Maigret hat Skrupel - Georges Simenon - E-Book

Maigret hat Skrupel E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Kurz nach Neujahr. Am Quai des Orfèvres herrscht Flaute, bis ein Besucher die Ruhe stört: Xavier Marton, Verkaufskönig von Modelleisenbahnen, beschuldigt seine Frau, sie wolle ihn vergiften. Kaum aufgetaucht, ist Marton schon wieder verschwunden. Maigret will den Fall bereits zu den Akten legen. Doch noch am selben Tag wird Martons Gattin bei ihm vorstellig und behauptet nun ihrerseits, ihr Mann sei verrückt und trachte ihr nach dem Leben. Als mit Martons Schwägerin eine dritte Person auf der Bildfläche erscheint, ist das Chaos komplett

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Der 52. Fall

Georges Simenon

Maigret hat Skrupel

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung

Kampa

1Ein Besucher am Dienstagvormittag

Es kommt am Quai des Orfèvres selten vor, höchstens ein- oder zweimal im Jahr, und ist im Nu wieder vorbei: Nach einer Zeit fieberhaften Arbeitens, wenn ein Fall den nächsten jagt, manchmal sogar drei, vier Fälle gleichzeitig das gesamte Personal in Atem halten, sodass keiner weiß, wo ihm der Kopf steht, und die Inspektoren übermüdet, verstört und mit rotgeränderten Augen herumlaufen – tritt plötzlich Stille ein. Mit einem Schlag herrscht totale Flaute, die nur ab und zu von einem unbedeutenden Anruf unterbrochen wird.

So war es am Tag zuvor gewesen, einem Montag. Montags geht es am Quai allerdings immer stiller zu als an anderen Tagen. Am Dienstag um elf Uhr vormittags herrschte noch die gleiche schläfrige Atmosphäre. In dem weiten Korridor drückten sich unbehaglich zwei oder drei schäbige Gestalten herum, Spitzel, die ihren Bericht abliefern wollten. Im Büro der Inspektoren waren außer den Grippekranken alle auf ihrem Posten.

Während Maigret meistens nur mit Mühe ausreichend Leute für dringende Fälle zusammenbekam, hätten ihm heute fast alle Mitarbeiter seiner Abteilung zur Verfügung gestanden.

Allerdings war es in ganz Paris dasselbe. Es war der 10. Januar. Nach den Festtagen bewegten sich die Menschen noch wie in Zeitlupe und blickten mit leichtem Brummschädel auf die bevorstehende Fälligkeit von Miete und Steuern.

Passend zur allgemeinen Stimmung zeigte sich der Himmel in einem eintönigen Grau, das dem des Straßenpflasters ähnelte. Es war kalt, wenn auch nicht so sehr, dass es in der Zeitung erwähnt wurde. Eine ungemütliche Kälte, die einem erst bewusst wurde, wenn man eine Weile draußen unterwegs war.

In den Büros glühten die Heizkörper und machten die Luft noch drückender. Hin und wieder gluckerte es geheimnisvoll in den Rohren.

Wie Schüler nach der Prüfung nahmen sich manche nun die Arbeiten vor, die immer auf später verschoben werden: unvollständige Berichte in den Schubladen, nicht fertiggestellte Statistiken, öder Verwaltungskram.

Die meisten Leute, von denen man sonst in der Zeitung liest, befanden sich an der Côte d’Azur oder beim Wintersport.

Hätte Maigret in seinem Büro noch den Kohlenofen stehen gehabt, den man ihm lange Zeit dagelassen hatte, obwohl das ganze Gebäude mit einer Zentralheizung ausgestattet worden war, so hätte er ab und zu Kohlen nachgeschüttet und in der Glut gestochert, dass die Funken sprühten.

Er war nicht schlechter Laune, aber auch nicht recht in Form. Im Bus vom Boulevard Richard-Lenoir hatte er sich kurz gefragt, ob er wohl eine Grippe ausbrütete.

Vielleicht war es seine Frau, die ihn beschäftigte. Tags zuvor hatte ihn sein Freund Pardon, der Arzt aus der Rue Picpus, unvermutet angerufen.

»Hallo, Maigret. Bitte sagen Sie Ihrer Frau nicht, dass ich Sie informiert habe.«

»Worüber?«

»Sie hat mich vorhin aufgesucht und dringend gebeten, Ihnen nichts davon zu sagen.«

Vor noch nicht einem Jahr war der Kommissar ebenfalls bei Pardon gewesen und hatte ihn seinerseits gebeten, Madame Maigret nichts von dem Besuch zu verraten.

»Machen Sie sich bloß keine Sorgen. Ich habe sie gründlich untersucht. Es ist nichts Ernstes.«

Gestern bei Pardons Anruf hatte sich Maigret schon so bleiern gefühlt wie heute Morgen. Ihm stand noch immer derselbe Bericht bevor, den er fertigstellen musste.

»Was für Beschwerden hat sie denn?«

»Seit einiger Zeit kommt sie beim Treppensteigen außer Atem, und vor allem morgens sind ihr die Beine schwer. Wie gesagt, kein Grund zur Beunruhigung. Nur der Kreislauf ist nicht ganz, wie er sein sollte. Ich habe ihr Tabletten verschrieben, die sie zu jeder Mahlzeit einnehmen soll. Und wundern Sie sich nicht, wenn sie weniger isst. Ich habe ihr auch eine Diät verordnet. Ich möchte, dass sie fünf oder sechs Kilo abnimmt. Das würde die Herztätigkeit erleichtern.«

»Sind Sie sicher, dass …«

»Ich verspreche Ihnen, es ist absolut nichts Gefährliches, aber ich hielt es für besser, Sie in Kenntnis zu setzen. Tun Sie bitte so, als würden Sie nichts bemerken. Ihre größte Sorge ist, dass Sie sich Sorgen machen.«

Wie er seine Frau kannte, hatte sie sich das Medikament gleich in der nächsten Apotheke besorgt. Pardon hatte ihn am Vormittag angerufen. Mittags beobachtete Maigret seine Frau unauffällig, aber in seiner Anwesenheit nahm sie keine Tablette. Auch am Abend nicht. Er suchte im Buffet vergeblich nach einem Medikament. Auch in der Küche fand er nichts.

Wo versteckte sie die Tabletten? Sie hatte weniger gegessen als sonst, sogar auf den Nachtisch verzichtet, obwohl sie Süßes liebte.

»Ich mache mal eine kleine Abmagerungskur«, hatte sie scherzend gesagt. »Ich platze langsam aus allen Nähten.«

Maigret vertraute Pardon. Er regte sich nicht auf. Und doch bedrückte ihn die Sache. Besser gesagt, sie machte ihn melancholisch.

Im Jahr zuvor war er selbst krank gewesen und hatte sich drei Wochen lang schonen müssen. Nun war seine Frau an der Reihe. Sie hatten also beide, fast unbemerkt, das Alter erreicht, in dem kleine »Reparaturen« anfallen. Ähnlich wie bei den Autos, die plötzlich immer wieder in die Werkstatt gebracht werden müssen.

Für Autos allerdings kann man Ersatzteile kaufen, ihnen sogar einen neuen Motor einsetzen lassen.

Als der Bürodiener an die Tür klopfte und eintrat, wie immer ohne eine Antwort abzuwarten, war sich Maigret gar nicht bewusst, dass er solchen Gedanken nachhing.

Er blickte von seiner Akte auf und sah den alten Joseph wie im Traum an.

»Was gibt es?«

»Jemand wünscht Sie dringend persönlich zu sprechen.«

Joseph kam, wie immer auf leisen Sohlen, näher und legte ihm einen Anmeldezettel hin.

Es war ein mit Bleistift geschriebener Name, aber da er Maigret nichts sagte, entfiel er ihm gleich wieder. Er wusste später nur noch, dass es ein zweisilbiger Name war, mit dem Anfangsbuchstaben M. Lediglich der Vorname blieb ihm im Gedächtnis. Xavier. So hatte nämlich sein alter Chef am Quai des Orfèvres geheißen, Xavier Guichard.

Unter dem vorgedruckten Grund des Besuches stand etwas wie: muss unbedingt mit Kommissar Maigret sprechen.

Joseph wartete regungslos. Es war so dämmerig im Büro, dass man eigentlich hätte Licht machen müssen, aber dem Kommissar fiel es nicht ein.

»Empfangen Sie ihn?«

Maigret zuckte mit den Schultern und nickte.

Warum nicht? Kurz darauf wurde ein Mann in den Vierzigern hereingeführt. Es war nichts Besonderes an ihm, er sah aus wie irgendeiner der Abertausenden, die abends um sechs zur Metro eilen.

»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Kommissar.«

»Nehmen Sie Platz.«

Der Mann wirkte nervös, wenn auch nicht übertrieben, vielmehr bewegt, wie so viele, die in dieses Büro kamen. Er trug einen dunklen Mantel, den er aufknöpfte, bevor er sich setzte, hielt seinen Hut zunächst auf den Knien und legte ihn nach einer Weile neben sich auf den Teppich.

Er lächelte mechanisch, vermutlich ein Zeichen der Schüchternheit. Nachdem er sich geräuspert hatte, sagte er:

»Der Anfang ist immer das Schwierigste, nicht wahr? Natürlich habe ich mir x-mal zurechtgelegt, was ich Ihnen sagen möchte. Das tut wohl jeder, der zu Ihnen kommt. Aber jetzt, wo es so weit ist, hat sich alles verflüchtigt.«

Erneut ein Lächeln, dieses Mal Zustimmung oder Ermunterung des Kommissars erbittend. Aber Maigrets Interesse war noch nicht geweckt. Der Mann kam in einem ungünstigen Moment, der Kommissar war mit seinen Gedanken nicht ganz da.

»Sie bekommen sicher viele Besuche dieser Art. Leute, die von ihren kleinen Angelegenheiten berichten, die sie für sehr bemerkenswert halten.«

Er hatte braunes Haar und sah nicht schlecht aus, auch wenn die Nase ein wenig schief war und die Unterlippe etwas zu fleischig.

»Ich kann Ihnen versichern, bei mir liegt die Sache anders. Ich habe lang gezögert, ob ich einen viel beschäftigten Mann wie Sie behelligen soll.«

Vermutlich hatte er ein mit Akten vollgestopftes Büro erwartet, in dem zwei, drei Telefone gleichzeitig klingelten, Inspektoren sich die Klinke in die Hand gaben, Zeugen oder Verdächtige auf den Stühlen hockten.

An einem anderen Tag hätte es durchaus so sein können, doch die Ernüchterung des Mannes entlockte dem Kommissar kein Lächeln. Er sah vielmehr aus, als dächte er überhaupt nichts.

Dabei betrachtete er in Wirklichkeit den Anzug seines Besuchers. Er war aus gutem Stoff, tiefgrau, fast schwarz und stammte gewiss von einem erstklassigen Schneider. Dazu trug der Mann schwarze Schuhe und eine unauffällige Krawatte.

»Denken Sie nicht, dass ich verrückt bin, Herr Kommissar. Kennen Sie vielleicht Doktor Steiner an der Place Denfert-Rochereau? Er ist Neurologe. Das ist, glaube ich, mehr oder weniger das Gleiche wie ein Psychiater. Er wurde schon mehrmals als Sachverständiger in Prozessen vor dem Schwurgericht hinzugezogen.«

Maigrets dichte Augenbrauen hoben sich nur ein wenig.

»Sie haben Doktor Steiner aufgesucht?«

»Ja. Ich habe ihn konsultiert. Er untersucht einen, aber das nur nebenbei, ungefähr eine Stunde lang sehr gründlich, er überlässt nichts dem Zufall. Er konnte nichts finden. Er hält mich für völlig normal. Was meine Frau betrifft, die er nicht gesehen hat …«

Er hielt inne. Sein Monolog entsprach wohl nicht dem, was er sich zurechtgelegt hatte. Mit einer mechanischen Geste zog er ein Päckchen Zigaretten aus seiner Tasche, wagte aber nicht zu fragen, ob er rauchen dürfe.

»Bitte, rauchen Sie«, sagte Maigret.

»Danke.«

Seine Finger waren etwas ungeschickt. Er war nervös.

»Verzeihen Sie. Ich sollte mich besser beherrschen. Aber ich bin wirklich bewegt. Plötzlich sehe ich Sie zum ersten Mal leibhaftig in Ihrem Büro, mit Ihren Pfeifen …«

»Darf ich fragen, welchen Beruf Sie ausüben?«

»Damit hätte ich beginnen sollen! Es ist ein etwas ausgefallener Beruf, und Sie lächeln vielleicht darüber, wie viele Menschen. Ich arbeite im Kaufhaus Les Grands Magasins du Louvre in der Rue de Rivoli. Offiziell bin ich erster Verkäufer in der Spielwarenabteilung. Vor den Festtagen wusste ich natürlich nicht, wo mir der Kopf stand. Aber der größte Teil meiner Arbeit besteht aus einer anderen Tätigkeit: Mein Spezialgebiet ist die Modelleisenbahn.«

Es war fast, als hätte er vergessen, warum er eigentlich gekommen war und wo er sich befand, als wollte er nun ausschließlich über sein Lieblingsthema sprechen.

»Sind Sie im Dezember einmal an den Grands Magasins vorbeigekommen?«

Maigret sagte weder Ja noch Nein. Er wusste es nicht. Er erinnerte sich nur vage an die riesige Leuchtreklame an der Fassade, aber was die sich bewegenden bunten Figuren darstellten, hätte er nicht sagen können.

»Wenn ja, dann haben Sie im dritten Schaufenster in der Rue de Rivoli eine genaue Nachbildung der Gare Saint-Lazare mit Schienen, Vorort- und Schnellzügen, Signalen und Stellwerken gesehen. Es hat mich drei Monate Arbeit gekostet. Ich musste in die Schweiz und nach Deutschland fahren, um dort einen Teil des Materials zu besorgen. Ihnen kommt das vielleicht kindisch vor, aber wenn Sie wüssten, welchen Umsatz wir allein mit den Modelleisenbahnen machen … Glauben Sie nicht, unsere Kundschaft besteht nur aus Kindern! Auch erwachsene Männer, darunter welche in bedeutender Stellung, begeistern sich für Modelleisenbahnen. Ich werde oft in Privathäuser eingeladen, um …«

Er unterbrach sich wieder.

»Langweile ich Sie damit?«

»Nein.«

»Hören Sie mir zu?«

Maigret nickte. Sein Besucher musste zwischen vierzig und fünfundvierzig Jahre alt sein. Der Ehering war aus Rotgold, flach und breit, ähnlich dem des Kommissars. Außerdem trug er eine Krawattennadel in Form eines Eisenbahnsignals.

»Wo war ich? Ich bin selbstverständlich nicht gekommen, um mit Ihnen über Modelleisenbahnen zu sprechen. Ich weiß, dass ich Ihre Zeit beanspruche. Aber Sie müssen ja wissen, wo Sie mich einordnen sollen, nicht wahr. Um auch das zu sagen, ich wohne in der Avenue de Châtillon, in der Nähe der Kirche Saint-Pierre de Montrouge, im 14. Arrondissement. Übrigens seit achtzehn Jahren in derselben Wohnung. Nein, seit neunzehn … das heißt, im März werden es neunzehn. Ich bin verheiratet.«

Es bedrückte ihn, dass er sich nicht klarer fasste und sich in Einzelheiten verlor. Offensichtlich fragte er sich bei jedem Gedanken, ob er wichtig genug war, ausgesprochen zu werden, oder ob er ihn verwerfen sollte.

Er sah auf seine Uhr.

»Es ist nämlich gerade, weil ich verheiratet bin …«

Er lächelte entschuldigend.

»Es wäre einfacher, wenn Sie mir Fragen stellten, aber das ist unmöglich. Sie wissen ja nicht, worum es geht.«

Maigret war nahe dran, sich Vorwürfe zu machen, dass er so unbeteiligt blieb. Er konnte nichts dafür. Es war etwas Körperliches. Er hatte Mühe, sich für den Mann und seine Geschichte zu interessieren, und bedauerte, ihn empfangen zu haben.

»Ich höre Ihnen zu.«

Um sich zu beschäftigen, stopfte er eine Pfeife. Aus dem Augenwinkel warf er einen Blick zum Fenster, hinter dem man nur ein blasses Grau sah. Es sah aus wie die abgenutzte Kulisse eines Provinztheaters.

»Vor allem muss ich betonen, Herr Kommissar, dass ich meine Frau nicht beschuldigen will. Ich liebe sie. Wir sind seit fünfzehn Jahren verheiratet und haben uns praktisch noch nie gestritten. Nach der Untersuchung bei Doktor Steiner habe ich mit ihm über Gisèle gesprochen. Er hat besorgt zu mir gesagt:

›Es wäre mir recht, wenn Sie Ihre Frau einmal mitbrächten.‹

Aber unter welchem Vorwand soll ich Gisèle bitten, mit mir zu einem Neurologen zu gehen? Ich kann nicht einmal behaupten, dass sie verrückt ist. Sie erledigt ihre Arbeit, ohne dass sich jemand beklagen würde.

Sehen Sie, ich bin nicht besonders gebildet. Ich wurde als Kind von der Fürsorge betreut und habe mir alles selbst beigebracht. Alles, was ich weiß, stammt aus Büchern, die ich in meiner Freizeit gelesen habe.

Ich interessiere mich für sehr vieles, nicht nur für Modelleisenbahnen, wie man meinen könnte. Ich halte Wissen für das kostbarste Gut des Menschen.

Entschuldigen Sie bitte mein Gerede. Es dient nur der Erklärung. Als Gisèle anfing, mir gegenüber ein anderes Verhalten an den Tag zu legen, bin ich in die Bibliotheken gegangen, auch in die Nationalbibliothek. Ich habe dort in Werken gelesen, die ich mir nicht hätte leisten können. Außerdem wäre meine Frau beunruhigt gewesen, wenn sie solche Bücher in der Wohnung gefunden hätte.«

Zum Beweis, dass Maigret dieser Rede mehr oder weniger folgte, fragte er:

»Bücher über Psychiatrie?«

»Ja. Ich behaupte nicht, ich hätte alles verstanden. Die Sprache ist meistens zu hochgestochen für mich. Trotzdem habe ich Bücher über Neurosen und Psychosen gefunden, die mich nachdenklich machten. Ich nehme an, Sie kennen den Unterschied zwischen Neurose und Psychose? Ich habe mich auch mit Schizophrenie beschäftigt, aber ich glaube, so weit geht es nicht. Das kann ich guten Gewissens sagen.«

Maigret dachte an seine Frau und an Pardon. Er blickte auf einen kleinen Leberfleck am Mundwinkel seines Besuchers.

»Wenn ich Sie richtig verstehe, vermuten Sie, dass Ihre Frau in einer nicht ganz normalen Verfassung ist.«

Der Augenblick war gekommen. Der Mann wurde ein wenig blass und schluckte zwei- oder dreimal. Als suchte er noch die richtigen Worte und prüfte ihren Sinn, erklärte er dann:

»Ich bin davon überzeugt, dass meine Frau seit mehreren Monaten, mindestens fünf oder sechs, die Absicht hat, mich zu töten. Deshalb wollte ich Sie persönlich sprechen, Herr Kommissar. Ich habe keine bestimmten Beweise, sonst hätte ich gleich damit begonnen. Ich kann Ihnen aber Indizien liefern. Es sind zwei Kategorien. Zunächst die moralischen Indizien. Sie lassen sich am schwersten darlegen, wie Sie sicher verstehen. Es handelt sich um Kleinigkeiten, die für sich genommen belanglos sind. Aber ihre Häufung gibt zu denken.

Was die materiellen Indizien betrifft, so habe ich Ihnen eines mitgebracht. Es ist besonders erschreckend.«

Er schlug den Mantel beiseite, öffnete sein Jackett, zog aus der Innentasche seine Brieftasche hervor und daraus ein kleines gefaltetes Papier. Es sah so ähnlich aus wie die kleinen Kuverts, in denen die Apotheker heute noch Pulver gegen Kopfschmerzen verkaufen.

Und tatsächlich enthielt das Papier ein Pulver von schmutzig grauer Farbe.

»Ich überlasse Ihnen diese Probe zur Untersuchung. Bevor ich zu Ihnen kam, habe ich einen Verkäufer in den Magasins um eine Analyse gebeten. Er ist leidenschaftlicher Hobbychemiker und hat sich zu Hause ein richtiges Labor eingerichtet. Seine Diagnose war eindeutig. Es handelt sich um ein Phosphid. Kein Phosphor, wie man meinen könnte, ich habe es nachgelesen und mich dabei nicht auf den Larousse beschränkt. Zinkphosphid ist eine chemische Verbindung, ein geruchloses Pulver, das sehr giftig ist. Man hat es früher in winzigen Dosen als Heilmittel bei gewissen Krankheiten angewandt. Weil es so giftig ist, benutzt man es heute aber nicht mehr für diese Zwecke.«

Er schwieg einen Augenblick, betroffen darüber, dass sein Gegenüber immer noch gleichgültig und abwesend wirkte.

»Meine Frau hat keine Ahnung von Chemie. Sie nimmt keinerlei Mittel ein und hat auch keine der Krankheiten, bei denen man notfalls Zinkphosphid verschreiben könnte. Ich habe nicht nur einige Gramm in der Wohnung gefunden, sondern ein Fläschchen mit mindestens fünfzig Gramm. Ich habe es zufällig entdeckt. Im Erdgeschoss gibt es eine Werkstatt, eine Art Atelier, dort arbeite ich an den Modellen für die Schaufenster und probiere verschiedene technische Neuerungen aus. Es handelt sich nur um Spielzeug, aber wie gesagt, Spielzeug …«

»Ich weiß.«

»Eines Tages, meine Frau war nicht zu Hause, habe ich auf meinem Arbeitstisch einen Topf Leim umgestoßen. Ich öffnete den Schrank, in dem sich die Besen und Putzmittel befinden. Auf der Suche nach einem Reinigungsmittel entdeckte ich eine Flasche ohne Etikett. Die Form kam mir merkwürdig vor.

Wenn man nun diesen Fund mit der Tatsache verknüpft, dass ich in den letzten Monaten zum ersten Mal in meinem Leben gewisse Beschwerden verspürt habe, die ich dem Doktor Steiner beschrieben habe …«

Das Telefon klingelte, Maigret nahm den Hörer ab und erkannte die Stimme des Leiters der Kriminalpolizei.

»Sind Sie’s, Maigret? Haben Sie ein paar Minuten Zeit? Ich möchte Ihnen einen amerikanischen Kriminologen vorstellen. Er ist bei mir im Büro und würde Sie gern kennenlernen.«

Nachdem Maigret aufgelegt hatte, sah er sich um.

Auf dem Schreibtisch lag nichts Vertrauliches, und sein Besucher machte keinen gefährlichen Eindruck.

»Erlauben Sie? Ich bin in ein paar Minuten zurück.«

»Aber bitte!«

An der Tür kehrte er doch noch einmal um und öffnete gewohnheitsmäßig die Tür zum Büro der Inspektoren. Aber er gab ihnen keine besondere Anweisung. Es fiel ihm nicht ein.

Wenig später stieß er die gepolsterte Bürotür seines Chefs auf. Ein großer, schlaksiger Bursche mit rotem Haar erhob sich aus einem Sessel und sagte mit einem kräftigen Händedruck in fast akzentfreiem Französisch:

»Es ist eine große Freude für mich, Sie endlich einmal persönlich zu sehen, Monsieur Maigret. Als Sie in meinem Land waren, haben wir uns leider verpasst. Ich hatte in San Franzisco zu tun, und dort sind Sie ja nicht hingekommen. Mein Freund Fred Ward, mit dem Sie von New York nach Washington gefahren sind, hat mir Hochinteressantes von Ihnen berichtet.«

Der Chef bedeutete Maigret, sich zu setzen.

»Ich hoffe, ich unterbreche Sie nicht in einem dieser Verhöre, die wir Amerikaner so merkwürdig finden.«

Der Kommissar beruhigte ihn. Der Amerikaner bot ihm eine Zigarette an, dann fiel ihm plötzlich etwas ein:

»Ach, ich habe ja ganz vergessen, dass Sie ein leidenschaftlicher Pfeifenraucher sind!«

Dergleichen geschah regelmäßig. Es wurden immer die gleichen Worte gesagt, die gleichen Fragen gestellt und übertriebene Bewunderung geäußert. Maigret war es sehr peinlich. Er fand es furchtbar, als ein Phänomen betrachtet zu werden, aber er machte gute Miene zum bösen Spiel und setzte in solchen Augenblicken ein besonderes Lächeln auf, das seinen Chef königlich amüsierte.

Einer Frage zog die andere nach sich. Man fachsimpelte, sprach von berühmten Prozessen, zu denen er seine Meinung äußern sollte.

Leider kam das Gespräch auch immer auf Maigrets Methoden, was ihm unangenehm war, denn er hatte nie eine Methode gehabt, und sosehr er sich auch bemühte, die Legende zu zerstören, es gelang ihm nicht.

Um ihn zu erlösen, erhob sich der Chef und sagte zu dem Amerikaner:

»Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir jetzt hinaufgehen und unser Museum besichtigen.«

Das gehörte zu solchen Besuchen dazu. Nachdem ihm der Amerikaner wieder kräftig die Hand geschüttelt hatte, konnte Maigret in sein Büro zurückkehren.

Auf der Schwelle blieb er überrascht stehen. Der Sessel, in dem der Verkäufer für Modelleisenbahnen gesessen hatte, war leer. Im Zimmer hing nur noch der Zigarettenrauch.

Er ging in das Büro der Inspektoren.

»Ist er gegangen?«

»Wer?«

Janvier und Lucas spielten Karten, was höchstens dreimal im Jahr vorkam, es sei denn, sie mussten die ganze Nacht wachen.

»Ach, nicht weiter wichtig.«

Er ging in den Flur, wo der alte Joseph die Zeitung las.

»Ist mein Besucher fortgegangen?«

»Vor Kurzem, ja. Er hat gesagt, er könne nicht länger warten. Er musste unbedingt ins Kaufhaus zurück, er wurde dringend erwartet. Hätte ich …?«

»Nein, schon gut.«

Der Mann konnte gehen, wann er wollte, schließlich hatte ihn niemand gebeten zu kommen.

In diesem Augenblick merkte Maigret, dass er seinen Namen vergessen hatte.

»Sagen Sie, Joseph, wissen Sie noch, wie er heißt?«

»Ich muss gestehen, Herr Kommissar, ich habe mir den Anmeldezettel nicht angesehen.«

Maigret kehrte in sein Büro zurück, setzte sich an den Schreibtisch und versenkte sich von Neuem in seinen Bericht, der ihn entsetzlich anödete. Mit der Heizung schien etwas nicht zu stimmen. Die Heizkörper waren glühend heiß und gaben beunruhigende Geräusche von sich.

Er war nahe daran, aufzustehen und die Heizung abzustellen, traute sich aber doch nicht. Er griff nach dem Telefonhörer.

Er wollte eigentlich in den Grands Magasins du Louvre anrufen und sich nach dem Leiter der Spielwarenabteilung erkundigen. Aber wenn er das tat, würde man sich nicht fragen, warum sich die Polizei plötzlich für einen der Angestellten interessierte? Würde das nicht Unannehmlichkeiten für seinen Besucher bedeuten?

Er arbeitete noch ein wenig, bevor er fast mechanisch den Hörer abnahm.

»Versuchen Sie bitte, mich mit einem Doktor Steiner zu verbinden. Er wohnt an der Place Denfert-Rochereau.«

Kaum zwei Minuten später läutete das Telefon.

»Hier ist Doktor Steiner.«

»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Doktor, hier spricht Maigret. Ja, Kommissar bei der Kriminalpolizei. Sie hatten, glaube ich, kürzlich einen Patienten. Sein Vorname ist Xavier, der Familienname ist mir leider im Augenblick entfallen.«

Der Arzt schien sich nicht erinnern zu können.

»Er hat mit Spielzeug zu tun … mit Modelleisenbahnen vor allem. Er war bei Ihnen, um sich zu vergewissern, dass er nicht verrückt ist. Bei der Gelegenheit sprach er auch von seiner Frau.«

»Einen Augenblick bitte. Ich muss in meiner Kartei nachsehen.«

Maigret hörte ihn sagen:

»Mademoiselle Berthe, wären Sie so freundlich …«

Er schien sich vom Apparat zu entfernen. Es blieb eine ganze Weile still, sodass Maigret schließlich glaubte, die Verbindung sei unterbrochen.

Der Stimme nach war Steiner ein kalter, eingebildeter Mann, der sich seiner Bedeutung bewusst war.