Lüttes Glück - Ein Geheimnis am Nordseedeich - Marie Schönbeck - E-Book

Lüttes Glück - Ein Geheimnis am Nordseedeich E-Book

Marie Schönbeck

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Beschreibung

Nach der Neueröffnung übernachten die ersten Gäste in Lüttes Glück. Auch Anjas beste Freundin Christin sucht Zuflucht, nachdem ihr Mann sie betrogen hat und sie dringend eine Auszeit braucht. Als Christin Tjorben Graf kennenlernt, ist sie fasziniert von dem attraktiven Kapitän, Wattwanderführer und Mitarbeiter im Robbenzentrum auf Föhr. Doch ihre Wunden sind tief und Christin blockt Tjorbens Annäherungsversuche ab. Eines Tages entdeckt sie am Strand eine verletzte Robbe und ruft Tjorben zu Hilfe. Ein Jetski hat das Tier schlimm zugerichtet und die beiden machen sich auf die Suche nach dem skrupellosen Täter. Dabei kommen sie sich näher. Und dann stoßen sie auf ein Geheimnis, dass das Glück der ganzen Familie Graf und aller, die ihnen nahestehen, zerstören könnte …

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Seitenzahl: 510

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Das Buch

Tjorben sah Christin an und sagte hoffnungsvoll: »Vielleicht könntest du doch auf Föhr heimisch werden. Wenn es jemanden gäbe, bei dem du dich sicher fühlen würdest. Jemand, der ein Schiff hat und dich jederzeit zum Festland bringen könnte, zum Beispiel wenn eine Sturmflut vorhergesagt ist. Du hättest dein persönliches Rettungsboot. Dann bräuchtest du keine Angst zu haben.«

»Ja, das würde helfen.« Ihre Wangen glühten so heiß wie die Sonne, die direkt über ihnen stand. Ihre eigene Sehnsucht spiegelte sich in seinem Blick. In diesem Moment schien alles möglich zu sein.

Doch schon einen Augenblick später war Christin nicht mehr sicher, ob sie seine Worte richtig verstanden hatte. Daher riss sie sich von ihm los und beobachtete die Surfanfänger bei ihren ersten Stehversuchen auf dem Board im Wasser.

Die Autorin

Marie Schönbeck hat sich in das Nordfriesische Wattenmeer verliebt. Für sie sind die Küsten und Inseln Sehnsuchtsorte. Oft fährt sie mit ihrem Mann und ihren Hunden an die Nordsee, um lange Spaziergänge am Strand zu machen und die wildromantische Natur zu genießen. Während sie eines Tages in einem Strandcafé saß, Tee trank und friesisches Mandelgebäck mit Schokoladenguss aß, kam ihr die Idee zur Romanreihe um die kleine Inselpension Lüttes Glück auf Föhr.

Lieferbare Titel

Schokolade am Meer – Süße WünscheSchokolade am Strand – Süße TräumeSchokolade am Leuchtturm – Süßes ErbeLüttes Glück – Ein Traum am Nordseestrand

Marie Schönbeck

Ein Geheimnis am Nordseedeich

LÜTTES GLÜCK

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 05/2024

Copyright © 2024 by Marie Schönbeck

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Loel Zwecker

Umschlaggestaltung: zero-media.net unter Verwendung von Finepic ®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-28246-2V001

www.heyne.de

»Die Zukunft hat viele Namen.Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare.Für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte.Für die Tapferen ist sie die Chance.«

Victor Hugo, französischer Schriftsteller

(Einige der Nebenfiguren sind durch reale Personen inspiriert, aber die Dialoge und ihr Handeln sind frei erfunden.)

Kapitel 1

Als Christin Horvat abends von der Arbeit nach Hause kam und die Haustür ihres Reihenhauses aufschloss, hörte sie drinnen schon das Telefon klingeln. Rief Franjo etwa an, um ihr mitzuteilen, dass er keine Überstunden machen und also doch rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein würde?

Sein Smartphone benutzte er fast nie. Er besaß es nur für Notfälle und mochte es nicht, dass viele Menschen nur noch auf ihr Mobiltelefon starrten. Er arbeitete im Pfandleihhaus seiner Eltern und regte sich oft auf, dass so manch ein Kunde seinen Ehering oder das goldene Babyarmband, das er zur Geburt seines Kindes geschenkt bekommen hatte, versetzte, um seine Handyrechnung bezahlen zu können.

Voller Hoffnung beeilte sie sich trotz der Hitze, die Köln in einen Backofen verwandelt hatte. Christin trat ins Haus, warf die Tür hinter sich zu und eilte ins Wohnzimmer, das nach den Vanilleduftkerzen, die im Raum verteilt standen, roch.

Die Telefonnummer, die auf dem Display aufleuchtete, war nicht die von Franjo. Christin ließ die Mundwinkel hängen, doch dann erkannte sie die Vorwahl von Föhr, und ihre Enttäuschung wich großer Freude. Anja rief an!

Aufgeregt riss Christin das Telefon aus der Station und meldete sich: »Hallo Anja. Wie schön, von dir zu hören!«

»Moin, Christin«, schallte es fröhlich durch die Leitung. »Hast du Zeit zum Schnacken?«

Christin legte ihren Schlüsselbund und ihre Handtasche auf den Schuhschrank. »Du klingst schon norddeutsch.«

»Das sehen die Norddeutschen bestimmt anders«, erwiderte ihre beste Freundin mit einem Lächeln in der Stimme. »Ich hatte dir doch versprochen, mich zu melden, wenn die ersten Gäste da sind.«

»Und? Sind sie nett? Fühlen sie sich im Lüttes Glück wohl? Wie ist es, eine eigene Pension zu führen? Ist es so, wie du es dir vorgestellt hattest? Erzähl schon! Ich platze vor Neugier«, sprudelte es aus Christin heraus, während sie die Bluse, die an ihrem verschwitzten Rücken klebte, von ihrer Haut wegzog. Sie beneidete ihre Freundin um ihren Mut. Sie hätte es sich nicht getraut, ihr altes Leben in Köln über Bord zu werfen und auf einer Nordseeinsel noch einmal neu anzufangen.

Ihr Blick fiel auf ihr erhitztes Gesicht im Spiegel, der über dem Sideboard hing, damit das kleine Wohnzimmer größer wirkte. Plötzlich kam sie sich furchtbar langweilig vor. Sie trug ihr hellblondes Haar noch immer glatt, wie schon als Kind, nur dass es ihr inzwischen nicht mehr bis zu den Hüften reichte, sondern zu den Schultern. Sie arbeitete noch immer in der Bank, in der sie ihre Ausbildung gemacht hatte, und war mit ihrem Schulfreund Franjo verheiratet.

»Alles ist neu für mich, was irre spannend, aber auch anstrengend ist«, erzählte Anja. »Mir fehlt die Routine. Ich bin froh, dass Hilde den Frühstücksservice übernommen hat und mir mit Rat und Tat zur Seite steht.«

»Dann verstehst du dich mit der Vorbesitzerin jetzt besser als am Anfang?«, fragte Christin. Sie setzte sich auf die Couch und streifte sich die Ballerinas und Söckchen von den Füßen. In der Bank musste sie auch im Hochsommer geschlossene Schuhe tragen, was im temperierten Gebäude erträglich, aber draußen eine Qual war. Ihre Freundin dagegen lebte nach ihren eigenen Regeln. Christin beneidete sie um diese Freiheit.

»Ja.« Amüsiert fuhr Anja fort: »Manchmal denkt sie noch, sie hätte das Kommando, aber wir sitzen öfters zusammen auf der Holzbank im Garten. Früher hat sie nur zu Beuteltee gegriffen. Inzwischen weiß sie meinen losen Tee zu schätzen, gibt es aber nicht zu. Typisch Hilde eben. Manchmal lässt sie beiläufig fallen, dass sie eine Tasse mittrinken würde, sollte ich zufällig eine Kanne zubereiten.«

»Sag mir nicht, dass du komplett auf Kaffee verzichtest?«, fragte Christin überrascht und machte sich plötzlich Sorgen, dass sie sich mehr als nur räumlich voneinander entfernt haben könnten. Sie musste daran denken, wie oft sie hier auf dem Sofa nebeneinandergesessen und Milchkaffee mit köstlich süßem Sirup getrunken hatten. Sie sehnte sich nach diesen Zeiten.

»Nein, auf keinen Fall. Das könnte ich niemals.« Anscheinend empfand Anja dieselbe Sehnsucht wie Christin, denn sie fügte mit sanfter Stimme hinzu: »Ich vermisse unseren Kaffeeklatsch.«

Christin setzte sich auf die Couch und sah auf den leeren Platz neben sich. »Und ich vermisse dich, sehr.«

»Ich dich auch, Süße. Wir müssen uns dringend mal wiedersehen. Wann kommst du mich auf Föhr besuchen?« Stille am anderen Ende der Leitung.

Dann antwortete Christin zögerlich: »Bald, bestimmt.«

Der nächste Urlaub stand erst im Herbst an, weil nach den Schulferien die Preise fielen und Franjo ein Sparfuchs war. Zudem war er ein Gewohnheitsmensch und hatte schon dasselbe Zimmer in dem Hotel in Dubrovnik gebucht, wie jedes Jahr. Sie konnte ihn einfach nicht davon überzeugen, mal woanders hinzufahren. Er hatte schon als Junge die Sommerferien mit seinen Eltern an der Adria verbracht.

Petar, sein Vater, hatte dort das Licht der Welt erblickt und einundzwanzig Jahre später in der malerischen Altstadt Dubrovniks Monika, die aus Köln stammte und im Süden Kroatiens Urlaub machte, kennengelernt. Ein Jahr später war er zu seiner großen Liebe nach Deutschland gezogen, und sie hatten geheiratet.

Schon wegen der Liebesgeschichte seiner Eltern hatte Franjo ein besonderes Verhältnis zu der Küstenstadt. Außerdem brauchte er Beständigkeit, das wusste Christin. Veränderungen verunsicherten ihn.

Christin war auch kein Freund von Überraschungen und fuhr gerne in gewohnten Gewässern, aber in diesem Fall sehnte sie sich nach Abwechslung.

»Ich habe mich nicht vollkommen verändert, falls das deine Sorge ist«, kam Anja auf ihr Gespräch über ihren gestiegenen Teekonsum zurück. »Tee habe ich schon immer getrunken, aber nicht mit dir, weil du ihn ja nicht magst. Inzwischen brauche ich meine tägliche Tasse zum Wohlfühlen, genauso wie meinen Becher Kaffee am Morgen.«

»Damit kann ich leben«, erwiderte Christin und lachte.

»Vielleicht solltest du dem Tee doch noch eine Chance geben«, schlug Anja vor.

»Nein, ich denke eher nicht. Ich habe ihm noch nie etwas abgewinnen können.« Bestimmt sagte Christin: »Ich gehöre vollkommen zum Team Kaffee.«

»Wenn du herkommst, werde ich dir einen leckeren Ostfriesentee mit Sahnewölkchen und Kluntje machen«, kündigte Anja fröhlich an. »Das schmeckt köstlich! Den wirst selbst du mögen.«

»So habe ich ihn noch nie getrunken«, gab Christin zu.

»Dann wird es aber Zeit«, zwitscherte Anja heiter.

Christin fragte sich, wann sie das letzte Mal etwas Neues ausprobiert hatte, und da fiel ihr bloß eine Schokolade vom Discounter ein, weil Franjo sie ermahnt hatte, preisgünstiger einzukaufen.

Die Miete für das Reihenhaus war immer mehr gestiegen und hatte astronomische Höhen erreicht, aber Franjo wollte unbedingt neben seinen Eltern wohnen bleiben. Christin hatte vorgeschlagen, in den Speckgürtel von Köln zu ziehen oder noch weiter raus, wo die Mieten zwar immer noch hoch waren, man aber beim Blick auf die Abbuchung keine Schweißausbrüche bekam. Zudem war das Umland grüner, und es gab weniger Verkehrslärm. Doch Franjo hatte sich nicht überzeugen lassen.

Die Schokolade war viel zu süß und krümelig gewesen, also kaufte Christin heimlich wieder ihre alte Marke, die Quittungen verlangte Franjo schließlich nicht. Er war sparsam, aber kein Kontrollfreak.

»Wie läuft Martinas Gartencafé an?«, wollte Christin wissen und wünschte sich, sie könnte das Café auf der Terrasse der kleinen Inselpension, das Anja nach ihrer verstorbenen Mutter benannt hatte, mit eigenen Augen sehen.

Ihre Freundin hatte ihr zwar Fotos vom Lüttes Glück und von Walsum mit der großen Trauerweide auf dem Dorfanger geschickt, doch sie hätte gerne selbst herausgefunden, ob tatsächlich ständig Schafsgeruch vom Stall des Nachbarn Sören Schippmann durch den kleinen Ort zog. Sie wollte den dicken schwarzen Kater Kimi, der so etwas wie das Maskottchen der kleinen Gemeinde war, streicheln und Maikes hochgelobten Blechkuchen kosten. Und sie wollte endlich Joris Graf, Anjas neuen Freund, kennenlernen.

»Es ist noch Luft nach oben, und wir müssen viel Kuchen selbst essen.« Anja lachte verlegen. »Aber es finden immer wieder Gäste zu uns. Maikes Nordseewellen stehen hoch im Kurs, und auch meine Waffeln und Heiße Liebe werden oft bestellt. Dazu werden Kaffee und Tee getrunken, oder Pharisäer und Tote Tante.«

Obwohl es viel zu heiß war, um etwas zu essen, lief Christin das Wasser im Mund zusammen. »Tote Tante kenne ich als Lumumba. Aber was ist Heiße Liebe?«

»Vanilleeis mit heißen Himbeeren, auf Wunsch mit viel Schlagsahne«, erklärte ihre Freundin. »Für die Erwachsenen gibt’s einen Schuss Himbeergeist, wenn sie möchten.«

»Jetzt habe ich Lust auf was Süßes! Ich wünschte, ich wäre im Lüttes Glück und könnte dir helfen, die Reste zu verspeisen«, sagte Christin schmunzelnd. Sie glaubte, das Rauschen des Meeres durch die Leitung zu hören.

»Alles Schöne hat auch eine Schattenseite. Durch die zusätzlichen Kalorien nehme ich immer mehr zu, und das, obwohl ich auf der Insel viel mit dem Fahrrad unterwegs bin.« Anjas Stimme wurde so weich wie Samt, als sie den Namen ihres Freundes erwähnte: »Joris liebt jedes Pfund an mir, ich aber nicht.«

»Wie süß von ihm! Wenn du von ihm sprichst, klingst du richtig verträumt. Dich hat es voll erwischt, oder?«, fragte Christin ihre Freundin. Sie freute sich für sie.

Sie sah zu ihrem Hochzeitsfoto, das eingerahmt auf dem Sideboard stand, doch der Anblick löste bloß ein Gefühl von Vertrautheit in ihr aus. Was hatte sie denn erwartet? Franjo und sie waren kurz vor dem Abitur zusammengekommen und bereits seit zwölf Jahren verheiratet. Nach sechzehn gemeinsamen Jahren hatte man eben keine Schmetterlinge mehr im Bauch.

»Ja, trotz einiger Anfangsschwierigkeiten sind wir inzwischen total glücklich. Und es gibt Neuigkeiten.« Durch die Leitung war zu hören, dass Anja ein Fenster schloss. »Joris will diese Woche bei mir einziehen.«

»Ins Lüttes Glück?«, fragte Christin überflüssigerweise und wurde sich bewusst, dass sie nie allein gelebt hatte. Sie war von ihren Eltern direkt zu Franjo gezogen. »Ich meinte nur … Nicht jeder kann sich vorstellen, in einer Pension zu wohnen, mit dem Trubel der ständig wechselnden Feriengäste.«

»Jetzt zeigt sich, dass es auch etwas Gutes hat, dass Hilde und Godo die Einliegerwohnung besetzen. Eigentlich hätte ich ja dort einziehen sollen, aber im Erdgeschoss würde sich Joris nicht wohlfühlen. Das wäre ihm zu sehr mittendrin.« Fröhlich fuhr Anja fort: »Aber meine Dachgeschosswohnung findet er wirklich gemütlich, und sie liegt etwas abseits, auch wenn es nur die Treppe hoch ist. Das ist für ihn in Ordnung.«

Christin hatte plötzlich großen Durst. Während sie in die Küche ging, fragte sie: »Dann sind Hilde und Godo noch zusammen?«

»Ja. Überrascht dich das?«, kam es von Anja zurück.

Christin goss sich ein Glas Wasser ein und trank gierig einen Schluck. »Du hattest Hildes spitze Zunge erwähnt. Es wäre gut möglich, dass sie Godo damit bereits vergrault hätte.«

»Er weiß sie zu nehmen.« Amüsiert erklärte Anja: »Wenn sie schlechte Laune hat, ist er besonders nett zu ihr und nimmt ihr dadurch den Wind aus den Segeln.«

»Clever.« Christin kamen die Personen, über die sie sprachen, vertraut vor, dabei kannte sie sie bloß aus Anjas Erzählungen.

»Godo kümmert sich um den Garten und hat sich dazu bereit erklärt, später den kleinen Campingplatz neben dem Lüttes Glück zu führen. Die Vorbereitungen für die Zeltwiese und die Wohnmobilstellplätze laufen auf Hochtouren«, berichtete Anja. »Joris hat die Wiese hinter der Linde gesichelt, sie war so zugewachsen, dass man mit dem Rasenmäher nicht durchkam. Ole Bohnsack, unser Elektriker, war da und hat die elektrischen Anschlüsse verlegt. Sobald die Stromsäulen geliefert sind, wird er sie anschließen. Es geht voran.«

»Hast du dir nicht zu viel auf einmal vorgenommen?«, fragte Christin vorsichtig und öffnete den Kühlschrank. Rasch neigte sie sich vor und genoss die kühle Luft, die über ihr Gesicht strich.

»Nein, ich bin ja umgeben von vielen lieben Menschen, die mir helfen und mich motivieren. Aber natürlich tun mir abends die Füße weh, und ich bin platt«, gab Anja zu. »Trotzdem bereue ich nichts. Das Lüttes Glück zu ersteigern und nach Föhr zu ziehen, war die beste Entscheidung meines Lebens.«

In Gedanken hörte Christin Franjo sagen, dass es Energieverschwendung wäre, den Kühlschrank so lange offen stehen zu lassen, und schloss die Tür wieder. Dann zog sie die Rollläden hoch und sah auf die menschenleere Straße. Eine Glocke aus Sommerhitze lag über Köln und machte das Atmen schwer. Selbst im Haus war es stickig, obwohl Christin alle Jalousien geschlossen hatte, bevor sie sich am Morgen auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte. Bestimmt waren die Temperaturen auf Föhr selbst im Hochsommer durch den steten Wind angenehm. Wie gerne wäre ich jetzt dort, dachte sie. »Du klingst beneidenswert glücklich.«

»Bist du es denn nicht?«, fragte ihre Freundin besorgt.

Christin horchte in sich hinein. Warum musste sie überhaupt darüber nachdenken? Hätte sie nicht sofort mit Ja antworten sollen? Sie hatte doch alles, was man sich wünschen konnte – eine langjährige Ehe, eine unbefristete Arbeitsstelle und genug Geld, um ein ganzes Haus mieten und einmal im Jahr in Urlaub fahren zu können. Ausweichend antwortete sie: »Ich schätze mich glücklich.«

»Jetzt hörst du dich wie mein Ex-Freund Ralf an«, sagte Anja amüsiert. »Als hättest du die Fakten überprüft. Aber was sagt dein Herz?«

Christin ging nicht darauf ein. »Ich arbeite ja auch bei einer Bank, natürlich bin ich vernunftgesteuert.«

»So warst du früher nicht. Da hast du auf einer Party auch schon mal auf dem Tisch getanzt«, erinnerte sich Anja und lachte.

Etwas wehmütig wandte Christin ein: »Das ist lange her. Damals war ich noch in der Schule.«

»Warst du zu der Zeit glücklich?«, wollte Anja von ihr wissen.

Eine Erinnerung zauberte ein Lächeln auf Christins Gesicht. Sie musste daran denken, wie sie sich mit sechzehn in einer heißen Sommernacht mit Anja auf das umzäunte Grundstück eines Baggersees geschlichen hatte. Sie hatten ignoriert, dass es gefährlich war, in dem künstlichen Gewässer zu schwimmen, sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen und waren ins Wasser gesprungen. Das war nicht nur erfrischend gewesen, sondern es hatte ihnen auch einen Kick gegeben, etwas Verbotenes zu tun. Wie leicht und unbeschwert das Leben als Jugendliche gewesen war! »Ja.«

»Vielleicht brauchst du einen Tapetenwechsel und solltest darüber nachdenken, dir eine neue Stelle zu suchen«, schlug Anja vor.

Christin fühlte sich in der Bank tatsächlich unwohl und hatte darüber auch schon mit ihrer Freundin gesprochen, dennoch wiegelte sie ab: »Ich bin nicht wie du.«

»Nicht so verrückt, alles hinzuschmeißen?«, fragte Anja ironisch.

»Das meinte ich nicht«, stellte Christin klar, »sondern dass ich nicht so mutig bin wie du.«

»Doch, doch, das war verrückt von mir«, gab Anja zu, »und sehr riskant. Man sollte nie alles auf eine Karte setzen.«

Am Küchenfenster ging ein Mann vorbei, der sich mit einem Taschentuch übers Gesicht wischte und dann einen kräftigen Schluck aus einer Plastikflasche nahm. Seinem T-Shirt nach zu urteilen, konnte er gar nicht so viel trinken, wie er schwitzte. Christin wandte sich vom Fenster ab. »Du hast hoch gepokert und gewonnen. Das Glück kann aber nicht jeder haben.«

»Du hast natürlich recht. Man muss ja auch nicht gleich sein komplettes Leben umkrempeln, wie ich das getan habe. Vielleicht bist du auch nur reif für die Insel. Wenn du eine Auszeit brauchst, sag einfach Bescheid! Dann reserviere ich dir ein Gästezimmer.«

»Ich bin unzufrieden und weiß selbst nicht warum«, gestand Christin nicht nur ihrer Freundin, sondern auch sich selbst das erste Mal ein. »Vielleicht liegt es nur an dieser schrecklichen Hitze. Selbst nachts bleiben die Temperaturen über zwanzig Grad. Wer soll da schlafen können? Vor lauter Müdigkeit mache ich in der Bank Fehler, die mir sonst nicht passieren. Mein Vorgesetzter hat mich schon ermahnt. Das war mir echt peinlich.« Sie seufzte schwer. »Manchmal denke ich, dass mein Leben nur noch aus Arbeit und Verpflichtungen besteht. Kennst du das?«

»Nur allzu gut«, antwortete Anja, ohne zu zögern.

Christin ruderte zurück, es war ihr mit einem Mal unangenehm, so niedergeschlagen zu klingen. Das sah ihr gar nicht ähnlich: »Im Moment bin ich oft allein. Schon möglich, dass ich einfach nur zu viel Zeit zum Grübeln habe.«

»Jetzt fühle ich mich schlecht. Es tut mir leid, dass ich aus NRW weggezogen bin«, sagte Anja bedauernd.

»Lügnerin!«, schalt Christin sie lächelnd.

Anja lachte. Dann stellte sie mit leiser Stimme klar: »Wegen dir tut es mir leid.«

Mit jemand anderem hätte Christin nicht so offen über ihre Gefühle geredet, aber bei Anja fiel es ihr leicht, sich zu öffnen. »Ich habe mich zu sehr auf Franjo konzentriert und meine Freundschaften vernachlässigt. Es ist traurig, aber du bist meine einzige Freundin. Zu allen anderen von früher habe ich den Kontakt verloren, oder sie sind inzwischen nur noch Bekannte.«

»So ist das doch oft bei Paaren. Bei Ralf und mir war es nicht anders. Unser Alltag hat sich nur um unser gemeinsames Baby, die Werbeagentur, gedreht, und wir haben oft sogar am Wochenende gearbeitet«, erzählte Anja. »Da blieb nicht mehr viel Zeit für Familie, Freunde oder Hobbys.«

Christin ging ins Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Welch eine Wohltat! Während sie sich mit einem Handtuch über die Wangen tupfte, erzählte sie: »Jetzt sind meine Schwiegereltern auch noch im Urlaub, und Franjo muss die Pfandleihe allein führen. Sie haben zwar vor Kurzem eine zusätzliche Mitarbeiterin eingestellt, weil die Geschäfte gut laufen und Franjo ja auch mal krank werden kann. Aber Patrizia soll wohl sehr langsam in allem sein, und er muss ihr ständig auf die Finger schauen, damit sie nichts falsch macht. Er sagt, er hätte sie nach der Probezeit nicht eingestellt, aber seine Eltern wollten sie unbedingt behalten. Jedenfalls muss er oft Überstunden machen und ist abends müde. Ich kann ihm nicht verübeln, dass er nach Feierabend nur noch seine Ruhe haben will.«

»Aber du fühlst dich vernachlässigt, oder?«, fragte Anja. Das Rascheln von Papier war zu hören. Dann steckte sie sich etwas in den Mund. Den Geräuschen nach musste es sich um ein Bonbon handeln.

Nun, da Anja geduldig auf eine Antwort von ihr wartete, wurde sich Christin mit einem Mal der Stille um sich herum bewusst.

Sie musste daran denken, dass sie sich als Zwölfjährige sehnsüchtig einen Hund gewünscht hatte. Jemanden, der sie voller Freude begrüßte, wenn sie von der Schule nach Hause kam. Sie war ein Schlüsselkind gewesen. Ihre Eltern hatten den ganzen Tag gearbeitet, und somit war Christin oft allein gewesen, während ihre Freundinnen zumindest mit einem Elternteil zu Mittag aßen und von ihrer Mutter oder ihrem Vater zum Ballettunterricht oder Schwimmkurs gefahren wurden. Damals hatte sie ihre Freundinnen beneidet.

»Sei doch froh, dass du allein bist! So kannst du machen, was du willst«, pflegten ihre Eltern zu sagen. »Außerdem ist da niemand, der darauf besteht, dass du zuerst die Hausaufgaben machst, bevor du mit dem Fahrrad ins Freibad fährst.«

Aber Christin konnte sich nicht freuen. In den Stunden, bis ihre Freundinnen Zeit für sie hatten oder ihre Eltern von der Arbeit kamen, fühlte sie sich einsam. Darum wünschte sie sich einen Freund, einen Hund. Sie redete mit Engelszungen auf ihre Eltern ein, aber die ließen sich nicht erweichen.

»Wir sind den ganzen Tag weg und könnten nicht mit ihm Gassi gehen«, erklärte ihr Vater und setzte sich neben sie aufs Bett, in dem Christin schmollte.

Hoffnungsvoll sah Christin ihn an. »Aber das könnte ich doch nach der Schule machen.«

»Du bist noch zu jung, um allein die Verantwortung für ein Haustier zu übernehmen«, erklärte er. »Außerdem wäre der Hund trotzdem zu viele Stunden sich selbst überlassen. Er würde sich zu Recht vernachlässigt fühlen.«

Ihre Augen wurden feucht. »So geht es mir doch auch. Darum will ich ja ein Tier.«

Da schwieg ihr Vater betreten.

Nun, dreiundzwanzig Jahre später, war Christin wieder allein und unglücklich darüber. Normalerweise saßen Franjo und sie um diese Zeit in der Küche und aßen zu Abend. Anja fand es spießig, jeden Tag um dieselbe Uhrzeit dasselbe zu tun, und sie hatte nicht unrecht. Christin fühlte sich oft wie in ein Korsett gepresst, mit diesem Alltag, bestimmt von ihrer Arbeit bei der Bank, von Franjo und seinen Eltern, die im Reihenhaus nebenan wohnten. Aber nun, da ihr Mann ständig Überstunden machte, fehlte ihr die gewohnte Zweisamkeit, die alles war, was Christin noch hatte.

Köln hat mehr als eine Million Einwohner, und ich bin einsam, dachte sie bitter.

Sie hängte das Handtuch zurück an den Haken und atmete einmal tief durch. Der Pfirsichduft der Seife, die in einer Schale aus Olivenholz lag, stieg ihr in die Nase. »Ja, ich fühle mich vernachlässigt.«

»Hast du das Franjo mal gesagt?«, wollte Anja von ihr wissen. Beim Sprechen stieß das Bonbon gegen ihre Zähne.

»Nein, ich will ihn nicht mit Vorwürfen belasten. Er hat schon genug um die Ohren. Ich muss da einfach durch, es ist bestimmt nur eine Phase.« Zu ihrer eigenen Beruhigung fügte Christin an: »Wenn seine Eltern aus dem Urlaub zurück sind, wird ja wieder alles normal laufen.«

»Vielleicht kannst du ihn heute Abend vom Stress ablenken, indem du sein Lieblingsessen kochst«, schlug Anja ihr vor.

»Franjo isst am liebsten den rheinischen Sauerbraten seiner Mutter.« Christin verdrehte die Augen. Sie hatte sich wirklich bemüht, den Braten so hinzubekommen, wie seine Mutter ihn zubereitete, aber Franjo hatte stets einen Unterschied geschmeckt. Schließlich hatte sie begriffen, dass es ein typisches Mama-Essen war – ein Gericht, das nur die eigene Mutter perfekt kochen konnte, weil er mit ihm schöne Erinnerungen an die Kindheit verband. Also hatte Christin ihre Bemühungen irgendwann eingestellt. »Aber ich könnte uns etwas beim China-Imbiss um die Ecke holen. Franjo liebt Dim Sum. Wenn ich ihm das vorschlage, wird er zwar einwenden, dass wir unser Geld zusammenhalten sollten. Aber wir reden ja nicht von einem Urlaub auf den Bahamas.«

»So ist es«, pflichtete Anja ihr bei. »Man lebt nur einmal und sollte sich auch mal eine Kleinigkeit gönnen, sonst bekommt man schlechte Laune.«

Plötzlich wusste Christin, wie sie Franjo eine Freude bereiten und gleichzeitig ihre eigene Stimmung aufhellen konnte. Sie lächelte ihr Bild im Badezimmerspiegel an. »Ich habe eine Idee! Ich werde jetzt sofort zum Chinesen fahren, eine doppelte Portion Teigtaschen mit Garnelen und Bambussprossen für Franjo und frittierte Sesambällchen für mich holen und ihn dann damit im Pfandleihhaus überraschen.« Christin verließ das Badezimmer, ging in die Küche und sah auf die Wanduhr. »Die Pfandleihe hat jetzt geschlossen, und Patrizia dürfte inzwischen Feierabend gemacht haben, Franjo ist also allein.«

»Er wird sich bestimmt sehr freuen! Und wer weiß, wohin das führt. Liebe geht bekanntlich durch den Magen«, sagte Anja mit einem Lächeln in der Stimme.

Christin konnte förmlich sehen, wie ihre Freundin am anderen Ende der Leitung zwinkerte. »Na ja, die Anziehungskraft zwischen uns ist nach all den Jahren nicht mehr so stark.«

»Natürlich ist es aufregend, einen neuen Körper zu erkunden. Ich spreche da aus Erfahrung«, spielte Anja auf ihre noch junge Beziehung mit Joris an und giggelte. »Aber der Sex wird doch mit den Jahren immer besser. Man ist sich vertraut, darum kann man sich vollkommen fallen lassen und weiß, was der andere mag.«

»So sollte es sein, aber so ist es bei uns nicht«, erwiderte Christin bedrückt.

Der Geschlechtsverkehr war schon vor Jahren langweilig geworden, weshalb sie wohl beide die Lust daran verloren hatten. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie Franjo versucht zu ermutigen, mal etwas Neues ausprobieren, um Schwung in ihr Intimleben zu bringen, er hatte jedoch nicht gewollt.

Er war allerdings nicht allein schuld an der Flaute im Bett. Als sie noch miteinander geschlafen hatten, war Christin oft angespannt gewesen und manchmal sogar so traurig geworden, dass sie hatte weinen müssen, weil sie daran erinnert wurde, was sie nicht haben konnte, ein Baby. Erotik spielte schon lange keine Rolle mehr zwischen Franjo und ihr.

»Ralf und ich haben uns zum Schluss auch nicht mehr zueinander hingezogen gefühlt.« Anja wurde wohl bewusst, dass Christin andeutete, ihre Ehe könnte ebenfalls dem Ende zugehen, denn sie sog scharf die Luft ein. Dabei verschluckte sie ihr Bonbon und musste husten.

Aber Christin glaubte nicht, dass es Franjo und ihr genauso ergehen würde. Als Ehepaar trennte man sich nicht leichtfertig. Für Christin war das Wörtchen Scheidung wie ein Schreckgespenst. Dann hätten Franjo und sie sich ein Scheitern eingestehen müssen. Sie hatten sich immerhin gegenseitig geschworen, in guten wie in schlechten Zeiten zueinander zu stehen, und sechzehn Jahre in tiefer Verbundenheit verbracht. Sie hatten zusammen Abitur gemacht, sich gegenseitig immer wieder motiviert, ihre Ausbildungen zur Bankangestellten und zum Kaufmann durchzuhalten, und sich ein solides gemeinsames Leben aufgebaut. Das warf man nicht so schnell weg.

Christin wollte jedenfalls etwas dafür tun, dass ihre Ehe wieder besser lief, die nicht nur im Bett mehr Schwung gebrauchen konnte. »Es tut mir leid, aber ich muss jetzt Schluss machen«, sagte sie entschlossen zu Anja. »Ich weiß ja nicht, wie lange ich beim Imbiss warten muss. Nicht, dass sich Franjo schon auf den Weg nach Hause gemacht hat, wenn ich im Pfandleihhaus ankomme.«

»Dafür habe ich vollstes Verständnis«, versicherte Anja ihr mit einer vom Husten kratzigen Stimme. »Ich wünsche euch beiden einen schönen Abend.«

»Lieb von dir, danke. Das wünsche ich Joris und dir auch«, sagte Christin in den Hörer. »Ich drücke dir die Daumen, dass das Lüttes Glück bald ausgebucht, Martinas Gartencafé rappelvoll und der Campingplatz startklar sein wird.«

Anja keuchte am anderen Ende der Leitung. »Jetzt, wo du meine Geschäftsfelder aufzählst, klingt das doch alles recht viel auf einmal.«

»Du schaffst das schon, du bist doch eine Powerfrau«, erwiderte Christin zuversichtlich. »Mach’s gut.«

»Bis bald«, verabschiedete sich Anja.

Christin beendete das Telefonat. Gut gelaunt schnappte sie sich ihren Schlüsselbund und eilte zu ihrem Wagen. Sie hatte Glück, der China-Imbiss war leer, und sie kam sofort dran. Mit einer Tüte voll köstlich duftendem Dim Sum auf dem Beifahrersitz machte sie sich auf zum Pfandleihhaus Horvat.

Kapitel 2

Auf den Straßen war, vielleicht wegen der Hitze, weniger Verkehr als sonst, und so kam sie bald beim Pfandhaus an. Aufgeregt und voller Vorfreude auf Franjos überraschtes Gesicht, parkte Christin auf dem Hinterhof neben seinem Auto. Sie hatte ihn nicht verpasst, er war noch im Laden.

Mit wild klopfendem Herzen steuerte sie den Angestellteneingang an und schloss die Tür mit ihrem Ersatzschlüssel auf. Während sie durch die Korridore ging, wurde sie nervös. Wie würde Franjo reagieren? Er mochte eigentlich keine Überraschungen, aber er musste doch Hunger haben und wusste die liebevolle Geste bestimmt zu schätzen. Doch als sie an den Büroräumen ankam, waren sie leer.

Christin machte sich auf die Suche nach Franjo. Sie sah im Verkaufsraum nach, fand ihren Mann dort aber auch nicht. Also blieb nur noch das Lager übrig.

Als sie zwischen den Regalen mit den Gegenständen, die die Kunden verpfändet hatten, hindurchschritt, hörte sie Geräusche. Sie war anscheinend auf der richtigen Spur. Allerdings konnte sie die Laute nicht zuordnen. Sie klangen, als hätte Franjo Schmerzen.

War er etwa überfallen und niedergeschlagen worden und konnte keine Hilfe rufen, weil er sein Mobiltelefon nie bei sich trug? Stellte es sich als segensreicher Zufall heraus, dass sich Christin gerade an diesem Abend dazu entschieden hatte, mal aus der Routine auszubrechen und in der Pfandleihe vorbeizufahren?

Bald kam Christin am Ende der Regalreihen an, und ein offener Bereich mit einem Arbeitstisch tat sich vor ihr auf. Da sah sie, was wirklich vor sich ging. Ihr Mann war nicht Opfer eines Überfalls geworden. Sie erkannte ihn von hinten am Tisch stehend, mit einer Frau, die ihre Beine um ihn geschlungen hatte.

Erst als Christin vor Schreck die Tüte mit dem chinesischen Essen fallen ließ, drehte sich Franjo mit dem Oberkörper um und riss bestürzt die Augen auf. Er schob die Frau weg und zog hektisch die Hosen hoch.

»Weg, Patrizia!«, herrschte er sie an. »Nun geh schon weg, verdammt noch mal!«

Christin konnte kaum glauben, was sie da sah. Sie kam sich wie eine Idiotin vor, wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Vor Entsetzen war ihre Kehle wie zugeschnürt. Auf dem Parkplatz hatte sie noch geschwitzt, jetzt war ihr mit einem Mal eiskalt.

Sie musterte die Schwarzhaarige, die schnell ihren Rock zurechtrückte und dastand, nicht wissend, was sie machen sollte. Es war die neue Angestellte. Die so langsam arbeitete. Die Franjo nach ihrer Probezeit angeblich nicht hatte übernehmen wollen. Wegen der er Überstunden machte, weil er ihr während der regulären Arbeitszeit ständig auf die Finger schauen musste und darum seine eigenen Aufgaben vernachlässigte.

Alles gelogen, zischte Christin in Gedanken.

Ihr Mann strich über die Stelle an seinem Hinterkopf, wo das Haar seit drei Jahren immer lichter wurde. Das tat er immer dann, wenn er verlegen war. Schrill fragte er Christin: »Wie kommst du hier herein?«

»Durch den Hintereingang«, brachte sie gepresst hervor. Ein Wirbelsturm der Entrüstung tobte in ihrem Inneren. Am liebsten hätte sie Franjo eine schallende Ohrfeige verpasst, aber sie konnte sich nicht bewegen. Sie war vor Fassungslosigkeit wie gelähmt.

»Aber der ist doch immer abgeschlossen«, sagte er und stopfte sein weißes Hemd in die Jeans, »und du hast keinen Schlüssel.«

»Deine Eltern haben mir ihren vor der Abreise gegeben, für Notfälle.« Tränen schossen ihr in die Augen.

Während er seinen Ledergürtel schloss, sagte er mit belegter Stimme: »Das habe ich gar nicht mitbekommen.«

»Du bist ja in letzter Zeit auch mit deinen Gedanken ständig woanders. Jetzt weiß ich, wo.« Sie warf Patrizia einen giftigen Blick zu, die verschämt den Kopf senkte, und musterte sie. Die neue Mitarbeiterin war viel hübscher, als er sie beschrieben hatte.

Attraktiver als ich, dachte Christin und fühlte sich elend. Ihr schoss durch den Kopf, dass sie sich nicht einmal die Zeit genommen hatte, sich frisch zu machen, bevor sie hergefahren war, weil sie Franjo nicht hatte verpassen wollen.

»Rede keinen Unsinn! Das …« Nervös richtete er die schmale schwarze Lederkrawatte, die seinen Hals umfasste wie ein Strick. »Das gerade ist einfach passiert …«

Aufgebracht schrie Christin: »Sex passiert nicht einfach!«

»Es ist nicht … es hat keine Bedeutung«, stammelte Franjo und sah sie flehend an.

Sie wollte ihm an den Kopf werfen, dass er fremdgegangen war und es daran nichts zu deuteln gab, aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen, weil sie zu sehr geschmerzt hätten. »Da bin ich anderer Meinung.«

»Ich denke, ich gehe jetzt besser«, sagte Patrizia endlich kleinlaut. Sie stakste an Christin vorbei und eilte zum Ausgang.

Betreten sah Franjo ihr hinterher.

»Wie oft habt ihr es schon miteinander getrieben?«, fragte Christin.

»Das heute war das erste Mal, ich schwöre es«, versicherte er ihr und faltete die Hände.

Warum wurde er dann rot? Sie dachte an die vielen Überstunden, die er gemacht hatte, seit seine Eltern in Urlaub gefahren waren. Feindselig starrte sie ihn an. »Das nehme ich dir nicht ab!«

»Es hatte nichts zu bedeuten«, wiederholte Franjo. »Ich liebe nur dich, das musst du mir glauben.« Er streckte die Arme nach ihr aus und kam auf sie zu.

Abweisend riss Christin die Hände hoch, er blieb erschrocken stehen. »Warum sollte ich? Du hast mich von Anfang an belogen, was sie betraf. Wieso solltest du diesmal die Wahrheit sagen?«

»Weil es die Wahrheit ist«, erwiderte er und sah auf seine Schuhe. Dann versuchte er erneut kleinzureden, dass er sie betrogen hatte: »Es war eine einmalige Sache, ein Ausrutscher. Jeder macht doch mal einen Fehler und hat eine zweite Chance verdient.«

»Ich weiß nicht, ob ich dir verzeihen kann«, sagte sie. Sie fühlte sich zutiefst verletzt. Die Seen in ihren Augen drohten überzulaufen, aber sie wollte nicht vor Franjo weinen. »Komm nicht nach Hause! Ich will dich heute nicht mehr sehen.«

Er wirkte hilflos wie ein Hund, der von seinen Haltern auf einem Rastplatz zurückgelassen worden war. »Aber wo soll ich denn hin?«

»Schlaf hier im Pfandleihhaus, nimm dir ein Hotelzimmer oder übernachte im Haus deiner Eltern.« Im Grunde war es ihr egal, wo er die Nacht verbringen würde. Außer bei Patrizia. Plötzlich hatte Christin Angst, ihn durch ihre Zurückweisung weiter in deren Arme zu treiben. Doch sie konnte die Nacht nicht unter einem Dach mit ihm verbringen. Sie musste allein sein und darüber nachdenken, wie es mit ihnen weitergehen sollte.

»Im Lager stinkt es«, sagte sie, rümpfte die Nase und rannte zu ihrem Auto.

Wie betäubt fuhr sie nach Hause. Kraftlos sank sie auf die Couch und ließ ihren Tränen endlich freien Lauf. Sie heulte sich die Augen aus. Ihre Welt war von einem Moment auf den anderen wie ein Kartenhaus zusammengefallen.

Sie hätte Franjo niemals zugetraut, sie zu betrügen. Dafür war er eigentlich nicht der Typ, zumindest hatte sie das gedacht. Er hatte seine tägliche Routine und wich nie davon ab, eine Affäre hatte darin keinen Platz. Er war nicht einmal besonders lebenslustig oder kontaktfreudig. Wie er einmal gesagt hatte, fühlte er sich unattraktiv, seit seine Haare am Hinterkopf lichter wurden, und das schon im Alter von 36 Jahren.

Aber vielleicht lag darin auch der Grund für seinen Seitensprung. Womöglich hatte er sich mit Patrizia nur eingelassen, um sich zu beweisen, dass er noch bei einer Frau landen konnte. Wahrscheinlich ging es ihm gar nicht um Patrizia, sondern um die Selbstbestätigung. Aber machte das die Sache besser?

Nein, dachte Christin. Ihr Herz war schwer. Sie fühlte sich von ihrem engsten Vertrauten verraten.

Wie sollte sie Franjo morgen wieder unter die Augen treten? Oder übermorgen? Sie dachte daran, eine Weile zu ihren Eltern zu ziehen, aber sie wusste, dass sie dort auf wenig Verständnis stoßen würde.

»Das war wirklich abscheulich von ihm«, würde ihre Mutter zwar sagen. Dann würde sie jedoch unter Garantie zu bedenken geben: »Keine Ehe ist perfekt, mein Kind. Ab und zu muss man eben eine Faust in der Tasche machen. Das wird sich schon wieder einrenken, allerdings nur, wenn du jetzt zu Franjo fährst und mit ihm sprichst. Es bringt nichts, sich bei uns zu verkriechen. An einer Trennung sind immer beide Partner schuld, heißt es, und da ist etwas Wahres dran.«

Und ihr Vater würde klarstellen: »Scheidung gibt es in unserer Familie nicht.«

Nein, zu ihren Eltern wollte Christin wirklich nicht, nicht einmal für eine Nacht. Sie brauchte Zeit, um ihre Wunden zu lecken, und wünschte sich jemand, der sie in die Arme nahm und schimpfte: »So ein Scheißkerl! Franjo soll zur Hölle fahren für das, was er dir angetan hat.«

Da kam nur Anja infrage. Aber sie war weit weg. Allerdings hatte sie sie eingeladen, sie jederzeit zu besuchen. Christin hatte weder Kinder noch Haustiere. Nichts hielt sie in Köln, außer ihrem Job. Die ganze Nacht über grübelte sie, weinte immer wieder und wälzte sich in ihrem Kummer hin und her.

Am nächsten Morgen hatte sich der Wunsch, Köln eine Weile den Rücken zu kehren und bei ihrer besten Freundin Trost zu suchen, gefestigt. Beherzt rief sie in der Bank an, behauptete ihrem Vorgesetzten gegenüber, dass es in ihrer Familie einen Notfall gäbe und sie unbedingt ihren restlichen Jahresurlaub nehmen müsste. Daraufhin sprach ihr Chef mit der Personalabteilung. Alle zeigten sich wenig begeistert über ihr Anliegen, da im August viele Mitarbeiter verreist waren. Aber sie hörten wohl, wie verzweifelt Christin klang, und bewilligten den Urlaub widerstrebend.

Zitternd packte sie das Nötigste ein, stieg am frühen Vormittag in ihr Auto und machte sich auf zur Nordseeküste. Vor Aufregung vergaß sie glatt, Anja Bescheid zu geben.

Kapitel 3

Franjos Seitensprung und ihre eigene Spontaneität brachten Christin so durcheinander, dass sie erst daran dachte, Anja anzurufen, als sie bereits im Hafen von Dagebüll auf die Überfahrt wartete.

Touristen tummelten sich am Fähranleger. Den heiteren Gesprächen entnahm Christin, dass einige von ihnen auf Föhr oder Amrum ihren Urlaub antreten wollten, andere wiederum machten nur einen Tagesausflug. Christin suchte sich zum Telefonieren einen ruhigen Platz am Rande der Mole.

Während sie mit dem Mobiltelefon am Ohr darauf wartete, dass sich ihre Freundin meldete, schirmte sie die Augen mit der Hand vor der Sommersonne ab und sah aufs ruhig daliegende Meer.

Plötzlich fühlte sich Christin fehl am Platz. Die Nordsee sah so friedlich aus, dabei tobte in Christins Innerem ein Sturm. Die Feriengäste waren bester Laune, nur ihr war zum Heulen zumute. Die Stimmung um sie herum passte so gar nicht zu ihrem Kummer.

Die Hand, in der sie ihr Smartphone hielt, zitterte. Als sich Anja endlich meldete, platzte es aus Christin heraus: »Gestern bei unserem Telefonat hast du durchblicken lassen, ich wäre zu vernunftgesteuert. Heute will ich dir beweisen, dass ich durchaus spontan sein und auch mal aus dem Bauch heraus entscheiden kann.«

»Wovon um alles in der Welt redest du?«, fragte Anja neugierig.

Christin atmete tief durch, dann gestand sie ihr: »Du wirst es nicht glauben, aber ich bin auf dem Weg nach Föhr.«

»Du kommst mich besuchen?«, fragte Anja überrascht.

Christin schob sich die Haare, die der Wind ihr ins Gesicht geweht hatte, aus den Augen. »Genau genommen werde ich schon in etwas mehr als einer Stunde bei dir sein. Die Fähre legt bald ab.«

»Du bist schon in Dagebüll? Versteh mich bitte nicht falsch. Ich freue mich natürlich, aber gestern hatte es sich noch so angehört, als würdest du vorerst keine Zeit haben herzukommen. Ist etwas passiert?«

Wie gut ihre Freundin sie doch kannte! »Ja. Franjo …« Christin hatte einen Kloß im Hals. »Ich habe ihn in flagranti mit seiner neuen Kollegin erwischt.«

Anja schnappte nach Luft. »Dein Franjo?«

»Ja, ich weiß, schwer vorstellbar«, erwiderte Christin. »Aber er hat mich betrogen. Ich habe ihn mit Patrizia im Pfandleihhaus auf frischer Tat ertappt, als ich ihn mit dem Dim Sum überraschen wollte.«

»Dieser elende Mistkerl«, zischte Anja aufgebracht. »Wie konnte er dir das nur antun? Wenn ich den in die Finger kriege … Er hat Glück, dass ich nicht in Köln bin.«

Genau diesen Schulterschluss hatte Christin gebraucht. Wärme breitete sich in ihr aus. Sie schlenderte zurück zum Fähranleger. »Ich muss einfach für eine Weile raus aus Köln, weg von ihm.«

»Das kann ich gut nachvollziehen. Das tut mir so leid«, sagte Anja mitfühlend. »Ich wiederhole mich nur allzu gerne: Du bist jederzeit willkommen.«

Hoffnungsvoll fragte Christin: »Dann hast du im Lüttes Glück ein freies Zimmer für mich?«

»Nein, leider nicht«, antwortete ihre Freundin bedauernd.

»Nicht?« Abrupt blieb Christin stehen. Damit hatte sie nicht gerechnet. War es unter diesen Umständen überhaupt sinnvoll, die Fähre nach Föhr zu besteigen? »Ich dachte, du würdest gerade mal die ersten Gäste beherbergen.«

»Das stimmt, aber ab jetzt geht es Schlag auf Schlag. Bis zum Wochenende werden wir restlos ausgebucht sein.« Verlegen lachte Anja. »Wir haben ja auch nur zehn Doppelzimmer.«

»Das ist doch toll! Ich freue mich für dich«, sagte Christin begeistert. Sie ließ nicht zu, dass Anja, bescheiden, wie sie war, den Erfolg kleinredete. Dann bat sie: »Kannst du mir vielleicht helfen, eine Unterkunft zu finden?«

»Das könnte nicht ganz einfach werden. Aber das kriegen wir schon irgendwie hin.«

Christins Wangen brannten. Ihre Nerven waren ohnehin schon strapaziert. Anscheinend war sie nicht gut darin, spontan zu sein. Seufzend rieb sie sich über die Augen, die vom vielen Weinen immer noch wehtaten. »Ich bin völlig durch den Wind. Meinen Wagen muss ich auch auf dem Inselparkplatz in Dagebüll stehen lassen, weil ich keinen Platz mehr für ihn auf der Fähre bekommen habe.«

»Mach dir keinen Kopf«, erwiderte Anja. »Ich hole dich in Wyk ab.«

»Das ist echt lieb von dir«, rief Christin. »Aber ich will dir nicht zur Last fallen, ich kann mir auch ein Taxi nehmen.«

»Das kommt gar nicht infrage. Du schläfst erst einmal bei mir, dann sehen wir weiter. Noch ist eine Hälfte meines Doppelbetts ja frei.«

Christin reihte sich in die Schlange der Fahrgäste ein, die fröhlich schwatzend und mit leuchtenden Augen darauf warteten, das Schiff zu betreten. »Wollte Joris nicht bei dir einziehen?«

»Ja, aber das muss dann eben noch warten«, antwortete Anja, ohne zu zögern.

Als würde Franjos Ehebruch nicht schon schwer genug wiegen, lastete jetzt auch noch das schlechte Gewissen auf Christin. Aber sie hatte keine andere Wahl, als das großzügige Angebot anzunehmen. Morgen würde sie nach einer anderen Übernachtungsmöglichkeit suchen. »Das würdest du für mich tun?«

»Du bist doch meine beste Freundin«, erwiderte Anja.

Da flossen Tränen über Christins Wangen. Sie wandte sich ab, damit die Feriengäste um sie herum es nicht mitbekamen. Ein Mädchen von vielleicht neun Jahren merkte es dennoch und reichte ihr stumm ein Papiertaschentuch. Zum Dank schenkte Christin ihr die Packung Bonbons von Dat Bontjehuus, die sie auf der Fahrt an einer Tankstelle gekauft und noch immer in der Hosentasche hatte. Sie tupfte sich mit dem Taschentuch über das feuchte Gesicht und entschuldigte sich bei Anja: »Es ist mir unangenehm, dass ich jetzt schon heule.«

Plötzlich hörte Christin im Hintergrund eine Männerstimme. Offenbar sagte jemand etwas zu Anja, Christin konnte es aber nicht verstehen.

Dann meldete sich Anja zurück: »Joris ist gerade hier. Er meint, dass sein Bruder Tjorben um diese Uhrzeit mit seinem Ausflugsboot im Hafen von Wyk anlegt und die Touristen von Bord lässt. Danach macht er noch klar Schiff und fährt dann mit dem Auto nach Dunsum, wo er sich mit Touristen trifft, die eine Wattwanderung bei ihm gebucht haben. Tjorben würde dich bestimmt mitnehmen und den Abstecher nach Walsum machen. Soll ich ihn anrufen und fragen?«

Christin zögerte. »Ich befürchte, ich habe gerade keine Nerven für Small Talk.«

»Das trifft sich gut, denn Tjorben redet auch nicht gerne. Da kommt er nach seinem Vater Johan«, erklärte Anja amüsiert. »Joris ist da ganz anders. Denk dir nichts dabei, falls Tjorben auf den ersten Blick grimmig aussieht. Er ist ein netter Kerl. Wirklich!«

Christin zog eine Augenbraue hoch. »Grimmig?«

»Na ja, er trägt seine Haare schulterlang, hat einen Vollbart und sieht einen manchmal an, als wollte er einen fressen. Ich habe ihn mal darauf angesprochen, er ist sich dessen nicht bewusst.«

»Ein Werwolf«, scherzte Christin.

Anja lachte herzhaft. »Ein sturmerprobter Seemann mit einem butterweichen Herz. Aber verrate ihm nicht, dass ich das gesagt habe. Er sieht sich gerne als harten Kerl.«

»Jetzt machst du mich neugierig«, gestand Christin und war froh über die Ablenkung.

»Ist natürlich nicht so wichtig, aber es wäre halt praktisch, wenn er dich abholen könnte«, sagte Anja. »Dann könnte ich schon mal das Gartencafé vorbereiten, und wenn du ankommst, hätte ich mehr Zeit für dich, bis am Nachmittag die ersten Gäste eintrudeln.«

Das war ein Argument. »Also gut«, sagte Christin.

Im Hintergrund war das Bellen eines Hundes zu hören. »Das ist Elke, der Mops meiner ersten Feriengäste. Die schwarze Hündin ist ein Clown, du wirst sie lieben. Hilde hat Angst vor ihr, kannst du dir das vorstellen?«, fragte Anja amüsiert.

Christin konnte es kaum erwarten, in Walsum einzutreffen und Anjas schrullige Mitbewohner Hilde und Godo und die illustre Schar an Nachbarn, von denen sie schon so viel gehört hatte, zu treffen. »Ich freue mich, alle kennenzulernen.«

»Ich überzieh gleich mal mein Bett frisch und erwarte dich mit einer großen Kanne Kaffee und einem Blech Marzipan-Beeren-Kuchen, frisch aus Maikes Ofen«, kündigte Anja heiter an.

Christin bestieg die Fähre und konnte die Überfahrt schon fast genießen. Das Schiff schnitt durch das ruhige Fahrwasser wie ein Messer durch Butter. Möwen folgten ihnen und stießen immer wieder kurz herab, weil ein Junge sie fütterte. Er riss die Scheibe Toastbrot, die er zu seiner Brühwurst bekommen hatte, in Stücke und warf sie in hohem Bogen über die Reling. Dabei quiekte er vor Freude. Seine Mutter sah ihn liebevoll an und reichte ihm auch ihre Scheibe Brot zum Verfüttern.

Bei dem rührigen Anblick wurde Christins Herz schwer. Früher hatte sie davon geträumt, Kinder zu haben. Sie hatte sich ganz klassisch in einem Häuschen mit Franjo, einem Jungen, einem Mädchen und einem Hund gesehen. Vermutlich würde nichts davon wahr werden. Daran trug nicht nur Franjo Schuld, sondern auch ihr Körper.

Wie die meisten Frauen war sie nicht vollkommen mit ihrem Aussehen zufrieden. Ihre Haare hingen wie Spaghetti herab, ihre Augenbrauen waren so hellblond, dass sie sie mit einem Augenbrauenstift nachzog, und ihre Unterlippe war breiter als die obere. Aber das mit Abstand größte Problem von allen konnte man von außen nicht sehen, es war die Tatsache, dass sie keine Kinder bekommen konnte.

In Wyk verließ Christin die Fähre und schaute sich nach einem Mann um, der wie Tjorben Graf aussah. Unterdessen stiegen die Touristen in ihre Busse. Anja hatte ihr ein Foto von Tjorben geschickt.

Endlich machte sie ganz hinten in der Menge einen Mann aus, der ein Stück Pappe hochhielt, auf dem Christin Horvat stand. Das musste Tjorben sein. Ihren Nachnamen zu lesen, versetzte ihr einen Stich. Bei der Hochzeit vor zwölf Jahren hatte sie Franjos Namen angenommen. Dieser Schritt war für ihn selbstverständlich gewesen.

Während sie auf Tjorben zuging und kraftlos ihren Rollkoffer hinter sich herzog, musste sie an ein Gespräch mit Franjo vor dreizehn Jahren zurückdenken.

Christin hatte ihn eher aus Spaß darauf angesprochen, dass er ja auch ihren Mädchennamen Marktschreier annehmen könnte. »Ich mache mich doch nicht lächerlich«, hatte er geantwortet. »Wie stände ich denn da?«

»So würden alle sehen, wie sehr du mich liebst«, wandte sie mit süßlicher Stimme ein. Sie hatte zwar mit dieser Reaktion gerechnet, war aber trotzdem enttäuscht darüber, wie rigoros er ihren Vorschlag abschlug. Sein Nein hätte er auch diplomatischer und liebevoller verpacken können.

Flehend sah Franjo sie an. »Das kannst du doch nicht von mir verlangen. Jeder würde denken, ich wäre ein Weichei und würde unter deiner Fuchtel stehen.«

»Und andersherum denken die Leute das nicht?«, entgegnete sie entrüstet und merkte, wie ihr gespielter Widerstand sich in echten verwandelte.

»Unsinn. Wir sind selbstverständlich gleichberechtigt«, versicherte Franjo ihr.

Wenn Christin jetzt auf ihre Ehe zurückblickte, war sie sich da nicht mehr sicher. Aber das lag nicht allein an Franjo. Sie hatte es ihm leicht gemacht, über sie zu bestimmen, hatte sich aus Liebe zu oft nach ihm gerichtet, und dies nicht nur beim Nachnamen.

Nun erinnerte er sie vor allem daran, dass sie mit Franjo verbunden war, egal wie weit sie sich von ihm entfernte. Wie ein Schatten verfolgte er sie. Ihr Nachname rief ihr ins Gedächtnis, dass ihr Ehemann sie angelogen und hintergangen hatte. Der Mensch, dem sie von allen am meisten vertraut hatte. Ausgerechnet er hatte sie getäuscht.

Sie hatte viele seiner Marotten ertragen, zum Beispiel, dass er kein aufgewärmtes Essen aß und von ihr verlangte, nach jeder Dusche mit einem Abzieher über die Wandfliesen zu gehen, damit sich ja kein Kalkfleck bilden konnte. Aber nun hatte er jede Grenze überschritten! Wut schäumte in ihr auf, wie das Meer, wenn es sich bei Sturm zornig gegen die Nordseeküste warf.

Als sie Tjorben erreichte, blieb sie vor ihm stehen und versuchte, sich das Gefühlschaos, das in ihr tobte, nicht anmerken zu lassen.

Sie musste zu ihm aufblicken, denn er war einen Kopf größer als sie. Tjorben sah aus, als könnte er mit bloßen Händen einen Baum umhauen. Er hatte die Ärmel seines admiralblauen T-Shirts hochgekrempelt, wodurch seine kräftigen Arme zur Geltung kamen. Auf dem Shirt schipperte ein stilisiertes Schiff übers Meer. Darüber stand Kapitän und darunter Seewievke. Sie vermutete, dass das der Name seines Ausflugsschiffes war.

Nervös zeigte sie auf das Pappschild in seiner großen Hand. »Das bin ich.«

»Moin«, sagte er knapp und warf das Schild in einen Mülleimer. Ohne zu fragen, ob sie Hilfe benötigte, nahm er ihr den Rollkoffer ab und ging in Richtung Parkplatz.

Sie eilte ihm hinterher. »Du bist dann wohl Tjorben, Joris’ Bruder.«

»Ja, der Mittlere der Inselgrafen.« Er blieb hinter einem meergrünen Wagen stehen und öffnete den Kofferraum.

Was für eine ungewöhnliche Farbe für ein Auto, dachte Christin. Tjorbens tiefe Stimme überraschte sie ebenso, aber sie passte zu seiner kräftigen Statur und dem Bart. »Inselgrafen?«, fragte sie irritiert.

»So nennen uns die Einheimischen, weil wir uns für Föhr engagieren und mit Nachnamen Graf heißen. Mir gefällt’s, egal ob das wohlwollend oder scharfzüngig gemeint ist«, erklärte er im selben routinierten Tonfall, den er vermutlich auch anschlug, wenn er Touristen durchs Watt oder über die Insel führte. Er lud Christins Koffer in den Wagen.

»Scharfzüngig?«, fragte sie. Hoffentlich hielt er sie nicht für einfältig, weil sie schon das zweite Mal seine Worte wiederholte.

»Einige Spacken sind der Meinung, wir würden uns in alles einmischen.« Tjorben zuckte mit den breiten Schultern und warf schwungvoll den Kofferraum zu. »Mit dem Vorwurf können Joris, Arian und ich leben. Wir werden uns trotzdem weiter für die Insel einsetzen.«

Sie stiegen ein und fuhren los. Das leise Summen des Elektromotors machte Christin schläfrig, in der vergangenen Nacht hatte sie lange wach gelegen und gegrübelt.

Stumm starrte Tjorben auf die Fahrbahn. Er fragte nicht, wo Anja und sie sich kennengelernt hatten, oder was sie nach Föhr führte. Das störte Christin. Sie wusste selbst nicht, warum. Es konnte ihr doch egal sein. Die Fahrt in den Norden der Insel würde ohnehin nicht lange dauern. Aber er nahm sie nicht einmal richtig wahr und schien nicht daran interessiert, sie kennenzulernen.

Jedenfalls machte er auf sie einen angespannten Eindruck. Er war nicht unfreundlich und hatte ihre Fragen beantwortet, aber er schenkte ihr auch nicht seine ganze Aufmerksamkeit. Aus einem unerfindlichen Grund wünschte sie, es wäre anders.

Weil Tjorben schwieg, während sie ein kurzes Stück durch Wyk fuhren, hatte Christin das Gefühl, etwas sagen zu müssen. »Es tut mir leid, dass du wegen mir den Umweg über Walsum machen musst.«

»Kein Problem«, erwiderte er knapp und strich sich die schulterlangen, dunkelbraunen Haare hinter die Ohren.

Er hatte dickes, welliges Haar, um das sie ihn beneidete. »Wirklich?«, fragte sie skeptisch. Ihr rutschte heraus: »Das kommt anders rüber.«

»Ach ja? Wie denn?«, wollte er neugierig wissen und bog auf den Siedlerweg ab.

»Ist auch egal. Ich hätte das nicht sagen sollen. Sorry, ich bin wohl gerade etwas gereizt.« Daran trug Franjo Schuld. Sie ärgerte sich über ihren Mann und übertrug das wohl unbewusst auf Tjorben, das tat ihr leid.

»Rück schon raus mit der Sprache!«, forderte er sie salopp auf. Erwartungsvoll sah er sie an. »Manchmal bin ich mir nicht bewusst, wie ich auf andere Menschen wirke.«

Sein Blick machte sie nervös, aber nicht auf unangenehme Art und Weise. Um sich abzulenken, klappte sie die Blende runter und betrachtete sich im Schminkspiegel. Wie blass sie aussah! Plötzlich wünschte sie sich, wenigstens etwas Rouge auf die Wangen aufgetragen zu haben. Beiläufig antwortete sie: »Du machst einen genervten Eindruck.«

»Das kannst du trotz Vollbart erkennen?« Herausfordernd blinzelte er sie an.

Ihre Blicke trafen sich. Wenn Tjorben die Augen so zusammenkniff, wirkte er durchaus angsteinflößend. Christin wurde heiß, sie fuhr das Seitenfenster herunter. Sie war es nicht gewohnt, mit Männern umzugehen, die aussahen, als könnten sie einen Kampf mit einem Grizzlybären gewinnen. Zaghaft sagte sie: »Dein Bart könnte schon mal wieder gestutzt werden, finde ich.«

»Ich mag ihn so«, stellte er klar, strich über seine Gesichtsbehaarung und lächelte sie plötzlich neckisch an.

Ein Leuchten trat in seine Augen, das stand ihm gut. Es machte ihn attraktiv, und er sah gleich weniger beängstigend aus. »Eigentlich mag ich glatte Gesichter lieber«, gab Christin schon wieder etwas mutiger zu, »aber dir steht der Bart.«

»Danke. Ich bin nicht genervt. Es ist bloß so, dass ich die Zeit im Nacken habe. Meine nächste Wandergruppe wartet in Dunsum auf mich, und ich will nicht zu spät kommen. Das macht einen schlechten Eindruck und bringt negative Bewertungen im Internet«, erklärte Tjorben und schaltete das Autoradio ein, worauf ein Shantychor Seemannslieder schmetterte.

Ungläubig fragte sie: »Deine Bootstouren werden im Netz bewertet?«

»Wie so ziemlich alles heutzutage.« Er verdrehte die Augen. Dann bemühte er den Suchlauf, bis er bei einem alten Hardrocksong von Guns n’ Roses landete. Über den Gesang von Axl Rose hinweg, der in die Paradise City mitgenommen werden wollte, sagte Tjorben laut: »Ich bin heute echt gut drauf.«

Das überraschte Christin. Sie frotzelte: »Echt jetzt? Wie siehst du dann erst aus, wenn du schlecht gelaunt bist?«

Seine Augen funkelten amüsiert. Er schlug im Takt des Liedes aufs Lenkrad. Als sie an eine Kreuzung kamen, erklärte er: »Rechts liegt die nördlichste Ecke Föhrs, und geradeaus geht es zur Vogelkoje Boldixum. Anja wird dir bestimmt alles zeigen.«

»Ich dachte, das wäre dein Job. Du bist doch Naturführer«, wandte sie ein und fragte sich, ob sie ihn gerade ermunterte, sich mit ihr zu einer Wandertour über die Insel zu verabreden. Was war bloß los mit ihr? Franjos Untreue musste sie mehr durcheinandergebracht haben, als sie gedacht hatte.

Das Lied im Radio wurde von einem rockigen Bon-Jovi-Song abgelöst, in dem es um ein Mädchen ging, das von zu Hause weggelaufen war. Tjorben erwiderte lächelnd: »Ja, das bin ich. Wenn du willst, kannst du eine private Führung bei mir buchen.«

Sie sollte ihn bezahlen? Entrüstet zog sie eine Augenbraue hoch und erwiderte kühl: »Aber du machst doch Gruppenführungen, hast du eben erwähnt.«

»Ja, das auch.« Er nickte und sang den Chorus von Runaway mit.

»Und warum sollte ich dann eine Einzelführung buchen?« Ihr wurde erneut heiß, als sie auf eine Antwort wartete.

»Unsere Kabbeleien hält doch niemand lange aus, das würde die anderen Teilnehmer vergraulen«, zog er sie mit einem Lächeln in der Stimme auf und lenkte das Auto nach links, mitten hinein in die Marsch.

War das wirklich der einzige Grund? Verlegen wich sie seinem Blick aus, indem sie aus dem Fenster sah. Nichts als Wiesen und Felder zogen vorbei. Nach ihrem Alltag in der Großstadt war das fast wie ein Schock.

Eine Schar Stare stoben von einem Stoppelfeld auf, als sie an ihnen vorbeifuhren. Die hellen Punkte auf ihren dunklen Federn glänzten in der gleißenden Sommersonne, als hätte man Goldfäden in ihr Federkleid gesponnen. Hier und da schillerte ein metallisches Grün oder Lila durch. Christin war noch nie aufgefallen, wie schön diese Vögel waren, aber sie hatte sie ja auch noch nie genauer betrachtet.

Tjorben räusperte sich und fragte, ohne sie anzusehen: »Ist dein Mann schon auf Föhr, oder ist er zu Hause geblieben?«

Vor Schreck verschluckte sie sich beinahe an ihrer Zunge. Sie hatte ihren Ehering am Vortag ausgezogen, weil ihr der Finger wehgetan hatte, als wäre der Ring ihr von einem Tag auf den anderen zu klein geworden. Erst hatte sie ihn in Köln lassen wollen, doch dann hatte sie ihn in ihre Kulturtasche gesteckt und mit auf die Reise genommen.

Verunsichert wollte sie von Tjorben wissen: »Hat Anja etwa Franjo erwähnt, als sie dich angerufen hat, um zu fragen, ob du mich zum Lüttes Glück mitnehmen würdest?«

»Ich tippe mal darauf, dass Franjo dein Mann ist«, zählte Tjorben eins und eins zusammen. Er schüttelte den Kopf. »Nein, hat Anja nicht.«

»Woher weißt du dann, dass ich verheiratet bin? Oder wolltest du nur herausfinden, ob ich in festen Händen bin?«, brach es aus ihr heraus. Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, bereute sie sie auch schon. Sie wurde rot.

Tjorben zog die Augenbrauen hoch. Dann schmunzelte er. »Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ich bin zurzeit ein glücklicher Single. Mich kriegt auch keine in den Hafen der Ehe. Ich habe ja gesehen, wohin das bei Joris geführt hat.«

Von Anja wusste Christin, dass Joris geschieden war. Bei dem Thema zog sich ihr Magen zusammen.

Ohne zu ahnen, was Tjorben durch die Bemerkung in ihr ausgelöst hatte, fuhr er fort: »Da segele ich lieber ungebunden über die Meere.«

»Niemand ist gern allein«, wandte sie ein und ballte in ihrem Schoß die Hände zu Fäusten. Ihr wurde bewusst, was es bedeutete, wenn sie sich nicht dazu durchringen konnte, Franjo den Seitensprung zu verzeihen. Sie würde die Scheidung einreichen, sich eine eigene Wohnung suchen und wäre nach sechzehn Jahren wieder solo. Die Aussicht bedrückte sie.

Tjorben grinste frech. »Wer sagt, dass ich allein bin?«

Missbilligend zog Christin eine Augenbraue hoch. »Du bist also ein Draufgänger.« Wie mein Mann, dachte sie wütend.

»Ganz und gar nicht, bloß freiheitsliebend. Ich wollte nur klarstellen, dass ich ab und zu eine Freundin habe. Es ist nicht so, als hätte ich mich von der Damenwelt abgewandt.« Er zwinkerte. »Frauen sind toll, ich liebe sie.«

»Aber deine Liebe hält anscheinend nie lange an«, stichelte Christin. Waren denn alle Männer so leicht von einer Beziehung abzulenken? Bissig bemerkte sie: »Das hört sich für mich an, als wärst du noch nie wirklich verliebt gewesen.«

Tjorben schwieg einen kurzen Moment und gab dann leise zu: »Schon möglich. Aber es hat halt nie gepasst. Es ist ja nicht so, dass ich nicht auch schon verlassen worden bin.«

War das der Grund, warum er lieber allein blieb? War er verletzt worden und ließ deshalb keine tiefen Gefühle mehr zu? Neugierig hakte sie nach: »Hattest du schon immer so einen starken Freiheitsdrang?«

»Wir haben genug über mich gesprochen«, wiegelte er ab und sah wieder starr nach vorne. Ironisch meinte er: »Es war schöner mit dir, als wir noch geschwiegen haben.«

»Und witzig bist du auch noch«, bemerkte Christin bissig. »Dabei hat Anja gemeint, du würdest nicht gerne reden.«

»So, hat sie das?«, brummte er. »Damit hat sie auch recht. Ich hatte den Eindruck, dass du dich unterhalten willst, und wollte bloß nett sein.«

Sie schickte ihm einen giftigen Blick, aber das bekam er nicht mit. Eine Frage brannte ihr noch auf der Zunge: »Wie bist du darauf gekommen, dass ich verheiratet bin?«

»Du hast einen weißen Streifen am Ringfinger«, antwortete er.

Tjorben hatte anscheinend eine gute Beobachtungsgabe. Christin hätte nie gedacht, dass sie das mal tun würde, aber sie verfluchte ihre Sommerbräune. In diesem Fall hatte sie sie verraten. Bestimmt konnte sich Tjorben nun denken, dass sie Eheprobleme hatte und deshalb allein nach Föhr gekommen war. »Franjo ist noch in Köln«, beeilte sie sich zu sagen. »Es ist gerade etwas kompliziert.«

»Das dachte ich mir schon, aber du musst mir nichts erklären«, stellte er mit sanfter Stimme klar. »Eigentlich hatte ich das Thema nur angesprochen, um dir zu sagen, dass du dich auf Föhr sicher fühlen kannst. Falls dein Mann dir nachreisen und Ärger machen sollte. Du kannst auf mich zählen.«

»So ein Typ Mann ist er nicht, aber danke.« Sie lächelte in sich hinein. Franjo würden schon die Knie schlottern, wenn Tjorben ihn bloß mit zusammengekniffenen Augen ansah.

Sie fuhren immer weiter hoch in den Norden der Insel. Weit und breit machte Christin fast nur sattgrünes Marschland aus. Ab und zu gab es eine Abbiegespur zu einem Bauernhof, der inmitten von Feldern lag. Die Dünen kamen immer näher, sie hielten den Wind aber nicht vollkommen ab. Eine kräftige Brise schüttelte die Grashalme und das Getreide.

Laut der Anzeige des Autocomputers betrug die Außentemperatur dreiundzwanzig Grad. Christin öffnete das Seitenfenster ein kleines Stück und atmete den Duft von reifem Korn ein. Nach der Hitze, unter der sie in Köln gelitten hatte, genoss sie die vergleichsweise kühle Luft.