Lüttes Glück - Ein Leuchten am Nordseehimmel - Marie Schönbeck - E-Book

Lüttes Glück - Ein Leuchten am Nordseehimmel E-Book

Marie Schönbeck

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Beschreibung

Leonies Lebenstraum vom Auswandern nach Thailand ist gescheitert. Heimatlos, niedergeschlagen und pleite schlüpft sie bei ihrer Schwester Anja in der Pension Lüttes Glück unter. Sie lernt Arian, den dritten der attraktiven Graf-Brüder kennen, der die Galerie Strandmohn führt. Dank Arian kann sie endlich wieder töpfern und die beiden verlieben sich. Obwohl sie so unterschiedlich ticken und Leonie trotz allem wieder zurück nach Thailand möchte. Er liebt die stürmische Seite des Wattenmeers, ihr ist es in Nordfriesland zu kalt. Doch dann wird Arians Familie von einem mysteriösen Fremden bedroht, der ein lang gehütetes Geheimnis lüften will. Gleichzeitig muss Arian sich auf seine neue Liebe konzentrieren und darauf hoffen, dass Föhr einfach jeden verzaubert: Gelingt es ihm, Leonie zum Bleiben zu bewegen?

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Seitenzahl: 452

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Das Buch

Die Sonnenstrahlen, die durch das große Schaufenster ins Strandmohn drangen, fielen auf sein Gesicht und unterstrichen sein Strahlen. Sachte drückte er ihren Arm nach unten. »In der Familie Graf begrüßen wir uns so …«, begann er und zog sie in seine Arme.

»Huch«, gab Leonie überrascht von sich. Plötzlich schmiegte sie sich eng an Arian und erntete neidische Blicke von einer großen, dunkelhaarigen Frau, die ganz allein durch die Galerie schlenderte.

»Jetzt habe ich dich überrumpelt«, sagte er direkt neben ihrem Ohr. Seine Stimme war warm und sanft wie der Sommerwind.

»Wenn deine Überfälle immer so herzlich sind, habe ich kein Problem damit«, erwiderte sie kess und entdeckte rote Ölfarbe an seinem Ohrläppchen. Diskret roch er an ihrem Haar und ließ sie wieder los. »Du duftest gut.«

»Wenigstens das.« Als sie in seine grünen Augen sah, schlug ihr Herz schneller.

Die Autorin

Marie Schönbeck hat sich in das Nordfriesische Wattenmeer verliebt. Für sie sind die Küsten und Inseln Sehnsuchtsorte. Oft fährt sie mit ihrem Mann und ihren Hunden an die Nordsee, um lange Spaziergänge am Strand zu machen und die wildromantische Natur zu genießen. Während sie eines Tages in einem Strandcafé saß, Tee trank und friesisches Mandelgebäck mit Schokoladenguss aß, kam ihr die Idee zur Romanreihe um die kleine Inselpension Lüttes Glück auf Föhr.

Lieferbare Titel

Schokolade am Meer – Süße WünscheSchokolade am Strand – Süße TräumeSchokolade am Leuchtturm – Süßes ErbeLüttes Glück – Ein Traum am NordseestrandLüttes Glück – Ein Geheimnis am Nordseedeich

Marie Schönbeck

Ein Leuchten am Nordseehimmel

LÜTTES GLÜCK

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 07/2024

Copyright © 2024 by Marie Schönbeck

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Loel Zwecker

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

unter Verwendung von FinePic®, München; iStockphoto (bluejayphoto)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28247-9V001

www.heyne.de

»Denk daran, dass etwas, das du nicht bekommst, manchmal eine wunderbare Fügung des Schicksals sein kann.«

Dalai Lama

Kapitel 1

Leonie Blumenthal trat aus der Tür ihres Bungalows und bekam Bauchschmerzen. Auf Koh Samui schüttete es wie aus Eimern, wie so oft seit Mitte September, und wenn es regnete, war Nico schlecht gelaunt. Wer bekam das für gewöhnlich ab?

Ich natürlich, dachte sie bedrückt und musste ihre Füße zwingen, in Richtung der Strandbar zu gehen, die sie gemeinsam mit ihrem Freund führte. Sie versuchte erst gar nicht, sich vor dem Regen zu schützen. Das hatte ohnehin keinen Sinn. Wenn es so stark und anhaltend goss, war man unweigerlich innerhalb kürzester Zeit nass bis auf die Haut.

»Der Monsun fällt dieses Jahr heftig aus und lässt sich immer schwerer vorhersagen, das muss der Klimawandel sein«, hatte ihr erst kürzlich ein Einheimischer erzählt. Solche Kommentare häuften sich.

Leonie sah die besorgten Gesichter und die wachsende Armut um sich herum. Der Regen überschwemmte die Plantagen, vernichtete Ernten, überflutete und zerstörte Häuser und legte die Infrastruktur lahm. Zurzeit kamen nur wenige Ortsansässige in die Bar, ihnen fehlte das Geld. Zu allem Übel besuchten bei dem Wetter kaum Touristen die tropische Insel.

»So haben wir uns den Urlaub nicht vorgestellt«, hatte erst gestern ein deutscher Stammgast zu ihr gesagt. Er hatte mit seiner Frau an der überdachten Theke gesessen. Die Tische standen unter freiem Himmel.

»Wusstet ihr denn nicht, dass jetzt im Oktober Monsunzeit ist?«, fragte Leonie vorsichtig hinter dem Tresen.

»Doch. Wir dachten, dass es aufregend wäre, ihn mal mitzuerleben, wie Land unter auf den Halligen. Dann hätten wir zu Hause was zu erzählen«, schrie der Mann gegen das Trommeln des Regens auf dem Dach der Bar an und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Aber der Regen will ja gar nicht mehr aufhören.«

Eigentlich galt in Thailand in öffentlichen Räumen ein Rauchverbot, auch in Restaurants und Bars. Aber in der Strandbar saßen die Gäste im Freien, und Leonie und Nico hatten eine Ecke als Raucherzone ausgewiesen, damit hofften sie, unter die Ausnahmeregel zu fallen. Bisher hatte es noch keine Probleme mit der Polizei gegeben.

»Letztes Jahr hat der Monsun wenig Niederschlag gebracht, das holt die Natur gerade nach«, berichtete Leonie und nippte an ihrem Wasser. »Normalerweise hat man nur Wolkenbrüche, und nach ein oder zwei Stunden kommt wieder die Sonne raus. Doch diesmal legt der Regen kaum eine Pause ein.«

Nachdenklich strich die Frau über die zwei Elefanten auf dem Etikett ihrer Chang-Bierflasche. »Das Wetter spielt überall auf der Welt verrückt.«

»So macht Urlaub keinen Spaß«, sagte ihr Mann. »Wir reisen früher als geplant ab, morgen schon.« Er kippte seinen Mekhong runter und bestellte sofort einen weiteren Thai-Whiskey.

Leonie hatte sich noch nicht getraut, Nico zu erzählen, dass sie zwei weitere Stammgäste verloren hatten. Das Ehepaar würde Koh Samui bestimmt nicht ihren Freunden und Bekannten weiterempfehlen, somit auch nicht die Strandbar.

Leonies Bauchweh wurde stärker, als sie die Coco betrat. Sie hatten die Bar in Anlehnung an den »Coconut tree«, englisch für Palmen, benannt. Das war kurz und prägte sich in allen Sprachen gut ein. Die ersten Monate auf der Insel waren hart gewesen, aber sie hatten sich schließlich durchgebissen. Bis vor Kurzem waren sie gut über die Runden gekommen. Erst der Monsun hatte eine Flaute gebracht. Leonie blieb optimistisch, Nico dagegen quälten Existenzängste.

Sie fand ihn hinter der Theke vor. Missmutig starrte er vor sich hin. »Du siehst blass aus. Geht es dir nicht gut?«, sagte sie.

Das Kleid klebte an ihren Beinen, angespannt zog sie den Stoff von ihrer Haut weg.

»Es gießt in Strömen. Wie soll es mir da schon gehen?«, erwiderte er mürrisch. Das regenbogenfarbene Peace-Zeichen auf seinem T-Shirt passte ganz und gar nicht zu seiner Stimmung.

»Soll ich dir einen Tee kochen?«, fragte Leonie. Sie lächelte aufmunternd, um die Wogen zu glätten, noch bevor sie über sie hereinbrechen konnten. »Du hast auch noch nicht gefrühstückt.«

»Ich kriege nichts runter.« Wasser rann aus seinen blonden Rastazöpfen über seinen Rücken.

Auch ihre Frisur hatte sich auf dem kurzen Weg vom Bungalow hierher mit Wasser vollgesogen, der Haarknoten an ihrem Hinterkopf fühlte sich schwer an. »Iss doch wenigstens ein paar Rambutan, damit du etwas im Magen hast«, schlug sie vor.

Plötzlich fuhr Nico sie an: »Hör auf, mich zu bemuttern!«

»Schrei mich nicht an!«, erwiderte sie gereizt. »Ich kann nichts für den Monsun.«

Sie schnappte sich einen Lappen. Aufgeregt wischte sie damit über den Tresen, obwohl er sauber war. Sie wollte etwas zu tun haben, sich von dem Gewitter, das sich in Nico zusammenbraute, ablenken.

Er gab ein Murren von sich, nahm eine Flasche Singha aus dem Kühlschrank und öffnete sie.

»So früh schon Bier?«, bemerkte sie missbilligend. Eben noch hatte er behauptet, nicht einmal Tee runterzubekommen. War der Griff zum Alkohol purer Trotz? Wollte er sie ärgern?

Normalerweise bewirteten sie bis in die Morgenstunden Gäste und schliefen bis mittags. Aber am Vorabend hatten sie die Strandbar früh geschlossen, waren noch vor Mitternacht ins Bett gegangen und deshalb bereits beim ersten Hahnenschrei aufgestanden.

Demonstrativ nahm Nico einen kräftigen Schluck. »Ja, denn deine ewige gute Laune geht mir auf die Nerven.«

»Ich versuche nur zuversichtlich zu bleiben«, stellte Leonie klar. Sie ließ sich von Nico nichts gefallen, trotzdem belastete es sie, ständig als Blitzableiter herhalten zu müssen.

Als er den Kronkorken von Weitem in den Mülleimer werfen wollte, traf er daneben, er ließ ihn auf dem Boden liegen. »Dann nervt mich eben dein Optimismus.«

»Heute lässt du wohl kein gutes Haar an mir. Soll ich vielleicht mit dir Trübsal blasen? Was würde das bringen?«, wollte Leonie von ihm wissen und hielt bei ihrem Thekenputz inne. Wenn er erwartete, dass sie den Verschluss aufheben würde, hatte er sich getäuscht.

Nico ging um die Theke herum und setzte sich auf einen der Barhocker. »Das wäre immerhin ehrlicher, als so sorglos zu tun. Am Ende sind unsere Ersparnisse aufgebraucht, bevor das Geschäft wieder in Schwung kommt.«

»Wir wussten über den Monsun Bescheid«, erinnerte sie ihn und wrang ihr Putztuch aus.

»Das schon, ja«, gab er zu und knibbelte an dem Flaschenetikett. »Aber letztes Jahr war der Regen nicht so schlimm.«

Sie hängte den Lappen über den Wasserhahn. »Irgendwann wird der Monsun auch wieder vorbei sein, so viel ist sicher.«

»Bis dahin sind wir pleite.« Nico saß so krumm da, dass ihm der Regen, der vom Dach rann, über den Rücken lief. Ihm schien es egal zu sein, oder er merkte es nicht.

Leonies Brustkorb wurde enger. Wie oft hatten sie diese Diskussionen so oder so ähnlich schon geführt. Am Anfang hatte sie Nico noch besänftigen können, doch inzwischen hatte sie das Gefühl, gegen eine Wand anzureden. Sie drang nicht mehr zu ihm durch.

Hilflos versuchte sie es trotzdem, sie hatte auf der Insel nur ihn. »In den letzten Monaten haben wir doch gut verdient. Wir müssen nur noch bis Mitte Dezember, höchstens bis Januar durchhalten.«

»Der Scheißregen scheint nie wieder aufhören zu wollen. Er macht mich wahnsinnig. Selbst wenn er mal eine kurze Pause einlegt, kommt es mir mittlerweile so vor, als würde ich das Prasseln auf dem Dach hören.« Nico hielt sich die Ohren zu.

Sanft zog Leonie seine Hände weg. Früher hatte jede Berührung ein heftiges Kribbeln in ihr ausgelöst, das spürte sie schon lange nicht mehr. Seit einigen Wochen hielt sie sich sogar ungern in seiner Nähe auf, denn nichts, was sie in der Strandbar tat, war ihm gut genug. Ständig wies er sie zurecht. Weil sie sich nichts gefallen ließ, gerieten sie fast täglich aneinander. »Du klingst urlaubsreif.«

»Ich brauche keine Ferien, sondern Sonnenschein«, brüllte er.

Leonie zuckte zusammen. Sie wusste nicht mehr, was sie noch sagen und wie sie ihn aufheitern konnte. Irgendwann würde das Wetter besser werden, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Aber für vernünftige Argumente schien Nico zurzeit nicht zugänglich.

»Was machen wir, wenn keine Touristen mehr kommen? Wenn sie in die Strandbars gehen, die den Namen auch verdienen?«, fragte er verzweifelt.

Sie spähte zwischen den Palmen und den dichten Frangipani hindurch, die der Wind hin und her peitschte. Ab und zu tauchte für einen kurzen Moment das Meer zwischen den Blättern auf. Die Bar lag nicht unmittelbar am Strand, sondern hinter einer grünen Wand.

»Du wolltest die Coco unbedingt von deinem Bekannten übernehmen«, rief sie ihm in Erinnerung.

Nico stützte sich auf der Theke ab und lehnte sich vor. »Jetzt ist es meine Schuld, dass du hier festhängst?«, fragte er aufbrausend.

»So meinte ich das nicht«, sagte sie beschwichtigend und ärgerte sich darüber, dass sie ihm nach dem Mund redete. Wozu noch? Das hatte doch keinen Sinn mehr.

»Am Anfang warst du so überzeugt«, sagte sie. »Du wolltest unbedingt diese Bar eröffnen und auf Koh Samui leben. Jetzt hört sich das nicht mehr so an.«

»Das siehst du falsch! Ich bin bloß frustriert, bei so einem Wetter kriege ich halt schlechte Laune. Ich bin ein Sonnenkind, das weißt du.« Er zeigte auf sie. »Jetzt tust du so begeistert. Aber am Anfang musste ich dich doch überreden.«

»Zum Kauf der Bar, ja«, gab sie zu. Immerhin war sie das Risiko eingegangen, ihr ganzes Erspartes zu investieren. »Aber nicht, hierher auszuwandern. Das wollte ich von Anfang an auch.«

Ihre erste große Liebe Kamon hatte eine thailändische Mutter. Er hatte sie mit der Kultur bekannt gemacht, sie für Massaman Curry und Sticky Rice mit Mango begeistert und in ihr die Sehnsucht geweckt, mehr über Thailand zu erfahren. Wirklich kennenlernen konnte man ein Land jedoch nicht in einem Urlaub, man musste schon dort leben.

»Mir kommt es seit dem Sommer so vor, als würdest du an unserer Entscheidung zweifeln.« Nico verschränkte die Arme und musterte sie eindringlich.

Sein bohrender Blick war ihr unangenehm. Sie zögerte. Ein Nein wäre eine Lüge, denn sie kam nur noch ungern zur Arbeit, und ein Ja auch, denn grundsätzlich fühlte sie sich immer noch wohl auf Koh Samui. Das Leben hier könnte so schön sein, trotz Monsun, hoher Luftfeuchtigkeit und der sprachlichen Barrieren.

Sie liebte es, am Morgen nur ein Boho-Kleid über ihren Bikini zu ziehen und in Flipflops zu schlüpfen. Nico und sie wohnten ganz in der Nähe in einem einfachen Bungalow, dessen Mietvertrag sie vom Vorbesitzer der Bar übernommen hatten. Auch der kleine Supermarkt war zu Fuß erreichbar. Aber vor allem konnte sie jederzeit an den Strand. Diesen Luxus zog sie Designerhandtaschen und Diamantencolliers vor.

»Wusste ich es doch«, zischte Nico und rümpfte die Nase. »Jetzt, wo es schwierig ist, willst du weg.«

Plötzlich war sie irgendwie an allem schuld, das hatte er ja schön hingedreht. Sie ertrug seinen Pessimismus nur noch schwer. Er zog sie mit runter, dabei war sie eigentlich eine Frohnatur.

»Ich hab’s auf unserem Laptop gesehen, du hast nach Flügen nach Deutschland gesucht«, sagte er plötzlich. Vorwurfsvoll sah er sie an.

Sie fühlte sich ertappt und wurde rot. »Du hast mir hinterherspioniert?«

»Du redest ja kaum noch mit mir, machst dicht, ignorierst mich.« Er trank einen Schluck Bier und stellte die Flasche geräuschvoll ab. »Du sprichst mehr mit den Gästen als mit mir.«

»Ich halte die ständigen Streitereien nicht mehr aus, darum gehe ich dir aus dem Weg«, gestand sie und spürte, wie etwas in ihr aufbrach. »Du hast dich verändert, bist zänkisch und ein richtiger Miesepeter geworden.«

Vielleicht hatte sie ihn auch nie richtig gekannt. Vor ihrer Auswanderung waren sie erst neun Monate ein Paar gewesen. Sie hatten nie zusammengewohnt, den Alltag bestritten und gemeinsam Hürden überwunden. Nun schien sich ihre Beziehung als nicht krisenfest zu erweisen.

»Und du hast mich enttäuscht.« Seine Kiefer mahlten, als läge ihm eine bittere Pille auf der Zunge, die er nicht hinunterschlucken wollte.

Der Vorwurf traf Leonie. »Enttäuscht?«, fragte sie erstaunt.

»Du machst deine Arbeit schlecht«, schalt Nico sie.

Empört schnappte sie nach Luft. »Das ist nicht wahr!«

»Statt die Gäste zu fragen, ob sie noch etwas essen oder trinken möchten, trödelst du herum«, hielt er ihr vor.

»Weil sie sich sonst bedrängt fühlen und gehen«, erklärte sie. »Sie rufen mich schon, wenn sie noch etwas wollen.«

»Du quatschst zu viel mit den Gästen«, fuhr er fort.

»Das nennt man Kundenbindung. Ich schaffe eine Wohlfühlatmosphäre. Eine Bar führt man nicht wie eine Behörde.« Small Talk gehörte mit zum Geschäft. Außerdem war Leonie froh, sich überhaupt mit jemanden unterhalten zu können. Sie hatte keine Freunde auf der Insel, nur einige wenige lockere Bekannte. Im Grunde gab es nur Nico, der ihr nahestand, oder besser gesagt, nahegestanden hatte. Sie hatten sich entfremdet.

Heftig gestikulierend sagte er: »Ja, aber zwischendurch muss man auch mal aufräumen, putzen und spülen. Während ich in der Küche Essen zubereite oder Getränkenachschub aus dem Lager hole, starrst du Löcher in die Luft. Dabei gibt es immer etwas zu tun. Oft siehst du die Aufgaben nicht einmal.«

»Es muss nicht alles immer sofort erledigt werden. Es kann auch mal etwas fünf Minuten liegen bleiben. Die Arbeit läuft schließlich nicht weg«, hielt Leonie dagegen.

Nico leerte das Singha, kam hinter die Theke und stellte die Flasche weg. »Ich habe mitbekommen, dass Touristen an der Bar vorbeigegangen sind, weil auf allen Tischen schmutziges Geschirr stand.«

»Bestimmt sind sie weitergelaufen, weil sie gehört haben, wie du mich mal wieder angegiftet hast. Dein mürrisches Gesicht schreckt auch ab. Du bist nicht nur zu mir unfreundlich, sondern auch zu den Gästen. Merkst du das eigentlich nicht?«, fragte sie und stemmte die Hände in die Hüften.

»Endlich sind wir mal richtig ehrlich zueinander. Dann sag ich es frei heraus.« Nico baute sich vor ihr auf und sah auf sie hinab. »Du bist faul, Leonie.«

»Was fällt dir ein?«, schrie sie ihn an.

»Du bist langsam und geschwätzig, aber vor allen Dingen arbeitsscheu«, fuhr er fort. »Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich niemals mit dir zusammen eine Strandbar gekauft.«

»Und wenn ich geahnt hätte, was für ein Pedant du bist, wäre ich gar nicht erst mit dir ausgewandert. Mit deinen Rastazöpfen und deiner Hippie-Kleidung siehst du aus wie ein lockerer Typ.« Sie bohrte ihm ihren Zeigefinger in den Oberkörper. »Aber du bist ein Spießer, Nico.«

Er starrte sie an.

»Du kannst nicht mit Geld umgehen«, entgegnete er dann.

Aufgeregt wischte Leonie den Vorwurf mit einer Handbewegung fort. »Ich drehe halt nicht jeden Baht dreimal um, wenn es nicht notwendig ist. Aber du bist geizig, handelst alle Lieferanten runter, dabei müssen sie auch von etwas leben. Du verschlechterst das Image der Deutschen auf der Insel.«

»Wenn wir pleitegehen, können wir sie gar nicht mehr bezahlen. Sie würden nichts mehr an uns verdienen. Wäre das besser?« Nico nahm ein neues Bier aus dem Kühlschrank. »Ich bin eben ein guter Geschäftsmann.«

»Und ich eine Geschäftsfrau«, erwiderte Leonie selbstbewusst. »Die Gäste kommen ja nicht, weil die Strandbar ihnen einen romantischen Blick aufs Meer bietet oder die Einrichtung so gemütlich ist, sondern wegen mir. Sie mögen mich, unterhalten sich gerne mit mir.«

»In all der Zeit hast du nur ein paar Brocken Thai gelernt. Sonst sprichst du Englisch oder mit Händen und Füßen. Das ist mir peinlich«, fügte er hinzu.

Sie wünschte auch, es wäre anders. »Ich tue mich nun einmal schwer damit, die Sprache zu lernen«, erwiderte sie kleinlaut.

»Manchmal denke ich, du versuchst gar nicht ernsthaft, auf Koh Samui Fuß zu fassen.« Als Nico trank, stieg ihm das Bier in die Nase. Er verzog das Gesicht und kniff sich in den Nasenrücken.

»Das ist nicht wahr.« Leonies Augen wurden feucht. »Weißt du, warum ich so gerne mit den Gästen rede? Weil ich das mit dir nicht mehr kann. Das sieht man doch jetzt auch wieder. Du verstehst mich einfach nicht.«

»Das könnte ich auch von dir sagen. Wir passen nicht zusammen«, zischte er und putzte sich die Nase. »Hätte ich die Coco allein gekauft, hätte ich mich längst von dir getrennt.«

Das war ein Schlag in die Magengrube. Leonie wandte sich ab. Tränen rannen über ihre Wangen. Im Grunde bedauerte sie nicht das Ende der Beziehung mit Nico, aber sie verspürte auch keine Erleichterung, denn ihr Leben lag in Trümmern.

Schließlich atmete sie tief durch, wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen und sagte: »Nur weil ich in die Strandbar investiert habe, werde ich jetzt nicht bei dir bleiben. Der Vorbesitzer war dein Bekannter. Er hatte dir angeboten, sie zu übernehmen. Daher werde ich das Feld räumen.«

»Das ist wohl besser so«, erwiderte er kalt.

»Ich werde so bald wie möglich zu Anja nach Föhr fliegen«, kündigte sie an und konnte es kaum erwarten, sich in die liebevolle Umarmung ihrer Schwester zu stürzen. Wenn eine Person auf der Welt sie trösten konnte, dann Anja.

Kapitel 2

Das Erste, was Leonie dachte, als sie aus dem Fenster der Propellermaschine auf Föhr hinabsah, war: Das ist nicht meine Insel.

Es war Anjas Insel, und sie gehörte hier nicht hin. Sie sollte auf Koh Samui sein und sich auf die Hochsaison vorbereiten, die Mitte Dezember begann. Der Monsun ging vorbei, und es war nicht mehr ganz so schwül.

Im Winter sprudelte das tropische Eiland über vor Urlaubern. Leonie gefiel das quirlige Treiben, es bedeutete ein gutes Geschäft für die Strandbar. Aber auch viel Arbeit.

Mit Nico war immer alles stressig. Wenn der Laden brummte, stand ihr Ex-Freund unter Strom. Er wollte, dass alles perfekt lief, aber die hohe Luftfeuchtigkeit hatte den Möbeln zugesetzt, Herd und Kühlschrank in der kleinen Küche hatten so ihre Marotten, und auf die Lieferanten konnte man sich auch nicht immer verlassen.

Selbst wenn kein Betrieb herrschte, war Nico angespannt. Er machte sich Sorgen, ob die Coco die Durststrecke überlebte. Dabei hatten Leonie und er es locker angehen lassen und auf die Work-Life-Balance achten wollen.

Nun war Leonies Traum vom schönen Auswandererleben zerplatzt.

Verheult war Leonie drei Tage zuvor von Bangkok nach Hamburg geflogen. Sie hatte eine Nacht auf den harten Sitzen im Terminal geschlafen, stundenlang im Flughafen herumgelungert und dann einen Sitzplatz in der Linienmaschine nach Westerland ergattert. Auf der letzten Etappe von Sylt nach Föhr fühlte sie sich völlig erschöpft. Sie hatte kein Auto mieten und die Fähre nehmen wollen. Wozu? So lange, dass sie einen Mietwagen benötigt hätte, wollte sie ohnehin nicht bleiben.

Zudem fehlte ihr die Kraft, sich um Derartiges zu kümmern. Normalerweise strotzte sie vor Energie, aber jetzt war ihr alles zu anstrengend, sie erkannte sich selbst nicht wieder. Sie fühlte sich leer, als wäre sie bloß noch eine Hülle.

Die anderen Passagiere schwärmten vom malerischen Blick, den man aus dem Flieger heraus auf die Nordfriesischen Inseln hatte, doch Leonie fand sie karg. Sie vermisste die üppige, immergrüne Vegetation des Urwaldes. Föhr kam ihr klein vor, Koh Samui war dreimal so groß.

Zudem zeigte die Wetter-App eine Temperatur von gerade einmal zwölf Grad an. Warum Föhr »die Friesische Karibik« genannt wurde, konnte Leonie nicht nachvollziehen. Sie war beständige dreißig Grad gewohnt. Selbst nachts fiel die Temperatur in dem südostasiatischen Königreich nicht unter vierundzwanzig Grad.

Der Golf von Thailand hatte angenehm warme achtundzwanzig. Die Nordsee dagegen war kalt, zu ihrer eigenen Überraschung machte Leonie jedoch im Wasser in Strandnähe einige Badegäste aus.

Wie tapfer, dachte sie und fror schon bei der Vorstellung, auch nur den kleinen Zeh ins Meer zu halten.

Die beiden Inseln schienen grundverschieden und nur eins gemeinsam zu haben, nämlich dass sie von allen Seiten von Wasser umgeben waren.

Das Flugzeug setzte zum Sinkflug an. Böen schaukelten die kleine Maschine gehörig hin und her, doch der Pilot landete sie erfahren und sicher auf dem Flugplatz von Wyk, der laut der Durchsage nur acht Meter über dem Meeresspiegel lag. Die Landebahn war bloß eine große Wiese. Der Flughafen in Koh Samui dagegen galt mit seinem tropischen Flair und der polynesischen Architektur, mit viel Holz und einer offenen Bauweise, als einer der schönsten auf der Welt.

Doch Leonie hatte sich keinen Direktflug leisten können. Also hatte sie erst mit der Fähre nach Donsak übergesetzt, den Bus nach Surat Thani genommen, war mit Thai AirAsia zum alten Flughafen Don Mueang in Bangkok geflogen und dann von dort nach Deutschland gestartet.

Die lange Reise steckte ihr in den Knochen, sie fühlte sich wie gerädert. Doch sie freute sich auch, endlich an ihrem Ziel angekommen zu sein.

Als Leonie ausstieg, beschleunigte sich ihr Puls. Gleich würde sie Anja endlich wiedersehen. Ihre Vorfreude wuchs mit jeder Minute. Sie sehnte sich so sehr nach ihrer drei Jahre älteren Schwester, dass sie immer schneller ging. Doch als sie schließlich mit ihrem großen Koffer und dem vollgestopften Rucksack vor dem Flugplatz stand, war sie nirgends zu sehen.

»Du hast mich doch wohl nicht vergessen«, sagte Leonie traurig.

Plötzlich fuhr ein Wagen vor und hielt mit quietschenden Bremsen vor ihr an. Anja sprang heraus. Ihre langen braunen Haare waren zerzaust und ihre Wangen gerötet.

»Es tut mir so leid, dass ich zu spät bin«, rief sie ihr zu. »Du wirst es nicht glauben. Eine Schafherde ist plötzlich über die Hauptstraße gelaufen. Die Polizei ist gekommen und hat alles abgesperrt. Wir mussten auf Sören Schippmann warten. Er ist Schäfer und wohnt in Walsum wie ich. Der mobile Zaun hatte wohl nicht gehalten. Seine Tiere sind vom Deich runterspaziert und quer über die Insel in Richtung Stall gelaufen.«

Sie eilte um das Auto herum und schloss Leonie in die Arme.

Leonie atmete ihren vertrauten Duft ein. Ihre Schwester war ein Stück Heimat, egal wo sie sich trafen. Sie wollte sie gar nicht mehr loslassen, doch sie tat es schließlich doch. Besorgt fragte sie: »Ist den Tieren auch nichts passiert?«

»Es ist alles gut gegangen. Sören hat sich souverän um seine Herde gekümmert. Sie folgen ihm allein durch Pfiffe und Schnalzlaute, er braucht nicht einmal einen Hütehund.« Fürsorglich streichelte Anja ihre Wange. »Du siehst müde aus.«

»Bin ich auch. Die Anreise war lang und anstrengend.« Neugierig musterte Leonie sie. Anja hatte sich verändert. »Wo ist die Anja, die Seidentops trägt und nicht ungeschminkt aus dem Haus geht?«

Anja zupfte ein Knötchen von dem Norwegerpullover, den sie über einem knielangen Wollrock trug. Sie hatte nur ihre Wimpern getuscht. An ihren Ohren schwangen silberne Seesterne an Kreolen im Wind. »Die habe ich in Köln zurückgelassen und bin froh darüber.«

»Die neue Anja gefällt mir«, sagte Leonie und lächelte. Sie hatten sich seit ihrem Abflug nach Bangkok nicht mehr gesehen. Trotz der regelmäßigen Telefonate hatte sie sich Sorgen gemacht, dass sie sich etwas entfremdet haben könnten, aber die Befürchtung war unbegründet.

»Das glaube ich dir gerne, weil sie ein bisschen mehr wie du ist.« Anja zwinkerte.

Leonie freute sich für sie, aber ihr Herz wurde auch schwer. »Dann haben wir wohl die Rollen getauscht.«

»Du frierst ja«, stellte Anja fest und rieb kräftig über Leonies Arme, um sie zu wärmen. »Komm schnell ins Auto.«

Während sie gemeinsam das schwere Reisegepäck in den Kofferraum hoben, sagte Leonie: »Der Nordseewind ist ganz schön frisch für jemanden, der gerade aus den Tropen kommt.«

»Du brauchst ein paar Tage, um dich zu akklimatisieren. Hast du keine Jacke dabei?«, fragte Anja besorgt und stieg ein.

Leonie setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie besaß nur eine einzige Jeans, und die hatte sie auf dem Heimflug angezogen. In Thailand hatte sie nur Kleider getragen. Sie wünschte, es wäre Sommer auf Föhr und nicht Herbst. Der Temperaturunterschied war ein Schock.

»Meine Winterkleidung habe ich bei Papa und Rita im Keller eingelagert.« Sie sah an sich hinunter. »Ich habe nicht einmal einen Pullover dabei, nur diese Strickjacke.«

»Dann leihe ich dir was, wie früher«, schlug Anja vor und fuhr los. Sie schaltete den Scheibenwischer ein, denn es fing an zu nieseln.

Ich bin wohl vom Regen in die Traufe gekommen, dachte Leonie bitter und sah hinauf zu den dunklen Wolken über ihnen. Zu ihrer Schwester sagte sie: »Als Jugendliche hast du es immer gehasst, wenn ich deine Klamotten angezogen habe.«

»Weil ich sie nie zurückbekommen habe.« Anja lenkte den Wagen an einer Gruppe Radfahrer vorbei, die so angeregt miteinander plauderten, dass sie kaum auf den Verkehr achteten. »Sobald du dich fit genug dazu fühlst, gehen wir shoppen.«

»Das kann ich mir nicht leisten. Ich bin fast blank«, gestand Leonie verlegen.

Sie schob die Finger zwischen ihre Oberschenkel und kam sich vor wie mit sechzehn. Damals hatte sie ihr Taschengeld immer schon nach der Hälfte des Monats aufgebraucht, und sie hatte Anja angebettelt. Nun, mit zweiunddreißig Jahren, fand sie sich in einer ähnlichen Situation wieder. Sie war auf die Hilfe ihrer Schwester angewiesen, das fühlte sich erbärmlich an.

Zuversichtlich erwiderte Anja: »Auch dafür werden wir eine Lösung finden.«

»Ich möchte dir keine Arbeit machen.« Leonie rutschte im Sitz tiefer. Sie schämte sich für ihre Situation.

Anja hatte sie davor gewarnt auszuwandern. Vor dem Risiko, mit einem Mann, mit dem sie nicht einmal ein Jahr liiert war, auf eine tropische Insel zu ziehen. Thailand hatte sie zu dem Zeitpunkt zudem nur aus Erzählungen Kamons, Reisebüchern und dem Internet gekannt.

Zärtlich drückte Anja ihre Hand. »Wofür hat man denn eine Schwester.«

»Ich brauche dich«, gab Leonie zu und meinte nicht die warme Kleidung oder die Möglichkeit, vorübergehend bei ihr zu wohnen, sondern ihren Trost. Ihre Augen brannten.

Anjas Stimme klang ganz weich, als sie erwiderte: »Ich bin immer für dich da.«

»Danke.« Leonie warf ihr einen Luftkuss zu.

Sie fuhren durch Inseldörfer, in denen Feriengäste in bunten Regenjacken von einem Laden in den nächsten huschten, die Kapuzen über die Köpfe gezogen und nach vorne gebeugt. In der Ferne machte Leonie Dünen aus, auf denen die steife Brise den Strandroggen hin und her bog. Der Wind peitschte den Sand über die sanften Hügel.

Die Häuser wurden weniger und verschwanden schließlich ganz. In der Marsch sah Leonie nur vereinzelt Bauernhöfe. Tief hingen die Wolken über den Wiesen und Feldern. Der Sprühregen legte einen Grauschleier über alle Farben.

Leonie hatte gehofft, dass auf Föhr die Sonne scheinen und sie aufmuntern würde. Aber in Deutschland hatte sich der Sommer verabschiedet, und der Herbst zog langsam ein. Die Gräser am Straßenrand hatten sich bereits rot und gelb gefärbt. Das sah recht hübsch aus, musste Leonie zugeben.

»Weiß Papa, dass du zurück in Deutschland bist?«, fragte Anja plötzlich.

»Nein. Ich rufe ihn ungern an, es könnte ja auch Rita rangehen.« Leonie ballte eine Hand um den Saum ihrer Strickjacke. »Sie hat ihn Mama ausgespannt, das kann ich ihr nicht verzeihen, auch wenn das schon dreiundzwanzig Jahre her ist.«

»Ja, schon, aber dazu gehören immer zwei«, gab Anja zu bedenken. »Papa hätte bei Mama bleiben können, er hat sich für Rita entschieden.«

Leonie zog die Jacke bis unters Kinn. »Telefoniert ihr denn oft?«

»Nein, er würgt das Gespräch immer nach ein paar Minuten ab.« Während Anja die Autoheizung anstellte, erzählte sie: »Ich habe den Eindruck, Rita steht neben ihm und sieht ihn böse an, damit er ja rasch auflegt. Sie ist eifersüchtig auf alles und jeden, das war schon immer so.«

Fassungslos schüttelte Leonie den Kopf. »Aber wir sind doch seine Töchter.«

»Sie will seine ganze Aufmerksamkeit für sich haben.« Anja trat auf die Bremse, weil eine Katze die Straße überquerte. »Er hat erwähnt, dass sie ein Heidentheater gemacht hat, als er nach einem Arzttermin nicht sofort nach Hause gekommen ist. Dabei hat er nur in einen Schuhladen reingeschaut, ohne ihr Bescheid zu geben. Sein Handy hatte er natürlich mal wieder zu Hause liegen lassen, du kennst ihn ja.«

Verständnislos fragte Leonie: »Warum lässt er sich so von ihr kontrollieren?«

»Rita stellt es so dar, als würde sie sich Sorgen um ihn machen. Ihm könnte ja etwas passiert sein«, erklärte Anja und bog ab. »Das kann Papa nachvollziehen, vielleicht schmeichelt es ihm auch. Darum sagt er ihr für gewöhnlich, wann er wohin geht, und macht, was sie will. Er würde gerne einen Spanischkurs belegen, aber sie will die Sprache nicht lernen, und allein lässt sie ihn nicht teilnehmen. Wahrscheinlich hat sie Angst, er könnte dort eine andere Frau kennenlernen.«

Leonie gab einen missbilligenden Laut von sich. »Er ist zu lieb für sie.«

»Ja.« Nach einer kurzen Pause fragte Anja: »Und was ist mit Nico und dir?«

»Es ist aus«, antwortete Leonie bitter. »Definitiv.«

Anja berührte kurz ihren Oberschenkel, eine tröstende Geste. »Das tut mir leid.«

»Mir nicht, die letzten Monate waren die Hölle.« Am Telefon hatte sie versucht, tapfer zu sein, damit ihre Schwester sich keine Sorgen machte. Nun endlich konnte sie ihr Herz wieder auf der Zunge tragen. »Mein ganzes Leben hing an ihm und der Strandbar. Jetzt habe ich nichts mehr, weiß nicht mehr ein noch aus. Kein Job, kein Geld, keine Wohnung, keine Perspektive.« Sie fühlte sich verloren.

»Irgendwie wird es weitergehen, das tut es doch immer. So leicht lässt du dich nicht unterkriegen, ich kenne dich«, versuchte Anja sie aufzumuntern.

Leonie sah den Deich, der Föhr im Norden vor Sturmfluten schützte. Angst vor dem Meer hatte sie nicht, doch vielleicht bot er ihr ja sinnbildlich auch Schutz vor dem Leben, das darauf drängte, von ihr weitergeführt zu werden. Sie brauchte eine Atempause, eine Auszeit. Sie seufzte. »Im Moment bin ich des Kämpfens müde.«

»Ruh dich aus. Denk darüber nach, was du jetzt machen willst. Dann sehen wir weiter. Du kannst so lange bei uns bleiben, wie du willst.« Lächelnd fügte Anja hinzu: »Wir werden dich mit Kuchen, Waffeln und Eiscreme vollstopfen. Du bist dünn geworden.«

Leonie wurde sich erst durch die Bemerkung bewusst, dass man ihr die Sorgen ansah. Verlegen erwiderte sie: »Wenn ich dich nicht hätte …«

Sie war das erste Mal in ihrem Leben heimatlos, das beunruhigte sie. Sie mochte keinen randvollen Kalender, keinen Stress, weder beruflich noch privat. Ein gesellschaftliches Korsett würde ihr die Luft zum Atmen nehmen. Früher hatte sie an Wochenenden gerne in den Tag hinein gelebt. Tun und lassen zu können, was sie wollte, empfand sie als Luxus.

Doch nun, da ihre Wurzeln in Köln gekappt und ihre Auswanderung fehlgeschlagen war, bekam sie Angst. Was sollte aus ihr werden? Wo sollte sie hin? Was wollte sie jetzt machen? Sie fühlte sich, als hätte sie die Kontrolle über ihr Leben verloren und würde ziellos umhertreiben. Ihr einziger Halt hieß Anja.

Sie kamen in Walsum an.

Leonie staunte nicht schlecht, wie klein das Inseldorf war. Kein Haus schien weiter als einen Steinwurf vom anderen entfernt.

In den Fenstern der Reetdachhäuser brannte Licht, was heimelig und einladend wirkte. Unter der Trauerweide auf dem Dorfanger wuchsen Astern, Chrysanthemen und Fetthenne. Vor der Weide reckten Silberkerzen ihre Blüten aus einem Bett aus Herbstanemonen und versuchten, mit ihrem schweren süßen Duft den Schafgeruch zu überlagern. Das Blumenmeer sah hübsch aus, fand Leonie.

Vor dem Stall stand ein Selbstbedienungsautomat, auf dem an der Seite ein Plakat klebte. Darauf war ein Mann zu sehen. Er hielt ein süßes Lamm auf dem Arm und lächelte verschmitzt in die Kamera. Darüber machte Leonie gerade noch die Worte DerFöhrer Schafsflüsterer aus, bevor Anja auf den Parkplatz vor dem Lüttes Glück fuhr.

Damit musste Sören Schippmann gemeint sein. Trotz des Nieselregens hatte sich vor dem Automaten eine kleine Schlange an Urlaubern gebildet. Sie kauften Käse und Milch fürs Abendbrot oder als kulinarisches Mitbringsel für zu Hause.

Anja winkte ein paar Feriengästen zu, die aus der kleinen Inselpension traten und zu ihrem Auto gingen.

Leonie vermutete, dass sie aufbrachen, um in einem der Restaurants zu Abend zu essen. Sie sah auf die Uhr. Es war bereits nach sechs und schon fast dunkel. Durch den Regen würde die Nacht früher hereinbrechen.

Kaum war Leonie ausgestiegen, kam auch schon Joris aus der Pension gestürmt. Er zog die Kapuze seiner Windjacke über den Kopf. Anja hatte ihr erst kürzlich ein Foto von sich und ihrem Freund geschickt. Er war nicht Leonies Typ, sie stand mehr auf extrovertierte Männer, aber auch sie fand, dass er gut aussah, sehr männlich. Er strahlte Kraft und Verlässlichkeit aus.

»Willkommen auf Föhr«, begrüßte er Leonie und schloss sie herzlich in die Arme, obwohl sich der Regen in ihrer Strickjacke und ihren Haaren fing.

Der Duft eines erdigen Männerparfüms stieg ihr in die Nase. »Schön, dich endlich kennenzulernen. Ich habe schon viel von dir gehört.«

»Ach, ja?«, fragte er neugierig und ließ sie los. Er warf Anja einen amüsierten Blick zu und sagte zu Leonie: »Das Thema sollten wir bei einem Glas Wein vertiefen.«

»Besser nicht«, wiegelte Anja ab und errötete. »Die Schwärmerei könnte dir zu Kopf steigen.«

Zärtlich küsste er sie. Er hob den Koffer aus dem Wagen und zeigte zum einzigen Wohnwagen auf dem Campingplatz neben dem Lüttes Glück. »Ich bringe dein Gepäck schon mal in deine Unterkunft«, sagte er zu Leonie.

»Danke.« Leonie zog den Rucksack aus dem Auto und hängte ihn über die Schulter.

Der Caravan hatte schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel, war jedoch geräumig genug für eine Person. Er hatte breite grüne Streifen an den Seiten. Gardinen mit Lampionblumen hingen an den Fenstern. Durch die Scheibe sah Leonie, dass jemand einen Blumenstrauß mit Sonnenblumen und Strandhafer auf den Esstisch gestellt hatte, vermutlich Anja. Ein Vorzelt gab es nicht, aber er stand im Windschatten des Gebäudes.

Während sie an der Linde vorbeispazierten, erzählte Anja: »Wir haben lange nach einem Namen für unseren kleinen Campingplatz gesucht. Hilde, Godo und ich haben tagelang leidenschaftlich diskutiert. Ich hatte Wolke Sieben oder Hinter der Linde vorgeschlagen, konnte die beiden aber nicht begeistern. Schließlich haben wir uns auf Möwennest geeinigt, damit können wir alle leben. Natürlich kam der Vorschlag von Hilde.«

»Hat sie sich also mal wieder durchgesetzt«, sagte Leonie und lächelte ironisch. Sie hatte schon einiges über Hilde, das Föhrer Original, gehört.

»Sei’s drum. Mir gefällt er. Ich gönne ihr diesen kleinen Triumph.« Anja zuckte mit den Schultern, die schon ganz nass waren, aber sie störte sich nicht daran.

»Wird dir die zusätzliche Arbeit durch den Campingplatz nicht zu viel werden?«, fragte Leonie besorgt.

Anja schüttelte den Kopf. »Nein, ich freue mich auf noch mehr Feriengäste, und ich habe ja jede Menge Unterstützung. Godo wird den Platz betreuen, Hilde macht den Frühstücksservice in der Pension, Sören liefert den Schafskäse, und Maike backt den Kuchen für Martinas Gartencafé.«

So gelassen war Anja in Köln nicht gewesen. Leonie hatte früher immer eine Grundanspannung bei ihr gespürt. Anja hatte immer einen verkniffenen Zug um den Mund gehabt, aber der war nun weg.

Lächelnd sagte Leonie: »Du wirkst beneidenswert glücklich.«

»Bin ich auch«, erwiderte ihre Schwester, ohne zu zögern.

Joris kam aus dem Caravan. »Das Bett ist überzogen, Strom und Gas sind angeschlossen, und der Wassertank ist voll. Ich habe die Heizung angeschaltet. Es wird jedoch einen Moment dauern, bis es warm ist. Die Nordseeperle ist bereit für deinen Einzug.«

»Nordseeperle?«, fragte Leonie und zog die Augenbrauen hoch.

»So heißt der Wohnwagen.« Joris deutete auf einen fast verblassten Schriftzug. »Ich lasse euch jetzt allein. Ihr habt bestimmt viel zu besprechen. Falls ihr etwas braucht, gebt mir Bescheid.«

Erneut bedankte sich Leonie bei ihm. Sie war immer selbstständig gewesen, darum fiel es ihr schwer, Hilfe anzunehmen.

Anja strahlte ihn an. »Du bist ein Schatz.«

»Ich will nur dein Schatz sein.« Joris küsste sie. Dann schob er sie sanft zur Tür. »Aber jetzt geht schnell rein. Ihr seid ja schon ganz nass«, sagte er und zog sich zurück.

Anja ließ ihrer Schwester den Vortritt. »Macht es dir auch wirklich nichts aus, im Caravan zu wohnen?«

»Der Bungalow, in dem Nico und ich gewohnt haben, war auch nicht viel größer«, beruhigte Leonie sie.

Anja folgte ihr hinein. »Es tut mir leid, dass ich kein Zimmer frei habe.«

»Es ist doch super, dass du ausgebucht bist«, erwiderte Leonie begeistert. »Das Lüttes Glück läuft gut an.«

»Ja, schon, aber der Wohnwagen ist nur eine Notlösung.« Leise schloss Anja die Tür. »Du wolltest ja nicht auf meiner Couch schlafen.«

»Auf Dauer wäre mir die zu unbequem gewesen. Außerdem wollte ich Joris und dich nicht stören«, erklärte Leonie und stellte den Rucksack auf die Sitzbank.

Joris war vor einem Monat zu Anja ins Dachgeschoss der kleinen Inselpension gezogen. Er hatte angeboten, eine Zeit lang in seiner alten Wohnung über der Strandkorbmanufaktur zu schlafen, aber das wollte Leonie den beiden nicht antun. Sie wusste, dass er schon wegen Christins plötzlichem Auftauchen den Umzug hatte verschieben müssen.

»Mir gefällt die Idee mit dem Wohnwagen«, versicherte Leonie ihrer Schwester. »Ich bin in deiner Nähe, habe aber mein eigenes Reich und falle dir nicht zur Last.«

»Das tust du sowieso nicht«, stellte Anja klar, fasste sie an den Schultern und sah ihr in die Augen. »Ich bin sehr glücklich, dass du hier bist.«

»Ich auch.« Sie drückte ihre Schwester an sich. »Es tut so gut, bei dir zu sein.«

Dicht an ihrem Ohr fragte Anja: »Hast du Hunger?«

»Nein.« Leonie ließ sie los und schüttelte den Kopf. »Ich bin wirklich neugierig darauf, wie das Lüttes Glück innen aussieht, aber ich habe heute nicht mehr die Energie für eine Führung. Sei mir bitte nicht böse. Ich möchte nur noch ins Bett.«

»Klar, versteh ich. Aber eine Tote Tante trinkst du noch mit mir, oder?« Ein erwartungsvolles Lächeln trat in Anjas Gesicht. »Das ist heiße Schokolade mit Sahnehaube und einem ordentlichen Schuss braunem Rum. Danach wirst du schlafen wie ein Baby.«

Leonie gab nach. »Gerne.«

»Warte hier!«, bat Anja und war schon halb aus der Tür. »Ich bin gleich wieder zurück.«

Als Leonie allein war, sah sie sich im Wohnwagen um. Er war zweckmäßig eingerichtet und roch fremd, aber Anja hatte sich Mühe gegeben, ihn einladender zu gestalten. Ein brombeerrotes Deckchen lag auf dem Tisch, darauf stand der Blumenstrauß. Ein handgeschriebenes und mit Herzchen verziertes Herzlich willkommen-Schild hing am Oberschrank. Ein Foto, das Leonie und sie mit ihrer verstorbenen Mutter Martina zeigte, lehnte an der Blumenvase.

Wehmütig dachte Leonie an die guten alten Zeiten ihrer Kindheit zurück, in denen ihre Mutter noch gelebt, ihr Vater noch zur Familie gehört und sie Urlaub auf Föhr gemacht hatten. Damals hatte ihr Leben nur aus Abenteuern, Schabernack und Lachen bestanden. Leonie hatte geglaubt, dass ihr die ganze Welt offenstand und alles möglich war.

Doch im Moment hatte sie das Gefühl, vor einer Wand zu stehen. Sie konnte nicht sehen, was dahinter lag, und die Mauer auch nicht überwinden. Also blieb sie hilflos, wo sie war.

Anja kehrte zurück und vertrieb die negativen Gedanken allein durch ihre Anwesenheit. Aus den zwei gläsernen Tassen in ihren Händen duftete es köstlich nach Kakao. Sie setzte sich an den kleinen Tisch, und Leonie nahm ihr gegenüber Platz. Das Marschland hinter dem Fenster wirkte verzerrt durch die Regentropfen, die an der Scheibe hinabrannen.

Anja stellte die Tassen ab, zog den Pullover, den sie unter dem Arm geklemmt hatte, hervor und reichte ihn Leonie. »Zieh besser die nasse Strickjacke aus. Nachher erkältest du dich noch.«

»Das ist lieb von dir.« Erleichtert schlüpfte Leonie in den kuscheligen Pulli. Er hatte weiße und rote Querstreifen, Streifenmuster machten ihr stets gute Laune. Sofort war ihr wärmer. »Morgen werde ich Joris noch mal danken, dass er den Wohnwagen so schnell organisiert hat.«

Stolz sagte Anja: »Die Inselgrafen kennen jeden auf Föhr und machen das Unmögliche möglich.«

»Inselgrafen?« Leonie runzelte die Stirn.

Auffordernd schob Anja ihr den Kakao zu. »Das ist der Spitzname von Joris und seinen Brüdern Tjorben und Arian, weil sie mit Nachnamen Graf heißen und sich auf Föhr engagieren. Manche Einheimischen machen ihnen das zum Vorwurf, was ich unmöglich finde. Angeblich fühlen sie sich von ihnen bevormundet. So ein Quatsch! Die drei tun wenigstens etwas und meckern nicht bloß über die hiesigen Probleme.«

»Du verteidigst sie ja wie eine Löwenmutter. Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen«, sagte Leonie und wärmte ihre Finger an der Tasse. »Wie geht es Christin?«

»Sie hat Herzchen in den Augen, steht ihr ausgezeichnet. Tjorben und sie sind total verknallt ineinander. Auf den ersten Blick passen sie nicht zusammen, aber das täuscht. Durch die Unterschiede ergänzen sie sich prima«, erzählte Anja strahlend. »Wie sie sich gegenseitig anschmachten … Sie halten die ganze Zeit Händchen, als wären sie aneinander festgeklebt.«

»Wie süß! Lebt Christin schon auf Föhr?«, wollte Leonie wissen. Sie kannte Christin genauso lange wie ihre Schwester und mochte sie. Nahegestanden hatten sie sich allerdings nie, dafür unterschieden sie sich zu sehr voneinander. Christin war vernunftgesteuert, Leonie dagegen hörte mehr auf ihr Bauchgefühl.

Anja nippte an ihrer Toten Tante. »Nein, offiziell wohnt Christin noch nicht hier, aber sie kommt oft zu Besuch. Sie hat eine Stelle im Rathaus bekommen und wird dort am ersten Januar anfangen. Bis dahin möchte sie sich umgemeldet, den Haushalt in Köln unter Franjo und sich aufgeteilt haben und bei Tjorben eingezogen sein.«

»Ich dachte, sie bleibt für immer mit diesem Spießer verheiratet«, gestand Leonie, nahm mit dem Zeigefinger etwas Schlagsahne auf und leckte sie ab.

»Ich auch, aber sie hat alle überrascht, sich selbst am meisten.« Anja schmunzelte. »Franjo und sie wollen im Guten auseinandergehen und haben einen gemeinsamen Rechtsanwalt mit der Scheidung beauftragt.«

»Hut ab! Ich hoffe, es wird ihnen gelingen.« Leonie verzog das Gesicht und fuhr fort: »Ein Glück, dass Nico und ich nicht verheiratet waren. Bei uns würde eine Scheidung nicht so friedlich ablaufen.«

»Bevor ich es vergesse …«, begann Anja und zeigte zum Herd. »Den brauchst du nicht. Du kannst dich selbstverständlich morgens kostenlos am Büfett im Frühstücksraum und nachmittags an Waffeln und Kuchen bedienen. Mittags koche ich für alle guten Geister der Pension, manchmal übernimmt auch Hilde das, oder Imke bringt Eintopf vorbei. Das ist die ältere Dame, die auf der anderen Seite wohnt. Sie umsorgt alle gerne und ist ein wenig wie die Großmutter aller Walsumer.«

Leonie winkte ab. »Mach dir bitte keine Umstände.«

»Wir verwöhnen dich gerne. Außerdem hast du dich dazu bereit erklärt, unseren Campingplatz zu testen, und dir dafür eine Entlohnung verdient«, rechtfertigte Anja ihr Rundumsorglos-Paket. »Die Sanitäranlagen sind seit gestern in Betrieb. Wir müssen nur noch das Häuschen mit den Toiletten und den Duschen von außen anstreichen.«

»Ist dir eigentlich bewusst, dass du ständig von ›wir‹ und ›uns‹ sprichst«, bemerkte Leonie. Sie nahm einen großen Schluck heiße Schokolade und leckte den Sahnebart von der Oberlippe. »Dabei gehört das Lüttes Glück doch dir.«

»Vertraglich trifft das zu, aber Hilde, Godo und Joris leben ja mit mir unter einem Dach und helfen mir«, erwiderte Anja fröhlich. »Auch von den anderen Walsumern bekomme ich so viel liebe Unterstützung, dass die kleine Inselpension inzwischen ein Gemeinschaftsprojekt ist.«

»Du hast hier eine neue Familie gefunden«, stellte Leonie fest und verspürte einen Stich im Herzen.

»Ja, das habe ich.« Anja streckte ihre Hand über den Tisch und berührte Leonies Arm. »Aber du stehst mir am nächsten.«

Leonie wurde ganz warm ums Herz. »Mit Papa haben wir schon lange nur noch sporadisch Kontakt, dann bin ich auch noch ins Ausland gezogen. Du musst dich von uns im Stich gelassen gefühlt haben.«

»Nein, das habe ich nicht«, wiegelte Anja ab. »Ich habe ja auch meine eigenen Ziele verfolgt. Auf Föhr habe ich dann etwas gefunden, das ich gar nicht gesucht hatte. Vielleicht wird es dir genauso ergehen.«

Leonie grinste sie an. »Sprichst du von der Liebe?«

»Ja, das auch, aber ich meinte, neue richtig gute Freunde«, erklärte Anja. »Du bist abenteuerlustig und musstest deinen eigenen Weg gehen.«

Bedrückt starrte Leonie in ihr Heißgetränk. Sie musste an ihre Schulzeit denken. In Freundschaftsbüchern wurde sie gefragt, was sie sich am meisten wünschte. Die Welt zu bereisen, hatte sie schon damals geschrieben. Da draußen warteten große Abenteuer auf sie, nicht in Deutschland. »Mein Traum ist geplatzt. Das Leben hat mir die Flügel gestutzt.«

»Unsinn«, erwiderte Anja energisch und wischte durch die Luft. »Du hast eine Bruchlandung hingelegt. Na und? Aufstehen, Krönchen zurechtrücken, und schon kannst du zu neuen Ufern aufbrechen.«

»Meinst du wirklich?«, fragte sie hoffnungsvoll. War es wirklich so einfach?

»Schlaf jetzt erst einmal. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus«, sagte Anja aufmunternd.

»Du klingst so zuversichtlich, wie unsere Mutter.« Leonie nahm das Foto und seufzte schwer. »Ich vermisse sie sehr.«

»Ich auch. Aber wir haben immer noch uns.« Anja stand auf, küsste Leonie auf den Scheitel und holte eine Plätzchendose aus dem Küchenschrank. »Da sind Friesenkekse drin. Die habe ich zusammen mit Ilse gebacken. Das ist Joris’ Mutter.«

»Also deine Schwiegermutter«, neckte Leonie sie.

»Vielleicht, eines Tages, das wäre schön«, gab Anja zu und lächelte verliebt. Sie stellte die Dose vor Leonie hin. »Falls du doch Hunger bekommst.«

Zum wiederholten Male seit der Landung auf dem Flugplatz in Wyk sagte Leonie Danke.

Was würde sie nur ohne ihre Schwester tun? Sie wüsste nicht einmal, wohin sie hätte gehen sollen. Durch Anja hatte sie eine Bleibe und war versorgt. Das wusste sie sehr zu schätzen. Aber sie wollte ihre Hilfe nicht überstrapazieren. Sie musste sich schnell darüber klarwerden, wie es weitergehen sollte.

»Verschiebe das Grübeln auf Morgen und komm erst einmal an«, schlug Anja vor und strich über die Sorgenfalten auf Leonies Gesicht. »Gute Nacht.«

Leonie bemühte sich um ein Lächeln, damit sich ihre Schwester keine Sorgen um sie machte. »Die wünsche ich dir auch«, erwiderte sie.

»Im Kühlschrank stehen übrigens Getränke«, sagte Anja, bevor sie ging.

Leonie war zu erschlagen, um zu duschen oder sich die Zähne zu putzen. Sie zog nur ihre Jeans aus und kuschelte sich mit Pullover, Unterwäsche und Socken ins Bett.

Der Bezug duftete frisch gewaschen, ein Geruch, der ein Wohlgefühl in ihr auslöste. Der Kakaogeschmack lag ihr noch auf der Zunge und erinnerte sie an Anjas tröstende Worte. Der Alkohol entspannte sie, er war wie eine warme Umarmung. Die Strapazen der Anreise fielen langsam von ihr ab.

Sogar der Niederschlag beruhigte sie. Auf Koh Samui hatte der Monsun lange heftige Wolkenbrüche gebracht, auf Föhr trommelte der Regen jedoch sanft aufs Wohnwagendach. Das Geräusch lullte sie ein.

Leonie fühlte sich gut aufgehoben und glitt in einen ruhigen Schlaf.

Kapitel 3

Schon während Arian vor der zu einem Wohnhaus umgebauten Windmühle seiner Eltern parkte, sah er sich aufmerksam nach allen Seiten um. Er nahm nichts Auffälliges wahr, trotzdem blieb er angespannt.

Er stieg aus, steuerte jedoch nicht sofort auf den Eingang zu, sondern ging die Straße auf und ab. Gewissenhaft überprüfte er die Umgebung. Er schaute sogar hinter die Syltrosen, die überall um die Mühle herum wuchsen und in diesem Herbst reichlich Hagebutten trugen, nur um sicherzugehen, dass Lutz Beck sich dort nicht versteckte.

Hoffentlich beobachtet mich niemand, dachte Arian. Er verhielt sich verdächtig, dabei wollte er seine Mutter vor ihrem Stalker beschützen.

Beck war zwar nicht mehr aufgetaucht, seit Arian und seine beiden Brüder ihn Ende August im Lüttes Glück zur Rede gestellt hatten, aber man konnte ja nie wissen.

Im September hatte Tjorben gemeint, ihn auf dem Wyker Fischmarkt gesehen zu haben. Er rannte ihm hinterher, verlor ihn jedoch aus den Augen. Ob es tatsächlich Beck war, blieb ungewiss.

Und nun war Joris überzeugt, Beck vor ein paar Tagen auf dem Jahrmarkt auf dem Heymann-Parkplatz erkannt zu haben.

Arian wiederum hatte kürzlich abends im Garten der Eltern Schuhabdrücke entdeckt. Am nächsten Morgen waren die Spuren weg. Er hatte Zweifel bekommen. Hatte der Regen sie fortgespült oder hatte er sie sich nur eingebildet?

Lutz Beck verfolgte sie wie ein Dämon. Indem sie regelmäßig bei ihrer Mutter vorbeischauten, wollten sie auch ihre eigenen Nerven beruhigen.

Arian klingelte.

Es dauerte etwas, bis Ilse ihm öffnete. Zögerlich zog sie die Tür ein Stück auf und linste durch den Spalt. Als sie sah, wer es war, stieß sie erleichtert die Luft aus. Lächelnd öffnete sie die Tür. »Hallo, Schatz. Warum benutzt du nicht deinen Schlüssel?«

»Er ist doch nur für Notfälle«, antwortete er und umarmte sie. »Das ist euer Haus.«

Tadelnd sah sie ihn an und strich ihm dann liebevoll über die Wange. Erinnerungen kamen hoch. Wie er einmal heimlich mit seinen Brüdern eine Nachtwanderung gemacht hatte, obwohl sie am nächsten Tag in die Schule mussten. Nachher hatte ihre Mutter sie gerügt, aber auf zärtliche und fürsorgliche Art und Weise.

»Das war zu gefährlich, ohne einen Erwachsenen«, hatte sie geschimpft. »Ich war krank vor Sorgen. Macht das ja nie wieder! Außerdem werdet ihr morgen im Unterricht nichts mitbekommen, weil ihr zu müde seid.«

Jetzt, achtundzwanzig Jahre später, schnalzte sie missbilligend mit der Zunge, lächelte dann nachsichtig. »Du wirst hier immer zu Hause sein.«

Arian schüttelte den Kopf. Nach allem, was sie mit Lutz Beck erlebt hatte, konnte er das Haus nicht einfach so betreten, ohne sich vorher bemerkbar zu machen. »Ich will euch nicht zu Tode erschrecken, wenn ich plötzlich im Wohnzimmer stehe.«

Das sah seine Mutter wohl ein, sie ließ das Thema auf sich beruhen. »Komm rein! Nachts ist es schon recht frisch.«

Er trat ein und hängte seinen dunklen Baumwollmantel an die Garderobe.

Der typische Geruch seines Elternhauses hieß ihn willkommen. Er setzte sich aus vielen Düften zusammen. Eine Mischung, die Teppiche, die Polstermöbel und die Holzschränke, aber auch die Kleidung und die Haare seiner Mutter.

Arian fühlte sich sofort geborgen.

Oft hing noch der appetitliche Duft des warmen Abendessens in den Räumen. Heute erinnerte er Arian an den Sonntagsbraten, ein Highlight für ihn als Kind, an Wochentagen gab es meistens Fisch. Dann sonntags das entspannte Essen zu fünft.

Meistens hing auch das köstliche Aroma von Tee in den Räumen, weil fast immer eine Kanne auf dem Stövchen stand. So war es auch jetzt, als Arian durch den Gang lief. Wärme breitete sich in ihm aus.

Im Sommer hielt seine Mutter auf ihren Fahrten mit dem Fahrrad über die Insel gerne spontan an, pflückte Wildblumen und arrangierte sie dann zu Hause zu bunten Sträußen, die ihren süßlichen Geruch verströmten. Im Herbst und Winter stand im Wohnzimmer ein Potpourri mit Blüten, die sie selbst getrocknet hatte und teils mit Duftöl aus Zimt, Orange, Nelke und Anis beträufelte.

Es gab nur einen Geruch, den Arian gerade vermisste, nämlich den der Ölfarben. Seit seine Mutter nicht mehr malte und ihre Staffelei, die Pinsel und all die anderen Utensilien weggeräumt hatte, fehlte er. Das versetzte Arian bei jedem Besuch aufs Neue einen Stich. Dieser Duft hatte bei ihm, der ja selbst leidenschaftlich malte, immer das größte Glücksgefühl ausgelöst. Er erinnerte ihn an ihre besondere Gemeinsamkeit.

»Warum bist du heute Abend nicht beim Treffen des Fering Ferian wie Joris, Tjorben und dein Vater?«, fragte seine Mutter, während sie das Wohnzimmer betraten.

»Ich habe noch gemalt. Mir gehen die Gemälde aus.« Das stimmte, doch nur deshalb wäre er niemals der Versammlung ferngeblieben. In Wahrheit wollte er ein Auge auf seine Mutter werfen, so wie er es mit seinen Brüdern vereinbart hatte.

Sie nahm im Ohrensessel Platz und sah bedauernd zu ihm hoch. »Es tut mir leid, dass ich dir dabei nicht mehr helfen kann.«

»Ich kriege das schon hin«, sagte er, damit sie kein schlechtes Gewissen bekam.

Seit sie jedoch aus der Galerie, die sie eine Weile gemeinsam geführt hatten, ausgestiegen war, stand er ziemlich unter Druck. Tagsüber musste er im Verkaufsraum des Strandmohn stehen, und nebenher musste er dann noch jede freie Minute nutzen, um neue Bilder mit Inselszenen malen. Das kostete ihn viel Kraft, ein Privatleben hatte er kaum noch. An sich machte ihm das Malen immer noch Spaß, aber es war zum Teil zu einer Notwendigkeit geworden, und das schmälerte das Vergnügen.

Früher hatten sich seine Mutter und er abwechselnd um die Kunden gekümmert und sich also auch abwechselnd ins Atelier zurückziehen und sich ganz der Kreativität hingeben können. Sie zeigten sich ihre frischen Werke gegenseitig, äußerten besonnen Kritik und motivierten einander, noch besser zu werden.

Arian sehnte sich nach diesen Zeiten zurück. Es war doch so viel schöner, seine Freude mit jemandem zu teilen.

Er setzte sich auf das Sofa und fragte besorgt: »Warum bist du nicht mitgegangen?«

»Ich muss dringend einige Sachen für Leonie stricken und habe gerade erst die Wolle rausgesucht.« Seine Mutter zeigte auf zimtbraune und anisweiße Wollknäuel, die neben ihr in einem Rattankorb lagen. »Möchtest du Tee? Ich habe gerade eine Kanne aufgegossen. Auf mich wartet eine lange Stricknacht.«

»Nein, danke.«

Als ob die Handarbeit nicht bis morgen warten könnte, dachte er. Seine Mutter nutzte jede Ausrede, um das Haus nicht verlassen zu müssen. Vermutlich hatte sie immer noch Angst, Lutz Beck zu begegnen. Das machte Arian wütend. Sie hatte sich von fast allem, was ihr einst lieb und teuer war, zurückgezogen – selbst von ihm, ihrem heimlichen Lieblingssohn.

Eher beiläufig fragte er: »Ist Anjas Schwester schon angekommen?«

»Ja, und sie hat keine warme Kleidung, weil sie doch direkt aus Thailand angereist ist. Die Arme.« Seine Mutter sah ihn besorgt an. »Das hat Anja mir erzählt, sie hat vor einer Viertelstunde angerufen.«