sein, dass sie und ihr Ehemann ebenfalls Probleme im Bett hatten? »Ist alles in Ordnung bei dir und Franjo?«

»Sicher. Es ist nur …« Verlegen lächelte Christin. »Wir sind schon so lange zusammen, da ist der Sex nicht mehr so aufregend wie am Anfang, und darum tun wir es kaum noch. Ich kann dich also gut verstehen.« Sie wischte heftig mit einer Hand durch die Luft, als wollte sie eine Fliege verscheuchen. Das Charms-Armband rutschte über ihr Handgelenk. »Aber ich bin nicht hergekommen, um über mich zu sprechen, sondern dir zuzuhören und beizustehen. Es tut mir sehr leid, dass Ralf und du euch voneinander entfernt habt.«

Aus Rücksichtnahme bohrte Anja nicht weiter nach. Wenn ihre Freundin bereit war, über ihre Sorgen zu reden, würde sie das schon tun, und dann war Anja für sie da. »Ralf berührt mich kaum noch. Ab und zu küsst er mich flüchtig auf den Mund, wenn er sich verabschiedet, aber wir sind ja fast den ganzen Tag zusammen, also gibt es auch kaum noch Abschiede und somit Küsse.«

Christin nahm einen kleinen Löffel, hob damit etwas Milchschaum von ihrem Kaffee ab und kostete diesen. »Hast du mit ihm darüber gesprochen?«

»Schon oft, aber er sieht das Problem nicht. Ich glaube, er vermisst die Nähe zu mir nicht. Die Arbeit hat unser Privatleben verschlungen, und ihm scheint das egal zu sein.« Anja seufzte schwer. Sie legte die Hände an ihre Tasse, um sich daran zu wärmen. »Shine with us! läuft hervorragend. Ich komme mir so undankbar vor.«

»Der heiße Kaffee tut nach dem kalten Frozen Yogurt echt gut.« Während Christin den Löffel ablegte, knüpfte sie an das Gespräch an: »Warum denkst du, dass du undankbar bist? Weil du erfolgreich bist, es aber nicht genießen kannst oder zu würdigen weißt?«

Anja lächelte sie an. Christin war ihre beste Freundin, weil sie sich von ihr verstanden fühlte, und andersherum war es genauso. »Ja. Wir haben viel erreicht. Unsere Agentur ist erfolgreich, und die Zeichen, dass wir weiter aufsteigen, stehen sehr gut. Ralf hat mich in den fünf gemeinsamen Jahren unserer Beziehung nie betrogen, soweit ich weiß, und wir funktionieren gut zusammen.«

»Aber es geht in einer Partnerschaft doch nicht darum zu funktionieren«, warf Christin empört ein.

Anja nickte. »Nichts davon macht mich mehr glücklich. Im Gegenteil, ich fühle mich in meinem Job und meiner Beziehung gefangen.«

»Manchmal weiß man erst, was man wirklich will, nachdem man verschiedene Dinge ausprobiert hat. Das bedeutet auch, dass man Fehlschläge akzeptieren muss.« Christin zeigte zum Wohnzimmer. »Das ist wie mit eurer Couch. Spende sie doch einer karitativen Organisation und kauf dir eine, auf der du dich gerne einkuschelst. Warum ärgerst du dich noch länger mit dieser aus Kunstleder herum?«

Christins Worte brachten Anja zum Nachdenken. Was bedeuteten sie für ihr Zusammenleben mit Ralf und ihre Partnerschaft in der Werbeagentur? »Du hast ja recht.«

»Du solltest das tun, was dich glücklich macht«, sagte Christin im Brustton der Überzeugung.

»Und wenn das etwas völlig Abwegiges wäre?« Plötzlich klopfte Anjas Herz wie verrückt. Ihr Körper kribbelte auf angenehme Art und Weise. Alle Türen standen ihr auch mit 35 Jahren noch offen, fast hatte sie das vergessen. Nur weil ihr Leben in geregelten Bahnen verlief, hieß das nicht, dass sie nicht ausscheren konnte. Nun, da sie darüber nachdachte, übte die Vorstellung einen großen Reiz auf sie aus. Eine Veränderung, beruflich oder privat oder beides, falls sie sich das traute.

»Jetzt hast du mich neugierig gemacht.« Christin grinste. »Was denn zum Beispiel?«

»Nach Föhr zu ziehen, einen Krabbenfischer zu heiraten und eine Familie zu gründen.« Den Begriff Kinder benutzte Anja absichtlich nicht, um ihre Freundin nicht zu verletzen.

Der Gedanke an eigene Kinder versetzte Anja einen Stich. In fünf Jahren würde sie vierzig Jahre alt werden, ihre innere Uhr tickte. Aber Ralf vertröstete sie immer wieder auf später, wenn das Thema darauf kam. Irgendwann letztes Jahr war ihr klar geworden, dass er Kinder nur mochte, wenn es nicht seine eigenen waren. Damals hatte sie sich das erste Mal gefragt, ob sie tatsächlich füreinander bestimmt waren, den Gedanken aber wieder beiseitegeschoben. Momentan sah es jedoch so aus, als würde die Werbeagentur ihr einziges gemeinsames Baby bleiben.

Lachend warf Christin den Kopf in den Nacken. »Es würde mich zwar traurig stimmen, wenn du so weit weg von mir wohnen würdest. Aber wenn es das ist, was du wirklich willst, dann tu es! Egal, für welchen Weg du dich entscheidest, ich werde immer für dich da sein.«

»Wenn ich dich nicht hätte …«, sagte Anja zu Christin und berührte ihre Hand.