Schokolade am Leuchtturm - Süßes Erbe - Marie Schönbeck - E-Book
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Schokolade am Leuchtturm - Süßes Erbe E-Book

Marie Schönbeck

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Beschreibung

Eine Liebe so stürmisch wie die Nordsee und so süß wie Schokolade

Kaum ist Marleen auf Möwesand angekommen, zieht ein Sturm auf. Beinahe ertrinkt sie in der aufgepeitschten See, wird aber in letzter Sekunde von Finn Lorentz gerettet. In dem Leuchtturm, in dem Finn wohnt, kommen sie sich näher und verbringen romantische Stunden. Aber Marleen ist nicht ohne Grund auf Möwesand. Ihr Vater will in die Schokoladeninsel investieren, doch die Lorentz-Brüder stellen sich trotz ihrer finanziellen Schwierigkeiten quer. Marleen soll ihren Charme nutzen, um Finn um den Finger zu wickeln. Als Finn davon erfährt, ist er wütend und enttäuscht. Doch Marleen gibt ihn nicht auf, denn längst ahnt sie, dass er nicht nur mit der Gegenwart, sondern auch mit der geheimnisvollen Vergangenheit seiner Eltern zu kämpfen hat. Kann sie Finns Herz zurückgewinnen und das Erbe der Schokoladeninsel retten?

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Seitenzahl: 605

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Das Buch:

Marleen macht mit ihren Eltern Urlaub auf Sylt. Da findet sie eine Flaschenpost mit einem Hilferuf am Strand: Offenbar wird ­jemand auf der Schokoladen­insel gefangen gehalten. Die Flaschenpost bringt Marleens Vater, ein reicher Investor, auf eine Idee. Er will den Lo­rentz-Brüdern ein lukratives Geschäft vorschlagen und in die Insel investieren. Trotz ihrer Geldsorgen lehnen die drei Brüder ab. Nun soll Marleen ihren Charme spielen lassen, damit das Geschäft zustande kommt. Kurz nach ihrer Ankunft rettet Finn Lorentz sie in einem Sturm vor dem Ertrinken. Der jüngste der drei attraktiven Brüder ist der Rebell und das schwarze Schaf der Familie. Ihm missfällt, dass seine Heimatinsel von Touristen überflutet wird. Er hat sich in den Möwesander Leuchtturm zurückgezogen und lebt dort im Einklang mit der Natur. Marleen und Finn sind sofort auf einer Wellenlänge, schnell sprühen die Funken zwischen ihnen und sie verbringen romantische Stunden miteinander. Dabei gehen sie auch dem Ursprung der geheimnisvollen Flaschenpost auf den Grund. Doch als Finn erfährt, welche Pläne Marleens Vater mit der Schokoladeninsel hat, vertraut er ihr nicht mehr und zieht sich komplett zurück. Und Marleen muss herausfinden, was ihr wichtiger ist: die Loyalität zu ihrem Vater oder ihre eigenen Gefühle.

Die Autorin:

Marie Schönbeck hat sich in das Nordfriesische Wattenmeer verliebt. Für sie sind die Küsten und Inseln Sehnsuchtsorte. Oft fährt sie mit ihrem Mann und ihren Hunden an die Nordsee, um lange Spaziergänge am Strand zu machen und die wildromantische ­Natur zu genießen. Während sie eines Tages in einem Strandcafé saß, Tee trank und friesisches Mandelgebäck mit Schokoladenguss aß, kam ihr die Idee zur Romanreihe um die fiktive »Schokoladeninsel« Möwesand.

Marie Schönbeck

Schokolade am Leuchtturm

Süßes Erbe

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 07/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Loel Zwecker

Umschlaggestaltung: zero-media.net unter Verwendung von FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-26694-3V001

www.heyne.de

Kapitel 1

Als sie das Paar am Strand von Hörnum beobachtete, spürte Marleen de Vries ein schmerzhaftes Ziehen im Brustkorb. Vielleicht hätte sich ihr Liebeskummer nicht bemerkbar gemacht, wenn sie sich abgewandt hätte, doch sie schaffte es nicht. Wie gebannt starrte sie die beiden an, die so unglaublich glücklich wirkten. So glücklich, wie Marleen jetzt auch hätte sein können, wenn Edward es ernst mit ihr gemeint hätte. Aber hieß es nicht, besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende? Das tröstete sie nur wenig. Die Trennung vor vier Monaten tat immer noch verdammt weh.

Sie saß mit dem Rücken zum Hörnumer Leuchtturm. Während sie die Hälfte einer Herzmuschel aus dem kühlen Sand ausgrub und mit dem Daumen über die Rillen auf der Oberseite fuhr, fragte sie sich, wie alt die Frau und der Mann sein mochten. Marleen selbst würde im August ihren 25. Geburtstag feiern, also in zwei Monaten. Sie war eine Tochter des Sommers, ein Sonnenkind. Was die beiden Frühaufsteher betraf, schätzte sie, dass sie nur ­wenige Jahre älter waren als sie.

An dem Liebespaar, das in den frühen Morgenstunden am Flutsaum entlangspazierte und dieHörnum-Odde umrundete, war nichts Auffälliges, und dennoch konnte ­Marleen den Blick nicht von ihnen nehmen. Neidisch verfolgte sie, wie sie händchenhaltend an ihr vorbei zur Südspitze der Insel Sylt lustwandelten. Ab und zu blieben sie stehen, scheinbar grundlos, schauten sich tief in die Augen und küssten sich so gefühlvoll, dass Marleen ihre Verliebtheit geradezu spürte und eine angenehme Gänsehaut bekam. Jedes Mal vergaßen sie beim Küssen die heranrollenden Wellen. Das Wasser spritzte an ihren nackten Beinen hoch, und sie lachten. Scheinbar ziellos gingen sie weiter und genossen die Zweisamkeit am fast einsamen Strand.

Wie wunderschön ist es doch, wenn man sich gegenseitig genügt, dachte Marleen und verspürte einen Stich im Herzen.

Ihre Gedanken schweiften wieder zu Edward Cook, dem charmanten Engländer, den sie an einer privaten Business School in Hamburg kennengelernt hatte. Er gab Kurse in Internationaler Betriebswirtschaft, um seine Vita mit einer Anstellung im Ausland zu schmücken, sein Deutsch zu verbessern und Kontakte zu knüpfen, wie er ihr erklärt hatte. Sie beide hatten jedenfalls mehr als bloß Kontakt geknüpft. Unwiderstehlich hatten sie sich zueinander hingezogen gefühlt, körperlich und, wie Marleen gedacht hatte, auch darüber hinaus. Trotzdem hätten sie sich niemals heimlich in ihrer Wohnung treffen dürfen, ein Lehrer und eine Schülerin, aber sie waren schließlich beide erwachsen. Ihre Leidenschaft hatte sich als Fehler erwiesen. Sie hätte sich niemals mit Edward einlassen dürfen. Die Gründe waren offensichtlich, aber sie hatte sie ignoriert, sie war zu verliebt in ihn gewesen. Nachher war man immer schlauer.

»Wir sind alle Narren in der Liebe«, zitierte sie für sich aus Jane Austens Stolz und Vorurteil.

Verärgert über ihre eigene Naivität, kniff sie sich in den Arm, um sich an den Schmerz zu erinnern, den er ihr zugefügt hatte. Sie verbot sich, weiter an ihn zu denken. Schließlich verbrachte sie dieses lange Pfingstwochenende auf der wunderschönen Wattenmeerinsel und wollte den Kurzurlaub genießen. Außerdem sollten ihre Eltern von ihrem Kummer nichts merken, sonst würden sie Fragen stellen, schließlich ging es um das Wohl ihres einzigen Kindes. Ihr Vater durfte auf keinen Fall erfahren, was Edward ihr angetan hatte, weil er sie beschützte wie ein Leitwolf sein Rudel und ihrem Ex-Freund gewiss seine Zähne zeigen würde.

Eine Möwe landete vor Marleen. Vorsichtig näherte sie sich, wohl in der Hoffnung, Essen abzustauben. Doch Marleen hatte bloß einen To-go-Becher mit Kaffee mitgebracht. Außerdem war es auf Sylt verboten, Möwen zu füttern. Man wollte wohl das Betteln der Vögel nicht fördern, weil sie schnell aufdringlich wurden und Fischbrötchen oder Brühwürstchen klauten, wenn die Menschen nicht aufpassten. Das, womit die Urlauber sie fütterten, Brot oder Pommes Frites zum Beispiel, war ohnehin kein geeignetes Futter und konnte sie mitunter sogar krank machen. Marleen trank den letzten Schluck aus ihrem Pappbecher. Der köstliche Geschmack des leicht gesüßten Milchkaffees lag ihr noch auf der Zunge, als sie aufstand und den Sand von ihren Jeansshorts abklopfte. Die Möwe flog davon.

Bestimmt warteten ihre Eltern schon mit dem Frühstück auf sie. Ein langjähriger Geschäftspartner ihres Vaters hatte ihnen über Pfingsten sein Ferienhaus auf Kampen überlassen. Es war noch dunkel gewesen, als Marleen sich auf ein Fahrrad geschwungen hatte und in den Süden der Insel geradelt war, um den Tag erwachen zu sehen. Beim Sonnenuntergang kamen für gewöhnlich viele Urlauber zusammen, aber jetzt, am frühen Morgen, war der Strand noch nahezu leer. Eigentlich ging sie gerne aus, traf ihre Freunde und machte Bekanntschaften, aber an diesem Wochenende suchte sie die Einsamkeit. Sie wollte Abstand zu der Geschichte mit Edward gewinnen und darüber nachdenken, wie sie ihrem Vater beichten sollte, was sie hinter seinem Rücken getan hatte.

Mit pochendem Herzen holte sie einen silbernen Ring aus ihrer Hosentasche. Sie wünschte, sie hätte ihn nie bekommen. Edward hatte ihn ihr nicht etwa zur Verlobung geschenkt, er hatte nicht einmal etwas gravieren lassen. Es war bloß ein einfacher Silberring mit einem kleinen Zirkonia.

Kurz vor Weihnachten streifte Edward ihn ihr über den Finger, nachdem sie sich in ihrem Bett geliebt hatten. ­Marleen war überwältigt, nicht wegen des Schmuckstücks an sich, sondern wegen der Geste und der Bedeutung, die sie hineininterpretierte. In dem Moment dachte sie, dass ­Edward es wirklich ernst mit ihr meinte. Aber sie hatte sich in ihm getäuscht.

Während sie wütend zum Ufer schritt, drückte sie die Hand so fest zusammen, dass sich der Ring in ihren Handteller bohrte. Sie blieb stehen, bevor die Wellen ihre Turnschuhe berührten, und atmete schwer. Ihr wurde heiß, und sie schwitzte, dabei war der Wind kühl. Plötzlich nagten Zweifel an ihr. Innerhalb von Sekunden ging sie durch ein Wechselbad der Gefühle. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, holte sie aus und warf das Schmuckstück in hohem Bogen in die Nordsee. Ein symbolischer Abschied, den Dr. Pfeiffer, der langjährige Psychotherapeut ihrer Familie, vorgeschlagen hatte. Es war der erste Schritt auf dem Weg der Besserung.

In der nächsten Sekunde bereute sie es bereits. Sie musste lernen loszulassen, das wusste sie, darum hatte sie den Ring ja weggeworfen, aber jetzt fühlte es sich schrecklich an. Ihr Magen zog sich zusammen, und sie rang nach Luft. Außerdem war dieser Ring ja bloß ein Gegenstand, nicht ihr Ex-Freund selbst. Sie konnte doch Edward freigeben, aber den Ring behalten, um sich an die schöne Zeit zu erinnern.

Rasch schlüpfte sie aus ihren Schuhen und watete ins Meer. Sie versuchte, ins dunkle Blau hineinzuschauen, doch das Wasser war zu unruhig und dunkel, die Sonne hatte noch lange nicht ihren Zenit erreicht. Ihr Herz wummerte in ihrem Brustkorb. Marleen war genauso aufgewühlt wie der Meeresboden unter ihren Füßen, als sie zurück an Land ging, ohne das Erinnerungsstück an eine Liebe, von der sie bis zum Valentinstag noch geglaubt hatte, sie hätte eine Zukunft. Edward hatte ihr Schicksal sein sollen. Marleen hatte gedacht, sie würden zusammengehören, wie Edwards Ring und ihre Hand. Doch das Schmuckstück war so unwiderruflich fort wie Edward selbst.

Sie spürte eine Leere an ihrer Hand und in ihrem Herzen. Was hast du getan, fragte sie sich vorwurfsvoll. Was hast du dir nur dabei gedacht, das einzige Andenken an Edward der Nordsee zu schenken?

Bedrückt fuhr sie mit ihrem Fahrrad zurück nach Kampen. Der frische Wind wehte ihr die langen welligen Haare aus dem Gesicht und blies ihr den Kopf frei. Plötzlich war sie zuversichtlich, dass sie den Verlust verwinden würde. Edward hatte ihr Haar als flammend rot beschrieben, aber in Wahrheit war es eher orangerot. Das Verlangen nach ihr hatte ihn wohl blind gemacht. Vielleicht hatte er ihr auch bloß schmeicheln wollen. Auf dem Gymnasium hatten die Mitschüler ihr Möhrchen hinterhergerufen, was sie ver­legen machte. In der Pubertät färbte sie sich die Haare dann schwarz, wodurch sie im Gesicht noch blasser wirkte. Aber inzwischen hatte sie mit ihrem Aussehen Frieden geschlossen und mochte ihren Rotschopf, ihre porzellanweiße Haut und ihre Sommersprossen.

Kaum hatte sie das große Reetdachhaus erreicht, sprang sie auch schon vom Rad und stellte es einfach gegen die Hauswand. Am Strand, wo eine starke Brise geweht hatte, war sie froh gewesen, eine Windjacke über ihrem langärmeligen Ringelshirt zu tragen. Auf der Rückfahrt hatte sie sich jedoch warm gestrampelt. Sie zog die Jacke aus und warf sie auf die Couch, während sie das Wohnzimmer durchquerte und auf den Garten zueilte.

Tagsüber würden die Temperaturen auf 25 Grad steigen. Urlauber und Vermieter von Feriendomizilen freuten sich darüber, aber eigentlich war der Wert für Sylt zu hoch. Marleen machte sich Sorgen wegen des Klimawandels. Die Nordsee erwärmte sich beängstigend schnell und trotzte der Insel immer mehr Land ab, weil die Unwetter zunahmen und der Meeresspiegel rasant stieg. Der Küstenschutz kam kaum hinterher, Wellenbrecher zu bauen und Uferschutzmauern zu verstärken. In jedem Winter rissen Stürme Teile des Strandes weg, darum ankerten im Frühjahr Baggerschiffe vor der Insel und bliesen Sand aus der Tiefe durch lange dicke Rohre ans Ufer.

Marleen ging das Thema so nahe, dass sie überlegt hatte, beruflich etwas mit Umweltschutz zu machen, als sie sich für ein Studium hatte entscheiden müssen.

»Damit kann man kein Geld verdienen«, hatte Dyke ihr gesagt. »Vergiss das ganz schnell wieder. Die Familie de Vries ist kein Wohltätigkeitsverein.«

Weil sie ihrem Vater gefallen wollte, hatte sie von diesem Wunsch abgelassen. Da die Auswirkungen des Klimawandels jedoch immer schlimmer wurden, bereute sie es inzwischen. Sie hatte einen anderen Weg eingeschlagen, einen, den ihr Vater guthieß, doch der gefiel ihr nicht. Jetzt musste sie nur noch eine gute Gelegenheit finden, um ihm das zu gestehen.

Ihr Vater saß auf der Terrasse, durch gläserne Scheiben vom Wind geschützt. Er sah von seinem Tablet, auf dem er jeden Morgen die Wirtschaftsnachrichten und Börsenkurse las, auf. »Guten Morgen, Schatz. Deine Wangen sind ja ganz rot. Hast du Fieber?«

»Das kommt nur vom Wind. Ich war mit dem Fahrrad in derHörnum-Odde und habe mir den Sonnenaufgang angeschaut.« Verlegen gab sie ihm einen Wangenkuss. Hoffentlich merkte er ihr nicht an, dass sie ein Geheimnis vor ihm hütete. Sachte tippte sie auf das Bäuchlein unter seinem himmelblauen Pullunder. »Etwas mehr Bewegung täte dir auch gut, Paps.«

»Für den Sport in unserer Ehe ist deine Mutter zuständig.« Lächelnd zeigte er in den Garten. Der gepflegte kurze Rasen war von Büschen mit weißen und pinkfarbenen Sylt­rosen umgeben.

Marleen wünschte sich, sie könnte das Rauschen der Wellen, die vor dem Roten Kliff tosend über den Strand rollten, hören, aber dafür waren sie leider zu weit weg. Sie sah zu ihrer Mutter Viktoria, die in einem weißen Catsuit auf einer Yogamatte Übungen machte. Prompt schämte sie sich mal wieder für ihre Figur. Dabei sah sie sportlich aus, aber im Gegensatz zu ihr war an ihrer 21 Jahre älteren Mutter kein Gramm Fett. Diese schien nur aus Haut, Knochen und Sehnen zu bestehen und so beweglich zu sein wie eine Zwanzigjährige. Marleen gab es nicht gerne zu, aber wenn sie mit ihrer Mutter zusammen war, hatte sie Minderwertigkeitskomplexe. In ihrer Gegenwart fühlte sie sich dick und faul.

»Was macht sie denn da?«, fragte Marleen, weil ihre Mutter sich verbog wie eine Brezel. Sie blieb stehen und stützte sich auf der Rückenlehne eines Gartenstuhls ab.

»Den sterbenden Schwan oder so«, frotzelte ihr Vater. Aber Marleen sah ihm an, dass er in Wahrheit stolz auf die Figur und Beweglichkeit seiner Ehefrau war. »Sie arbeitet an einer Choreografie für ihr zweites Video. Wieder Yoga für die reife Frau.«

Überrascht zog Marleen ihre Augenbrauen hoch. »Ich dachte, sie will nach ihrer Yogaschule in Hamburg eine zweite in Kiel eröffnen.«

»Das wird sie ja auch. Sie hat schon eine Halle gefunden. Hat sie das nicht erwähnt? Vielleicht will sie erst über das zweite Yogazentrum sprechen, wenn sie den Kaufvertrag für die Immobilie unterzeichnet hat. Sie hatte eigentlich vor, das Objekt zu mieten, aber das finde ich zu unsicher. Sie wäre Gefahr gelaufen, viel Geld in den Ausbau zu investieren und dann gekündigt zu werden. Also habe ich dem Eigentümer ein Angebot gemacht, das er nicht ablehnen konnte. Seine mündliche Zusage haben wir.« Grinsend gab er einen guten Schuss Sahne in seinen Kaffee, als müsste er den Erfolg mit einer Extraportion Kalorien feiern. »Aber das Video will sie trotzdem machen, weil das erste eingeschlagen hat wie eine Bombe. Auf das Motto Sexy bis ins hohe Alter mit Yoga soll Bleiben Sie ewig jung mit Yoga folgen.«

»Sie ist erst 45.« Lachend zupfte Marleen an den Rüschen der Stuhlauflage herum. »So alt ist das auch wieder nicht.«

»Das kommt auf die Perspektive an. Wie auch immer«, sagte Dyke und schmierte sein Brötchen dick mit Butter. »Ihre Zielgruppe kann sich mit ihr identifizieren, nur das zählt.«

Während sich Marleen setzte, gab sie zu bedenken: »Ich habe gehört, dass fünfzig das neue vierzig sein soll. Die Menschen fühlen sich heutzutage jünger als früher.«

»Mag schon sein, aber sie haben schon mit zwanzig Jahren Angst davor, alt auszusehen.« Dyke belegte sein Brötchen mit Käse und Wurst und biss beherzt hinein.

»Mama wird noch Karriere machen«, sagte Marleen. Früher hatte sich ihre Mutter damit begnügt, hin und wieder eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu organisieren. Doch seit sie Yoga für sich entdeckt hatte und ständig Komplimente bekam, sprudelte sie über vor beruflichen Ideen und war arbeitsam geworden.

Marleens Vater tätschelte ihre Hand und zwinkerte ihr zu. »Wir de Vries sind alle geschäftstüchtig.«

Manchmal fällt der Apfel doch weit vom Stamm, dachte Marleen und bemerkte drei bunte Punkte, die in weiter Entfernung vom Himmel fielen. Fallschirmspringer über Westerland. Sie wollte ihren Vater, den erfolgreichen Privatinvestor, keinesfalls enttäuschen, aber sie befürchtete, dass sie den Unternehmergeist ihrer Eltern nicht geerbt hatte. »Ist Tee da?«

»Nur Kaffee.« Erst zeigte er auf eine Porzellankanne, die auf einem Stövchen stand, und dann ins Innere des Hauses. »Lass dir von Jette einen Tee bringen. Allerdings ist sie seit einer Ewigkeit in der Küche. Weiß Gott, was sie da tut, anstatt sich um uns zu kümmern.«

»Den hole ich mir schon selbst.« Marleen sprang auf und ging hinein.

Er rief ihr hinterher: »Lass doch! Schließlich wird sie dafür bezahlt.«

Sie fand die junge Frau am Küchentisch sitzend vor. Verträumt lächelnd sah die hübsche, stämmige Blondine auf das Display des Smartphones in ihrer Hand. Immer wieder war ein Schmatzen wie von einem Kuss zu hören, das hatte sie wohl als Signalton für eingehende Nachrichten eingerichtet. Sie musste eine Mitteilung nach der anderen erhalten. Als sie Marleen bemerkte, sprang sie auf und wurde rot. Nervös schob sie den Stuhl an den Tisch. Dabei schabten die Stuhlbeine geräuschvoll über die Bodenfliesen. Verlegen zog sie das Sitzmöbel wieder zurück. Ihr Teint wurde noch eine Nuance dunkler.

»Bleiben Sie ruhig sitzen«, sagte Marleen beruhigend und setzte Wasser auf.

Jette wollte ihr den Keramikbehälter mit dem grünen Tee abnehmen. »Das kann ich doch für Sie tun.«

»Ich mache das selbst«, beharrte Marleen. »Wirklich.«

Von jeher hatte sie ein Problem damit, bedient zu werden. Sie betrachtete das Personal, das sich in der Gründerzeitvilla in Blankenese um ihre Familie kümmerte, als Freunde oder zumindest nette Bekannte, schließlich war sie mit ihnen aufgewachsen. Als Kind waren die Hausangestellten, Gärtner und Fahrer sogar öfter um sie herum gewesen als ihre Eltern.

Als sie mit 21 Jahren ihr Studium anfing, hatte sie unbedingt ausziehen und auf eigenen Beinen stehen wollen. Sie war ganz wild auf das Abenteuer, das sich Leben nennt, gewesen. Doch ihr Vater hatte sie mit einer noblen Eigentumswohnung überrascht, die er ihr in Harvestehude an der Außen­alster gekauft hatte. Selbstverständlich dankte sie ihm und bezog das Apartment, das viel zu groß für sie war, aber sie hätte lieber im Szeneviertel Sternschanze oder in einem Studentenwohnheim gewohnt.

Erneut schallte das Kussschmatzen aus Jettes Smartphone. Marleen lächelte. »Ihr Freund scheint ja große Sehnsucht nach Ihnen zu haben.«

»Holger ist nicht …« Jette schaltete ihr Telefon stumm. Eine krause Haarsträhne löste sich aus ihrem Dutt, der zu altbacken für ihre zwanzig Jahre war. Nervös steckte sie sie wieder fest. »Aber ich mag ihn sehr.«

Marleen verspürte wieder das schmerzhafte Ziehen im Brustkorb, der Liebeskummer gab keine Ruhe. »Er mag sie offenbar auch.«

»Ja.« Jette strahlte. »Das hoffe ich.«

Marleen wünschte den beiden viel Glück, verließ mit einem Keramikkännchen und einer Teetasse die Küche und kehrte in den Garten zurück.

Warum konnte sie Edward nicht vergessen? Er hatte doch gar nicht verdient, dass sie vier Monate nach dem Aus immer noch an ihn dachte. Mit dem Geständnis, dass er nie ernsthafte Absichten mit ihr gehabt hatte, hatte er all das Wundervolle, das sie bis dahin geteilt hatten, beschmutzt. Seine Enthüllung war wie ein Schlag ins Gesicht. Ihr wurde klar, dass sein Liebesgeflüster nichts bedeutet hatte. Alles nur Lüge. Edward hatte sie bloß manipuliert, um sie ins Bett zu bekommen.

Wieso konnte sie ihn dann nicht loslassen? Vielleicht trauerte sie gar nicht ihm persönlich nach, sondern der verpassten Chance auf eine Partnerschaft. Möglicherweise war sie aber auch zu verletzt, um die Sache abzuhaken und hinter sich zu lassen. Marleen verspürte keinen Wunsch, es Edward heimzuzahlen. Sie war kein rachsüchtiger Typ. Dennoch fand sie es unfair, dass er glücklich war, während sie litt.

Auf der einen Seite wollte sie Edward, diesen elenden Schwindler, auf keinen Fall zurück, sondern nach vorne schauen, um eine wahrhaftige Liebe zu finden. Auf der anderen Seite konnte sie nicht aufgeben, was ihr ein halbes Jahr lang lieb und teuer gewesen war. Diese innere Zerrissenheit brachte sie durcheinander und quälte sie.

Aufgewühlt nahm Marleen wieder am Frühstückstisch Platz. Ihre Mutter hatte sich inzwischen auch gesetzt. Sie hielt ihren Oberkörper so gerade wie ein Soldat, drückte ihre Knie aneinander und trank lustlos ihren grünen Smoothie. Feste Nahrung nahm sie morgens nie zu sich. Marleen hatte einmal das Getränk aus Wildkräutern, grünem Blattgemüse und Obst probiert, es schmeckte fürchterlich.

»Du musst lernen zu delegieren«, riet Dyke de Vries seiner Tochter in strengem Ton und dachte dabei wohl an Jette.

»Dafür bin ich nicht der Typ«, murmelte Marleen, während sie ihr Brötchen aufschnitt.

»Unsinn.« Als er durch die Luft wischte, stieß er beinahe an seine Tasse. »Uns de Vries liegt es im Blut zu führen.«

»Bist du sicher, dass du das essen willst?« Ihre Mutter zeigte auf das Glas Kirschmarmelade in Marleens Hand. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Diese gekauften Konfitüren enthalten mehr Zucker als Früchte. Du weißt doch, was man sagt. Eine Sekunde auf der Zunge, ein Leben lang auf den Rippen.«

Innerlich verdrehte Marleen die Augen. Wusste ihre Mutter überhaupt noch, was es hieß, Spaß zu haben und das Leben zu genießen? Am liebsten hätte Marleen sie daran erinnert, dass sie kein Kind mehr war, aber sie sparte sich eine Antwort und goss sich Tee ein.

Aufmunternd tätschelte ihr Vater ihr den Arm und meinte zu seiner Frau: »Lass sie doch essen, was sie will.«

»Dir täte es auch gut, auf Kalorien zu achten. Das hier«, mit dem Zeigefinger stach ihre Mutter mehrmals in sein Bäuchlein, »beweist allen, dass es dir an Disziplin mangelt. Wie wirkt das wohl auf deine Geschäftspartner?«

»Menschlich«, warf Marleen ein, nippte an ihrem Heißgetränk und verbrannte sich die Lippen.

Ihre Mutter schnaubte. »Du warst schon immer ein Papa­kind. Egal, worum es ging, ihr beiden Rotschöpfe habt stets zusammengehalten.«

Damit sich ihre Mutter nicht wie eine Außenseiterin fühlte, ging Marleen auf sie ein. Sie stellte das Marmeladenglas weg und strich Kräuterquark auf ihr Brötchen. Dankbar lächelte ihre Mutter sie an.

Marleen fragte sich wieder einmal, ob sie nicht ein Buch über ihre Familie schreiben sollte. Wenn man kein Mitglied der de Vries war, konnte es bestimmt unterhaltsam sein, ihren Diskussionen zu lauschen. »Sollen wir nach dem Frühstück baden gehen?«

»Gerne.« Ihr Vater tippte auf seinem Tablet herum. »Aber erst muss ich noch ein paar E-Mails beantworten.«

Beim letzten Schluck ihres Getränks verzog ihre Mutter angewidert ihr Gesicht. Als sie sah, dass ihre Tochter das mitbekommen hatte, wurde sie verlegen und rechtfertigte sich: »So ein grüner Smoothie ist gesund. Sehr. Wirklich. Mir kamen eben einige Ideen für mein neues Video. Die will ich unbedingt sofort mit meinem Assistenten besprechen, sonst vergesse ich sie womöglich noch. Aber nach dem Telefonat können wir gerne los.«

»Sind wir nicht hergeflogen, um Urlaub zu machen und endlich mal Zeit füreinander zu haben?«, fragte Marleen vorwurfsvoll und konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.

»Sei nicht eingeschnappt. Das dauert doch nicht lange. Ich muss auch noch duschen, das siehst du doch ein. Spätestens mittags können wir los.« In einer einladenden Geste breitete ihre Mutter die Arme aus. »Lunch in Westerland und danach Shopping, was haltet ihr davon?«

Marleen resignierte. »Dann gehe ich heute Vormittag eben alleine an den Strand. Ich muss ohnehin noch etwas erledigen.«

Denn sie hatte ein Problem, von dem nicht einmal ihre Eltern wussten. Bei ihrer letzten Sitzung mit Dr. Pfeiffer hatte er ihr einen Vorschlag unterbreitet, wie sie ihr zwanghaftes Verhalten für sich analysieren und damit begreif­licher machen konnte. Sie schämte sich so sehr für ihr verbotenes Handeln, dass sie den Therapeuten gebeten hatte, ihr Problem nicht beim Namen zu nennen. Also sprachen sie stets nur von ihrem Dämon. Sie war ein guter Mensch, aber auch sie hatte eine dunkle Seite. Es war, als würde sie einen Zwilling haben, der sich in ihr verbarg, der ab und zu die Kontrolle über sie übernahm und Dinge tat, die falsch waren. In solchen Momenten erkannte sie sich kaum wieder, sie verstand sich selbst nicht. Das machte sie fertig.

»Es ist nicht Ihre Schuld, Frau de Vries«, wiederholte Dr. Pfeiffer unermüdlich bei ihren Sitzungen. »Die Umstände haben dazu geführt, dass Sie so wurden. In Ihrem Fall glaube ich, dass nicht ein einziges Ereignis der Auslöser für Ihr Problem war, sondern die Summe an traumatischen und verletzenden Erlebnissen. Solch ein krankhaftes Verhaltensmuster wie das Ihre entwickelt sich mitunter über einen langen Zeitraum. Was genau dazu geführt hat, finden wir gemeinsam heraus, wenn Sie Ihre Gedanken niederschreiben, falls Sie das denn tun möchten. Selbstverständlich bleibt das Ihnen überlassen, aber ich empfehle es Ihnen. Notieren Sie einfach Ihre Erinnerungen, Gedanken und Gefühle. Lassen Sie alles raus. Niemand wird Sie verurteilen. Sie müssen Ihre Texte nicht einmal jemandem zu lesen geben, auch mir nicht, wenn Sie das nicht wollen. Aber das Aufschreiben an sich wird Ihnen schon helfen.«

Er schenkte ihr ein gebundenes liniertes Notizbuch und riet ihr, ihm einen Namen zu geben. Vielleicht würde es ihr leichter fallen, sich zu öffnen, wenn sie nicht einfach ins Blaue hinein, sondern einem fiktiven Menschen schrieb. Unter Umständen würde sie sich damit wohler fühlen.

Auf dem Weg ans Meer dachte Marleen über einen Namen nach. Als sie über den Riperstieg zum Strand am Roten Kliff ging, entschied sie, ihre Zeilen an Frieda zu richten. So wollte sie später einmal ihre Tochter nennen. Diese sollte aus den Fehlern ihrer Mutter lernen. Natürlich war es bloß ein Gedankenspiel, aber ein reizvolles. Bei der Vorstellung, ein eigenes Kind zu haben, spürte sie eine ganz besondere Wärme und zärtliche Verbundenheit in sich. Ein weiterer Grund für den Entschluss, ihre Texte an ihre Tochter zu adressieren, war, dass sie diese nicht belügen wollte. Also würde jedes Wort, das sie niederschrieb, aufrichtig sein.

Marleen setzte sich abseits der gut besetzten Strandkörbe, der Väter, die mit ihren Töchtern und Söhnen begeistert Sandkuchen buken, und der Mütter, die ihre Kinder besorgt mit Sonnencreme einrieben, in den warmen Sand. Eines Tages wollte Marleen auch eine Familie haben, eine, die anders war als ihre eigene. Sie würde ihren Nachwuchs nicht Fleiß, Disziplin und Zielstrebigkeit lehren, sondern Toleranz, Mitgefühl und Herzlichkeit. Außerdem den Mut zur Selbstverwirklichung, aber dafür musste sie diesen erst einmal selbst aufbringen.

Mit den Fingerspitzen fuhr sie über das Pfirsichköpfchen auf dem himmelblauen Einband, das gerade seinem Käfig entflogen war. Ihre Freundin Wiebke hatte früher zwei der Unzertrennlichen gehalten, daher wusste Marleen, dass man sie im Englischen Lovebirds nannte. Sie waren bekannt für die starke Bindung zu ihrem Partner. Deshalb sollte man sie unter allen Umständen zu zweit halten. Marleen fand allerdings, dass man kein Tier in einem Käfig einsperren sollte. Vögel gehörten in die Freiheit, im Fall der farbenprächtigen Liebesvögel ins tropische Afrika.

Das Pfirsichköpfchen auf dem Buchdeckel jedoch war allein. Vielleicht konnte der kleine Edelpapagei mit dem grünen Körper, dem gelben Hals und dem roten Kopf jetzt, da er frei war, endlich seine große Liebe finden. Dr. Pfeiffer hoffte wohl, dass sie sich nach dem Schreiben ähnlich frei fühlen würde wie der Vogel, befreit von ihrem inneren Dämon.

Einen Moment lang beobachtete sie einen Golden Re­triever und einen Ridgeback, die ausgelassen über den Hundestrand tollten, bis der Helle in die Fluten sprang, in die der Rehbraune ihm nicht folgen wollte. Dann nahm sie den Kugel­schreiber, atmete tief durch und schrieb einfach drauflos.

Liebe Frieda,

es ist merkwürdig, meine Worte an eine Tochter zu richten, die ich nie unterm Herzen getragen habe. Ich fühle mich dir nahe, bin dir aber in Wirklichkeit fern. Eines Tages werden wir zusammen sein, und ich werde dir diese Zeilen zu lesen geben, in der Hoffnung, dass du mich besser verstehst und aus meinen Fehlern lernst.

Diese Offenheit hätte ich mir von meiner Mutter gewünscht. Vielleicht wären wir uns dann nähergekommen, aber sie lässt mich nie in sich hineinblicken. Ich mache ihr keinen Vorwurf, denn ich denke, sie hat bloß Angst, mich könnte erschrecken, was ich sehe, dabei hat doch jeder eine dunkle Seite. Viktoria de Vries ist nicht perfekt, aber sie ist meine Mutter. Ich weiß, dass sie mich liebt, auf ihre eigene Art und Weise.

Deine Oma kann nichts dafür, dass sie so ist. Ihre Eltern gaben sie schon als Kind in ein Internat, in dem neben den normalen Schulfächern Tennisunterricht auf Leistungssportniveau erteilt wurde. Damals spielte sie recht gut. Doch die Förderung machte aus ihr keine zweite Steffi Graf, sondern eine Einzelgängerin, die hart zu sich selbst und zu anderen ist.

Mir macht es nichts aus, dass wir so wenig gemein haben, ich habe ja meinen Vater. Er und ich hatten schon immer eine besondere Bindung, wie meine Mutter sie zu meinem Bruder Arjen hatte. Darum waren wir alle mit der Situation zufrieden, bis eines Tages die Balance in unserer Familie zerstört wurde.

Ich habe Arjen meiner Mutter weggenommen.

Mein Psychotherapeut Dr. Pfeiffer sagt, das stimmtnicht, aber ich empfinde es so. Und meine Mutter auch, zumindest habe ich das Gefühl. Egal, was ich mache, ich kann ihren Ansprüchen einfach nicht genügen. Ich bin eben nicht Arjen mit seinem fröh­lichen, ansteckenden Lachen, seiner Unbekümmertheit und seinem Eifer beim Schwimmen. Er hatte eine Fruktoseintoleranz und mied diszipliniert Süßwaren wie Eiscreme und Marmelade. Außerdem himmelte er unsere Mutter an, was Balsam für ihre Seele war.

Am Tag seines Todes hätte ich auf ihn aufpassen sollen, Frieda. Ich war seine große Schwester und fast doppelt so alt wie er. Die Verantwortung lag bei mir.

Als er sechs und ich elf Jahre alt waren, verbrachten wir mit unseren Eltern die Herbstferien auf Sylt. Der Wind war frisch, aber uns machte das nichts aus. Wir waren trotzdem ständig draußen unterwegs. An dem schicksalhaften Nachmittag im Oktober ließen wir am Strand einen Lenkdrachen steigen, keinen kleinen für Kinder, sondern einen echten, einen für Erwachsene. Unsere Mutter hatte ihn uns geschenkt. Eigentlich hatte sie ihn mehr für Arjen gekauft, denn er hatte sich einen gewünscht.

Unsere Eltern saßen mit Freunden auf der Terrasse des Restaurants Sansibar in Rantum inmitten der Dünen, eingewickelt in Decken, und genossen ­Heißer Hugo und Punsch. Sie hatten es uns verboten, ins Wasser zu gehen, es wäre schon zu kalt. Ab und zu schauten sie nach uns, aber je fröhlicher die Stimmung wurde, desto seltener kamen sie. Sie sagten sich wohl: »Was soll schon passieren? Die beiden sind ja gleich hinter den Dünen.«

Während ich dir diese Zeilen schreibe, sitze ich genau dort, wo es passierte. Ich spüre das Grauen von damals. Die Furcht, die Fassungslosigkeit und den Verlustschmerz. Es gibt Dinge, über die man nicht hinwegkommen kann. Manche Wunden heilen nie, man lernt nur, mit ihnen zu leben.

Auf dem Strand am Roten Kliff ließen Arjen und ich also vor dreizehn Jahren unseren neuen großen Drachen steigen. Erst klappte es nicht, aber dann bekamen wir den Dreh heraus. Was für ein Erfolg! Wir halfen uns gegenseitig, feuerten uns an und lachten ausgelassen vor unbändiger Freude. Im Alltag stritten und ärgerten wir uns oft, wie Geschwister das nun einmal tun, aber in diesem Moment waren wir ein Herz und eine Seele.

Als es dämmerte und wir schon zum Sansibar gehen wollten, passierte es. Eine heftige Böe erinnerte uns daran, dass wir bereits Herbst hatten. Arjen verlor die Kontrolle über den Lenkdrachen, dann riss der Wind ihn ihm sogar aus den Händen. Der Drachen flog aufs Meer hinaus, fiel aber noch in Küstennähe aufs Wasser. Entsetzt schrie Arjen auf.

Einen Moment lang blieb er am Flutsaum stehen und schaute ungläubig auf seinen neuen Schatz, der unterzugehen drohte. Als dieser vom Strand weggetrieben wurde, zog er sich rasch Schuhe, Socken und Hose aus und watete in die Nordsee, um den Drachen noch rechtzeitig zu greifen, bevor es zu spät war. Dann schwamm er los.

Zu dem Zeitpunkt ging ich noch davon aus, dass die Wellen den Drachen an Land spülen würden, doch zu meiner Bestürzung zog die Strömung ihn raus. Ich dachte, Arjen würde das auch auffallen. Jeden Augenblick würde er umkehren und zu mir zurückkehren. Doch er entfernte sich immer weiter von mir, weil er entweder nicht bemerkte, dass sich sein Abstand zum Drachen nicht verkleinerte, oder weil er seinen heißgeliebten Drachen nicht aufgeben wollte. Wahrscheinlich überschätzte er sich auch. Im Hallenbad war er ein sehr guter Schwimmer, aber hier draußen wühlte das windige Herbstwetter das Meer auf, und Arjen war ja erst sechs Jahre alt.

Plötzlich fröstelte ich. Ich machte mir Sorgen um meinen kleinen Bruder. Laut rief ich nach ihm, doch er schaute sich nicht einmal zu mir um. Vermutlich hörte er mich gar nicht. Aufgewühlt schlüpfte ich aus meinen Schuhen und Socken. Ich ging ein paar Schritte ins Wasser und erschrak, weil es wirklich sehr kalt war. Wie musste es da erst Arjen gehen?

Meine Rufe wurden hysterischer. Immer wieder sah ich über meine Schulter hinweg zu dem Weg, der durch die Dünen zum Restaurant führte. Auf der einen Seite wünschte ich mir, dass unsere Eltern zufällig in diesem Moment zum Strand kommen würden, um uns zu holen, weil sie ins Hotel zurückkehren wollten, denn dann hätten sie Arjen helfen können. Auf der anderen Seite hoffte ich, dass Arjen heil wieder an Land zurückschwimmen und unsere Eltern nichts von seinem Versuch, den Drachen aus der Nordsee zu bergen, erfahren würden. Sie hatten uns verboten, ins Wasser zu gehen, das Donnerwetter würde bestimmt groß werden.

Arjen wurde immer kleiner, ich konnte ihn nur noch schlecht erkennen. Inzwischen schwamm er weit draußen, dort, wo die Wellen höher waren. Er kämpfte gegen sie an, doch es drängte ihn weiter, seinem Drachen zu folgen. Als er sich zu mir umsah, winkte ich heftig und sprang auf und ab. Doch anstatt den Rückweg anzutreten, steuerte er weiter aufs offene Meer zu. Glaubte er etwa, ich würde ihn anfeuern? Oder zog die Strömung ihn gegen seinen Willen hinaus? Ich wusste es nicht.

Mir wurde angst und bange, aber ich konnte mich nicht bewegen. Das Grauen lähmte mich. Hilfesuchend sah ich mich um. Es waren nur wenige Leute unterwegs, und die, die an der Wasserkante vorbeispazierten, hatten ihre Mützen und Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Sie bekamen nicht mit, dass sich unweit von ihnen ein Drama abspielte.

Ich zitterte am ganzen Leib. Sollte ich in die Fluten springen? Ich musste das wohl tun. Es würde zu lange dauern, durch die Dünen zurück zum Sansibar zu laufen und unsere Eltern zu holen. Nur ich konnte Arjen retten. Aber damals war ich nicht halb so eine gute Schwimmerin wie mein Bruder und fürchtete mich noch vor dem dunklen Meer. Ich konnte nicht sehen, wer oder was unter mir schwamm. Außerdem gab es Strömungen. Die, die man an der Oberfläche nicht sah, waren am gefährlichsten. Sie hatten die Kraft, eine Elfjährige auf ewig in die Tiefe zu ziehen. Darum traute ich mich erst nicht, ins Wasser zu gehen. Ich war ein Angsthase und fühlte mich darum ganz elend. Mein Zögern wird mich bis ans Ende meiner Tage verfolgen.

Schließlich gab ich mir einen Ruck. Mir blieb nichts anderes übrig, als Arjen ins Meer zu folgen. Ich musste ihm helfen. Inzwischen hatte ich panische Angst um ihn. Die Sorge um sein Leben und die Kälte um mich herum beeinträchtigten meine Bewegungen. Die Nordsee schien mich von Arjen fernhalten zu wollen, sie drückte mich die ersten Meter zurück an den Strand. Irgendwann ging es wieder, und ich kam besser voran.

Plötzlich setzte die Ebbe ein und zog mich hinaus aufs offene Meer. Ich schluckte viel Salzwasser, musste immer wieder husten und würgen und fühlte mich so klein und hilflos. Außerdem konnte ich Arjen nicht mehr sehen. Ich geriet in Panik, schlug wild um mich und ging unter.

Da packten mich starke Arme. Mein Vater und ein Fremder zogen mich an Land. Ich war so erschöpft, dass ich nicht einmal weinen konnte. Die Tränen flossen erst, als die Suche nach meinem Bruder aufgegeben wurde, wollten dann aber gar nicht mehr versiegen.

Arjens kleiner Körper wurde nie gefunden.

Das warf uns alle aus der Bahn. Meine Mutter aß monatelang kaum etwas. Rückblickend machte es den Anschein, als wollte sie ebenfalls sterben, um bei ihrem geliebten Sohn zu sein. Ohne es mir jemals direkt vorzuwerfen, gab sie mir die Schuld an seinem Tod. Ihre Blicke sagten alles. Seither hat sie mich nicht mehr in den Arm genommen, nicht einmal an meinen Geburtstagen. Bis heute mache ich ihr keinen Vorwurf, denn ich selbst gebe mir ebenfalls die Schuld.

Damals sagte mein Vater mir, ich wäre nicht verantwortlich für Arjens Tod. Er und meine Mutter hätten uns niemals unbeaufsichtigt lassen und uns keinen Lenkdrachen für Erwachsene schenken dürfen. Dr. Pfeiffer sieht das ebenso. Mir ist schon klar, dass ich zu dem Zeitpunkt, als mein Bruder ertrank, selbst noch ein Kind war. Außerdem hatte ich ja versucht, ihn zu retten. Doch ich hätte früher reagieren müssen, hätte ihn davon abhalten müssen, dem Drachen hinterherzuschwimmen, und unseren Eltern sofort Bescheid geben sollen. Das ist eine Last, die ich noch immer mit mir herumtrage.

Frieda, wunderst du dich jetzt etwa, warum aus mir eine leidenschaftliche Windsurferin wurde, trotz des traumatischen Erlebnisses? Arjens Tod war im weitesten Sinn der Grund dafür.

Ich brauchte zwei Jahre, bevor ich wieder schwimmen ging, zuerst im Hallenbad und dann in der Nordsee. Aber ich wollte meiner Angst trotzen und etwas daraus lernen. Nachdem ich mich überwunden hatte, ins Wasser zu gehen, besuchte ich zahlreiche Schwimmkurse und wurde immer besser. Es sollte mir nie wieder passieren, dass jemand in meiner Gegenwart ertrank. Mit achtzehn Jahren ließ ich mich sogar zur Rettungsschwimmerin ausbilden und probierte viele Wassersportarten aus.

Als ich das erste Mal auf einem Surfbrett stand und auf den Wellen ritt, spürte ich ein berauschendes Gefühl von Freiheit, das ich noch nie zuvor erlebt hatte. Durch das Adrenalin fühlte ich mich lebendig, und mein Kopf wurde frei. Ich vergaß alle meine Sorgen. Wenn ich heutzutage über die Nordsee surfe, fühle ich mich Arjen wieder nah, weil er vor dreizehn Jahren ein Teil des nordfriesischen Wattenmeeres wurde. Dann sind wir für eine Weile wieder vereint, mein geliebter kleiner Bruder und ich.

Nun kennst du eins meiner dunklen Geheimnisse, Frieda. Was denkst du jetzt von mir? Bist du enttäuscht? Ich könnte es dir nicht verdenken. Dr. Pfeiffer meint, ich muss mir selbst verzeihen. Erst wenn ich diesen Schritt gemacht habe, kann ich meinen ­Dämon bezwingen. Nun, das tue ich hiermit oder versuche es wenigstens. Ich vergebe mir und hoffe, dass es mir helfen wird.

Arjen war nur die erste Person von vielen, die ich geliebt und verloren habe. Aber irgendwann werde ich dieses Schicksal durchbrechen, denn ich bin eine Kämpferin und glaube an die Liebe.

Deine Marleen

Als Marleen das Notizbuch mit dem Pfirsichköpfchen drauf zuklappte, wurde sie verlegen. Nun stand da auf den Seiten schwarz auf weiß, was sie davor tief in ihrem Inneren vergraben hatte. Sie hatte noch nie so offen über diese Tragödie, die für ihre Eltern und sie alles verändert hatte, gesprochen. Ihre Gedanken und Gefühle niederzuschreiben war einfacher, als sie erwartet hatte. Es tat ihr gut. Sie konnte plötzlich freier durchatmen, als wäre ein Stein von ihrem Brustkorb genommen worden. Diese Form der Therapie hatte eine reinigende Wirkung, so ihr erster Eindruck.

»Ich werde dich nie vergessen, Arjen«, sagte sie sanft, als würde er unmittelbar neben ihr sitzen. Das Unglück lag bereits dreizehn Jahre zurück, und sie war inzwischen 24, aber für sie würde ihr Bruder stets ein sechsjähriger Junge bleiben. »Ich werde dich immer im Herzen tragen.«

Marleen hatte die Zeit völlig vergessen. Die Sonne stand längst hoch am Himmel. Dieser Junitag im nordfriesischen Wattenmeer war überwältigend schön. Auf dem Roten Kliff flog ein großer Schwarm Stare auf der Suche nach Nahrung hin und her. Immer mehr Menschen strömten an diesem Pfingstsamstag an den Strand, beladen mit Korbtaschen und Kühlboxen, Picknickdecken, Luftmatratzen, Schwimmflügeln, Schnorcheln und Spielen wie Boccia und Beach Ball.

Der Wind hatte nachgelassen, nur noch sanfte Wellen schwappten an den Strand. Unermüdlich suchten Sanderlinge den Flutsaum nach Würmern und kleinen Krebsen ab. Die Nordsee wirkte harmlos und verlockend. Ihre Oberfläche funkelte, als würde sie aus flüssigem Sonnenschein bestehen. Federnd liefen Möwen zwischen den Strandkörben hin und her und bettelten die Urlauber um Essen an.

Marleen zog ihr Ringelshirt aus. Darunter trug sie bloß ein schwarzes Tank Top. Eine warme Brise streichelte ihre nackten Arme und ihr Dekolleté.

Plötzlich nahm sie eine Reflektion im Wasser wahr. Etwas schwamm in den Wellen am Ufer und blitzte immer wieder kurz auf, wenn die Sonnenstrahlen darauf trafen. Den Badegästen in unmittelbarer Nähe schien das nicht aufzufallen. Vielleicht sah nur Marleen es von ihrem Standpunkt aus. Was mochte das sein? Neugierig reckte sie den Hals und schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne ab. Trotzdem konnte sie nicht erkennen, was es war. Vermutlich handelte es sich bloß um Müll, den ein Seemann von einem Containerschiff oder ein Urlauber von einem Ausflugsboot achtlos ins Meer geworfen hatte. Vielleicht war der Gegenstand auch von einer Fähre geweht worden.

Marleen steckte das Buch in ihre mit Sonnenblumen bestickte Handtasche, hängte sich diese über die Schulter und stand auf. Zügig ging sie zwischen den nummerierten Strandkörben und farbenfrohen Strandmuscheln zum Flutsaum, um den Gegenstand herauszufischen, damit sich kein Badegast daran verletzte.

Daheim in Hamburg fuhr sie regelmäßig mit anderen Umweltschützern mit Kajaks über kleine und große Gewässer, holte mit Handschuhen und Greifzangen Abfall heraus und entsorgte ihn fachgerecht. Sie fand das selbstverständlich, nicht nur weil sie als Surferin eine besondere Beziehung zum Wasser hatte, sondern auch weil ihr die ­Natur leidtat. In ihren Augen war sie ein großes grünes Lebewesen, das langsam austrocknete und immer verzweifelter nach Atem rang. Marleen war es wichtig, ihr bei ihrem Überlebenskampf zu helfen.

Als die Wellen ihre nackten Zehen umspülten, blieb sie stehen und sah, dass das Objekt von der Strömung nicht etwa an den Strand gespült, sondern an der Küste entlanggetrieben wurde. Es handelte sich um eine Glasflasche. Falls sie nicht irgendwo hängen blieb, würde sie wieder hinaus aufs Meer gezogen werden.

Eilig watete Marleen in die Nordsee, die selbst im Sommer kühl war. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich wünschte, dass sie auf Edwards Ring treten würde. Sie hatte ihn zwar am Hörnumer Strand im Süden Sylts ins Meer geschleudert, aber vielleicht war er ja in den Westen gespült worden. Sollte sie ihn tatsächlich finden, würde sie ihn vom Meeresboden aufheben und zurück in ihre Holzkiste zu den anderen Erinnerungsstücken legen. Was für ein törichter Gedanke! Schnell spritzte sie sich frisches Nass ins Gesicht. Der Ring tauchte natürlich nicht auf, und das war auch gut so. Immerhin hatte sie zum ersten Mal eins ihrer Andenken losgelassen. Ein großer Erfolg! Dr. Pfeiffer würde stolz auf sie sein, wenn er das erfuhr.

Als das Wasser schon ihre Oberschenkel umspielte und fast ihre Jeanshorts erreichte, bekam Marleen die Flasche endlich zu fassen. Sie war nicht leer, aber es befand sich auch kein Getränk mehr darin, sondern ein zusammengerolltes Stück Papier.

»Eine Flaschenpost!«, rief Marleen aufgeregt und lächelte.

Der Zettel steckte in einer Köm-Flasche. Das Etikett konnte sie nicht mehr lesen, aber es war noch rudimentär vorhanden, was Marleen vermuten ließ, dass die Flasche noch nicht lange im Wasser schwamm, jedoch auch nicht aus Sylt stammte. War sie von einer der Nachbarinseln ins Meer geworfen worden, von Föhr oder Amrum? Von einer der Halligen oder vom Festland?

Mit heftig pochendem Herzen ging Marleen zurück an Land und ließ sich wieder in der Nähe des Hundestrandes nieder. Sie empfand eine kindliche Vorfreude, als sie den Schraubverschluss abdrehte. Ein Wunder, dass die Flasche dicht geblieben war.

Während sich Marleen damit abmühte, die Papierrolle herauszubekommen, schienen alle Geräusche um sie herum zu verstummen. Sie nahm weder das Kreischen der Möwen noch die fröhlichen Gespräche der Urlauber und das Bellen der Hunde wahr. Alle ihre Sinne konzentrierten sich auf das Geschenk, das die Nordsee ihr gemacht hatte.

Mit spitzen Fingern zog sie den Zettel heraus. Sie entrollte ihn so ergriffen, als würde sie ein Weihnachtsgeschenk auspacken. Doch was sie dann las, ließ sie entsetzt nach Luft schnappen.

Hilf mir! Bin gefangen. Möwesand is nich so nett wie sie tut. Alle stecken mit drin. Trau keinem. Und bring ein großes ­Messer mit sonst lassen sie uns nicht wech.

Marleens Lächeln verschwand. Ihr Puls beschleunigte sich. Ihre gute Laune war verflogen. Aufgewühlt las sie die Zeilen ein zweites und ein drittes Mal. Was hatten sie zu bedeuten? Marleens Alarmglocken schrillten, aber sie ermahnte sich, ruhig zu bleiben und überlegt vorzugehen.

Spielte der Absender dem Finder der Flaschenpost bloß einen üblen Streich? Immerhin hatte er seinen Namen nicht genannt. Wie sollte man ihn dann finden und ihn retten? Und wen meinte er mit »alle«? Dass sich ausnahmslos alle Insulaner gegen ihn verschworen hatten, klang ohnehin abwegig.

Oder versuchte etwa jemand dem Ruf der berühmten Schokoladeninsel zu schaden, weil er den Gebrüdern Lo­rentz den Erfolg nicht gönnte? Marleen kannte Finn, Thies und Joos Lo­rentz nicht und hatte Möwesand noch nie besucht, wusste aber von ihren geschäftstüchtigen Eltern, dass erfolgreiche Menschen stets Neider hatten.

Oder befand sich die Person, die das geschrieben hatte, ernsthaft in Gefahr? In dem Fall musste Marleen ihr unbedingt und sofort helfen.

Aber sie hatte kaum Anhaltspunkte. Aus dem Inhalt der Nachricht konnte Marleen nicht einmal das Geschlecht des Schreibers ableiten. Meistens waren es allerdings eher Frauen, die gegen ihren Willen festgehalten wurden, junge Frauen wie sie selbst. Männer waren kräftiger, konnten sich eher wehren, man konnte sie nicht so leicht überwältigen und einsperren.

Sollte sie die Polizei informieren, oder würden die Beamten sie auslachen? Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, darum beschloss sie, ihre Eltern zu fragen, was sie von der geheimnisvollen Flaschenpost hielten. Eine zweite Meinung würde sie vielleicht klarer sehen lassen. Rasch stand sie auf, eilte durch die Dünen am Roten Kliff und radelte zum Reetdachhaus am Rande Kampens.

Sie fand ihren Vater im Wohnzimmer vor. Er saß auf dem champagnerfarbenen Sofa und hämmerte in die Tasten seines Laptops. Anscheinend arbeitete er immer noch seine E-Mails ab.

»Ich muss dringend mit dir sprechen«, sagte Marleen aufgeregt, setzte sich neben ihn und streifte ihre Hand­tasche von der Schulter. Sie hatte erwartet, dass er sie mit den Worten vertrösten würde: »Einen kleinen Moment bitte, ich muss das erst noch fertigstellen.«

Doch er blickte seine Tochter besorgt an und klappte seinen Computer zu. »Was ist los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

»Ich bin nur so durcheinander.« Sie war aufgekratzt, darum wollte sie ihren Händen etwas zu tun geben, holte ein Haargummi aus ihrer Hosentasche und band ihre Haare im Nacken zusammen.

»Was hast du da?«, fragte er und strich beiläufig den Pullunder über seinem Bäuchlein glatt.

Noch immer ergriffen von der möglichen Tragweite ihrer Entdeckung, zeigte Marleen ihm die leere Aquavit-Flasche und die kleine Papierrolle. »Ich habe eine besorgniserregende Flaschenpost gefunden. Sie trieb vor dem Roten Kliff im Meer. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

»Lass mich mal sehen.« Er stellte seinen Rechner auf den Couchtisch, nahm ihr den Zettel ab und entrollte ihn. »Eine sehr krakelige Schrift, ich kann sie kaum entziffern.«

Wieder einmal fragte sie sich, warum er sich nicht endlich eine Lesebrille besorgte. Wenn sie ihn darauf ansprach, versicherte er ihr jedes Mal, er bräuchte noch keine. Sollte es doch einmal so weit sein, dann wäre er nicht zu eitel, eine aufzusetzen, das müsse Marleen ihm glauben. Sie vermutete, dass er die Lesehilfe verweigerte, weil er sich dann eingestehen musste, älter zu werden. »Soll ich dir die Nachricht vorlesen?«

»Nein, nein, geht schon.« Er kniff die Augen zusammen. »Das muss ein Kind geschrieben haben.«

»Das glaube ich nicht.« Aufgeregt rutschte sie auf der Couch hin und her. »Kann ein Kind sich so einen schauderhaften Hilferuf ausdenken?«

»Die Formulierungen stammen meiner Meinung nach nicht von einem Erwachsenen. Sieh doch …« Energisch tippte er auf eine Textstelle »Möwesand is nich so nett wie sie tut. Als wäre die Insel eine Person. Dann sind da noch diese Schreibfehler wie das fehlende t bei is und nich. Da hat jemand so geschrieben, wie er spricht.«

Vor Aufregung brannten Marleens Wangen, und sie knetete ihre Handtasche. »Vielleicht war der Verfasser dehy­driert oder war unachtsam beim Schreiben, weil er Angst hatte, erwischt zu werden.«

»Die Person behauptet, eingesperrt zu sein, hat es aber geschafft, eine Flaschenpost ins Meer zu werfen. Das passt doch nicht zusammen.« Ihr Vater reichte ihr die Mitteilung zurück. »Da will jemand den Finder der Botschaft, in dem Fall dich, auf den Arm nehmen.«

Er verstärkte ihre Zweifel, aber noch hielt sie dagegen. »Der Absender könnte die Flasche mit seinem Hilferuf aus dem Fenster geschleudert haben. Das wäre doch eine Erklärung.«

»Wer wohnt schon so dicht am Wasser?«, wandte er ein und lächelte mitleidig. »Du willst zu sehr an die Echtheit glauben, Schatz.«

»Schon möglich.« Verlegen spähte sie aus dem Fenster in den Garten. Eine Dohle hüpfte gerade über den Tisch, auf der Suche nach Frühstücksresten. »Aber vielleicht konnte die Person auch kurzzeitig aus ihrem Gefängnis entkommen, um ihre Nachricht auf den Weg zu bringen.«

»Und keiner der Touristen soll mitbekommen haben, wie sie geflüchtet ist und wieder eingefangen wurde? Niemand hat ihr geholfen oder Alarm geschlagen? Denn wenn das der Fall gewesen wäre, hätte der Skandal, dass jemand auf der Schokoladeninsel festgehalten wurde, in allen Zeitungen gestanden und wir wüssten davon. Daher halte ich deine Theorie für eher unwahrscheinlich.« Energisch schüttelte er den Kopf und verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper. »Die Nachricht klingt für mich nicht ganz ­logisch. Als hätten sich Kinder das ausgedacht, ein makabrer Scherz.«

Marleen hatte ja selbst schon an diese Möglichkeit gedacht. Dennoch gab sie zu bedenken: »Würden Kinder ein großes Messer erwähnen? Würden sie ihre erfundene Nachricht in eine Schnapsflasche stecken? In meinen Augen deutet das auf einen erwachsenen Verfasser hin.«

Ihr Vater geriet ins Grübeln. Erneut nahm er das Stück Papier. Mit gerunzelter Stirn drehte und wendete er es. ­Marleen hatte es bereits am Strand untersucht und keine weiteren Hinweise auf den Schreiber oder einen genauen Aufenthaltsort entdeckt.

Sie bezweifelte ja selbst die Echtheit des Hilferufs. Aber selbst wenn die Wahrscheinlichkeit gering war, dass sich tatsächlich jemand in Not befand, fühlte sie sich dazu verpflichtet, dem Verdacht nachzugehen. Ihre Beine kribbelten vor Tatendrang. Am liebsten wäre sie sofort zum Hafen nach List geradelt, um dort ein Schnellboot zu finden, das sie nach Möwesand brachte.

Ihr Vater holte einen Kamm aus der Tasche seines weißen Hemdes, das er unter dem Pullunder trug, und fuhr damit durch seinen Rotschopf. Einmal hatte er zu Marleen gemeint, dass rote Haare besonders akkurat geschnitten und gekämmt sein mussten, weil wegen der Farbe jede Unzulänglichkeit sofort ins Auge fiel. »Diese Sauklaue sieht aus, als hätte der Autor keine Erfahrung mit dem Schreiben.«

»Möglicherweise hat dieser Jemand eine Behinderung oder ist verletzt.« Für jedes Argument kam ihr sofort ein Gegenargument in den Sinn. Bisher war sie weder davon überzeugt, dass ihr Vater recht hatte noch sie selbst, aber diese Sache ließ ihr keine Ruhe.

»Du hattest schon immer eine blühende Fantasie.« Ihre Mutter kam ins Wohnzimmer und sah aus wie aus dem Ei gepellt. Ihre kaviarschwarzen Peeptoes klackten bei jedem Schritt auf den Bodenfliesen. Vor der Abreise hatte sie ihre Zehennägel frisch französisch maniküren lassen. Ihre sehnigen Beine steckten in Wetlook-Leggins.

»Ich nehme die Nachricht lediglich ernst.« Es tat Marleen leid, dass sie schnippisch klang, aber ihre Mutter wusste doch gar nicht genau, worum es ging. »Lies sie doch erst einmal.«

»Ich habe genug gehört.« Ihre Mutter blieb im Erdgeschoss stehen und richtete den breiten Gürtel, den sie über ihrer langen elfenbeinweißen Bluse trug. »Ich bitte dich. Das Leben ist kein Kriminalroman.«

»Und wenn auf Möwesand doch jemand eingesperrt ist? Was ist, wenn wir die Einzigen auf der Welt sind, die ihn befreien könnten? Wenn er auf uns angewiesen ist, weil nur wir von seinem Schicksal wissen? Willst du ihn ernsthaft im Stich lassen? Oder sie?« Aufgeregt erhob sich Marleen und kam um das Sofa herum. »Frauen werden öfter zu Opfern von Verbrechen als Männer. Darum glaube ich, dass die Nachricht von einer Frau geschrieben wurde.«

»Mach dich nicht lächerlich. Da nimmt dich jemand auf den Arm«, sagte ihre Mutter geradeheraus, während sie einen Chanel-Lippenstift aus ihrer Handtasche holte. »Wahrscheinlich saßen ein paar junge Leute am Strand von Büsum oder weiß-ich-wo, tranken reichlich Köm und schrieben die Flaschenpost aus einer Laune heraus. Guck mich doch nicht so böse an, Marleen.« Souverän trug ­Viktoria de Vries korallenroten Lippenstift auf, ohne in einen Spiegel zu schauen. »Ich will doch bloß verhindern, dass alle über dich lachen, weil du ein paar Spinnern auf den Leim gegangen bist.«

Marleen schnaubte und erntete von ihrer Mutter einen rügenden Blick, zweifellos weil sie diese Art der Gefühls­äußerung undamenhaft fand. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand so abgebrüht ist und diese besorgniserregenden Zeilen aus Spaß geschrieben hat.«

»Du bist eben ein guter Mensch.« Ihr Vater stand auf und rieb ihr beruhigend über den Rücken, wie er es schon in ihrer Kindheit getan hatte, wenn es ihr schlechtging. »Und du denkst, alle anderen sind ebenfalls gut.«

»Ich bin nicht naiv.« Vorwurfsvoll sah Marleen von ihrem Vater zu ihrer Mutter. »Und auch kein Kind mehr.«

»So war das doch nicht gemeint.« Ihre Mutter ging zur Wohnzimmertür. »Können wir jetzt endlich los?«

Sachte drückte Marleens Vater ihre Schulter. »Wir akzeptieren deine Meinung.«

»Wenn das so ist«, erwiderte Marleen und nahm demonstrativ ihre Handtasche von der Couch, »dann lasst uns hinfahren und nachsehen.«

»Nach Möwesand?«, fragte ihre Mutter schrill, als würde sie denken, jetzt wäre ihre Tochter von allen guten Geistern verlassen. Anscheinend hatte sie zuvor schon länger in der Tür des Wohnzimmers gestanden und dem Gespräch über die Flaschenpost gelauscht. »Da kann man nicht einfach hin. Man muss sich Monate im Voraus Eintrittskarten ­sichern.«

»Deine Mutter hat recht.« Sanft schob Dyke sie zur Haustür. Er nahm den Schlüssel für den BMW, der genauso zum Haus dazugehörte wie das Fahrrad, aus der Edelstahlschale am Eingang. »Die Schokoladeninsel hat einen Privathafen, nur die Insulaner mit ihren Booten dürfen dort anlegen. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden nach einem Brand, den ein Mann vom Festland letztes Jahr in einem der Reetdachhäuser gelegt hatte, noch einmal erhöht. Habe ich jedenfalls gelesen. Ohne Erlaubnis darf man dort nirgends anlanden.«

»War ja klar, dass ihr Nein sagt.« Marleen ärgerte sich über sich selbst, denn sie hatte eine zweite Meinung zu ihrem schockierenden Fund hören wollen, und nun gefiel ihr diese nicht. Das war nicht fair ihren Eltern gegenüber. Aber die Diskussion hatte ihr eins klargemacht: Sie musste versuchen, mehr über die geheimnisvolle Nachricht herauszufinden. »Angeblich hast du doch überall Kontakte.«

»Nicht auf Möwesand«, gab ihr Vater zerknirscht zu und wurde nachdenklich. »Das muss ich ändern.«

Marleen versuchte nicht, ihre Eltern umzustimmen, denn sie war alt genug, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und ihr Entschluss stand fest. Angestrengt grübelte sie auf der Autofahrt nach Westerland darüber nach, wie sie trotz der zahlreichen Hindernisse auf die Schokoladeninsel gelangen und nach dem Verfasser des Hilferufs suchen konnte. Sie fühlte sich dazu verpflichtet herauszufinden, ob der Hilfeschrei echt war oder nicht. Immerhin hatten die Zeilen sie erreicht, darum fühlte sie sich verantwortlich.

In der Fußgängerzone der Inselhauptstadt steuerte ihre Mutter zielstrebig ihre Lieblingsboutique an. »Komm mit!«, forderte sie Marleen betont fröhlich auf, bevor sie eintrat. »Ich möchte dir gerne ein neues Kleid spendieren.«

»Danke, aber ich brauche keins.« Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Marleen hatte Schickimicki-Modeläden mit ihren überschäumend freundlichen Angestellten noch nie gemocht. Hätte ihre Mutter gewusst, dass sie gerne in ­Läden, die Hippie- und Surferklamotten anboten, einkaufte, wäre sie entsetzt gewesen.

Ihre Mutter musterte sie von den Jeanshorts bis zu dem schlichten Tank Top. »Das sehe ich anders.«

»Ich habe genug von allem, wirklich.« Seit geraumer Zeit versuchte Marleen, nur noch das einzukaufen, was wirklich notwendig war, um ihre CO2-Bilanz zu verbessern. Noch klappte das mal besser und mal schlechter, aber der Anfang war gemacht, und der Wille war da.

Verständnislos schüttelte ihre Mutter den Kopf und verschwand zwischen Ständern, an denen Tunikas mit Blumenmustern und glitzernden Paletten und durchsichtige Strandkleider hingen.

Als man ihr ein Glas Champagner reichte, seufzte Marleens Vater. »Das dauert bestimmt länger. Holen wir uns eine Eiswaffel? Was meinst du? Jetzt kann deine Mutter wenigstens nicht an uns herummäkeln, und wir können in Ruhe schlemmen.«

»Gerne.« Verschwörerisch lächelnd hakte sie sich bei ihrem Vater ein.

Während sie sich auf die Kurpromenade setzten, die Leute beobachteten und fruchtig-sahnige Eiscreme aßen, dachte Marleen wieder darüber nach, wie sie auf die Schoko­ladeninsel gelangen könnte. Aber ihr fiel nichts ein.

Plötzlich bemerkte sie, dass ihr Vater gar nicht auf den Strand sah, sondern über seine Schulter hinweg zum Hotel Miramar. Das prunkvolle Quartier war ganz nach dem Geschmack ihrer Eltern. Gediegen und sehr kundenorientiert. Dort hatten Marleen und ihre Familie einst in Jugendstil-Zimmern mit Meerblick gewohnt. Damals in dem Herbst, in dem das nordfriesische Wattenmeer ihnen Arjen geraubt hatte. Die Nordsee wurde nicht grundlos auch als »Mordsee« bezeichnet. So traumhaft schön, wie sie war, durfte man niemals vergessen, dass sie auch eine gefährliche Seite hatte. Sie gebar Leben und nahm Leben. Dachte ihr Vater gerade an seinen verschollenen Sohn? Sanft berührte Marleen seinen Arm, während die schmerzhafte Erinnerung sich wie ein Stahlring um ihren Brustkorb legte.

»Wusstest du, dass die Schokoladeninsel kein Hotel hat?«, fragte er sie zu ihrer Überraschung.

Anscheinend war er mit seinen Gedanken nicht bei ­Arjen, sondern auf Möwesand. Sie schüttelte den Kopf und leckte an dem geschmolzenen Erdbeereis, das an ihrer ­Waffel hinabrann.

»Es gibt ein Gästehaus auf der Insel, aber das steht ausschließlich Besuchern der Einheimischen und des Personals der Gebrüder Lorentz zur Verfügung. Wenn keine Reservierungen vorliegen, bleiben die Betten einfach leer. Wie unwirtschaftlich!«, erklärte ihr Vater mit missbilligend ­zischender Stimme. »Finn, Thies und Joos sind ganz offensichtlich keine guten Geschäftsmänner.«

»Sie scheinen aber gute Arbeitgeber zu sein.« Marleen zwinkerte. »Außerdem sind sie doch mit ihren Naschwerk-Manufakturen erfolgreich genug. Sie brauchen kein zusätzliches Einkommen durch ein Hotel.«

Empört sagte er: »Gewinnmaximierung ist das Ziel eines jeden Kaufmanns.«

»Du bist der Experte von uns, Herr Investor.« Das Gespräch fing an, sie zu langweilen. Hier saßen sie auf der Promenade von Westerland an einem der schönsten Strände Sylts und redeten über Geschäftliches. Das fühlte sich falsch an. Für Marleen war der Begriff Gewinnmaximierung einer der unromantischsten, die es gab. Ihr Vater dagegen wirkte wie elektrisiert, seit er über die Gebrüder Lorentz sprach. Sie sah ihm an, dass er etwas ausheckte.

Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte er sie. »Du doch auch oder etwa nicht? Ist es nicht das, was du in deinem Studium lernst?«

Sein Blick brannte auf ihrem Gesicht. Sie murmelte verlegen: »Ja, sicher.« Hoch konzentriert leckte sie an ihrem Eis.

»Du bist doch dieses Jahr fertig. Ich dachte, sie bilden an dieser Business School Führungskräfte aus. Wofür zahle ich denn die horrenden Semestergebühren?« Er regte sich so laut auf, dass die Urlauber, die auf der nächsten Bank saßen, zu ihnen herüberschauten, dann aufstanden und weggingen.

Beinahe hätte sich Marleen an einem kleinen Stück ­Waffel verschluckt. Sie konnte gerade noch abwenden, einen Hustenanfall zu bekommen. Aus der Not heraus würgte sie es im Ganzen runter. »Mir fehlt trotzdem deine Erfahrung.«

»Willst du damit andeuten, dass ich alt bin?«, frotzelte Dyke plötzlich und lachte. »Du musst zwar deine eigenen Erfahrungen sammeln, aber ich kann dir dabei helfen. Mir schwebt da ein neues Projekt vor. Du wirst mich begleiten und vom Besten lernen können. Was hältst du davon?«

Sehnsüchtig spähte sie aufs Meer hinaus und wünschte sich, auf einem Surfbrett zu stehen, statt an das Studium, durch das sie Edward kennengelernt hatte, denken zu müssen. Weil ihr Vater es von ihr erwartete und sie ihn nicht enttäuschen wollte, nickte sie.

»Ich möchte den nordfriesischen Bernadottes ein Geschäft vorschlagen. So werden Finn, Thies und Joos Lo­rentz doch von der Klatschpresse genannt, oder?«, fragte er amüsiert. »Ich finde, der Vergleich passt. Die drei sind zwar nicht adelig, aber sie leben auch auf einer Insel, die eine Touristenattraktion ist und mit schöner Natur wirbt, wie die Grafenfamilie auf der Insel Mainau im Bodensee. Die Geschäftskonzepte unterscheiden sich jedoch grundlegend. Die drei Brüder schöpfen das Potenzial ihrer Schokoladen­insel nicht aus. Ich kann ihnen helfen, das zu ändern.« Genüsslich zerbiss er den letzten Rest seiner Waffel.

Marleen staunte nicht schlecht. »Du willst in die Gebrüder Lorentz investieren?«

»Es kostet viel Geld, ein fürstliches Hotel zu bauen. Ich könnte mir vorstellen, dass Finn, Thies und Joos Lorentz zwar in den letzten Jahren viel verdient, aber auch viel ausgegeben haben. Die Naschwerk-Manufakturen auf Möwesand wurden ja erst vor ein paar Jahren eröffnet. Zudem wird getuschelt, dass der Motor der Schokoladenfabrik stottert, seit Finn Lorentz dort nicht mehr mitarbeitet. Vielleicht sind die Lorentz-Brüder gar nicht flüssig genug, um neue Ideen umzusetzen.« Er holte ein Taschentuch aus seiner Hose und wischte sich über die Mundwinkel. »Da komme ich ins Spiel.«