Maigret contra Picpus - Georges Simenon - E-Book

Maigret contra Picpus E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Ein heißer Augusttag in Paris. Maigret erhält eine geheimnisvolle Botschaft: "Morgen Nachmittag um fünf töte ich die Wahrsagerin. Gezeichnet Picpus." Die Drohung wurde in einem Café an der Place de la République gefunden. Maigret lässt kurzerhand alle 482 Wahrsagerinnen in Paris beschatten. Doch Mademoiselle Jeanne, die am nächsten Tag erdolcht aufgefunden wird, war nicht unter ihnen. Als dann noch ein Mann in der Küche der Toten steht, der behauptet, von der Wahrsagerin eingesperrt worden zu sein, geht das Rätselraten erst richtig los.

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Der 23. Fall

Georges Simenon | Jochen Schimmang

Maigret contra Picpus

Mit einem Nachwort von Jochen Schimmang

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Svenja Tengs

Kampa

1Hat Picpus gelogen?

Drei Minuten vor fünf. Auf dem riesigen Plan von Paris, der eine ganze Wand bedeckte, leuchtete ein weißes Lämpchen auf. Ein Beamter legte sein Sandwich ab und steckte einen Stöpsel in eins der tausend Löcher der Telefonzentrale.

»Hallo! Vierzehntes? … Euer Wagen ist eben abgefahren?«

Maigret, der gern gleichgültig gewirkt hätte, stand in der Sonne und wischte sich den Schweiß ab. Der Beamte brummte etwas vor sich hin, zog den Stöpsel heraus, nahm sein Sandwich wieder in die Hand und murmelte, an den Kommissar gewandt: »Ein Bercy!«

Im Polizeijargon bedeutete das Säufer. Es war August. Paris roch nach Asphalt. Der Lärm der Stadt drang durch die weitgeöffneten Fenster in den Raum, der so etwas wie das Gehirn der Notrufzentrale war. Unten im Hof des Polizeipräsidiums konnte man zwei Wagen voller Polizisten sehen, bereit, auf das erste Zeichen hin loszufahren.

Wieder ein Lämpchen, diesmal im 18. Arrondissement. Weg mit dem Wurstsandwich. Stöpsel.

»Hallo? … Ach du, Gérard … Auf Wache? … Was gibt’s bei dir, mein Lieber? … Gut, geht in Ordnung …«

Ein Fenstersturz. Auf diese Art brachten sich die armen Leute um, besonders die älteren, und merkwürdigerweise vor allem im 18. Arrondissement. Maigret klopfte seine Pfeife auf der Fensterbank aus, stopfte sie von Neuem und sah auf die Uhr. Zwei Minuten nach fünf. Hatte man die Wahrsagerin getötet oder nicht?

Die Tür wurde geöffnet. Lucas kam herein, klein, rundlich, geschäftig. Auch er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Immer noch nichts, Chef?«

Wie Maigret hatte er nur den Boulevard überqueren müssen, der die Kriminalpolizei vom Polizeipräsidium trennte.

»Hören Sie, dieser Typ ist da.«

»Mascouvin?«

»Er ist kreidebleich. Er will Sie unbedingt sprechen. Er behauptet, es bleibe ihm nichts anderes übrig, als sich umzubringen.«

Ein Lämpchen leuchtete auf. Ob diesmal …? Nein, eine Schlägerei an der Porte de Saint-Ouen.

Telefon. Der Direktor der Kriminalpolizei verlangte den Kommissar.

»Hallo, Maigret … Und? … Nichts?«

Man spürte die Ironie in seiner Stimme. Maigret war wütend. Ihm war heiß. Was hätte er jetzt für ein ordentlich gezapftes Bier gegeben! Und zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich fast, dass ein Verbrechen – das Verbrechen, auf das er wartete – begangen wurde. Sehr richtig! Wenn die Wahrsagerin nicht genau um fünf Uhr – oder vielmehr um fünf Uhr nachmittags, wie es auf der Schreibunterlage stand – ermordet wurde, müsste er monatelang das spöttische Lächeln seiner Umgebung und mehr oder weniger geistreiche Scherze über sich ergehen lassen.

»Bring Mascouvin her.«

Der Mann sah weiß Gott nicht wie ein Spaßvogel aus! Er hatte sich tags zuvor am Quai des Orfèvres eingefunden, düster, stur, mit einem nervösen Zucken im Gesicht. Um jeden Preis wollte er mit Kommissar Maigret persönlich sprechen.

»Es geht um Leben und Tod!«, sagte er.

Ein kleiner, hagerer, ziemlich unscheinbarer Mann mittleren Alters, der den muffigen Geruch eines ungepflegten Junggesellen ausströmte. Während er seine Geschichte erzählte, zog er an seinen Fingern und ließ sie knacken, wie ein Schüler, der etwas aufsagt.

»Ich arbeite seit fünfzehn Jahren bei Proud et Drouin, den Immobilienmaklern am Boulevard Bonne-Nouvelle. Ich lebe allein in einer Zweizimmerwohnung an der Place des Vosges 21. Jeden Abend spiele ich eine Partie Bridge in einem Klub in der Rue des Pyramides. Seit zwei Monaten bin ich vom Pech verfolgt. Alle meine Ersparnisse sind dabei draufgegangen. Ich schulde der Comtesse achthundert Franc …«

Maigret hörte kaum zu und dachte, dass halb Paris im Urlaub war und der Rest gerade kühle Getränke unter den Markisen der Terrassen genoss. Was für eine Comtesse? Der traurige Mann erklärte es. Eine Dame von Welt, die Unglück gehabt hatte und einen Bridgesalon in der Rue des Pyramides betrieb. Eine sehr schöne Frau. Man spürte, dass der Mann verliebt in sie war.

»Heute um vier Uhr, Herr Kommissar, habe ich einen Tausendfrancschein aus der Kasse meiner Chefs genommen.«

Seine Miene war so tragisch, als hätte er eine ganze Familie umgebracht. Während er mit seiner Beichte fortfuhr, ließ er unaufhörlich die Finger knacken. Nachdem er bei Proud et Drouin Feierabend gemacht hatte, war er mit seinem Tausendfrancschein in der Tasche über die Boulevards geirrt. Geplagt von Gewissensbissen. Er war ins Café des Sports an der Ecke Place de la République und Boulevard Voltaire gegangen, wo er jeden Abend vor dem Essen allein einen Aperitif trank.

»Was zu schreiben, Nestor!«

Denn er nannte den Kellner beim Vornamen. Ja, er würde seinen Vorgesetzten schreiben. Er würde ihnen alles beichten und den Tausendfrancschein zurückschicken. Was für eine Pechsträhne! Seit zwei Monaten verlor er unentwegt. Die Comtesse, die er heimlich anbetete, hatte nur Augen für einen pensionierten Kapitän. Von Mascouvin hatte sie unerbittlich die Summe gefordert, die er ihr schuldete.

Inmitten der rings um ihn wimmelnden Menge starrte der Angestellte auf die Schreibunterlage vor ihm. Geistesabwesend hatte er seine Brille daraufgelegt, die er mit großen, kurzsichtigen Augen betrachtete. Da geschah es: Eines der Gläser diente als Spiegel und reflektierte die auf der Unterlage getrockneten Tintenstriche. Mascouvin erkannte ein Wort: töte. Er sah aufmerksamer hin. Das Brillenglas stellte das ursprüngliche Schriftbild wieder her: Morgen Nachmittag um fünf töte ich …

Morgen Nachmittag um fünf töte ich die Wahrsagerin. Gezeichnet: Picpus.

Fünf nach fünf. Der Beamte aus der Zentrale hatte Zeit gehabt, sein nach Knoblauch riechendes Wurstsandwich aufzuessen, da keins der weißen Lämpchen auf dem Pariser Stadtplan aufgeleuchtet hatte. Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Lucas, der den zerknirschten Mascouvin hereinführte.

Am Vortag hatte Maigret ihm geraten, wieder nach Hause zu gehen, sich wie gewohnt in sein Büro zu begeben und die tausend Franc wieder an ihren Platz zu legen. Für alle Fälle war Lucas dem Mann gefolgt. Gegen neun Uhr abends hatte er sich in der Rue des Pyramides herumgetrieben, aber nicht das Haus der Comtesse betreten. Er hatte zu Hause an der Place des Vosges geschlafen. Morgens war er ins Büro gegangen, und mittags hatte er in einem billigen Lokal am Boulevard Saint-Martin gegessen.

Gegen halb fünf hatte er plötzlich – als hielte er es dort nicht mehr aus – die düsteren Büros von Proud et Drouin verlassen, um sich zum Quai des Orfèvres zu begeben.

»Ich kann nicht mehr, Herr Kommissar. Ich traue mich nicht mehr, meinen Chefs ins Gesicht zu blicken. Es kommt mir vor …«

»Setzen Sie sich, und halten Sie den Mund.«

Acht Minuten nach fünf! Eine strahlende Sonne schien über dem lebhaften Treiben von Paris. Die Männer gingen in Hemdsärmeln durch die Straßen, und die Frauen waren fast nackt unter ihren leichten Kleidern. Währenddessen überwachte die Polizei vierhundertzweiundachtzig mehr oder weniger hellsichtige Wahrsagerinnen!

»Meinen Sie nicht, Maigret, dass es ein Witz ist?«

Lucas machte sich Sorgen um seinen Chef, weil dieser riskierte, sich lächerlich zu machen. Im 3. Arrondissement ging ein Lämpchen an.

»Hallo! … Gut! … Geht in Ordnung!«

Und der Beamte sagte seufzend zu Maigret:

»Wieder ein Bercy. Dabei ist noch nicht mal Samstag.«

Mascouvin, der nicht still sitzen konnte und wieder seine Finger knacken ließ, öffnete den Mund.

»Pardon, Herr Kommissar. Ich wollte Ihnen sagen …«

»Ich will nichts hören«, fuhr Maigret ihn an.

Würde sich der Mann namens Picpus entschließen, die Wahrsagerin zu töten oder nicht?

Ein Lämpchen. Wieder das 18. Arrondissement.

»Hallo! … Kommissar Maigret? … Einen Augenblick …«

Maigrets Herz machte einen kleinen Sprung, als er zum Hörer griff.

»Hallo! … Ja … Die Wache in der Rue Damrémont? … Was sagen Sie? … Rue Caulaincourt 67a? … Mademoiselle Jeanne? … Eine Wahrsagerin?«

Seine Stimme schmetterte wie eine Trompete. In seinem Gesicht spiegelte sich Aufregung.

»Los, Kinder! Nimm ihn mit, Lucas! Man kann nie wissen …«

Wie ein Schlafwandler – einer von der trübseligen Art – folgte Joseph Mascouvin den beiden Männern die staubige Treppe hinunter. Im Hof wartete ein Polizeiwagen.

»Rue Caulaincourt 67a. Schnell!«

Unterwegs studierte Maigret die Liste der Wahrsagerinnen und Kartenlegerinnen, die er tags zuvor hatte erstellen lassen und die man diskret überwacht hatte. Natürlich war Mademoiselle Jeanne nicht darunter!

»Schneller, mein Lieber.«

Und dann noch dieser Dummkopf Mascouvin, der ängstlich fragte:

»Ist sie tot?«

Maigret fragte sich, ob er wirklich so naiv war, wie er tat. Es würde sich bald herausstellen.

»Revolver?«, murmelte Lucas.

»Messer.«

Man brauchte nicht die Hausnummer zu suchen. Genau gegenüber der Place Constantin-Pecqueur wies eine Menschenansammlung auf das Haus hin, in dem sich soeben das Drama abgespielt hatte.

»Soll ich auf Sie warten?«, stammelte Mascouvin.

»Kommen Sie mit rein! Los, kommen Sie!«

Die Polizisten traten zur Seite, um Maigret und Lucas durchzulassen:

»Fünfter Stock rechts.«

Kein Fahrstuhl. Ein sauberes, recht anständiges Haus. Natürlich standen auf allen Treppenabsätzen Mieter. Im fünften Stock gab der Kommissar vom 18. Arrondissement Maigret die Hand.

»Kommen Sie herein. Es ist gerade erst passiert. Ein glücklicher Zufall, dass man uns so schnell benachrichtigt hat. Sehen Sie selbst.«

Sie traten geradezu ins Sonnenlicht. Das kleine Wohnzimmer mit weitgeöffnetem Fenster führte auf einen Balkon, von dem man die ganze Stadt überblickte. Das Wohnzimmer war hübsch, mit weichem Teppich, einer hellen Tapete, Louis-XVI-Sesseln, charmantem Kleinkram. Ein Arzt aus der Nachbarschaft richtete sich auf.

»Nichts zu machen. Der zweite Stich war tödlich.«

Das Zimmer war zu klein für die vielen Leute, die sich darin tummelten. Nachdem Maigret sich seine Pfeife gestopft hatte, zog er seine Jacke aus. Man sah die malvenfarbenen Hosenträger, die ihm seine Frau eine Woche zuvor gekauft hatte. Der Polizeikommissar lächelte beim Anblick dieser Hosenträger, die zu allem Überfluss aus Seide waren. Maigret runzelte die Stirn.

»Nun? … Erzählen Sie! Ich warte.«

»Tja, ich bin noch nicht dazu gekommen, viele Auskünfte einzuholen, zumal die Concierge nicht gerade gesprächig ist. Man muss ihr jedes Wort aus der Nase ziehen. Mademoiselle Jeanne, mit richtigem Namen Marie Picard, wurde in Bayeux geboren …«

Maigret hatte das Laken hochgehoben, das man über die Leiche gelegt hatte. Wirklich eine hübsche Person. Etwa vierzig, rundlich, gepflegt, das Blond vielleicht nicht ganz natürlich.

»Sie war nicht als Wahrsagerin gemeldet und hat auch keine Werbung für sich gemacht. Trotzdem hatte sie einen festen Kundenstamm. Wohlhabende Leute, wie es aussieht, haben sie aufgesucht …«

»Wie viele Kunden hatte sie heute Nachmittag?«

»Die Concierge, Madame Baffoin, Eugénie Baffoin, weiß es nicht. Sie sagt, das gehe sie nichts an und nicht alle Concierges seien so neugierig, wie man ihnen nachsagt. Um kurz nach fünf ist diese Dame hier …«

Eine kleine, lebhafte Person, ebenfalls mittleren Alters, erhob sich. Sie trug einen etwas lächerlichen Hut.

»Ich habe Mademoiselle Jeanne gekannt«, sagte sie. »Manchmal hat sie ein paar Tage in Morsang verbracht. Kennen Sie Morsang? Es liegt an der Seine, ein Stück oberhalb von Corbeil, auf Höhe des Staudamms. Ich führe dort den Gasthof Beau Pigeon. Da Isidore so schöne Schleien gefangen hatte und ich sowieso nach Paris musste, dachte ich …«

Die Schleien lagen in frische Kräuter eingewickelt in einem Korb.

»Wissen Sie, ich war sicher, dass sie sich darüber freuen würde, denn sie aß Fisch für ihr Leben gern.«

»Kennen Sie Mademoiselle Jeanne schon lange?«

»Vielleicht seit fünf Jahren? Einmal hat sie einen ganzen Monat bei uns verbracht.«

»Allein?«

»Für wen halten Sie sie? … Ich bin also zwischen zwei Besorgungen heraufgekommen. Die Tür war nicht abgeschlossen. Sie stand halb offen. So wie jetzt. Ich hab gerufen: ›Mademoiselle Jeanne, ich bin’s, Madame Roy.‹ Als sie nicht antwortete, bin ich hinein und … Sie saß an diesem Tischchen dort, den Oberkörper nach vorn gebeugt. Ich dachte, sie sei eingeschlafen, und wollte sie wachrütteln, da …«

Gegen sieben nach fünf war die Wahrsagerin Mademoiselle Jeanne durch zwei Messerstiche in den Rücken getötet worden.

»Hat man die Waffe gefunden?«, fragte Maigret den Polizeikommissar.

»Nein.«

»Sind Schränke aufgebrochen worden?«

»Nichts. Alles in Ordnung. Der Mörder war anscheinend gar nicht im Schlafzimmer. Sehen Sie!«

Er öffnete eine Tür. Das Schlafzimmer war noch heiterer als das Wohnzimmer. Ein richtiges Boudoir mit heller Tapete. Der Rückzugsort einer hübschen Frau, die Wert auf Komfort gelegt hatte.

»Sie sagen, dass die Concierge …«

»Sie behauptet, nichts zu wissen. Madame Roy ist in die Bar nebenan gegangen, um uns anzurufen. Sie hat vor der Tür auf uns gewartet. Aber da ist noch etwas … Ach, da kommt ja der Schlosser, den ich habe holen lassen. Kommen Sie, mein Guter! Sehen Sie? Öffnen Sie uns doch bitte die Tür dort.«

Maigrets Blick schweifte zufällig zu Mascouvin, der auf der Kante eines Stuhls saß. Der Angestellte von Proud et Drouin stöhnte:

»Mir schlägt das Herz bis zum Hals, Herr Kommissar …«

»Schlimm, schlimm!«

Wenn gleich die Herren von der Staatsanwaltschaft und die Spezialisten vom Erkennungsdienst kommen würden, würde es noch schlimmer werden. Hätte Maigret doch nur die Zeit, auf ein Bier bei Manière vorbeizugehen!

»Wie Sie sehen«, erklärte der Polizeikommissar, »besteht die Wohnung aus diesem Wohnzimmer, dem rustikalen Esszimmer hier, dem Schlafzimmer, einem Abstellraum und …«

Er deutete auf eine verschlossene Tür, an deren Schloss sich der Handwerker zu schaffen machte.

»Das ist vermutlich die Küche.«

Ein Dietrich drehte sich im Schloss. Die Tür öffnete sich.

»Was ist das denn? Was machen Sie hier? Wer sind Sie?«

Es wirkte fast komisch, so unerwartet kam es. In einer sehr sauberen kleinen Küche, in der nicht ein schmutziger Teller, nicht ein benutztes Glas herumstand, entdeckten sie einen alten Mann, der in sehr würdevoller Haltung auf der Tischkante saß.

»Antworten Sie! Was machen Sie hier?«

Eingeschüchtert blickte der Alte die Männer an, die ihm in barschem Ton Fragen stellten. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Am seltsamsten war, dass er mitten im August einen dicken grünlichen Mantel trug. Seine Wangen waren mit struppigen Barthaaren bedeckt. Er wich ihrem Blick aus und ließ die Schultern hängen.

»Seit wann sind Sie in dieser Küche?«

Er machte ein Gesicht, als würde er nicht recht verstehen, zog eine goldene Uhr aus der Tasche und klappte den Deckel auf.

»Seit vierzig Minuten«, antwortete er schließlich.

»Das heißt, Sie waren um fünf hier?«

»Ich bin schon vorher gekommen.«

»Waren Sie bei dem Verbrechen dabei?«

»Was für einem Verbrechen?«

Er hörte schlecht und neigte den Kopf zu seinem Gesprächspartner, wie es Schwerhörige tun.

»Was soll das heißen? Sie wissen nicht …«

Man deckte die Leiche auf. Der alte Mann betrachtete sie entsetzt und erstarrte.

»Nun?«

Er antwortete nicht. Er wischte sich die Augen, aber das musste nichts bedeuten, denn Maigret hatte schon vorher gesehen, dass seine Augen tränten.

»Was hatten Sie in der Küche zu suchen?«

Er starrte sie immer noch an und sah so aus, als ergäben die Worte keinen Sinn für ihn.

»Wie kommt es, dass Sie in dieser Küche eingeschlossen waren?«, fragte man ihn wieder. »Der Schlüssel hat weder von außen noch von innen gesteckt.«

»Ich weiß es nicht«, sagte er seufzend wie ein Kind, das Angst vor Schlägen hat.

»Was wissen Sie nicht?«

»Nichts.«

»Können Sie sich ausweisen?«

Ungeschickt kramte er in seinen Taschen, wischte sich wieder die Augen, schniefte und reichte ihnen schließlich eine Brieftasche mit silbernen Initialen. Der Polizeikommissar und Maigret wechselten einen Blick. War der Alte wirklich verwirrt, oder spielte er seine Rolle nur perfekt? Maigret zog einen Personalausweis aus der Brieftasche und las:

»Octave Le Cloaguen, Schiffsarzt im Ruhestand, achtundsechzig Jahre, Boulevard des Batignolles 13, Paris.«

»Alle raus!«, donnerte Maigret plötzlich.

Joseph Mascouvin erhob sich gehorsam.

»Sie nicht! Sie bleiben, verflucht noch mal! Setzen Sie sich wieder!«

Mit zehn oder fünfzehn Leuten erstickte man noch in dieser Puppenstube.

»Setzen Sie sich auch wieder hin, Monsieur Le Cloaguen. Sagen Sie mir erst einmal, was Sie in diesem Haus gemacht haben.«

Le Cloaguen zuckte zusammen. Er hatte die Worte gehört, aber ihren Sinn nicht verstanden. Maigret wiederholte seine Frage und sah sich gezwungen, zu schreien.

»Ach ja. Verzeihung. Ich bin hergekommen …«

»Wozu?«

»Um sie zu besuchen«, stammelte er, während er auf die Leiche deutete, die wieder mit dem Laken bedeckt war.

»Sollte sie Ihnen Ihre Zukunft voraussagen?«

Er antwortete nicht.

»Also, waren Sie nun einer ihrer Kunden, ja oder nein?«

»Ja, ich bin hergekommen …«

»Und was ist passiert?«

»Ich saß hier. Ja, auf dem goldenen Stuhl dort. Es hat an der Tür geklopft. So …«

Er ging zur Tür. Erst schien es, als wollte er fliehen. Aber nein, er klopfte nur auf eine bestimmte, abgehackte Art und Weise.

»Da hat sie zu mir gesagt …«

»Was? Reden Sie! Was hat sie zu Ihnen gesagt?«

»Sie hat gesagt: ›Schnell hier hinein.‹ Und dann hat sie mich in die Küche geschoben.«

»Hat sie die Tür abgeschlossen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und dann?«

»Nichts … Ich habe mich auf den Tisch gesetzt. Das Fenster stand offen. Ich habe auf die Straße geblickt.«

»Und weiter?«

»Nichts weiter. Es sind viele Leute gekommen. Ich dachte, ich darf mich nicht zeigen.«

Er sprach leise und langsam, wie gegen seinen Willen, und plötzlich stellte er eine höchst unerwartete Frage:

»Hätten Sie ein bisschen Tabak?«

»Eine Zigarette?«

»Tabak.«

»Rauchen Sie Pfeife?«

Maigret reichte ihm seinen Tabakbeutel. Le Cloaguen nahm eine Prise Tabak und steckte sie sich mit sichtlicher Befriedigung in den Mund.

»Sie müssen es meiner Frau ja nicht sagen …«

Lucas hatte währenddessen die Wohnung durchsucht. Maigret wusste, wonach.

»Und?«

»Nichts, Chef. Der Küchenschlüssel ist nirgends zu finden. Ich habe einen Inspektor gebeten, auf der Straße nachzusehen, für den Fall, dass man ihn aus dem Fenster geworfen hat.«

Maigret fasste für Le Cloaguen zusammen:

»Sie behaupten also, Sie seien um kurz vor fünf hergekommen, um die Wahrsagerin zu sehen. Um zwei oder drei Minuten vor fünf hat jemand auf eine bestimmte Weise an die Tür geklopft, und Mademoiselle Jeanne hat Sie in die Küche geschoben. Ist das richtig? Sie haben auf die Straße geblickt, dann Stimmen gehört und sich nicht gerührt. Sie haben nicht einmal durchs Schlüsselloch gesehen.«

»Nein … Ich dachte, sie hätte Besuch.«

»Waren Sie früher schon mal hier?«

»Jede Woche.«

»Seit Langem?«

»Ja, sehr lange schon.«

Senil? Nicht senil? Das ganze Viertel war in Aufruhr. Mehr als zweihundert Menschen standen auf der Straße, als die Wagen der Staatsanwaltschaft eintrafen. Immer noch diese Sonne, leuchtende Farben, die Terrassen, wo man sich bei einem Glas kühlen Biers seines Lebens freute. Wegen der Herren, die heraufkamen, zog Maigret sein Jackett wieder an.

»Ach, Sie sind es, Kommissar?«, sagte der Vertreter des Staatsanwalts. »Dann kann man wohl davon ausgehen, dass es ein interessanter Fall ist?«

»Wenn man davon absieht, dass ich es bisher nur mit zwei Verrückten zu tun hatte«, brummte Maigret vor sich hin.

Dieser Dummkopf Mascouvin, der den Kommissar nicht aus den Augen ließ! Und dann der Alte, der seinen Tabak kaute und schniefte!

Es fuhren weitere Wagen vor. Diesmal waren es Journalisten.

»Hör mal, Lucas, nimm unsere beiden Freunde hier mit. Ich bin in einer halben Stunde am Quai.«

Da machte Mascouvin eine unbezahlbare Bemerkung. Nachdem er den Kopf geschüttelt und sich im mittlerweile chaotischen Wohnzimmer nach seinem Hut umgesehen hatte, murmelte er mit großem Ernst, so wie er alles tat:

»Da sehen Sie’s, Herr Kommissar. Picpus hat die Wahrsagerin ermordet!«

2Der Mann, der in Schweiß ausbricht

Es war seltsam, doch erst als Maigret gedankenverloren auf eine Hand starrte – eine Männerhand, die auf einem mit abgenutztem Stoff bedeckten Knie lag –, fühlte er das Drama in gewisser Hinsicht in sich nachhallen und sah in seinem Begleiter nicht mehr nur irgendeine mehr oder weniger komische Figur.

Vorhin in der Rue Caulaincourt war es wie auf dem Jahrmarkt zugegangen, wie Maigret es ausdrückte, den die Untersuchungsmethoden der Staatsanwaltschaft mit Entsetzen erfüllten. Inmitten des Trubels war Octave Le Cloaguen dem Kommissar wie ein unscheinbarer Greis vorgekommen, der stumpfsinnig vor sich hin starrte. Höchstens die plötzliche Leere in den hellen Augen des Mannes hatte ihn beunruhigt, als wäre dessen Seele vorübergehend an einem anderen Ort gewesen. Man musste ihm zwei-, dreimal dieselbe Frage stellen, bis die Worte zu ihm durchdrangen. Dann runzelte er die Stirn und versuchte zu verstehen.

Später beim Verhör in seinem Büro am Quai des Orfèvres, das die untergehende Sonne in einen Backofen verwandelt hatte, befragte Maigret, der sich immer wieder den Schweiß vom Gesicht wischte, den Alten eingehend, doch das Ergebnis war so gut wie null. Le Cloaguen ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Man hatte sogar den Eindruck, dass er versuchte, dem Kommissar zu gefallen. Und während sich dieser unablässig mit einem Taschentuch über Stirn und Nacken fuhr, war die Haut des Alten, der noch nicht einmal seinen Mantel ausgezogen hatte, vollkommen trocken. Maigret hatte es deutlich gesehen. Er war sich sicher.

Jetzt fuhren die beiden Männer in einem offenen Taxi. Es war acht Uhr abends, und eine angenehm kühle Brise wehte durch die Straßen von Paris. Le Cloaguen saß reglos da. Ohne sich dessen bewusst zu sein, blickte Maigret unverwandt auf die rechte Hand des Alten, die auf dem Knie lag, eine merkwürdig lange Hand mit knotigen Gelenken und einer Pergamenthaut, die an manchen Stellen so rissig schien wie zu trockene Rinde. Am Zeigefinger fehlte das erste Glied.

Ob diese Hand …? Maigret sann vor sich hin. Wie viele Dinge konnte eine Hand im Lauf eines ganzen Lebens verrichten, wie diese hier, in achtundsechzig Jahren?

Plötzlich fiel ein Tropfen auf die gespannte Haut und zerplatzte. Sie fuhren gerade über die Avenue de Wagram, zwischen sich aneinanderreihenden Cafés und Kinos und durch ein fröhliches Getümmel. Maigret hob den Blick. Der Mann starrte vor sich hin. Seine Züge waren immer noch wie versteinert, aber auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet.

Das kam so unerwartet, dass der Kommissar stutzte. Warum war Le Cloaguen plötzlich wie von Panik ergriffen, wo er doch so lange eine fast übertriebene Gleichgültigkeit an den Tag gelegt hatte? Denn es gab keinen Zweifel: Dieser Schweiß kam nicht von der Hitze, sondern von Angst, dem schrecklichen inneren Zusammenbruch, gegen den man nichts ausrichten kann.

Hatte der Alte etwas oder jemanden gesehen? Unwahrscheinlich. Beunruhigte ihn der Blick, mit dem der Kommissar auf seine Hand starrte? Konnte zum Beispiel das fehlende Fingerglied ein Indiz sein?

Kurz darauf erreichten sie den Boulevard de Courcelles und fuhren an den vergoldeten Gittern und bläulichen Schatten des Parc Monceau vorbei. Endlich begriff Maigret, weshalb sich immer mehr Schweißtropfen auf der Stirn seines Begleiters bildeten und dessen Gesichtsfarbe aschfahl wurde: Der Grund für seine Panik war, dass sie sich seiner Wohnung näherten.

Kurze Zeit später gelangten sie zum Boulevard des Batignolles. Ein Haus aus grauen Steinen. Eine Toreinfahrt. Eine Atmosphäre des Wohlstands, fast des Reichtums. Die Loge war gepflegt und die Concierge in sauberem Schwarz gekleidet. Die Treppe war dunkel und lackiert, mit einem karmesinroten Läufer bedeckt, der von Kupferstangen festgehalten wurde.

Le Cloaguen ging langsam und schwer atmend hinauf. Er sagte kein Wort, aber von seiner Stirn rann immer noch der Schweiß. Wovor hatte er Angst?