Maigret regt sich auf - Georges Simenon - E-Book

Maigret regt sich auf E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Maigret ist seit zwei Jahren in Rente. Statt Verbrechern jagt er nur noch die Kartoffelkäfer in seinem Garten. Doch dann taucht eine resolute alte Dame auf und verlangt nachdrücklich, dass der Ex-Kommissar dem Tod ihrer Enkelin auf den Grund gehe. Monita ist ertrunken, und ihre Großmutter ist überzeugt, dass jemand nachgeholfen hat. Widerstand zwecklos. Und so begibt sich der pensionierte Kommissar nach Orsenne, wo die Verstorbene gewohnt hat. Doch dort stößt er allseits auf Ablehnung. Und seltsamerweise drängt ihn bald auch die Großmutter, die Ermittlungen einzustellen. Maigret fragt sich, warum er sich überhaupt auf die Sache eingelassen hat. Und es kommt noch schlimmer: Man droht ihm, versucht, ihn zu erpressen, schießt gar auf ihn.

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Der 26. Fall

Georges Simenon

Maigret regt sich auf

Roman

Aus dem Französischen von Rainer Moritz

Kampa

1Die alte Dame im Garten

Madame Maigret, die im warmen Schatten, wo das Blau ihrer Schürze und das Grün der Schoten wunderschöne Farbtupfer bildeten, die Erbsen aus ihren Hülsen löste … Madame Maigret, deren Hände nie untätig waren – selbst nicht um zwei Uhr nachmittags am heißesten Tag eines unerträglich drückenden Augusts … Madame Maigret, die über den Schlaf ihres Mannes wachte, als wäre er ein Baby, und besorgt ausrief:

»Ich wette, dass du gleich aufstehen willst!«

Dabei hatte der Liegestuhl, in dem sich Maigret niedergelassen hatte, nicht einmal geknarrt. Der ehemalige Kommissar der Kriminalpolizei hatte nicht den leisesten Seufzer von sich gegeben. So vertraut, wie sie mit ihm war, hatte sie vermutlich gesehen, wie ein unmerkliches Zittern über sein vor Schweiß glänzendes Gesicht glitt. Denn er war tatsächlich kurz davor aufzustehen. Aber aus einer Art Rücksichtnahme heraus zwang er sich, liegen zu bleiben.

Es war der zweite Sommer, den sie, nachdem er in den Ruhestand gegangen war, in ihrem Haus in Meung-sur-Loire verbrachten. Erst vor einer Viertelstunde hatte er sich zufrieden in dem bequemen Stuhl ausgestreckt, und seine Pfeife brannte vor sich hin. Die Luft dort war von einer Kühle, die umso angenehmer war, als kaum zwei Meter entfernt, jenseits der Grenze zwischen Schatten und Sonne, die Gluthitze voller summender Bienen herrschte.

In einem regelmäßigen Rhythmus fielen die Erbsen in die Emailleschüssel.

Madame Maigret saß breitbeinig da, die Schürze randvoll, dazwischen zwei große Körbe mit am Morgen geernteten Schoten, die eingemacht werden sollten.

Maigret mochte diesen namenlosen Ort, an dem sie sich gerade aufhielten, an seinem Haus am liebsten, eine Art Hof zwischen Küche und Garten, doch einer, der zum Teil überdacht war und den sie nach und nach mit Möbeln ausgestattet hatten, sodass es einen Ofen und einen Küchenschrank gab und sie meistens dort aßen. Er hatte etwas von einem spanischen Innenhof, und der Boden war mit roten Kacheln gefliest, wodurch der Schatten eine ganz besondere Tönung bekam.

Maigret hielt es fünf Minuten, vielleicht sogar etwas länger aus und betrachtete mit halb geschlossenen Lidern den Gemüsegarten, der in der drückenden Sonne zu flimmern schien. Dann stand er auf, alle Rücksichtnahme aufgebend.

»Was hast du vor?«

In ihrer ehelichen Vertrautheit sah er so fast aus wie ein schmollendes Kind, das bei einem Fehler ertappt worden war.

»Ich bin mir sicher, dass lauter Kartoffelkäfer auf den Auberginen hocken«, brummte er vor sich hin, »und alles wegen deinem Salat.«

Seit einem Monat führten sie diesen kleinen Salatkrieg. Da es zwischen den Auberginenpflanzen Platz gab, hatte Madame Maigret eines Abends dort Salat angepflanzt.

»Damit ist viel Platz gewonnen«, hatte sie angemerkt.

Damals hatte er keine Einwände erhoben, weil er nicht daran gedacht hatte, dass die Kartoffelkäfer auf Auberginenblätter noch gieriger waren als auf Kartoffelkraut. Wegen der Salatpflanzen war es nun unmöglich, sie mit Arsenpulver zu bekämpfen.

Mit seinem riesigen Strohhut auf dem Kopf beugte sich Maigret wie in diesem Moment zehnmal am Tag über die blassgrünen Blätter, die er vorsichtig umdrehte, um die kleinen gestreiften Tierchen einzusammeln. Er behielt sie in seiner linken Hand, bis diese voll war, und warf sie dann mit mürrischer Miene ins Feuer, seine Frau herausfordernd ansehend.

»Wenn du keinen Salat gepflanzt hättest …«

In Wahrheit hatte sie, seitdem er im Ruhestand war, nie erlebt, dass er es eine ganze Stunde lang in dem großartigen Sessel aushielt, den er triumphierend vom Bazar de l’Hôtel de Ville mitgebracht hatte, laut tönend, dass er darin denkwürdige Siestas halten würde.

Da stand er in der prallen Sonne, die nackten Füße in Holzpantoffeln, mit seiner blauen Leinenhose, die ihm an den Hüften herunterhing und seinen Hintern wie den eines Elefanten aussehen ließ, und einem feingemusterten Bauernhemd, das über seinem behaarten Oberkörper aufgeknöpft war.

Er hörte das Schlagen des Türklopfers, das in den leeren und schattigen Zimmern des Hauses wie eine Klosterglocke widerhallte. Jemand klopfte an der Eingangstür, und Madame Maigret wurde unruhig, wie immer, wenn unerwarteter Besuch kam. Sie blickte ihn von Weitem an, als wollte sie ihn um Rat bitten.

Dann hob sie ihre Schürze, die eine große Tasche bildete, an, fragte sich, wohin sie ihre Erbsen schütten sollte, und löste schließlich die Schürzenbänder, denn niemals wäre sie nachlässig gekleidet an die Tür gegangen.

Der Türklopfer schlug erneut, zweimal, dreimal, klang beinahe herrisch und wütend. Maigret kam es vor, als würde er inmitten der bebenden Luft das leise Schnurren eines Automotors hören. Er beugte sich weiter über die Auberginen, während seine Frau ihre grauen Haare vor einem Stück Spiegel richtete.

Ihr blieb kaum Zeit, im Schatten des Hauses zu verschwinden, als sich ein Türchen in der Gartenmauer öffnete, das kleine grüne, auf die Gasse führende Tor, das nur Bekannte benutzten. Eine alte Dame, die Trauer trug, baute sich im Türrahmen auf, so stocksteif, ernsthaft und drollig zugleich, dass Maigret sich lange an diesen Anblick erinnern sollte.

Sie blieb nur einen Moment lang reglos stehen, ehe sie mit entschlossenem, raschem Schritt, der nicht zu ihrem hohen Alter passte, direkt auf Maigret zuging.

»Sagen Sie, Gärtner …! Versuchen Sie erst gar nicht so zu tun, als ob der Hausherr nicht da wäre … Ich hab mich erkundigt.«

Sie war groß und dürr, mit einem ganz faltigen Gesicht, auf dem der Schweiß eine dicke Schicht Puder verschmiert hatte. Am auffälligsten waren ihre tiefschwarzen Augen, die von einem außergewöhnlichen Leben zeugten.

»Machen Sie schon und sagen Sie ihm, dass Bernadette Amorelle hundert Kilometer gefahren ist, um ihn zu sprechen.«

Bestimmt war sie zu ungeduldig gewesen, um vor der geschlossenen Tür zu warten. Mit ihr nicht! Sie hatte sich, wie sie sagte, bei den Nachbarn erkundigt und sich auch von den geschlossenen Fensterläden nicht beeindrucken lassen.

Hatte man ihr das kleine Gartentor gezeigt? Das war nicht nötig, sie war durchaus in der Lage, es ganz allein zu finden. Und nun ging sie auf den schattigen Hof zu, wo Madame Maigret gerade wieder aufgetaucht war.

»Wollen Sie Kommissar Maigret bitte sagen …«

Madame Maigret verstand nicht. Schweren Schrittes kam ihr Mann mit belustigt leuchtenden Augen hinterher und sagte:

»Wenn Sie bitte eintreten wollen …«

»Er hält sicher einen Mittagsschlaf. Ist er immer noch so dick?«

»Sie kennen ihn gut?«

»Was geht Sie das an? Sagen Sie ihm, dass Bernadette Amorelle hier ist und nichts weiter.«

Sie überlegte es sich anders und kramte in ihrer kleinen Handtasche, einem alten Modell aus schwarzem Samt mit einem silbernen Verschluss, wie man sie um 1900 getragen hatte.

»Nehmen Sie das«, sagte sie und reichte ihm einen kleinen Geldschein.

»Entschuldigen Sie, dass ich das nicht annehmen kann, Madame Amorelle, aber ich bin der ehemalige Kommissar Maigret.«

Und da sagte sie etwas Großartiges, das in die Tradition des Hauses eingehen sollte. Sie musterte ihn von den Holzschuhen bis zu seinen unordentlichen Haaren – er hatte seinen ausladenden Strohhut abgenommen – und bemerkte:

»Wenn Sie wollen …«

 

Arme Madame Maigret! Vergebens hatte sie ihrem Mann Zeichen gegeben, er bemerkte sie nicht. Ihre Gesten, die unauffällig wirken sollten, bedeuteten:

›Führ sie in den Salon. Oder empfängt man Leute in einem Innenhof, der als Küche und sonst was dient?‹

Doch Madame Amorelle hatte sich bereits in einen kleinen Korbsessel gesetzt und fühlte sich darin sehr wohl. Sie bemerkte Madame Maigrets Unruhe und rief ihr ungeduldig zu:

»Aber lassen Sie den Kommissar doch in Ruhe!«

Um ein Haar hätte sie Madame Maigret gebeten, sich zu entfernen, was diese dann übrigens von sich aus tat, denn sie wagte es nicht, in Anwesenheit der Besucherin ihre Arbeit fortzusetzen, und wusste nicht wohin mit sich.

»Mein Name sagt Ihnen etwas, Herr Kommissar, ja?«

»Amorelle … Kiesgruben und Schlepper?«

»Amorelle & Campois, ja.«

Er hatte früher einmal im Departement Haute-Seine ermittelt und tagsüber die Schiffe mit dem grünen Dreieck der Firma Amorelle & Campois vorbeiziehen sehen. Auf der Île Saint-Louis hatte er, als er noch am Quai arbeitete, oft die Büros von Amorelle & Campois wahrgenommen, die zugleich Kiesgrubenbesitzer und Reeder waren.

»Ich habe keine Zeit zu verlieren, das müssen Sie verstehen. Ich habe die Gelegenheit ausgenutzt, dass mein Schwiegersohn und meine Tochter bei den Maliks sind, und habe François gebeten, den alten Renault auf Trab zu bringen. Sie wissen von nichts und kommen sicher erst am Abend zurück. Verstehen Sie?«

»Nein … Ja …«

Er verstand allenfalls, dass sich die alte Dame ohne Wissen ihrer Familie davongeschlichen hatte.

»Wenn sie wüssten, dass ich hier bin, schwöre ich Ihnen, dass …«

»Entschuldigen Sie … Woher kommen Sie?«

»Aus Orsenne, woher denn sonst?«

Als hätte eine französische Königin gesagt:

»Aus Versailles!«

Wussten nicht alle, mussten nicht alle wissen, dass Bernadette Amorelle von Amorelle & Campois in Orsenne wohnte, einem Dorf an der Seine zwischen Corbeil und dem Wald von Fontainebleau?

»Sie brauchen mich nicht anzusehen, als wäre ich verrückt. Die werden sicher versuchen, Ihnen das einzureden, aber ich versichere Ihnen, dass es nicht stimmt.«

»Erlauben Sie, Madame, dass ich Sie nach Ihrem Alter frage?«

»Das erlaube ich, junger Mann. Am 7. September werde ich zweiundachtzig. Meine Zähne sind aber noch echt, wenn Sie auf die schauen. Wahrscheinlich werde ich einige von denen überleben, meinen Schwiegersohn vor allem, das würde mich freuen …«

»Möchten Sie etwas trinken?«

»Ein Glas kaltes Wasser, wenn es möglich ist.«

Er brachte es ihr selbst.

»Wann haben Sie Orsenne verlassen?«

»Um halb zwölf, nachdem sie losgefahren sind. Ich hatte es François gesagt, das ist der Hilfsgärtner, ein guter Junge. Ich habe seiner Mutter bei seiner Geburt geholfen. Niemand im Haus ahnt, dass er Auto fahren kann. Eines Nachts, als ich wach lag – denn ich muss Ihnen, Herr Kommissar, sagen, dass ich nie schlafe –, habe ich mitbekommen, wie er im Mondschein mit dem alten Renault geübt hat. Interessiert Sie das?«

»Ungemein.«

»Das muss es nicht zu sehr. Der alte Renault, der nicht mal in der Garage, sondern im Stall stand, ist eine Limousine, die noch aus der Zeit meines Mannes stammt. Da er vor zwanzig Jahren starb, können Sie sich ausrechnen … Nun aber ist es dem Jungen, ich weiß nicht wie, gelungen, den Wagen in Gang zu bringen, und er hat seinen Spaß daran, nachts auf der Landstraße herumzufahren.«

»Hat er Sie hergebracht?«

»Er wartet draußen auf mich.«

»Haben Sie schon gegessen?«

»Ich esse, wenn ich Zeit dazu habe. Ich mag Leute nicht, die immerzu das Bedürfnis haben, etwas zu essen.«

Und unwillkürlich warf sie einen vorwurfsvollen Blick auf den Bauch des Kommissars.

»Schauen Sie, wie Sie schwitzen. Mich geht das nichts an. Auch bei meinem Mann sollte alles nach seinem Kopf gehen, und jetzt ist er schon lange tot. Sie sind seit zwei Jahren im Ruhestand, nicht wahr?«

»Bald zwei Jahre, ja.«

»Dann langweilen Sie sich also und werden meinem Vorschlag zustimmen. Um fünf Uhr fährt ein Zug in Orléans ab, wo ich Sie auf dem Rückweg absetzen werde. Natürlich wäre es einfacher, wenn ich Sie mit dem Auto bis nach Orsenne mitnehmen würde, aber Sie würden nicht unbemerkt bleiben, und alles würde auffliegen.«

»Verzeihen Sie, Madame, aber …«

»Ich weiß sehr wohl, dass Sie sich querstellen werden. Nun bin aber dringend darauf angewiesen, dass Sie für ein paar Tage nach Orsenne kommen. Fünfzigtausend, wenn Sie Erfolg haben. Und wenn Sie nichts finden, zehntausend, zuzüglich Ihrer Auslagen.«

Sie öffnete ihre Tasche und griff nach vorbereiteten Geldscheinen.

»Es gibt da einen Gasthof. Sie können ihn nicht verfehlen, denn es gibt nur einen. Er heißt L’Ange. Sie werden es da sehr schlecht treffen, denn die arme Jeanne ist halb verrückt. Auch sie kenne ich von klein auf. Vielleicht will sie Sie nicht aufnehmen, aber Sie werden das schon hinbekommen, da bin ich mir sicher. Sobald Sie über Krankheiten mit ihr sprechen, wird sie glücklich sein. Sie ist davon überzeugt, dass sie alle hat.«

Madame Maigret kam mit einem Tablett mit Kaffee, und die alte Dame, die keinen Sinn für diese Art von Aufmerksamkeit hatte, fuhr sie an:

»Was soll das? Wer hat Ihnen aufgetragen, uns Kaffee zu servieren? Tragen Sie das weg.«

Sie hielt sie für die Haushälterin, so wie sie Maigret für den Gärtner gehalten hatte.

»Ich könnte Ihnen zahllose Geschichten erzählen, aber ich kenne Ihre Reputation und weiß, dass Sie intelligent genug sind, um alles selbst herauszufinden. Lassen Sie sich von meinem Schwiegersohn nicht beeindrucken, mehr rate ich Ihnen nicht. Er hat alle eingewickelt, ist höflich, so höflich wie niemand sonst. Es widert einen an. Aber an dem Tag, da man ihm den Kopf abschneiden wird …«

»Entschuldigen Sie, Madame …«

»Hören Sie auf mit Ihrem ›Entschuldigen Sie‹, Herr Kommissar! Ich hatte nur eine Enkeltochter, die Tochter dieses verfluchten Malik unglücklicherweise. Mein Schwiegersohn heißt nämlich Malik. Das müssen Sie auch wissen. Charles Malik. Meine Enkelin Monita wäre nächste Woche achtzehn geworden.«

»Wollen Sie sagen, dass sie gestorben ist?«

»Vor genau einer Woche. Vorgestern haben wir sie beerdigt. Man hat sie gefunden, ertrunken, am Stauwehr flussabwärts. Und wenn Ihnen Bernadette Amorelle sagt, dass es kein Unfall war, können Sie das glauben. Monita ist geschwommen wie ein Fisch. Man wird versuchen, Ihnen weiszumachen, dass sie unvorsichtig war, dass sie ganz allein morgens um sechs und manchmal in der Nacht baden ging. Deswegen wäre sie nicht ertrunken. Und wenn man Ihnen einredet, dass sie vielleicht Selbstmord begehen wollte, dann werden Sie ihnen antworten, dass das eine Lüge ist.«

Übergangslos geriet man plötzlich von der Komödie in eine Tragödie, merkwürdigerweise aber blieb der komödiantische Ton dabei erhalten. Die alte Dame weinte nicht. In ihren erstaunlich schwarzen Augen glitzerte nicht die geringste Feuchtigkeit. Ihr sprödes, nervöses Wesen blieb weiter von derselben Vitalität angetrieben, die trotz allem etwas Komisches an sich hatte.

Sie blieb geradlinig auf ihrem Weg und verfolgte ihr Ziel, ohne sich um die üblichen Förmlichkeiten zu kümmern. Sie sah Maigret an, als würde sie keinen Augenblick daran zweifeln, dass sie ihn völlig für sich gewonnen hatte – einfach, weil sie es so wollte.

Sie war heimlich aufgebrochen, in einem lächerlichen Auto und mit einem Jungen, der kaum fahren konnte. So hatte sie zur heißesten Tageszeit und ohne zwischendurch einzukehren die ganze Beauce durchquert. Nun sah sie auf eine Uhr, die sie auf altmodische Weise an einer Halskette trug.

»Wenn Sie noch Fragen an mich haben, dann beeilen Sie sich«, erklärte sie schon im Aufstehen.

»Sie mögen Ihren Schwiegersohn nicht, soweit ich es verstehe.«

»Ich hasse ihn.«

»Hasst Ihre Tochter ihn auch? Ist sie unglücklich mit ihm?«

»Darüber weiß ich nichts, es ist mir gleichgültig.«

»Sie verstehen sich nicht mit Ihrer Tochter?«

»Ich ignoriere sie am liebsten. Sie hat keinen Charakter, kein Blut in den Adern.«

»Sie sagen, dass Ihre Enkelin vor einer Woche, also am Dienstag letzter Woche, in der Seine ertrunken ist.«

»Nie im Leben! Sie sollten dem, was ich Ihnen sage, mehr Aufmerksamkeit schenken. Man hat Monita tot aus der Seine geborgen, oberhalb des unteren Stauwehrs.«

»Es wurden keine Verletzungen festgestellt, und der Arzt hat sie zur Bestattung freigegeben?«

Sie beließ es dabei, ihn mit hochherrschaftlicher Verachtung, ja vielleicht mit einem Anflug von Mitleid anzusehen.

»Sie sind also die Einzige, wenn ich es richtig verstehe, die vermutet, dass sie keines natürlichen Todes gestorben sein könnte.«

Diesmal erhob sie sich.

»Hören Sie mir zu, Herr Kommissar. Sie stehen im Ruf, der klügste Polizist in Frankreich zu sein. Oder zumindest der, der die meisten Erfolge aufzuweisen hat. Ziehen Sie sich an, packen Sie Ihren Koffer. In einer halben Stunde setze ich Sie am Bahnhof von Aubrais ab. Um sieben Uhr werden Sie im L’Ange sein. Es ist besser, wenn wir so tun, als würden wir einander nicht kennen. Jeden Tag um die Mittagszeit wird François im L’Ange seinen Aperitif nehmen. Normalerweise trinkt er nicht, aber ich werde ihm den Befehl dazu geben. So können wir miteinander kommunizieren, ohne dass die misstrauisch werden.«

Sie machte ein paar Schritte in Richtung Garten, offensichtlich entschlossen, trotz der Hitze spazieren zu gehen, während sie auf ihn wartete.

»Beeilen Sie sich.«

Dann wandte sie sich noch einmal um:

»Vielleicht sind Sie so freundlich, François etwas zu trinken anzubieten. Er muss im Auto sein. Wein mit Wasser, keinen Wein pur, denn er muss mich nach Hause bringen und ist das Fahren nicht gewohnt.«

Madame Maigret, die alles mitbekommen hatte, stand hinter der Dielentür.

»Was machst du da, Maigret?«, fragte sie ihn, als sie sah, wie er auf die Treppe mit dem kupfernen Knauf zuging.

Es war kühl im Haus, und es roch gut, nach Bohnerwachs, geschnittenem Heu, reifen Früchten und vor sich hin köchelnden Speisen. Dieser Geruch war der seiner Kindheit, seines Elternhauses. Maigret hatte fünfzig Jahre gebraucht, ihn wiederzufinden.

»Du wirst doch nicht mit dieser verrückten Alten mitgehen?«

Er hatte seine Holzschuhe auf der Schwelle stehen lassen, ging barfuß über die kalten Fliesen und die gewachsten Eichenstufen der Treppe hinauf.

»Gib dem Fahrer etwas zu trinken, und hilf mir beim Kofferpacken.«

Ein Funke trat in seine Augen, ein Funke, den er im Badezimmer erkannte, als er sein Gesicht mit kaltem Wasser wusch und sich im Spiegel betrachtete.

»Ich versteh dich nicht mehr!«, seufzte seine Frau. »Du, der gerade noch wegen ein paar Kartoffelkäfern keine Ruhe finden konnte …«

 

Der Zug. Ihm war heiß. Er saß in seiner Ecke und rauchte. Das Gras an den Böschungen war gelb, kleine, blumengeschmückte Bahnhöfe zogen vorüber, ein Mann stand in der dampfenden Sonne, schwenkte auf lächerliche Weise seine kleine rote Fahne und blies wie ein Kind in eine Trillerpfeife.

Maigrets Schläfen waren ergraut. Er war ein wenig ruhiger und schwerer als früher, aber er hatte nicht den Eindruck, seit seinem Ausscheiden aus der Kriminalpolizei gealtert zu sein.

Seit zwei Jahren lehnte er es wohl aus Stolz oder aus einer Art Scham kategorisch ab, sich mit all den Aufträgen abzugeben, die man an ihn herantrug, vor allem von Banken, Versicherungen oder Juwelieren, die ihm heikle Fälle unterbreiteten.

Am Quai des Orfèvres würde es heißen:

›Der arme Maigret kann es nicht lassen, er hat schon die Nase voll von seinem Garten und vom Angeln.‹

Und nun ließ er sich von einer alten Frau beschwatzen, die mit einem Mal in dem kleinen grünen Tor aufgetaucht war.

Er sah sie wieder vor sich, steif und würdevoll, in der alten Limousine, die ein gewisser François mit halsbrecherischer Lässigkeit lenkte. Er trug eine Gärtnerkluft und hatte keine Zeit gehabt, seine Pantinen gegen Schuhe auszutauschen.

Er hörte, wie sie, als sie Madame Maigret bei ihrer Abfahrt winkend auf der Türschwelle gesehen hatte, sagte:

»Das ist Ihre Frau, oder? Ich habe sie sicher verärgert, als ich sie für eine Angestellte hielt … und Sie habe ich für den Gärtner gehalten.«

Das Auto setzte seine noch abenteuerlichere Fahrt fort, als man ihn vor dem Bahnhof von Aubrais abgesetzt hatte, wo François, der sich im Gang geirrt hatte, beim Zurückstoßen beinahe eine Ansammlung von Fahrrädern zerquetscht hätte.

Es war Ferienzeit. Überall sah man Pariser in Wald und Flur, schnelle Autos auf den Landstraßen, Kanus auf den Flüssen und unter jeder Weide Angler mit Strohhüten.

Orsenne hatte keinen Bahnhof, sondern nur einen Halt, an dem einige wenige Züge gnädigerweise stoppten. Durch die Bäume der Parks sah man die Dächer von ein paar großen Villen und jenseits davon die an dieser Stelle breite und majestätische Seine.

Maigret wäre es ziemlich schwergefallen zu sagen, warum er den Befehlen Bernadette Amorelles Folge geleistet hatte. Vielleicht wegen der Kartoffelkäfer?

Plötzlich fühlte auch er sich wie in Ferien, so wie die Leute, mit denen er im Zug auf Tuchfühlung gekommen war, die er auf dem Weg zur Seine hinunter getroffen hatte und die er überall erblickte, seitdem er Meung verlassen hatte.

Eine andere Luft als die in seinem Garten umgab ihn. Heiter betrat er diese neue Umgebung und stieß am unteren Ende des abschüssigen Weges auf die Seine, an der entlang eine breite Durchfahrtsstraße führte.

Hinweisschilder mit Pfeilen kündigten vom Bahnhof aus die Auberge de L’Ange an, er folgte ihnen, kam in einen Garten mit baufälligen Lauben und stieß schließlich die Glastür einer Veranda auf, wo die zwischen den Scheiben eingeschlossene Luft zum Ersticken war.

»Ist da jemand?«, rief er.

Niemand außer einer Katze, die am Boden auf einem Kissen lag, und Angelruten in einer Ecke.

»Hallo?«

Er ging eine Stufe hinunter und stand im Gastraum, wo sich das kupferne Pendel einer Wanduhr träge hin und her bewegte und am Ende seiner Strecke jedes Mal ein Klicken von sich gab.

»In diesem Schuppen ist kein Mensch!«, brummte er vor sich hin.

Im selben Moment regte sich etwas ganz in seiner Nähe. Er fuhr zusammen und entdeckte im Halbschatten ein in Decken eingewickeltes Wesen, das sich bewegte. Eine Frau, sicher Jeanne, von der Madame Amorelle gesprochen hatte. Schwarze, fettige Haare hingen an beiden Seiten ihres Gesichts herunter, und ihren Hals umschloss eine weiße Kompresse.

»Es ist geschlossen!«, sagte sie mit heiserer Stimme.

»Ich weiß, Madame, man hat mir gesagt, dass Sie leidend sind.«

Oje! War dieses lächerlich schwache Wort »leidend« nicht eine Beleidigung?

»Sie wollen sagen, dass ich halb tot bin? Niemand will es glauben, man setzt mir zu.«

Dennoch stieß sie schließlich die Decke, die ihre Beine umhüllte, von sich, und stand auf mit ihren kräftigen Knöcheln, die aus Filzpantoffeln herausragten.

»Wer hat Sie hierhergeschickt?«