Schokolade am Strand - Süße Träume - Marie Schönbeck - E-Book
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Schokolade am Strand - Süße Träume E-Book

Marie Schönbeck

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Beschreibung

Liebe ist wie Schokolade: mal süß, mal etwas bitter, aber immer unverzichtbar

Als die Fernsehjournalistin Anne nach Möwesand reisen soll, ist sie begeistert. Die Schokoladeninsel mit ihren süßen Köstlichkeiten ist legendär! Ihr Auftrag hingegen ist ziemlich heikel: Um den Sender vor dem Ruin zu retten, soll Anne ein Interview mit Joos Lorentz führen. Er wurde als Kind entführt, und bisher konnte ihm niemand Details dazu entlocken. Bei der Einweihung der neuen Kakaomanufaktur läuft Anne Joos über den Weg und ist sofort angetan von dem attraktiven Mann mit dem melancholischen Blick. Sanft versucht sie ihn zu dem Interview zu überreden. Als ihr klar wird, wie sehr seine Vergangenheit ihn quält, hadert sie mit sich. Längst ist Joos ihr wichtiger als ihre Arbeit. Doch dann stößt sie bei Recherchen auf einen Skandal, der die Zukunft der Schokoladeninsel zerstören, aber ihre Karriere vorantreiben könnte. Was soll sie tun?

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Seitenzahl: 590

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Das Buch:

Annes Job beim Fernsehen ist in Gefahr: Der kleine Sender Tele Nord steht kurz vor dem Aus. Retten könnte ihn nur noch eine heiße Story. Ihr Chef schickt sie zur berühmten nordfriesischen »Schokoladeninsel«, die den ansässigen Chocolatiers Lorentz gehört. Anne soll alles über die Geschichte von Joos, dem ältesten der drei attraktiven Lorentz-Brüder herausfinden. Joos wurde als Kind entführt, und bisher ist es noch niemandem gelungen, mehr über dieses Familientrauma zu erfahren. Zögerlich macht Anne sich auf den Weg, sie fühlt sich unwohl, solch einen Auftrag zu erfüllen. Doch mit jedem Kilometer, den sie der Schokoladeninsel näher kommt, wird ihre Aufregung größer. Fast alle Frauen an der Küste schwärmen von den drei Brüdern, und auch Anne kann sich ihrer Anziehung nicht entziehen. Die beiden nähern sich an, doch ein Interview lehnt Joos strikt ab: Seine Wunden, die die Entführung hinterlassen hat, sind niemals verheilt. Dann stößt Anne auf ein Geheimnis. Wenn es ans Licht kommt, könnte alles zerstört werden, was sich die Familie Lorentz über viele Jahre aufgebaut hat. Und sie muss sich entscheiden: ihrer Berufung als Journalistin nachgehen und die Wahrheit enthüllen oder ihren Gefühlen nachgeben …

Die Autorin:

Marie Schönbeck hat sich in das Nordfriesische Wattenmeer verliebt. Für sie sind die Küsten und Inseln Sehnsuchtsorte. Oft fährt sie mit ihrem Mann und ihren Hunden an die Nordsee, um lange Spaziergänge am Strand zu machen und die wildromantische Natur zu genießen. Während sie eines Tages in einem Strandcafé saß, Tee trank und friesisches Mandelgebäck mit Schokoladenguss aß, kam ihr die Idee zur Romanreihe um die fiktive »Schokoladeninsel« Möwesand.

Marie Schönbeck

Schokolade am Strand

Süße Träume

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 05/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Loel Zwecker

Covergestaltung: zero-media.net

unter Verwendung von Finepic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26693-6V002

www.heyne.de

Prolog

Vor neunzehn Jahren

Schulaufsatz von Annegret Huber Klasse 4a an der Isar Grundschule

Frau Gmeiner hat gesagt, wir müssen als Hausaufgabe über Ostern diesen Schulaufsatz schreiben. Frau Gmeiner ist unsere Klassenlehrerin. Eigentlich ist sie gar nicht gemein, sondern echt nett. Aber dass wir diesen Aufsatz in den Ferien schreiben müssen, ist doof. Wir sollen uns Gedanken darüber machen, wo wir uns in zehn bis zwanzig Jahren sehen. Was wünscht ihr euch für euer Leben als Erwachsene, hat Frau Gmeiner gefragt. Wie soll ich das denn wissen? Ich bin erst zehn.

Also habe ich Papa gefragt. Der sagte, ich soll mir viel Geld wünschen, und hat gelacht. Dann meinte er, das war nur ein Scherz. Ich soll einen Beruf lernen, der mich glücklich macht.

Darüber habe ich nachgedacht. Ich glaube, ich will ins Fernsehen. Wer will das nicht? Vicki, Inerl und Dodo wollen das auch. Das sind meine Freundinnen. Dodo heißt eigentlich Dorothea, aber sie mag ihren Namen nicht. Ihre Oma heißt auch so. Dodo liebt ihre Oma, aber sie will einen eigenen Namen haben und sich nicht einen teilen. Also dürfen wir sie nur Dodo nennen. Aber »im Fernsehen sein« ist doch kein Beruf.

Also habe ich Mama gefragt. Sie hat gesagt, ich soll mir einen liebevollen Ehemann wünschen. Wenn man die Liebe gefunden hat, wird der Rest auch gut, hat sie gesagt. Keine Ahnung, was sie damit meint.

Aber Pauli aus der 4c hat mal seinen Mund auf meinen gedrückt, einfach so, auf dem Schulhof. Das war eklig. Das will ich mir nicht für später wünschen. Dann hat Mama noch gesagt, ich soll aufschreiben, was ich mir vorstelle, nicht was andere sich für mich ausdenken. Aber mir fällt doch nichts ein.

Wir sind dann über Ostern zu Oma Datschi und Opa Luis gefahren, ich konnte mich darüber allerdings gar nicht richtig freuen, weil ich nur an diesen blöden Aufsatz gedacht habe. Oma Datschi heißt eigentlich Oma Rosi. Ich nenne sie nur so wegen des leckeren Zwetschgendatschis, den sie backt, wenn meine Eltern und ich sie besuchen. Sie macht immer ein großes Blech, und ich darf die übrig gebliebenen Stücke mit nach Hause nehmen.

Jedenfalls bin ich traurig über die Streuobstwiese gegangen. Und dann habe ich gedacht: Wenn ich schon einen Ehemann haben muss, um glücklich zu sein, sollen seine Küsse wenigstens nach Mirabellen schmecken. Ich liebe gelbe Zwetschgen! Am besten schmecken sie direkt vom Baum in den Mund. Aber es ist erst Frühling, jetzt sind sie noch nicht reif. Ich denke, ich bin auch noch nicht reif für die Liebe. Damit warte ich lieber noch ganz, ganz lange.

Ein Bach fließt über das Grundstück von Oma und Opa. Der plätschert so lustig. Wenn ich zu lange am Ufer sitze, muss ich aufs Klo. Fische leben nicht darin. Aber Frösche erschrecken mich manchmal, wenn sie plötzlich wegspringen. Ich bin ihnen nicht böse, denn sie haben sich bestimmt auch vor mir erschreckt.

Als ich dasaß und merkte, wie glücklich ich war, wusste ich plötzlich, was ich mir wünsche, wenn ich groß bin. Ich möchte am Wasser leben. Nicht an einem Bach, der ist mir zu klein, sondern an einem richtigen Fluss.

Oder am Starnberger See. Nein, lieber doch nicht, weil man den die Badewanne Münchens nennt. Wie eklig ist das denn? Ich will doch nicht mit allen, die in meiner Stadt wohnen, zusammen baden.

Am Meer zu wohnen, einem richtigen Meer, mit Wasser, so weit wie ich gucken kann, das wäre toll. Mit einem Mann, der nach Mirabellen schmeckt, wenn wir uns küssen. Und vielen Katzen, die liebe ich. Sie sind so flauschig und niedlich. Wenn sie sich wohlfühlen und schnurren, muss ich immer lächeln. Dann geht es mir gut. Wenn ich groß bin, will ich ganz viele Haustiere haben. Jetzt darf ich das nämlich nicht, was mich sehr traurig macht.

Als ich das alles Oma Datschi erzählt habe, hat sie gemeint, dass es sowieso keinen Sinn ergibt, sich in meinem Alter etwas zu wünschen. Die meisten Träume, die sie in jungen Jahren hatte, wären nicht wahr geworden.

»Alles kommt eh anders, als man denkt«, hat sie gesagt.

Warum soll ich dann darüber nachdenken und diesen dummen Aufsatz schreiben, wenn ich eh nicht kriege, was ich will?

Kapitel 1

Bevor Annegret Huber von München nach Bremen gezogen war, hatte sie sich ihre walnussbraunen Haare abschneiden lassen, um seriöser auszusehen.

Sie suchte im Internet nach Fotos erfolgreicher Fernsehjournalistinnen und druckte eine Aufnahme aus. Mit dem Bild ging sie zu einem Hairstylisten, den sie sich eigentlich nicht leisten konnte. Der neue Look sollte den Start ihrer Laufbahn beim Fernsehen symbolisieren.

»Kurze Haare stehen nur Männern«, sagte ihre Mutter.

Annegret, die von allen Anne genannt wurde, verdrehte bloß die Augen. Für ihre Mutter waren lange Haare der Inbegriff von Weiblichkeit. Aber Anne wollte nicht Fotomodell werden oder die Catwalks der Welt erobern, sondern in der Nachrichtenbranche ernst genommen werden, und das fing beim Erscheinungsbild an.

Es lag etwas mehr als sieben Monate zurück, dass Anne ihren Eltern den neuen Haarschnitt gezeigt hatte. Gleichzeitig hatte sie ihnen erzählt, dass sie nach Bremen ziehen würde, um für den Fernsehsender Tele Nord zu arbeiten. Inzwischen lebte sie fast auf den Tag genau ein halbes Jahr in Norddeutschland. Und mittlerweile wusste sie nicht mehr so genau, ob der Frisurenwechsel die richtige Entscheidung gewesen war, denn unglücklicherweise schien sie seitdem Luft für vieleMänner zu sein.

Wie zum Beweis stieg ein attraktiver Typ mit weißen Kopfhörern ein und ging an ihr vorbei, ohne sie wahrzunehmen, obwohl sie am Gang saß. Er hatte bloß Augen für Annes Kollegin neben ihr. Wie immer hatte Sophia ihre langen naturblonden Haare über die Schultern nach vorne gelegt, damit diese voller wirkten und ihr Gesicht einrahmten. Selbstbewusst lächelte sie, die als Kamerafrau arbeitete, den Fremden an. Sein Blick klebte an ihr, als er an ihr vorbeiging.

»Er wird mich nicht nach meiner Handynummer fragen«, sagte Sophie und blickte ihm über ihre Schulter hinweg nach.

Der Regen prasselte laut aufs Dach des Busses. Eine Reihe vor ihnen unterhielten sich zwei ältere Damen so angeregt, dass man jedes Wort verstand. Im Gang standen drei Teenager und zeigten sich gegenseitig Videos auf ihren Smartphones. »Wie bitte?«, fragte Anne mit etwas lauterer Stimme.

»Der Typ gerade, er hat sich zu weit nach hinten gesetzt, dabei ist direkt hinter uns ein Platz frei. Aber das ist okay. Wenn er nicht den Mumm dazu hat, mich nach meiner Nummer zu fragen, ist er auch nichts für mich.« Sophia zog sich mithilfe eines Taschenspiegels die Lippen korallenrot nach. »Ich stehe auf echte Kerle.«

»Aber du hast doch einen Freund«, sagte Anne irritiert. Wassertropfen glitzerten auf ihrer Regenjacke. »Paul heißt er, oder?«

»Na, und?« Beiläufig kramte Sophia in ihrem City-Rucksack und holte eine Schachtel Zigaretten heraus. Sie öffnete die Packung, sah, dass sie fast leer war, und seufzte. »Ich brauche neue Kippen. Woher soll ich wissen, ob Paul der Richtige ist?«

Anne war zwar froh, nicht alleine mit dem Bus fahren zu müssen, sie unterhielt sich gerne. Aber mit Sophia wurde sie einfach nicht warm. Nicht dieselbe Wellenlänge. »Du lebst mit ihm zusammen. Dann muss es ernst mit euch sein.«

»Trotzdem kann ich doch weitersuchen.« Sophia nahm das Feuerzeug aus der Zigarettenschachtel. Unentwegt erzeugte sie eine Flamme und ließ diese gleich wieder ausgehen, der Benzingeruch mischte sich unter die Ausdünstung der vielen Pendler. »Und ernst ist generell nicht so mein Ding.«

»Wenn man sich alle Türen offen hält, obwohl man in festen Händen ist, ist man auch nicht richtig verliebt«, sagte Anne bestimmt. Vielleicht hätte sie das Thema auf sich beruhen lassen sollen, immerhin kannte sie ihre Arbeitskollegin nicht gut, und Paul hatte sie noch nie getroffen. Aber sie war bestürzt über Sophias Abgebrühtheit und Egoismus. »Du solltest dich vor der Suche nach einem neuen Partner von Paul trennen.«

»Das wäre doch dumm.« Sophia, die am Fenster saß, hielt die Zigaretten unter ihre Nase und atmete den Tabakduft ein. »Dann würde ich ja alleine dastehen.«

Paul tat Anne leid. »Das wäre nicht dumm, sondern anständig.«

»Sind alle Bayern so prüde wie du?« Demonstrativ sah Sophia aus dem Fenster auf die Menschen, die mit Regenschirmen über die Gehsteige Bremens huschten.

Betreten schwieg Anne. Sie wäre schon froh gewesen, wenn sich überhaupt mal wieder ein Mann für sie interessieren würde. Sie sehnte sich sehr nach zärtlichen Berührungen und liebevollen Küssen. Nach jemandem, der ihr heimlich Zettel in ihre Handtasche steckte und sie wissen ließ, dass er es kaum erwarten konnte, sie bald wiederzusehen. Der an sie glaubte, ihre ehrgeizigen beruflichen Ziele unterstützte und Zukunftspläne mit ihr schmiedete.

Daher fragte sie sich, ob sie sich nicht wenigstens die Haare blond färben lassen sollte, wie Sophia, konnte sich aber mit diesem Gedanken nicht anfreunden. Sie hatte zwar einen dunklen Teint, was einen hübschen Kontrast ergeben würde, aber blond, das war einfach nicht sie, und sie wollte sich treu bleiben, in allen Dingen.

Die Kurzhaarfrisur war die große Ausnahme. Anne hatte ihre Haare noch nie so kurz getragen, kam sich aber todschick vor. Sie hatte das Gefühl, mit dem neuen Haarschnitt in jeglicher Hinsicht ein neues Kapitel aufgeschlagen zu haben.

Sie sehnte sich sehr nach einer Beziehung und wünschte sich eine eigene Familie, aber alles zu seiner Zeit. Manchmal musste sie sich daran erinnern, Geduld zu haben, und zwar immer dann, wenn der Wunsch nach einem liebevollen Partner und eigenen Kindern zu stark wurde. Keinesfallswürdesie für ihren Job bis an ihr Lebensende alleine bleiben. Diese Durststrecke war bloß eine Phase in ihrem Leben. Zurzeit stand an erster Stelle, ihr berufliches Ziel zu verwirklichen, denn einen Fuß hatte sie bereits in der Tür. Außerdem war sie im Januar erst 29 Jahre alt geworden.

»Du bist schon fast dreißig Jahre alt«, hatte ihre Mutter dennoch kurz vor Annes Abreise nach Bremen gesagt. »Dir läuft die Zeit davon. Deine innere Uhr tickt. Wenn du noch länger wartest, kriegst du nachher nur noch die geschiedenen Männer ab. Die haben bereits Kinder mit ihren ersten Ehefrauen. Sie wollen, nun da sie wieder frei sind, ihr Leben genießen und keine zweite Familie gründen.«

Für gewöhnlich ignorierte Anne die Schwarzmalerei ihrer Mutter, doch diesmal hatten ihre Worte etwas in ihr ausgelöst. Einen Hauch von Panik. Mittlerweile bedrückte es sie immer mehr, dass ihr Privatleben brachlag, während ihre Freundinnen in München sich weiterentwickelten. Sie lebten alle in festen Partnerschaften, waren verheiratet, manche hatten schon Kinder.

Sie machten Familienurlaub, während Anne Singlereisen buchte. Im Supermarkt kauften sie Windeln und Babybrei. Anne jedoch nahm eine Flasche Wein mit nach Hause, um nach Feierabend ihre Einsamkeit runterzuspülen. Immer öfter hatte sie den Eindruck, das wahre Leben zu verpassen. Aber noch war ihr Wunsch, weiterhin als Journalistin fürs Fernsehen zu arbeiten, größer.

Ihr jetziger Arbeitgeber Tele Nord war ein kleiner Fernsehsender. Er ging zwar auch auf das weltweite Geschehen ein, brachte aber vor allem lokale Beiträge. Das Personal hatte sie freundlich aufgenommen, trotzdem nannte man sie nach einem halben Jahr noch immer die Neue. Aus irgendeinem Grund kam sie an ihre Kollegen nicht richtig heran. Anne engagierte sich und sprudelte vor Ideen, weil sie das erste Mal fürs Fernsehen arbeitete. Was ihr neu und spannend schien, war für die anderen Mitarbeiterlängst Alltag und Routine.

Als Anne vor sieben Monaten den Vertrag unterzeichnet hatte, war sie davon ausgegangen, dass solch ein kleines Team wie eine Familie sein würde. Leider traf das nicht zu. Nach Feierabend gingen die Kollegen heim und zeigten keinerlei Interesse, etwas gemeinsam zu unternehmen. Man sah sich ja schon bei der Arbeit, das reichte. Und so hatte Anne bis jetzt noch keinen Anschluss gefunden.

In ihrer Freizeit fühlte sie sich isoliert. Aus Verzweiflung hatte sie sich einmal in ein Café gesetzt und ihre Tischnachbarn in eine Unterhaltung verstrickt. Außerdem hatte sie in einer Koch- und Backschule einen Kurs besucht, in dem man lernte, Pralinen herzustellen. Doch eine Freundin oder einen Freund fand sie dadurch nicht, die meisten Teilnehmer kamen mit ihrem Lebenspartner oder einer guten Freundin.

Sie vermisste es sehr, einen Freundinnen-Tag zu machen. Man amüsierte sich von morgens bis spätabends und feierte gemeinsam. Ihr fehlte es, mit einer Freundin zu frühstücken, mit dem Kellner zu flirten, gemeinsam zum Friseur zu gehen, über den Flohmarkt zu streifen, sich professionell massieren zu lassen und abends ein Konzert in einem der vielen kleinen Klubs in München zu besuchen.

Bisher hatte Anne niemanden davon erzählt, dass sie das Alleinsein satt hatte. Ihre Familie hätte ihr geraten, zurück nach Obersendling zu kommen. Ihre Eltern waren ohnehin nicht begeistert davon, dass Anne den Familienbetrieb im Münchner Süden, wo sie auch wohnten, nicht weiterführen wollte. Ihre Freunde hätten ihr wohl Mut zugesprochen durchzuhalten, schließlich hatte sich ihr Traum, in der Fernsehbranche zu arbeiten, erfüllt. Ihre Kollegen hätten sie vielleicht aus Mitleid zu sich eingeladen, das hätte sie nur noch weiter runtergezogen.

Sie vermisste die Wärme ihrer Verwandtschaft und ihres Freundeskreises. Obwohl sie unzufrieden war, betrachtete sie ihre Sehnsucht als Opfer für ihren Wunsch, mit Reportagen den Bewegtbild-Markt zu erobern. Sie hatte lediglich Startschwierigkeiten.

Noch immer sah sie Bremen nicht als ihre Heimat an. Das lag weder an der Hansestadt noch an den Einwohnern, sondern an Anne selbst. Sobald sie Freunde gefunden hätte, würde sie sich nicht mehr fremdfühlen. Möglicherweise waren sechs Monate noch nicht genug Zeit, um sich einzuleben.

Nach dem Journalismusstudium hatte sie als Jungredakteurin für das Onlineportal vom Bayernkurier gearbeitet, bevor die Website eingestellt wurde, und danach beim Lokalmagazin Hallo München. Mit viel Herzblut hatte sie sich bei Fernsehsendern beworben, erst in München, dann in ganz Bayern und schließlich deutschlandweit, aber keine positive Antwort erhalten. Eine Weile hatte sie damit aufgehört.

Anne hatte ihre Wunden geleckt und eine andere Strategie verfolgt. Sie machte die Zusatzausbildung »Fernsehjournalismus und Digital Storytelling« bei einer Privatakademie, finanziert aus eigener Tasche, und verlor die Hoffnung nicht. Nach der zehnmonatigen Studienzeit schrieb sie erneut Bewerbungen. Vor sieben Monaten hatte ihr endlich der kleine norddeutsche Sender einen Arbeitsvertrag angeboten.

Sie weinte vor Glück. Ein Traum ging in Erfüllung, auch wenn sie sehr wenig verdiente, aber auf die Bezahlung kam es ihr nicht an.

Schon als Mädchen hatte sie sich eine Mikrofonattrappe gebastelt. Sie formte aus reichlich Alufolie eine Kugel und drückte sie auf das Ende eines Besenstils. Dann stellte sie einem unsichtbaren Publikum ihre erfundene Katze Tinerl vor. Leider durfte sie kein Haustier haben. Als Teenager malte sie sich aus, wie es wäre, vor laufender Kamera Popstars zu interviewen. Während ihres Journalismus-Studiums träumte sie mit offenen Augen davon, durch die Welt zu reisen und über andere Kulturen und Länder zu berichten.

Bisher war nichts davon wahr geworden. Weder hatte sie einen Prominenten befragt, noch hatte eine der Münchner Lokalzeitungen oder Tele Nord sie auf Reisen geschickt. Aber sie glaubte fest daran, dass es eines Tages passieren würde.

»Vielleicht schickt uns Scherf heute wieder zusammen raus.« Sophia löste ihren Blick von dem Regenwetter vor dem Busfenster und sah Anne an.

»Ich denke nicht«, sagte siezögerlich,um die Kamerafrau nicht zu verärgern. Offenbar wollte ihre Kollegin die angespannte Stimmung auflockern, denn sie lächelte das erste Mal an diesem Morgen. Anne war froh darüber. Sie wollte ja gar nicht Sophias Busenfreundin werden, aber ein gutes Arbeitsverhältnis war ihr wichtig. »Jonas kennt doch den Bürgermeister über ein paar Ecken. Er hat ihm versprochen, heute vor seine Kamera zu treten und etwas über seine erneute Kandidatur und die Parteienlandschaft in Bremen zu sagen. Ich habe so im Gefühl, dass mich der Programmdirektor Jonas zuweisen wird, damit ich das Stadtoberhaupt befrage.«

»Das macht Jolanta.« Sophia nahm eine Zigarette aus der Schachtel und steckte die Packung zurück in ihren City-Rucksack.

Anne war wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatte so große Hoffnung in den heutigen Tag gesetzt. Das wäre ihr erstes wichtiges Interview geworden. Bisher hatte Max Scherf sie nur mit einem Kameramann und einem Tontechniker auf die Straße geschickt, um Passanten zu einem aktuellen Thema zu befragen oder Beiträge zu drehen, die so unwichtig waren, dass sie am Ende auf wenige Minuten gekürzt wurden. »Woher willst du das wissen?«

»Weil ich gestern dabei war, als Scherf Jolanta damit beauftragt hat«, sagte Sophia und steckte sich die Kippe in den Mundwinkel, ohne sie anzuzünden.

Anne konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Sie verstand ja, dass Journalisten, die schon länger für Tele Nord arbeiteten, den Vorzug erhielten, aber langsam wurde sie ungeduldig. Traute ihr der Programmdirektor etwa keine ernsthaften Themen zu? Hatte er eine Reporterin nur für die Lückenfüller gesucht?Würdeer sie nie etwas anderes machen lassen?

Der Bus hielt an einer Haltestelle auf der Hauptstraße. Anna und Sophia stiegen aus. Mit zittrigen Händen zündete sich Sophia ihre Kippe an und nahm gierig einen Zug. Anne zog sich die Kapuze ihrer Regenjacke über.Esregnete noch immer.

Sie musste noch zehn Minuten bis zum Fernsehsender gehen. Während Sophia sich anscheinend vollkommen auf die Befriedigung ihrer Nikotinsucht konzentrierte, grübelte Anne über ihren Vorgesetzten nach.

Sie hatte kein besonders gutes, aber auch kein schlechtes Verhältnis zu ihm. Er war stets hektisch, schien ständig unter Strom, aber vielleicht war das normal, wenn man einen kleinen Sender am Leben erhalten wollte. Mochte er sie? Sie wusste es nicht.

»Hast du letzte Nacht auch eine Kurzmitteilung von Scherf bekommen?« Anne befürchtete, dass sie die Einzige war, die er heute Morgen sehen wollte. Der Signalton ihres Smartphones hatte sie kurz nach Mitternacht geweckt. Sie hatte Scherfs Anweisung sofort gelesen und danach kaum noch geschlafen.

»Klar«, antwortete Sophia, während Rauchwölkchen aus ihrem Mund drangen. »Alle Mitarbeiter. Das macht Scherf immer so. Er lässteswie eine persönliche Nachricht aussehen, damit du dich auch angesprochen fühlst und was-auch-immer-er-will ernst nimmst. Aber in Wahrheit gehörst du bloß zu seiner Kurznachrichtengruppe.«

Anne war erleichtert. Also ging es nicht um sie allein. Er zitierte sie nicht in sein Büro, um ihr zu kündigen, weil sie seinen Ansprüchen nicht genügte. »Warum will er uns sehen? Weißt du etwas darüber?«

»Mach dir keinen Kopf.« Ohne ihr Bescheid zu geben, betrat Sophia einen Kiosk. Nach einer Weile kehrte sie mit einer Schachtel Zigaretten zurück.

Sie setzten ihren Weg durch die Nebenstraßen fort.

»Machst du dir etwa keine Sorgen?«, fragte Anne etwas außer Atem, denn beim schnellen Tempo ihrer Kollegin hatte sie Mühe, Schritt zu halten.

Sophia, die mit langen, schlanken Beinen gesegnet war, steckte die Packung in ihren City-Rucksack. »Du bist immer so angespannt.«

»Ich will auf keinen Fall meinen Job verlieren.« Was sollte Anne dann tun? Sie wollte nicht zurück zu einer Lokalzeitung. Seit ihrer Kindheit träumte sie davon, Reportagen zu drehen, und seit einem halben Jahr gehörte sie zur Welt des Fernsehens. Sollte sie gefeuert werden und dieses Privileg wieder verlieren, würde sie ins Bodenlose stürzen.

»Wer will das schon«, murmelte Sophia in einem Ton, der Anne verriet, dass die Kamerafrau kein Verständnis für ihre Nöte hatte. Umständlich schulterte ihre Kollegin ihren Rucksack.

Es hörte auf zu regnen. Anne schob die Kapuze vom Kopf. Der April war bisher feucht, aber keineswegs kalt. Jetzt schwitzte sie unter ihrer Regenjacke. »Findest du das denn gar nicht merkwürdig?«

»Doch, da ist was im Busch. Aber warum soll ich mir im Vorfeld den Kopf darüber zerbrechen? Wir werden es doch in wenigen Minuten erfahren.« Vorwurfsvoll sah Sophia sie an. »Die Fernsehbranche ist ein hartes Pflaster. Wenn du klarkommen willst, musst du cooler werden.«

Anne sah das nicht so locker. Wahrscheinlich brauchte sie diese Anstellung mehr als Sophia. Sie befürchtete, dass sie nie wieder bei einer Fernsehstation arbeiten würde, sollte ihr gekündigt werden. Tele Nord war vielleicht ihre erste und letzte Chance. Der einzige TV-Sender, der sie überhaupt zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hatte. Sollte sie ihren Job verlieren, wäre sie wahrscheinlichfür immer raus aus dem Fernsehgeschäft. Ihr ging es nicht um Karriere, aber sie wollten ihren Traumberuf ausüben.

Als sie das Gebäude, in dem sich Tele Nord befand, betraten, kam ihnen Jonas entgegen. Der Kameramann winkte sie aufgeregt zu sich. »Beeilt euch. Ihr seid die Letzten. Alle warten nur noch auf euch.«

»Tut mir leid. Der Bus hatte Verspätung«, beeilte sich Anne zu sagen. Vor Aufregung brach ihr der Schweiß aus. »Durch den Regen ist auf der Straße die Hölle los.«

»Entschuldige dich nicht für Dinge, für die du nichts kannst.« Sophia sah auf Anne herab, verzog das Gesicht und schloss dann zu Jonas, der voranging, auf.

Betrübt folgte Anne den beiden Kameraleuten in den großen Besprechungsraum. Annes nasse Schuhe schmatzten bei jedem Schritt, was die Blicke auf sie zog. War das Lächeln ihrer Kollegen freundlich oder verächtlich? Verunsichert sah sie weg.

Sie fühlte sich so anders als die anderen Angestellten. Woran das lag, wusste sie nicht. Vielleicht gehörte sie einfach zu einem anderen Schlag Mensch, oder sie tickte als Bayerin anders als die Norddeutschen. Wahrscheinlich passte sie einfach nur nicht in das Tele-Nord-Team.

Sie machte sich Sorgen, dass sie zu empfindlich für die Fernsehbranche war. Tatsächlich empfand sie sich alsKämpferin,aber eswiderstrebte ihr, die Ellbogen auszufahren. Jolanta schien damit keine Probleme zu haben. Die Fernsehjournalistin reklamierte alle wichtigen Projekte für sich, und keiner der anderen Mitarbeiter sah sie darum schief an. Im Gegenteil, Jolanta war beliebt.

Ich muss tougher werden, dachte Anne. Sollte sich ihr Kindheitswunsch erfüllen, musste sie so werden wie Jolanta – selbstbewusst, zielsicher und entschlossen.

Alle Stühle waren besetzt. Sie stellte sich in die hinterste Ecke, zog ihre Regenjacke aus und verlagerte nervös ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Ihr wurde klar, dass sie nicht umsetzte, was sie sich gerade vorgenommen hatte. Denn sie versteckte sich hinter ihren Kollegen wie ein scheues Mäuschen. Also atmete sie tief durch, legte ihre Jacke und ihre Tasche auf die Fensterbank und schob sich an den Kollegen vorbei zwei Sitzreihen weiter nach vorne.

Unruhig lief Max Scherf vor den Versammelten auf und ab. Er hatte einen daumengroßen Kaffeefleck auf seinem beigefarbenen Herrenhemd und fing ohne Begrüßung an zu sprechen. »Wie ihr wisst, sind wir bloß ein kleiner Privatsender.«

»Klein, aber oho«, warf jemand ein, und alle lachten.

»Wir standen von Anfang an aufdünnem Eis, aber bisher haben wir es geschafft, nicht einzubrechen.« Scherf ballte zwar eine Faust, aber seine Stimme klang belegt. Ständig musste er sich räuspern.

Alle klatschten. Anne stimmte mit ein. Vermutlich hatte Scherf das Team herzitiert, um eine Motivationsrede zu halten, damit sie noch härter arbeiteten, um Tele Nord bekannter zu machen. So blass, wie er war, mochte er aber auch krank sein. Unter Umständen wollte er sich für die nächsten Tage nach Hause verabschieden und an seine Mitarbeiter appellieren, sich in seiner Abwesenheit weiterhin zu engagieren. Befürchtete er, sie würden die Arbeit schleifen lassen, wenn er ihnen nicht auf die Finger sah?

»Es sind harte Zeiten. Alle Unternehmen haben zu kämpfen, die großen wie die kleinen«, fuhr Scherf fort. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. »Aber die kleinen wie wir haben es schwerer, denn uns fehlenRücklagen für schlechte Zeiten.«

»Wollen Sie uns schon wieder das Gehalt kürzen?«, fragte Jonas ungehalten.

»Nein, nein.« Scherf winkte ab. Er war kleiner als die meisten Männer im Raum. »Darum habe ich Sie nicht hergebeten.«

»Haben Sie vor, unsere Arbeitsverträge von fest angestellt auf freiberuflich zu ändern, um zu sparen?«, sagte Jolanta in einem bissigen Ton. »Ich bin auf keinen Fall bereit dazu, nur projektbezogen zu arbeiten.«

»Und leben kann man davon auch nicht«, warf Sophia ein, die unentwegt ihre Zigarettenschachtel in der Hand drehte.

»Wenn Sie mich ausreden lassen würden, wüssten Sielängst, warumich dieses außerplanmäßige Meeting einberufen habe.« Der Programmdirektor hatte Schatten unter den Augen. Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweißbart von der Oberlippe.

Anne spannte sich an.Würde er ihnen gleich mitteilen, dass einige von ihnen gehen müssten? Sparmaßnahmen? Aus nachvollziehbaren Gründen würden die Mitarbeiter, die zuletzt beim Sender angefangen hatten, zuerst ihren Hut nehmenmüssen.

Also ich, dachte Anne bedrückt. Ihr Magen zog sich zusammen.

Natürlich konnte Max Scherf auch gute Neuigkeiten für sie haben. Vielleicht würde Tele Nord von einem großen Medienunternehmen aufgekauft werden, dann hätten alle Angestellten mehr Sicherheit. Aber so recht glaubte Anne nicht daran. Hätte Scherf positive Nachrichten zu verkünden, würde er nicht so mitgenommen aussehen.

»Ich habe alles versucht, das müsst ihr mir glauben.« Der 49-Jährige legte die Handflächen aneinander.Auf seinen Handrücken wuchsen Haarbüschel. »Ich habe gespart, wo ich konnte. Habe Werbezeiten immer günstiger angeboten, um sie überhaupt verkauft zu bekommen. Genutzt hat es nicht viel. Im Grunde hat es das Sterben von Tele Nord nur verlängert. Als lokaler Privatsender finanzieren wir uns nun einmal hauptsächlich durch regionale TV-Spots und Auftragsproduktionen. Die Lage ist schwieriger denn je.«

Jolanta trat vor. Wie immer trug sie einen dunkelblauen Rock und einen passenden Blazer, dazu eine weiße Bluse und Pumps. »Woran liegt das?«

»Wie ich bereits sagte, die Zeiten sind für alle Firmen hart. Da bleibt zu wenig Geld übrig, um Fernsehwerbung zu finanzieren.« Scherf nahm seine Brille ab und rieb sich die Augenlider. »Unser größter Sponsor ist abgesprungen.«

»Das wussten wir nicht.« Bestürzt sah Jonas erst Scherf und dann seine Kollegen an.

»Wir bedienen keine Sparte, sondern sind breit aufgestellt, was ich gut finde, aber in unserem Fall hat es sich negativ ausgewirkt«, sagte Scherf und setzte die Brille wieder auf. »Unsere Zuschauerzahlen sind in den letzten Monaten stetig gesunken. Darum wurde unlängst auch dasFördergeld nicht verlängert.Man hat das Vertrauen in uns verloren. Wir befinden uns in einer Abwärtsspirale.«

»Wir machen gute Arbeit«, rief Sophia dazwischen.

»Ja, das machen wir, aber uns fehlen Formate mit Alleinstellungsmerkmalen. Außerdem gucken viele lieber Streamingdienste als Lokalfernsehen.« Müde lächelte Scherf Anne zu. »Ich hatte Frau Huber eingestellt, damit sie frischen Wind reinbringt, aber ihre Anstellung kam bereits zu spät.«

Anne lief rot an. Die Blicke ihrer Kollegen brannten auf ihrer Haut. Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Plötzlich fühlte sie sich, als wäre sie schuld an den ganzen Problemen des Senders.

Der Programmdirektor holte tief Luft. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Es sieht schlecht aus.«

»Was heißt das?«, fragte Anne zaghaft.

»Wir…« Scherf sah auf seine Schuhspitzen. »Wir stehen kurz vor dem Aus.«

Alles vor Annes Blickfeld verschwamm. Ihre Beine gaben nach. Sie ließ sich auf einen Stuhl in ihrer Nähe fallen, der frei geworden war, weil sich ein Kollege entsetzt erhoben hatte.

Ihr Traum, als Fernsehjournalistin zu arbeiten, stand kurz davor zu platzen.

Kapitel 2

Für dieses kurze Intermezzo in Bremen habe ich meine Familie, meine Freunde und Toni verlassen, dachte Anne mit feuchten Augen. Ihre Opferbereitschaft zahlte sich anscheinend nicht aus.

Während ihre Kollegen schweigend zu ihren Schreibtischen zurückgingen, blieb sie stehen, denn sie hatte gar keinen eigenen Arbeitsplatz. Man hatte einen neuen für sie schaffen wollen, doch dazu war es nie gekommen.

Bald saß sie allein im Konferenzraum. Aus den angrenzenden Büros drangen kaum Geräusche zu ihr. Es herrschte eine ungewöhnliche Ruhe im Sender.

Anne war hin- und hergerissen. Ihre Entscheidung, ihre Zelte in München abzubrechen und nach Bremen zu ziehen, kam ihr plötzlich falsch vor. Trotzdem bereute sie keine Minuten, die sie für Tele Nord gearbeitet hatte. Immerhin hatte sie für sechs Monate Fernsehluft schnuppern dürfen.

So schön diese Erfahrung war, sie machte den Abschiedsschmerz nur noch schlimmer. Anne wollte nicht wieder für eine kleine Zeitung schreiben. Noch hatte man ihr nicht gekündigt, aber das würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.

In Kürze würde sie mit leeren Händen nach Bayern zurückkehren. Ohne Wohnung. Ohne Job. Sie würde vorübergehend bei ihren Eltern einziehen und jede Arbeit, die sich ihr bot, annehmen müssen. Die Aussicht zog sie weiter runter.

»Annegret und ihre großen Träume«, hatte der ein oder andere Bekannte vor ihrer Abreise mit einem abfälligen Unterton gesagt und sie belächelt.

Andere waren da direkter gewesen: »Du wolltest schon immer unbedingt aus Bayern raus. Wir sind dir wohl nicht gut genug.«

Deprimiert lehnte Anne ihre Stirn gegen die kühle Fensterscheibe, gegen die der Regen von außen unaufhörlich trommelte. Es pochte unangenehm hinter ihren Schläfen. Sie schloss ihre Augen.

Plötzlich räusperte sich jemand. »Frau Huber?«

Erschrocken riss Anne ihre Augen auf. Sie drehte sich um und sah zur Tür. Fragend zog sie ihre Brauen hoch. Sie wollte etwas sagen, doch der Trübsinn hatte ihr für den Moment die Stimme geraubt.

»Kommen Sie in mein Büro. Sofort.« Mit einer ungeduldigen Geste signalisierte Max Scherf ihr, ihm zu folgen. Dann verschwand er.

Ihr Herz schlug einen Takt schneller. Was hatte das zu bedeuten? Würde der Programmdirektor sie höchstpersönlich feuern? Wohl kaum. Dazu war die Personalabteilung da. Was wollte er von ihr?

Scherf stand erneut in der Tür. »Worauf warten Sie denn noch? Beeilen Sie sich. Uns läuft die Zeit davon.«

Schnell packte Anne ihre Regenjacke und ihre Tasche und eilte ihrem Vorgesetzten hinterher. Ihr Puls raste, als sie sein Büro betrat.

In dem Zimmer herrschte das pure Chaos. Auf dem Schreibtisch türmten sich Dokumente. Überall lagen Kugelschreiber und Textmarker herum. Das gerahmte Foto mit seiner namibischen Ehefrau und seinem achtzehnjährigen Sohn lag auf dem Rücken. Der Mülleimer quoll über vor Bonbonpapier. Scherf schien süchtig nach Drops. Er machte nie Pause, ging nie essen. Er arbeitete durch und ernährte sich anscheinend ausschließlich von belegten Brötchen vom Bäcker nebenan und von Bonbons.

Max Scherf nahm einige Akten von den Stühlen, die vor seinem Schreibtisch standen. »Nun bleiben Sie doch nicht im Türrahmen stehen. Setzen Sie sich, Frau Huber.«

Während Anne sich bange fragte, ob das Personalakten waren, nahm sie Platz. Hatte er vor, einige Angestellte schon heute zu feuern, in der Hoffnung, den Fernsehsender noch den ein oder anderen Monat länger betreiben zu können? Und ich werde die Erste sein, dachte Anne mit weinendem Herzen.

»Genau das ist Ihr Problem. Sie sind zu zögerlich, dadurch wirken Sie unsicher.« Der Programmdirektor legte die Akten einfach irgendwo ins Regal. »Darum habe ich Sie bisher auch noch nicht zu wichtigen Terminen geschickt.«

Seine Worte versetzten Anne einen Stich. Sie hatte sich nach einem halben Jahr immer noch nicht daran gewöhnt, dass bei Tele Nord Klartext gesprochen wurde. Man redete nicht um den heißen Brei herum oder verschleierte Kritik mithilfe von freundlichen Floskeln, sondern kam sofort zur Sache. Das tat mitunter weh, so wie jetzt.

»Dadurch treten Sie auf der Stelle, Frau Huber«, sagte Scherf und klopfte energisch auf seinen Schreibtisch, »und der Sender somit auch. Dabei hatte ich große Hoffnungen in Sie gesetzt.«

Annes Augen wurden feucht. Tapfer blinzelte sie ihre Tränen fort. Sie fühlte sich ungerecht behandelt, denn sie war keineswegs zu unsicher. Sie hatte sich bloß zurückgehalten.

Anfangs, wenn sie Ideen geäußert hatte, hatten die Kollegen stets abgewiegelt. Später hatten sie ihr unter vier Augen gesagt, sie wäre die Neue und sollte sich erst einmal eine Weile alles angucken. Man hatte ihr durch die Blume mitgeteilt, dass ihr Enthusiasmus und Engagement nicht gut ankamen. Also hatte sie bei Besprechungen den Mund gehalten und, ohne zu murren, die Aufgaben erledigt, die man ihr zugeteilt hatte.

Anscheinend hatte Scherf andere Erwartungen an sie gehabt. Anne fühlte sich von den Kollegen ausgebootet. »Das tut mir leid. Ich kann mehr, als ich bisher gezeigt habe«, stellte sie beherzt klar.

»Ich bin mir da nicht mehr sicher. Nehmen Sie doch nur das Meeting eben.« Wild gestikulierte der Programmdirektor herum. »Sie haben sich erst ganz hinten hingestellt. Aber wenn Sie etwas erreichen wollen, müssen Sie nach ganz vorne.«

»In der ersten Reihe saßen aber bereits Jolanta und andere führende Mitarbeiter.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, bereute sie sie auch schon. Sie hätte sich nicht entschuldigen sollen, denn das ließ sie noch schwächer wirken.

»Fahren Sie Ihre Ellbogen aus, Frau Huber.« Scherf ballte eine Faust und tat so, als würde er einen unsichtbaren Gegner boxen. »Wer ganz nach oben will, muss kämpfen.«

Zögerlich nickte Anne. Sie war ja bereit, für ihren Traum zu kämpfen, aber nicht mit harten Bandagen. Das widersprach ihrem Charakter, ihrem Harmoniebedürfnis. Sie wollte durch Leistung überzeugen. Das Problem bestand darin, dass man sie erst gar nicht zeigen ließ, was sie draufhatte.

Vielleicht hatte ihr Chef recht. Sie würde es nicht weit bringen, wenn sie immer nett und rücksichtsvoll war. Die Kollegen hatten sie manipuliert und klein gehalten. Das würde sie ab sofort nicht mehr mit sich machen lassen.

»Das werde ich«, sagte sie bestimmt.

»Wirklich?« fragte der Programmdirektor skeptisch.

Sie setzte sich aufrechter hin. »Versprochen.«

Als Max Scherf sich in seinen Bürostuhl fallen ließ, gab er ein erleichtertes Seufzen von sich. »Nun gut, ich gebe Ihnen eine letzte Chance. Im Grunde ist es die letzte Chance für uns alle. Sollten Sie das Wunder nicht vollbringen, werden wir alle in wenigen Wochen auf der Straße stehen. Das wollen Sie doch nicht verantworten, oder?«

Anne hatte zwar keine Ahnung, wovon er sprach, schüttelte jedoch ihren Kopf. »Auf keinen Fall.«

»Retten Sie Tele Nord.« Scherf rückte auf seinem Stuhl nach vorne und legte beide Arme auf den Schreibtisch.

Der plötzliche Stimmungswechsel brachte sie durcheinander. »Ich?«

»Nur Sie allein können das, Frau Huber.« Mit beiden Zeigefingern zeigte er auf sie. Das Pflaster auf seiner Wange löste sich an einer Seite und klappte auf. Darunter kam eine Blutkruste zum Vorschein. Er musste sich beim Rasieren geschnitten haben.

Der Regen, den der Wind eben noch gegen die Fensterscheibe gepeitscht hatte, hörte abrupt auf. Anne hatte fest erwartet, gesagt zu bekommen, sie würde noch heute aus dem Lokalsender ausscheiden. Und nun sollte sie die Macht dazu haben, ihn aus dem finanziellen Tief herauszuholen? »Das verstehe ich nicht.«

»Sie sind unser Ass im Ärmel.« Scherf faltete die Hände zusammen und grinste. »Unsere Geheimwaffe.«

Sie fühlte sich geschmeichelt. Ihr Herz pochte wie verrückt und saugte jede Freundlichkeit auf wie ein Schwamm. »Was kann ich tun, um dem Sender aus der Krise zu helfen?« Und meine Anstellung zu behalten, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Ein Interview in die Wege leiten.« Ihr Vorgesetzter klatschte in dieHände, was wohl motivierend wirken sollte.

Anne legte die Stirn in Falten. Wo lag das Problem? »Nur das?«

»Nur?«, empörte sich Scherf. »Wenn Sie das schaffen, werden wir ein neues Format entwickeln, für das Sie das Gesicht wären. Tele Nord wäre plötzlich in aller Munde. Wir würden mit einem Fingerschnippen neue Sponsoren gewinnen und Werbespots verkaufen. Dann wären wir aus dem Schneider.«

»Wer soll der Interviewpartner sein?«, fragte Anne. Die Königin von England, fügte sie in Gedanken ironisch hinzu. Seine Worte hallten in ihr nach. Ein eigenes Format, dachte sie euphorisch.

»Jemand, der nicht mit Journalisten spricht, das ist die Krux«, sagte Scherf mit einem bitteren Zug um den Mund. »Der Kameras hasst, der Reporter nicht mag und den Medien skeptisch gegenübersteht.«

Anne konnte sich immer noch keinen Reim darauf machen. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. »Um wen geht es?«

»Ich weiß nicht, ob man ihn in Bayern kennt. Hier oben im Norden ist er jedenfalls eine Berühmtheit. Alle Frauen schwärmen für ihn und seine beiden Brüder Finn und Thies.« Nervös trommelte Scherf auf die Schreibtischunterlage. »Joos Lorentz. Haben Sie den Namen schon mal gehört?«

»Von der Schokoladeninsel?« Anne staunte nicht schlecht. Ihr Herz pochte. Das erste Mal an diesem Morgen lächelte sie.

Scherf packte ein Bonbon aus, steckte es sich in den Mund und warf das orangene Papier in den Abfalleimer. Eine Weile durchsuchte er die Dokumentenstapel vor sich, warf eine Brötchentüte weg und entdeckte darunter, was er gesucht hatte. Er reichte Anne ein großes Foto.

Es stellte sich als Schnappschuss von Joos Lorentz heraus. Man hatte ihn am Fenster seines Büros stehend fotografiert. Teile des Schriftzugs Gebrüder Lorentz an dem Gebäude der Schokoladenfabrik waren zu lesen. Joos hatte offenbar nicht gemerkt, dass man ihn ablichtete. Gedankenversunken blickte er auf Flensburg. So wirkte er düster und verschlossen.

»Selbstverständlich habe ich schon von ihm gehört.« Anne lief das Wasser im Mund zusammen, trotz seiner finsteren Ausstrahlung sah Joos Lorentz appetitlich aus, außerdem waren Süßigkeiten ihre größte Schwäche. Sie fand es unhöflich, dass ihr Vorgesetzter ihr keinen Drops angeboten hatte, zumal sie angeblich zurzeit seine wichtigste Mitarbeiterin war. »Viele Klatschzeitungen haben im Februar über die Hochzeit von Thies Lorentz berichtet. Joos und Finn sind auch im Süden Deutschlands zwei der begehrtesten Junggesellen.«

Scherf schob das Bonbon in seine Wangentasche und sagte mit feuchter Aussprache: »Stellen Sie sich das nicht leicht vor. Er ist eine harte Nuss. Ich kenne keinen, der sich mehr vor der Presse abschottet als er. Sein jüngerer Bruder Thies ist dagegen viel zugänglicher.«

»Und warum machen wir dann keine Sendung über ihn?« Anne stellte ihre Tasche, die sie auf ihrem Schoß festgehalten hatte, auf den Boden. Unauffällig strich sie mit dem Daumen über die Fotografie von Joos.

»Thies ist der Kontakt der Gebrüder Lorentz zur Presse. Über ihngibt es Reportagen wie Sand am Meer. Jolanta hat ihn auch schon zu diesem und jenem befragt. Darum ist er für uns uninteressant. Aber Joos«, der Programmdirektor rieb sich die Hände, »ja, der ist ein dicker Fisch.«

»Weil er kamerascheu ist?« Zurzeit sah Anne sich zwar lieber Nachrichtensendungen und Dokus im Fernsehen und Internet an, um sie zu analysieren und von ihnen zu lernen. Aber als sie noch in München wohnte, hatte sie Magazine verschlungen. Natürlich war sie in der einen oder anderen Illustrierten auch auf Artikel über die drei attraktiven Brüder Lorentz gestoßen. Doch sie musste sich eingestehen, dass sie den Bildern mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte als den Texten.

»Genau.« Scherf schob sein Bonbon von einer Seite auf die andere. »Das wäre eine echt heiße Story, wenn wir ihn vor die Kamera kriegen würden. Das hat bisher noch kein Sender geschafft. Joos Lorentz hat schon kurze Statements gegeben, aber noch keinlängeres Interview.«

Anne legte das Foto vor sich auf den Schreibtisch, sie konnte ihren Blick kaum von Joos abwenden. Er war wirklich eine Augenweide. »Aber wie soll ich ihn dazu kriegen?«

»Denken Sie sich etwas aus. Werden Sie kreativ.« Er beugte sich vor und zwinkerte. »Flirten Sie mit ihm.«

Anne bekam Bauchschmerzen. »Geht das nicht zu weit?«

»Herrgott, Sie sollen ja nicht mit ihm in die Kiste steigen«, blaffte Max Scherf. Er verschluckte sein Bonbon, musste husten und wurde rot im Gesicht. »Es reicht, wenn Sie ihm Hoffnungen machen.«

Anne konnte kaum glauben, was sie da hörte. Das war unmoralisch. Ihr Vorgesetzter war anscheinend mit allen Wassern gewaschen. Und Jolanta bestimmt auch.

Sollte ich ablehnen, wird sie bestimmt den Auftrag bekommen, dachte Anne beunruhigt. Endlich wurde sie auf Reisen geschickt. Diese Chance wollte sie sich unter keinen Umständen nehmen lassen.

Zögerlich sagte sie: »Ich werde besser professionelle Distanz wahren. Damit kommt man bei einem Geschäftsmann wie ihm bestimmt weiter.«

»Papperlapapp.« Energisch tippte ihr Chef auf den Schnappschuss. »Er muss einsam sein, es wurde schon lange keine Frau mehr an seiner Seite gesehen. Nutzen Sie all Ihre Fähigkeiten, um Joos Lorentz vor unsere Kamera zu bekommen.«

Anne hatte ein schlechtes Gefühl, Scherf drängte sie, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollte. Aber er würde nicht mir ihr auf die Insel kommen. Er würde nicht dabei sein, wenn sie versuchte, Joos Lorentz davon zu überzeugen, sich ihr in einem Interview zu öffnen. Also konnte sie so vorgehen, wie sie es für richtig hielt. Mit Fingerspitzengefühl. Das machte ihr Mut. »Welches Team wird denn mitkommen?«

»Sie fahren vor und machen das Exklusivinterview klar. Dann schicke ich Jolanta, einen Kameramann und einen Tontechniker hinterher.« Er öffnete eine Schublade und entnahm ihr einen Zettel. Grinsend klatschte er ihn vor Anne auf den Schreibtisch.

»Jolanta?« Sie krallte die Hände so fest um die Armlehnen, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Dann neigte sie sich vor und las, was darauf stand. Es handelte sich um ein Fährticket für die Schokoladeninsel, datiert auf den nächsten Tag.

Scherf gestikulierte so heftig herum, als würde er eine Fliege verscheuchen, die ständig um seinen Kopf herumschwirrte und ihn verrückt machte. Dadurch wippte das Pflaster auf seiner Wange auf und ab. »Selbstverständlich Jolanta. Wer sollte sonst Joos Lorentz in die Mangel nehmen?«

»Ich«, sagte Anne und straffte ihre Schultern. Sie war empört und konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Glaubte er im Ernst, sie würde die Drecksarbeit machen und dann ihrer Reporterkollegin das Scheinwerferlicht überlassen?

»Ihnen fehlt die Erfahrung, mit einem so toughen Kerl wie Joos Lorentz fertigzuwerden.« Ihr Vorgesetzter riss sich das Pflaster ab und warf es in den Mülleimer. »Das müssen Sie doch einsehen, Frau Huber?«

»Wenn Sie glauben, dass ich Joos Lorentz nicht gewachsen bin«, sagte Anna und schob demonstrativ das Ticket auf Scherf zu, »warum fährt Jolanta dann nicht zu ihm und überredet ihn dazu, uns Frage und Antwort zu stehen?«

»Weil sie nicht den Hauch einer Chance hat. Genauso wenig wie die anderen Kollegen. Es ist so …« Der Programmdirektor seufzte schwer, nahm seine Brille ab und massierte seine Nasenwurzel. »Ich habe im vergangenen Jahr schon jeden auf Joos Lorentz angesetzt, aber er hat alle schriftlichen Anfragen abgelehnt und alle Reporter, die ihn direkt angesprochen haben, weggeschickt. Er ist eine harte Nuss.«

»Dann brauchen Sie mich«, stellte Anne freudig fest.

»Sie sind die Einzige von Tele Nord, die er noch nicht kennt. Darum kann ich nur Sie nach Möwesand schicken. Sie müssen ihn vor vollendete Tatsachen stellen. Machen Sie ihm klar, dass Sie die Schokoladeninsel nicht verlassen werden, bevor er nicht sein Okay für dieses verdammte Interview gegeben hat. Treten Sie selbstsicher auf. Akzeptieren Sie kein Nein. Denn wenn Sie das tun«, fügte Scherf hinzu, während er seine Brille wieder aufsetzte und sie eindringlich ansah, »wird es den Sender in Kürze nicht mehr geben. Denken Sie an all Ihre Kollegen, die ihren Job verlieren werden. Manja aus der Personalabteilung und Ute aus der Buchhaltung sind alleinerziehende Mütter. Wie sollen sie sich und ihre Kinder durchbringen, ohne Job? Es liegt in Ihrer Verantwortung, was aus ihnen wird.«

»Ich werde mein Bestes geben.« Anne spürte eine unglaubliche Last auf ihren Schultern. Es lag allein in ihren Händen, Tele Nord und seine Mitarbeiter zu retten. Außerdem wollte sie doch so gerne weiterhin als Fernsehjournalistin arbeiten.

Insgeheim nahm sie sich vor, Jolanta zuvorzukommen. Wenn Anne erst auf der Schokoladeninsel war, würde sie Max Scherf mitteilen, dass Joos Lorentz ausschließlich von ihr interviewt werden wollte. Dann blieb ihrem Boss keine andere Wahl, als ihr den großen Auftritt zu überlassen.

Dieser Auftrag war ihre große Chance, endlich an Ansehen bei ihren Arbeitskollegen zu gewinnen und in ihrem Traumberuf durchzustarten. Dies war der Moment, auf den sie so lange hingearbeitet hatte und an den sie schon fast nicht mehr geglaubt hatte. Plötzlich war er da.

Ich werde allen Zweiflern beweisen, dass ich es draufhabe, dachte Anne kämpferisch. Dann wäre sie nicht länger die Neue, sondern die, die unsere Arbeitsplätze gerettet hat.

»Es gibt eine weitere Herausforderung.« Scherf zog eine kleine, runde Dose unter seiner Schreibmappe hervor. Er nahm einen roten Drops heraus und steckte ihn sich in den Mund. Diesmal bot er Anne ein Bonbon an.

Strahlend nahm sie einen grünen Drops. Anscheinend hatte sich während des Gesprächs ihr Ansehen bei ihrem Vorgesetzten gebessert. Seine Enttäuschung darüber, dass sie in den letzten sechs Monaten nicht den Wandel bei Tele Nord eingeläutet hatte, war der Hoffnung, sie könnte das Ruder doch noch herumreißen, gewichen.

Kaum lag das Bonbon jedoch auf ihrer Zunge, bereute sie es bereits, zugegriffen zu haben. Es war so sauer, dass sich ihr Mund zusammenzog. Am liebsten hätte sie es ausgespuckt, aber das wagte sie nicht. »Noch eine Hürde, die ich nehmen muss?«

»Sie müssen Joos Lorentz dazu bringen, dass er darüber spricht, wie er als Kind entführt wurde und wie das furchtbare Erlebnis sein Leben bis heute beeinflusst hat. Er soll haargenau erzählen, wie es damals war. Wie die Kidnapper aussahen. Wie sie rochen. Ob sie ihn geschlagen haben. Ob er Todesangst hatte.« Jedes Mal, wenn Scherf den Mund öffnete, war das Bonbon zu sehen. »Jedes schreckliche Detail ist für den Fortbestand von Tele Nord wichtig.«

Anne schnappte nach Luft. »Warum um alles in der Welt? Reicht es nicht, ihn überhaupt vor die Kamera zu bekommen?«

»Wen interessiert schon, welche Feste die Gebrüder Lorentz auf der Schokoladeninsel feiern und welche neuen Produkte in der Fabrik hergestellt werden?« Scherf wischte durch die Luft. »Die Zuschauer wollen Dramen. Wenn jemand sich an einem Thema reibt, sich quält und heult, ja, dann sitzen sie wie gebannt vor den Fernsehern.«

»Das erwartet man aber doch nicht von einem Lokalsender«, wandte Anne zögerlich ein.

»Sie müssen noch viel lernen, Frau Huber«, tadelte ihr Chef sie. »Alle Menschen sind Voyeure. Sie schauen hin und horchen auf, wenn es um Schicksalsschläge geht. Sie wollen mitleiden. Geheimnisse fesseln sie, und je schrecklicher, desto faszinierender. So ist das nun mal, ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht.

»Und die Entführung des kleinen Joos ist ein solches Geheimnis.« Bedrückt neigte sich Anne vor und betrachtete das Foto. War das wirklich ihre große Chance, nach der sie sich so gesehnt hatte? Ihr erstes wichtiges Fernsehprojekt hatte sie sich jedenfalls anders vorgestellt.

Als Max Scherf nickte, rutschte seine Brille auf der Nase runter. Beiläufig schob er sie wieder hoch. »Niemand in der Familie Lorentz hat je darüber geredet. Wenn Joos nun sein Schweigen ausgerechnet auf unserem Sender brechen würde, wäre das eine Sensation. Der Coup würde uns wieder schwarze Zahlen bescheren.«

»Ist das Publikum von Katastrophen-TV wirklich unsere Zielgruppe?«, fragte Anne. Bisher hatte sie gedacht, dass Tele Nord über die Schönheit ebenso wie die Sorgen und Nöte Norddeutschlands, insbesondere Bremens berichtete.

Selbstverständlich war ihr klar, dass Journalismus auch wehtat. Man bohrte in Wunden, um auf Missstände aufmerksam zu machen und so die Verhältnisse, in denen ja auch die Zuschauer lebten, zu verbessern. Man wollte etwas Gutes bewirken. Aber von diesem Interview würde einzig und allein der Fernsehsender selbst profitieren. Rechtfertigte die mögliche Rettung von Tele Nord, dass man einen verschlossenen Menschen wie Joos dazu brachte, vor der Kamera über einen der schlimmsten Momente seines Lebens zu erzählen?

Schweißperlen traten auf Annes Stirn. Sie war hin- und hergerissen.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Nachbarn ihrer Eltern in München abschätzig lächeln, wenn Anne wieder dort einziehen würde. »Hat wohl nicht geklappt, das mit dem Fernsehen. Waren wohl zu große Schuhe. Früher sagte man, Schuster bleib bei deinen Leisten. Aber heute denken die jungen Leute ja alle, sie wären schlauer.«

Anne rang sich dazu durch, wenigstens mit Joos Lorentz über das Projekt zu sprechen. Wenn sie erst einmal auf der Insel war, würde sie das Ganze so angehen, wie sie es für richtig hielt. Sie würde sich nicht aus dem fernen Bremen von Max Scherf lenken lassen wie eine Marionette.

Womöglich würde der Ausgang dieser Geschichte maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie sich ihre Zukunft in ihrem Lieblingsmedium gestaltete. Sollte sie versagen, wäre sie wahrscheinlich nicht bloß bei Tele Nord raus, sondern ausder gesamten Fernsehbranche. Es würde schwer werden, einen anderen Sender davon zu überzeugen, ihr eine zweite Chance zu geben. Positiv betrachtet, hatte Scherf ihr ein eigenes Format versprochen. Das motivierte sie ungemein.

Zärtlich strich sie über das Foto. Nicht nur aus professionellen Gründenfühlte sie sich zur Schokoladeninsel hingezogen, es war auch Joos Lorentz selbst. Sie wollte ihn kennenlernen. Bei der Vorstellung, ihm bald persönlich gegenüberzustehen, wurde ihr heiß, ihr ganzer Körper kribbelte vor Aufregung. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

Sie glaubte nicht, dass er so verschlossen war, wie er auf Bildern wirkte. Sie wollte herausfinden, wie er privat war. Was für eine Person steckte hinter der Fassade des harten Geschäftsmannes, der die Medien nicht an sich heranließ? Scherf hatte ihren journalistischen Spürsinn geweckt.

»Wenn Sie es sich nicht zutrauen, den Stier bei den Hörnern zu packen, sagen Sie es mir gleich«, sagte ihr Chef plötzlich laut. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Enttäuschung ab.

»Doch«, beeilte sie sich klarzustellen.

»Ich höre ein Aber heraus. Was ist los? Raus damit!« Eine Zornesfalte zeigte sich auf seiner Stirn. Mürrisch starrte er sie an.

Ihr Vorgesetzter wirkte angefressen. Sie ahnte es, sie würde ihn nicht davon überzeugenkönnen, dass ein normales Interview für die Rettung des Senders reichte. Möglicherweise lag sie mit dieser Vermutung auch falsch. Er musste das besser wissen. Oder? Ihre Zweifel blieben hartnäckig. Anne rutschte im Stuhl tiefer.

»Nichts weiter.«

»Jetzt machen Sie sich schon wieder klein.« Abschätzig musterte er sie. »Sie sind zu zartbesaitet.«

»Das stimmt nicht. Ich kann auch anders …, wenn ich muss«, fügte sie leiser hinzu.

»Sie haben diese Chance, und trotzdem zögern Sie.« Anklagend zog er eine Augenbraue hoch.

»Es tut mir leid«, sagte Anne.

»Also, was nun?«, fragte Max Scherf ungehalten. Er sah auf seine Armbanduhr. »Werden Sie zur Schokoladeninsel fahren oder Ihre Sachen packen und zurück nach München ziehen?«

Anne nahm das Ticket und steckte es in ihre Tasche. Mit jeder Minute ertrug sie es weniger, in einem Raum mit ihrem Chef zu sein. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie wollte nur noch raus aus diesem Büro, um wieder normal atmen zu können. »Ich werde morgen früh die erste Fähre nehmen.«

»Prima.« Er klatschte in die Hände und lächelte. »Warum nicht gleich so? Wer zögert, verliert, merken Sie sich das. Sie werden mir noch dankbar für meine Geduld sein.«

Sollte er nicht vielmehr mir dankbar sein, dachte Anne angesäuert. Mühsam schluckte sie ihren Ärger herunter und schwieg. Sie sagte sich, dass er und der Fernsehender bloß ein Sprungbrett für sie waren. Joos Lorentz konnte ihr helfen weiterzukommen und Tele Nord hinter sich zu lassen.

»Ich erwarte Berichterstattung von Ihnen. Rufen Sie mich an, sobald Sie mit ihm gesprochen haben.« Er nahm einen raschen Schluck aus seinem Wasserglas, sprang auf und ballte eine Siegerfaust. »Schnappen Sie sich Joos Lorentz!«

Anne hielt sich gerade noch davon ab, die Augen zu verdrehen. Sie hatte den Eindruck, Scherf jetzt erst kennengelernt zu haben. Vermutlich würde er über Leichen gehen, um den Sender zu retten. Sie bekam eine Gänsehaut. »Ich versuche es.«

»Das ist die falsche Herangehensweise. Sie sollen es nicht versuchen, sondern tun.« Während er ein Papiertaschentuch aus seiner Hosentasche holte und sich damit über die Stirn wischte, führte er Anne zur Tür. »Ganz einfach.«

Es bereitete ihr Unbehagen, dass er sie am Rücken berührte. »Okay.«

»Denken Sie immer daran.« Er legte seine Hand auf ihre Schulter und übte leichten Druck aus. »Sie haben das Schicksal von Tele Nord in Ihrer Hand.«

Die Vorstellung war furchtbar. Alle Mitarbeiter würden auf der Straße stehen, ihre Mieten nicht zahlen können und verzweifeln. Und das alles nur, weil sie, Anne, sich nicht genug ins Zeug gelegt hatte. Die Verantwortung lastete schwer auf ihr.

»Also setzen Sie alle Waffen ein, die Sie haben. Ich zähle auf Sie. Enttäuschen Sie mich nicht.« Mit diesen Worten schob er sie aus seinem Büro und schloss die Tür hinter ihr.

Die unterschiedlichsten Empfindungen tobten so heftig in Anne, dass sie einen Moment lang wie erstarrt war. Sie stand auf dem Korridor, rang nach Luft und versuchte sich zu sammeln. In der vergangenen halben Stunde war sie durch ein Wechselbad der Gefühle gegangen, und noch immer wusste sie nicht, was sie von ihrem Sonderauftrag halten sollte.

Freute sie sich auf ihren ersten großen Einsatz?

Ja, denn sie war so aufgeregt, Joos Lorentz zu treffen, wie vor ihrer ersten romantischen Verabredung. Und nein, denn am Ende sollte Jolanta das Interview führen, das ärgerte sie sehr. Außerdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie Joos Lorentz dazu bringen sollte, etwas zu tun, das ihm widerstrebte.

Endlich gehorchte ihr Körper Anne wieder. Auf wackeligen Beinen ging sie zum Besprechungsraum, setzte sich in eine Ecke weit weg von der Tür und klappte ihren Firmenlaptop auf. Als sie im Internet nach Fotos von Joos Lorentz suchte, verspürte sie ein wohliges Prickeln.

Auf Anhieb fand sie eine Menge professioneller Hochglanzbilder, perfekt, gestellt. Die Gebrüder Lorentz hatten sie entweder selbst in Auftrag gegeben, oder sie waren extra für einen Zeitungsartikel gemacht worden.

Immer stand Joos in der Mitte und ein Stück hinter Thies und Finn. Oft hatte er seine Hände auf die Schultern der beiden gelegt, wodurch die drei wie eine Einheit wirkten. Er trug einen goldenen Siegelring der Gebrüder Lorentz mit einem Logo, das aus einer mit Schokoladenbonbons gefüllten Kakaoschote und den kunstvoll geschwungenen Buchstaben G und L bestand. Während Thies und Finn stets locker in die Kamera lachten, wich Joos ihr mit seinem Blick aus. Er war ernst und wirkte angespannt.

Meistens trug er dunkle Kleidung, anders als seine Brüder, die ihre offenbar sonnige Art durch farbenfrohe Oberteile unterstrichen. Joos kam keineswegs unfreundlich rüber, aber wer genauer hinsah, bemerkte, dass er sich bei den Shootings unwohl fühlte.

Anne musste sich eingestehen, dass sie seine verschlossene Art anziehend fand. Er war rätselhaft. Wie konnte er bloß so anders sein als seine Brüder? Sie liebte es, Rätsel zu lösen.

Ihrer Meinung nach sah er männlicher aus als seine Brüder, was vielleicht auch daran lag, dass er drei Jahre älter als Thies und sieben Jahre älter als Finn war. Aber er hatte auch eine kräftigere Statur, ein charaktervolles Gesicht und geheimnisvolle dunkle Augen.

In ihrem Bekanntenkreis standen die meisten Frauen auf die beiden blonden Sonnenscheine, doch Anne fühlte sich zum dunkelhaarigen und geheimnisvollen Joos hingezogen.

Es reizte sie, hinter seine Fassade zu gucken. Wenn er sich jemandem öffnete, war das gewiss etwas Besonderes. Derjenige konnte sich glücklich schätzen. Anne wünschte sich, diese Person zu sein.

Je länger sie die Fotos von Joos ansah, desto neugieriger wurde sie auf ihn. Sie wollte so sehr, dass er endlich seinen Blick hob und sie ansah.

»Warum guckst du den Betrachter nie an?«, sagte Anne laut zu sich. »Weil Augen die Fenster zur Seele eines Menschen sind und du niemanden in den Abgrund in dir blicken lassen willst?«

Kapitel 3

Als Joos vor den Spiegel im Foyer seines Hauses trat, fragte er sich scherzhaft, wer der Mann war, der ihm entgegenblickte.

»Warum siehst du so verkniffen aus?«, wollte er vorwurfsvoll von seinem Spiegelbild wissen, immerhin war er auf dem Weg zu einem Fest. Er versuchte sich an einem Lächeln. »Schon besser.«

Anders als seine angespannte Miene hätte vermuten lassen, freute sich Joos auf die Einweihungsfeier von Hannahs Edelkakao-Manufaktur. Hannah war ein Goldstück. Sie hatte ihm seine anfängliche Skepsis, die er allen fremden Menschen gegenüber zeigte, nicht übel genommen. Seit seinem Kidnapping traute er niemandem, den er nicht gut kannte. Und selbst wenn das der Fall war, schaffte er es nicht immer, seinen Schutzwall vollkommen einzureißen.

»Du lässt mich nicht ganz an dich heran, dabei bin ich doch deine Freundin. Damit komme ich einfach nicht klar. Ich habe den Eindruck, dich nicht einmal richtig zu kennen«, hatte Tanja, seine letzte Beziehung, ihm vorgeworfen, bevor sie ihn verließ.

Kein Wunder, dass ich Single bin, dachte er zerknirscht. Um sich wieder etwas besser zu fühlen, suchte er den Blick seines Hundes Zorro. Mit großen Augen sah der stattliche Rüde zu ihm auf. Das wärmte sein Herz.

Insgeheim sehnte sich Joos so sehr danach, mit einer Partnerin schöne Dinge zu unternehmen, beispielsweise mit befreundeten Paaren zusammen essen zu gehen oder in Urlaub zu fahren. Er wünschte sich nichts Besonderes, nur das, was andere Paare wie Hannah und Thies für normal hielten. Arm in Arm einzuschlafen und morgens zusammen zu frühstücken zum Beispiel.

Doch keine Frau schien es lange mit ihm auszuhalten. Er hatte die Hoffnung, die Liebe seines Lebens zu finden, noch nicht vollkommen aufgegeben. Allerdings war er befangen geworden, zu oft schon waren seine Beziehungen gescheitert.

Jede Trennung schmerzte mehr. Die Enttäuschung, dass es wieder einmal nicht geklappt hatte, wuchs mit jedem Lebewohl. Seine Verzweiflung, er könnte einsam alt werden, ließ den bitteren Zug um seinen Mund immer tiefer werden.

Mit beiden Händen massierte Joos seine Nackenmuskulatur. In letzter Zeit war er oft verspannt. Er lenkte seine Gedanken von sich weg, weil sie ihm zusetzten.

Längst gehörte Hannah zur Familie. Joos hatte sie ins Herz geschlossen und beneidete seinen Bruder Thies sehr um sein Glück. Warum konnte er seine Freude darüber, dass Hannah die Schokoladeninsel ab heute mit ihrem eigenen Laden bereicherte, so schlecht zeigen? Wieso sah sein Lächeln so bemüht aus?

Er war es einfach so gewohnt, seine Gefühle zu verbergen, dass er selbst dann eine starre Maske trug, wenn er gut drauf war. Das musste sich dringend ändern. Er wollte kein Griesgram sein! Aber so leicht ließen sich in 27 Jahren erlernte Verhaltensmuster nicht ändern.

Seine Anspannung kam auch daher, dass für seinen Geschmack zu viele Menschen auf dem Einweihungsfest sein würden. Die Bewohner Möwesands waren zwar wie seine Familie. Aber wenn er die Tagestouristen dazurechnete, würde es in Hannahs Laden voll werden.

Bestimmt würden sich Neugierige auf der Straße in Nordwinden versammeln, dem einzigen Dorf auf der Privatinsel seiner Familie. Joos mochte es nicht, von Fremden angestarrt zu werden. Dann fühlte er sich bedrängt, als wäre er ein Esel in einem Streichelzoo. Er wollte keine Selfies mit ihnen machen, schließlich ging es auf der Insel um Naschereien und nicht um ihn und seine beiden Brüder.

Seufzend öffnete Joos die beiden obersten Knöpfe seines Hemdes. Schließlich war er nicht zu einer steifen Gesellschaft eingeladen, sondern zu einer lockeren Zusammenkunft. Warum hatte er sich nur ganz in Schwarz gekleidet? Er sah aus, als würde er zu einer Beerdigung gehen.

Vielleicht hat Finn recht, und die Schokoladeninsel ist zu überlaufen, grübelte Joos, während er seinen Kragen richtete. Sein jüngster Bruder hatte anfangs geholfen, den Ort als Attraktion zu gestalten. Inzwischen aber war sein Bekanntheitsgrad um ein Vielfaches gestiegen, und es kamen für Finns Geschmack zu viele Menschen her.

Der Unfalltod ihrer Mutter vor zweieinhalb Jahren hatte Finn am meisten von allen aus der Familie getroffen, ja, aus der Bahn geworfen. Seitdem hatte er sich aus dem Schokoladengeschäft zurückgezogen. Er wohnte abseits des Trubels hinter einem Kiefernwäldchen im Leuchtturm. Dieser stand auf dem einzigenHügelMöwesands, der sich kaum merklich über die Umgebung erhob und den die Insulaner ironisch als Berg bezeichneten.

Sanft, aber bestimmt schob Joos Zorro von sich weg. Der schwarze Schäferhund ahnte wohl, dass sein Herrchen ihn nicht mitnehmen würde, winselnd rieb er seinenKörper gegen Joos’ Beine.

»Tut mir leid, Kumpel«, sagte Joos und strich dabei beruhigend über Zorros Kopf. »Das wäre nichts für dich. Du magst genauso wenig Menschenaufläufe wie ich. Aber ich habe Verpflichtungen und du nicht. Hannah hat es verdient, dass ich bei ihrer Ladeneröffnung dabei bin. Außerdem würden sich einige Touristen vor dir fürchten.«

Zorro bellte, als wollte er protestieren.