Maigret gerät in Wut - Georges Simenon - E-Book

Maigret gerät in Wut E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Als der Nachtclubbesitzer Émile Boulay spurlos verschwindet, deutet zunächst einiges auf einen Racheakt im Rotlichtmilieu hin. Erst wenige Wochen zuvor ist der Anführer einer korsischen Bande auf offener Straße erschos- sen worden. Doch Kommissar Maigret will nicht recht glauben, dass sich der arbeitsame, bescheidene Boulay mit Gangstern angelegt hat. Zwei Tage später wird Boulay erwürgt beim Friedhof Père Lachaise aufgefunden. Es dauerte eine ganze Weile, ehe Maigret auf eine Spur stößt. Als er sie schließlich gefunden hat, ist er vollkommen verblüfft und lässt dann seinen Gefühlen endgültig freien Lauf.

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Der 61. Fall

Georges Simenon

Maigret gerät in Wut

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Svenja Tengs

Kampa

1

Es war Viertel nach zwölf, als Maigret durch die noch kühle Toreinfahrt und das Portal ging, an dem zu beiden Seiten zwei uniformierte Polizisten standen, dicht an die Mauer gedrängt, um ein wenig Schatten zu erhaschen. Er hob die Hand zum Gruß, blieb einen Augenblick unentschlossen stehen, blickte zum Hof, dann auf die Place Dauphine und wieder zum Hof.

Oben im Flur und dann auf der staubigen Treppe war er zwei- oder dreimal stehen geblieben und versucht gewesen, seine Pfeife anzuzünden, in der Hoffnung, auf einen seiner Kollegen oder Inspektoren zu treffen. Um diese Uhrzeit war das Treppenhaus fast nie menschenleer, aber in diesem Jahr herrschte am Quai des Orfèvres am 12. Juni bereits Urlaubsstimmung. Manche hatten sich schon Anfang des Monats verabschiedet, um dem Gewimmel im Juli und August zu entgehen, andere bereiteten gerade die jährliche Flucht aus der Stadt vor. An diesem Morgen war es nach einem verregneten Frühling plötzlich heiß geworden, und Maigret hatte bei offenen Fenstern in Hemdsärmeln gearbeitet.

Bis auf den Rapport beim Direktor und einen oder zwei Besuche im Inspektorenbüro war er allein geblieben und hatte sich wieder der lästigen Verwaltungsaufgabe gewidmet, mit der er vor mehreren Tagen begonnen hatte.

Vor ihm stapelten sich die Akten. Von Zeit zu Zeit hob er den Kopf wie ein Schüler, blickte in das reglose Laub der Bäume und lauschte dem Rauschen von Paris, das an warmen Sommertagen einen ganz besonderen Klang hat.

Seit zwei Wochen hatte er bei keinem Essen am Boulevard Richard-Lenoir mehr gefehlt und war abends oder nachts kein einziges Mal gestört worden.

Normalerweise hätte er links auf den Quai zum Pont Saint-Michel abbiegen müssen, um dort einen Bus oder ein Taxi zu nehmen. Der Hof blieb leer. Niemand kam, um ihn zu begleiten.

Er zuckte leicht mit den Schultern und ging trotzdem nach rechts zur Place Dauphine, die er schräg überquerte. Beim Verlassen des Büros hatte er plötzlich Lust bekommen, in die Brasserie Dauphine zu gehen und sich einen Aperitif zu gönnen, entgegen des Ratschlags seines Freundes Pardon, des Arztes aus der Rue Picpus, bei dem er in der Woche zuvor mit seiner Frau zum Abendessen gewesen war.

Schon seit mehreren Wochen war er vernünftig, begnügte sich mit einem Glas Wein zu den Mahlzeiten und trank nur manchmal abends, wenn sie ausgingen, mit seiner Frau ein Glas Bier.

Plötzlich fehlten ihm der Geruch des Bistros an der Place Dauphine und der Anisgeschmack der Aperitifs, der so gut zu der Atmosphäre dieses Tages passte. Vergeblich hatte er gehofft, jemanden zu treffen, der ihn überreden würde mitzukommen. Mit einem schlechten Gewissen stieg er die drei Stufen zur Brasserie hinauf, vor der ein langes flaches rotes Auto stand, das er neugierig musterte.

Sei’s drum! Pardon hatte ihm zwar empfohlen, seine Leber zu schonen, aber er hatte ihm nicht verboten, nach wochenlanger, fast völliger Enthaltsamkeit einen Aperitif, einen einzigen, zu trinken.

An der Theke sah er vertraute Gesichter. Mindestens ein Dutzend Leute vom Quai des Orfèvres, die im Augenblick genauso wenig zu tun hatten wie er und ihre Büros schon früher verlassen hatten. Das kam nicht selten vor: Nach mehreren ereignislosen Tagen, an denen absolute Flaute herrschte und man sich nur mit den sogenannten laufenden Angelegenheiten befasste, folgte plötzlich ein dramatisches Ereignis aufs andere und hielt alle in Atem.

Man winkte ihm zu, rückte zusammen, um an der Theke Platz für ihn zu machen. Maigret deutete auf die Gläser mit der opalfarbenen Flüssigkeit und brummte:

»Dasselbe …«

Der Wirt war schon seit dreißig Jahren hier, aber damals, als der Kommissar seine Laufbahn am Quai des Orfèvres gerade begann, noch als Sohn des Besitzers. Jetzt hatte er selbst einen Sohn, der genauso aussah wie er früher und eine weiße Kochmütze trug.

»Wie geht’s, Chef?«

»Ganz gut.«

Der Duft hatte sich nicht verändert. Jedes kleine Restaurant in Paris hat seinen ganz eigenen Geruch. Hier zum Beispiel hätte ein Kenner die leicht säuerliche Note der Loire-Weine unter den Aperitif- und Schnapsaromen ausmachen können. Aus der Küche roch es vor allem nach Estragon und Schnittlauch.

Mechanisch las Maigret das Menü auf der Schiefertafel: petits merlans aus der Bretagne und foie de veau en papillotes. Im selben Augenblick entdeckte er in dem Speisesaal mit den Papiertischtüchern Lucas, der sich anscheinend nicht hierher gestohlen hatte, um Mittag zu essen, sondern um sich ungestört mit einem Unbekannten unterhalten zu können, denn um diese Zeit ging sonst niemand zu Tisch.

Lucas, der ihn ebenfalls sah, zögerte, erhob sich und kam auf ihn zu.

»Haben Sie kurz Zeit, Chef? Ich denke, das könnte Sie interessieren.«

Der Kommissar folgte ihm, sein Glas in der Hand. Der Unbekannte stand auf. Lucas stellte vor:

»Antonio Farano. Kennen Sie ihn?«

Der Name sagte dem Kommissar nichts, aber er glaubte, das Gesicht dieses gut aussehenden Italieners, der als junger Filmstar durchgehen könnte, schon einmal gesehen zu haben. Wahrscheinlich gehörte ihm der rote Sportwagen vor der Tür. Er passte zu seinem Auftreten, seinem hellen maßgeschneiderten Anzug und dem schweren Siegelring an seinem Finger.

Während die drei Männer sich setzten, fuhr Lucas fort:

»Ich war schon gegangen, als er am Quai erschien und mich sprechen wollte. Lapointe hat ihm gesagt, er könne mich hier vielleicht finden.«

Maigret bemerkte, dass Lucas denselben Aperitif trank wie er, während Farano sich mit einem Fruchtsaft begnügte.

»Er ist der Schwager von Émile Boulay. Er leitet einen seiner Nachtclubs, das Paris-Strip in der Rue de Berri.«

Lucas zwinkerte seinem Chef diskret zu.

»Wiederholen Sie, was Sie mir gerade gesagt haben, Farano.«

»Nun, mein Schwager ist verschwunden …«

Er sprach mit italienischem Akzent.

»Wann?«, fragte Lucas.

»Wahrscheinlich letzte Nacht. Wir wissen es nicht genau …«

Maigret beeindruckte ihn sichtlich. Um Haltung anzunehmen, zog er ein Zigarettenetui aus der Tasche.

»Gestatten Sie?«

»Nur zu.«

Lucas erklärte dem Kommissar:

»Sie kennen Boulay, Chef. Das ist der kleine Mann, der vor vier oder fünf Jahren aus Le Havre nach Paris gekommen ist.«

»Vor sieben Jahren«, verbesserte ihn der Italiener.

»Gut, vor sieben … Er hat sein erstes Nachtlokal, das Lotus, in der Rue Pigalle gekauft. Inzwischen besitzt er vier.«

Maigret fragte sich, warum Lucas ihn in diesen Fall hineinziehen musste. Seit er Kriminalkommissar war, befasste er sich selten mit diesem Milieu, das er früher gut gekannt, aber mittlerweile aus dem Blick verloren hatte. Seit mindestens zwei Jahren hatte er keinen Nachtclub mehr betreten. Von den schweren Jungs von der Pigalle kannte er nur noch wenige, vor allem ältere, denn jene kleine Welt veränderte sich unaufhörlich.

»Ich frage mich«, warf Lucas ein, »ob das nicht mit dem Fall Mazotti zusammenhängt.«

Jetzt klingelte es bei Maigret: Wann war Mazotti noch ermordet worden, als er gegen drei Uhr morgens in der Rue Fontaine eine Bar verlassen hatte? Vor knapp einem Monat. Das war Mitte Mai gewesen. Maigret erinnerte sich an einen Polizeibericht des 9. Arrondissements, den er an Lucas weitergegeben hatte mit den Worten:

»Vermutlich ein Vergeltungsakt. Klemm dich dahinter.«

Mazotti war nicht wie Farano Italiener, sondern Korse, der an der Côte d’Azur angefangen hatte, bevor er mit seiner kleinen Bande nach Paris übergesiedelt war.

»Mein Schwager hat Mazotti nicht umgebracht«, sagte Farano voller Überzeugung. »Sie wissen genau, Monsieur Lucas, dass das nicht sein Stil ist. Übrigens haben Sie ihn zweimal in Ihrem Büro verhört.«

»Ich habe ihn nie beschuldigt, Mazotti ermordet zu haben. Ich habe ihn verhört wie alle anderen, mit denen sich Mazotti angelegt hat. Und das waren ziemlich viele …«

Und zu Maigret:

»Ich hatte ihm gerade eine Vorladung für heute um elf Uhr geschickt und war überrascht, als er nicht auftauchte.«

»Übernachtet er manchmal woanders?«, fragte der Kommissar mit Unschuldsmiene.

»Nie! Man merkt, Sie kennen ihn nicht. Das ist nicht seine Art. Er liebt meine Schwester, das Familienleben … Er ist nie später als vier Uhr morgens nach Hause gekommen.«

»Und letzte Nacht ist er nicht heimgekehrt? Oder?«

»So ist es.«

»Wo waren Sie?«

»Im Paris-Strip. Wir haben erst um fünf geschlossen. Für uns ist jetzt Hochsaison, denn Paris wimmelt schon von Touristen. Als ich gerade die Kasse gemacht habe, hat Marina mich angerufen und mich gefragt, ob ich Émile gesehen hätte. Marina, das ist meine Schwester. Ich hatte meinen Schwager den ganzen Abend nicht gesehen. Er kam selten zu den Champs-Élysées.«

»Wo liegen seine anderen Nachtclubs?«

»Alle in Montmartre, nur wenige hundert Meter voneinander entfernt. Das war seine Idee gewesen, und sie ist aufgegangen. Wenn die Lokale mehr oder weniger Tür an Tür liegen, kann man im Lauf des Abends die Künstlerinnen von einem ins andere schicken und Kosten sparen.

Das Lotus liegt ganz oben in der Rue Pigalle, das Train-Bleu wenige Schritte davon entfernt in der Rue Victor-Massé und das Saint-Trop’ ein Stück weiter unten in der Rue Notre-Dame-de-Lorette.

Émile hat lange gezögert, ein Lokal in einem anderen Viertel zu eröffnen. Es ist das Einzige, um das er sich praktisch nicht gekümmert hat. Er hat mir die Leitung überlassen.«

»Ihre Schwester hat Sie also kurz nach fünf angerufen?«

»Ja. Sie ist so daran gewöhnt, dass ihr Mann sie weckt …«

»Was haben Sie dann getan?«

»Zuerst hab ich im Lotus angerufen, wo man mir gesagt hat, er sei gegen elf Uhr abends fortgegangen. Er ist auch im Train-Bleu gewesen, aber die Kassiererin kann nicht genau sagen, wann. Das Saint-Trop’ war schon zu, als ich versucht habe, ihn dort zu erreichen.«

»Wissen Sie, ob Ihr Schwager letzte Nacht eine Verabredung hatte?«

»Nein. Wie ich schon gesagt habe: Er war ein ruhiger Mensch, der Wert auf seine Gewohnheiten gelegt hat. Nach dem Abendessen mit seiner Familie …«

»Wie ist seine Adresse?«

»Rue Victor-Massé.«

»Im selben Haus wie das Train-Bleu?«

»Nein, drei Häuser weiter. Also, nach dem Abendessen ging er zuerst ins Lotus, um die Vorbereitungen zu überwachen. Es ist sein größtes Lokal. Er kümmerte sich persönlich darum. Dann ist er ins Saint-Trop’, wo er eine Weile geblieben ist, und von dort ins Train-Bleu. Danach begann er die Runde von vorn. Er drehte sie zwei- bis dreimal pro Nacht, weil er alles im Blick haben wollte.«

»War er im Smoking?«

»Nein. Er trug immer einen dunklen nachtblauen Anzug, aber nie einen Smoking. Aus Eleganz hat er sich nicht viel gemacht.«

»Sie sprechen in der Vergangenheit von ihm.«

»Weil ihm bestimmt etwas zugestoßen ist.«

An mehreren Tischen begann man zu essen. Maigret schielte immer wieder zu den Tellern und den Pouilly-Karaffen hin. Obwohl sein Glas leer war, widerstand er dem Verlangen, sich ein zweites zu bestellen.

»Was haben Sie dann getan?«

»Ich bin schlafen gegangen, nachdem ich meine Schwester gebeten habe, mich anzurufen, wenn es etwas Neues gibt.«

»Hat sie Sie angerufen?«

»Gegen acht Uhr.«

»Wo wohnen Sie?«

»Rue de Ponthieu.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Ja, meine Frau kommt auch aus Italien. Ich habe den ganzen Vormittag mit den Angestellten der drei Nachtclubs telefoniert. Ich wollte herausfinden, wo und wann man ihn zuletzt gesehen hat. Aber das war nicht leicht … Die Lokale sind fast die ganze Nacht brechend voll. Jeder geht seiner Arbeit nach. Außerdem hatte Émile nichts Auffälliges. Er ist ein kleiner, schmächtiger Mann, den keiner der Gäste für den Besitzer halten würde. Manchmal stand er lange mit dem Türsteher vor der Tür.«

Lucas gab ihm zu verstehen, dass es stimmte.

»Niemand scheint ihn nach halb zwölf gesehen zu haben.«

»Wer hat ihn als Letzter gesehen?«

»Ich konnte nicht alle befragen. Manche Kellner, Barkeeper oder Musiker haben kein Telefon. Von den meisten Mädchen weiß ich die Adresse nicht. Erst wenn heute Abend alle wieder zur Arbeit erscheinen, kann ich mich genau erkundigen.

Bis jetzt ist der Letzte, der mit ihm gesprochen hat, der Türsteher vom Lotus, Louis Boubée, ein Mann kaum größer und kräftiger als ein Jockey, den man in Montmartre vor allem unter dem Spitznamen Mickey kennt.

Zwischen elf und halb zwölf ist Émile aus dem Lotus gekommen und eine Weile auf dem Gehsteig bei Mickey stehen geblieben, der sich jedes Mal, wenn ein Wagen hielt, beeilte, die Tür zu öffnen.«

»Haben sie sich unterhalten?«

»Émile war eher wortkarg. Er scheint öfter auf seine Uhr gesehen zu haben, ehe er die Straße runterlief. Mickey dachte, er ginge ins Saint-Trop’.«

»Hatte Ihr Schwager einen Wagen?«

»Nein. Seit dem Unfall nicht mehr.«

»Welcher Unfall?«

»Das war vor sieben Jahren. Damals lebte er noch in Le Havre, wo er ein kleines Nachtlokal besaß, das Monaco. Als er eines Tages im Auto mit seiner Frau nach Rouen fuhr …«

»War er da schon mit Ihrer Schwester verheiratet?«

»Nein, ich meine seine erste Frau, eine Französin aus der Gegend von Le Havre, Marie Pirouet. Sie erwartete ein Baby. Sie wollten nach Rouen, um einen Spezialisten zu sehen. Es regnete. In einer Kurve ist der Wagen ins Schleudern geraten und gegen einen Baum gerast. Émiles Frau war sofort tot.«

»Und er?«

»Er ist mit einer Verletzung an der Wange davongekommen, von der man noch die Narbe sieht. In Montmartre glaubt man, sie stammte von einem Messerstich.«

»Hat er seine Frau geliebt?«

»Sehr. Er hat sie seit seiner Kindheit gekannt.«

»Ist er in Le Havre geboren?«

»In einem nahe gelegenen Dorf, dessen Namen ich nicht weiß. Sie war aus demselben Ort. Nach ihrem Tod hat er sich nicht mehr ans Steuer gesetzt und es auch sonst möglichst vermieden, in ein Auto zu steigen. Darum hat er in Paris selten ein Taxi genommen. Er ging viel zu Fuß. Wenn es sein musste, nahm er die Metro. Im Grunde verließ er das 9. Arrondissement nur ungern.«

»Glauben Sie, dass man ihn umgebracht hat?«

»Ich denke, wenn ihm nichts zugestoßen wäre, wäre er schon längst wieder zu Hause.«

»Lebt er allein mit Ihrer Schwester?«

»Nein. Meine Mutter wohnt bei ihnen und auch meine andere Schwester Ada, seine Sekretärin. Dann noch die beiden Kinder … Denn Émile und Marina haben zwei Kinder, einen dreijährigen Jungen, Lucien, und ein kleines, zehn Monate altes Mädchen.«

»Haben Sie einen Verdacht?«

Antonio Farano schüttelte den Kopf.

»Denken Sie, dass das Verschwinden Ihres Schwagers mit dem Fall Mazotti zusammenhängt?«

»Ich weiß nur, Émile hat Mazotti nicht getötet.«

Maigret wandte sich an Lucas, der sich mit dem Fall befasst hatte.

»Und du?«

»Das denke ich auch, Chef. Ich habe ihn zweimal verhört und hatte den Eindruck, dass er ehrlich antwortete. Wie Antonio sagt, er ist eher schmächtig, beinahe schüchtern. Man würde nicht erwarten, dass er der Chef von mehreren Nachtlokalen ist. Andrerseits hat er sich Mazotti gegenüber zu wehren gewusst.«

»Wie?«

»Mazotti und seine Bande haben Schutzgeld erpresst, was zwar nicht sehr originell war, doch sie hatten es perfektioniert. Unter dem Vorwand, die Clubbesitzer zu beschützen, forderten sie jede Woche mehr oder weniger große Summen von ihnen.

Am Anfang haben sich die meisten Clubbesitzer geweigert. Daraufhin zogen Mazottis Leute eine kleine, gut inszenierte Show ab. Sobald das Lokal voll war, erschien Mazotti in Begleitung von ein, zwei Kraftkerlen. Sie setzten sich an einen Tisch, wenn noch einer frei war, oder stellten sich an die Bar, bestellten Champagner und brachen mitten in einer Nummer einen Streit vom Zaun. Man hörte zuerst Gemurmel, dann laute Stimmen, wenn sie sich mit dem Barkeeper oder dem Maître d’hôtel anlegten und sie als Diebe bezeichneten.

Das endete immer mit zerschlagenen Gläsern und einem mehr oder weniger großen Tumult. Daraufhin verließen natürlich die meisten Gäste das Lokal und schworen sich, nie wiederzukommen.

Bei Mazottis nächstem Besuch zogen es die Besitzer vor zu zahlen.«

»Hat Émile nicht gezahlt?«

»Nein. Er hat sich auch nicht an die Schlägertypen des Milieus gewandt, was einige seiner Kollegen getan haben, jedoch ohne Erfolg, weil Mazotti sie am Ende gekauft hat. Émile hatte die Idee, ein paar Hafenarbeiter aus Le Havre kommen zu lassen, die sich Mazotti und seine Männer vornehmen sollten.«

»Wann war der letzte Streit?«

»In der Nacht von Mazottis Tod. Er ist um ein Uhr morgens mit zwei seiner üblichen Begleiter ins Lotus gegangen. Émile Boulays Hafenarbeiter haben sie rausgeworfen. Da hat es eine Schlägerei gegeben.«

»War Émile dabei?«

»Er hatte sich hinter die Bar geflüchtet, denn er hasst Schlägereien. Mazotti hat sich zur Stärkung in eine Bar in der Rue Fontaine zurückgezogen, ins Chez Jo, das so etwas wie sein Hauptquartier war. Sie tranken hinten im Saal zu viert oder fünft. Als sie um drei Uhr rausgegangen sind, wurde aus einem vorbeifahrenden Wagen fünfmal auf Mazotti geschossen. Eine Kugel traf einen seiner Begleiter in die Schulter. Von dem Wagen fehlt jede Spur. Alle haben dichtgehalten. Ich habe die meisten der Nachtclubbesitzer verhört. Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen.«

»Wo war Boulay während der Schießerei?«

»Sie wissen doch, Chef, in diesem Milieu ist das nicht leicht festzustellen. Er soll sich im Train-Bleu aufgehalten haben, aber ich gebe nicht viel auf die Zeugenaussagen.«

»Émile hat Mazotti nicht umgelegt«, wiederholte der Italiener.

»Hatte er eine Waffe bei sich?«

»Ja, einen Revolver. Er besaß einen Waffenschein, ausgestellt von der Präfektur. Aber mit dieser Waffe ist Mazotti nicht getötet worden.«

Maigret seufzte, bedeutete der Kellnerin, die Gläser noch einmal zu füllen, worauf er schon seit einer Weile gewartet hatte.

Lucas erklärte:

»Ich wollte Sie lieber davon in Kenntnis setzen, Chef. Ich dachte, es würde Sie interessieren, was Antonio zu sagen hat.«

»Ich habe nur die Wahrheit gesagt …«

Lucas fuhr fort:

»Ich habe Émile für heute Morgen zum Quai vorgeladen. Ich muss zugeben, es beunruhigt mich, dass er ausgerechnet letzte Nacht verschwunden ist.«

»Was wolltest du ihn fragen?«

»Das Übliche. Ich wollte ihm noch mal dieselben Fragen stellen, um seine Antworten mit denen vom ersten Mal und den Aussagen der anderen zu vergleichen.«

»Wirkte er die beiden Male, als er in deinem Büro war, verängstigt?«

»Nein, eher verärgert. Ihm war vor allem wichtig, dass sein Name nicht in der Zeitung steht. Er sagte immer wieder, das werde seinem Geschäft großen Schaden zufügen, in seinen Nachtlokalen gehe es ruhig zu. Es passiere dort nie etwas, doch wenn man ihn mit einem Vergeltungsakt in Verbindung bringe, werde er sich nie davon erholen.«

»Das stimmt«, sagte Antonio und machte Anstalten, sich zu erheben.

Er fügte hinzu:

»Brauchen Sie mich noch? Ich muss zu meinen Schwestern und meiner Mutter. Sie sind in heller Aufregung.«

Kurz darauf hörte man das Brummen des roten Autos, das in Richtung Pont Neuf davonfuhr. Maigret trank langsam einen Schluck des Aperitifs, warf Lucas einen verstohlenen Blick zu und seufzte:

»Wirst du irgendwo erwartet?«

»Nein. Ich hatte vor …«

»Hier zu essen?«

Da er nickte, entschied Maigret:

»Dann lass uns zusammen essen. Ich rufe nur schnell meine Frau an. Du kannst schon mal bestellen.«

»Nehmen Sie die Makrelen?«

»Ja, und foie de veau en papillotes.«

Vor allem lockten ihn die Kalbsleber und die Atmosphäre der Brasserie, in die er seit Wochen keinen Fuß mehr gesetzt hatte.

Es war kein allzu bedeutender Fall, weshalb sich Lucas bisher allein damit befasst hatte. Außerhalb der Verbrecherwelt kümmerte sich niemand um Mazottis Tod.

Jeder wusste, dass solche Vergeltungsakte am Ende immer aufgelöst wurden, und sei es durch eine weitere Abrechnung.

Der Vorteil bei solchen Fällen ist, dass die Staatsanwaltschaft und die Untersuchungsrichter der Polizei nicht ständig auf die Finger schauen. Wie hatte es noch ein Richter formuliert:

»Einer weniger, den man jahrelang im Gefängnis durchfüttern müsste …«

Die beiden Männer unterhielten sich beim Essen. So erfuhr Maigret ein wenig mehr über Émile Boulay. Allmählich begann er sich für den seltsamen kleinen Mann zu interessieren.

Émile, Sohn eines normannischen Fischers, wurde mit sechzehn Steward bei der Transat. Das war noch vor dem Krieg gewesen. Er fuhr an Bord der Normandie und hielt sich in New York auf, als in Frankreich der Krieg ausbrach.

Wieso war er, klein und schmächtig, wie er war, von den amerikanischen Marines aufgenommen worden? Dort war er den ganzen Krieg über geblieben, bevor er wieder anheuerte, diesmal als Zweiter Steward an Bord der Île-de-France.

»Sie wissen ja, Chef, sie träumen fast alle davon, sich eines Tages selbstständig zu machen. Nach zwei Ehejahren kaufte Boulay in Le Havre eine Bar, die er bald darauf in ein Tanzlokal umgewandelt hat. Das waren die Anfänge des Striptease. Anscheinend hat er schnell einen Haufen Geld verdient.

Als seine Frau bei dem Unfall ums Leben kam, hatte er schon vor, sein Geschäft nach Paris auszuweiten.«

»Hat er das Lokal in Le Havre behalten?«

»Er hat es verpachtet. Der Geschäftsführer ist einer seiner ehemaligen Kollegen von der Île-de-France.

In Paris hat er das Lotus gekauft, das damals nicht so gut lief wie heute. Es war ein zweitklassiges Lokal, eine Touristenfalle, wie sie an der Place Pigalle wie Pilze aus dem Boden schießen.«

»Wo hat er Antonios Schwester kennengelernt?«

»Im Lotus. Sie hat dort als Garderobenfrau gearbeitet und war erst achtzehn.«

»Was hat Antonio damals gemacht?«