Maigret und der Fall Nahour - Georges Simenon - E-Book

Maigret und der Fall Nahour E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Mitten in der Nacht klingelt es bei Maigrets Freund Doktor Pardon. Ein seltsames Paar steht vor der Tür. Die Frau hat eine Schussverletzung, der Mann sagt, er habe seine Begleiterin eben erst kennengelernt. Kaum ist die Wunde behandelt, sind die beiden verschwunden. Am nächsten Tag wird Maigret in eine Villa beim Parc Montsouris gerufen. Félix Nahour, Spross einer libanesischen Bankiersfamilie, wurde erschossen. Pardons Patientin ist seine Frau, ihr Begleiter ihr Geliebter. Bei seinen Ermittlungen stößt Maigret auf heftige Widerstände. Niemand scheint die Wahrheit zu sagen.

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Der 65. Fall

Georges Simenon

Maigret auf Reisen

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Julia Becker

Kampa

1

Er wehrte sich, er musste sich verteidigen, jemand packte ihn an der Schulter, hinterrücks. Er versuchte, mit der Faust zu schlagen, hatte aber das demütigende Gefühl, dass sein Arm ihm nicht gehorchte, als wäre er gelähmt.

»Wer sind Sie?«, rief er und war sich doch vage bewusst, dass diese Frage sinnlos war.

Stieß er wirklich einen Laut aus?

»Jules! Das Telefon …«

Er hatte im Schlaf ein bedrohliches Geräusch gehört, aber nicht einen Augenblick war ihm in den Sinn gekommen, es könnte das Telefon sein, er selbst würde im Bett liegen, gefangen in einem Albtraum, an den er sich schon nicht mehr erinnerte, während seine Frau ihn wachrüttelte.

Mechanisch streckte er die Hand nach dem Hörer aus, öffnete die Augen und setzte sich auf. Auch Madame Maigret saß aufrecht im warmen Bett, die Nachttischlampe auf ihrer Seite verbreitete ein sanftes Licht.

»Hallo …«

Wie in seinem Traum hätte er fast gesagt:

»Wer sind Sie?«

»Maigret? Hier Pardon …«

Der Kommissar sah hinüber zu dem Wecker auf dem Nachttisch seiner Frau. Halb zwei. Um kurz nach elf waren sie bei den Pardons aufgebrochen, nach dem allmonatlichen Abendessen. Diesmal hatte es eine saftige gespickte Hammelkeule gegeben.

»Ja. Was gibt’s?«

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie geweckt habe. Hier ist gerade etwas passiert, ich glaube, es ist ernst und fällt in Ihre Zuständigkeit …«

Seit mehr als zehn Jahren waren die Maigrets und die Pardons befreundet, luden sich einmal im Monat gegenseitig zum Abendessen ein, und doch waren die beiden Männer nie auf den Gedanken gekommen, einander zu duzen.

»Worum handelt es sich, Pardon?«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang besorgt und verlegen.

»Ich glaube, am besten kommen Sie her … Sie werden die Situation dann besser verstehen.«

»Es ist doch hoffentlich kein Unglück geschehen?«

Pardon zögerte.

»Nein, nicht direkt, aber ich bin beunruhigt.«

»Geht es Ihrer Frau gut?«

»Ja. Sie macht uns gerade Kaffee.«

Madame Maigret versuchte den Antworten ihres Mannes zu entnehmen, was passiert war, und blickte ihn fragend an.

»Ich komme sofort.«

Er legte auf, plötzlich hellwach, aber sein Gesicht war sorgenvoll. Es war das erste Mal, dass er so einen Anruf von Doktor Pardon bekam. Der Kommissar kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es sich um etwas Ernstes handelte.

»Was ist?«

»Ich weiß nicht. Pardon muss mich unbedingt …«

»Warum ist er nicht hergekommen?«

»Es scheint einen Grund zu geben, dass ich zu ihm gehen soll.«

»Vorhin war er doch noch so heiter. Seine Frau auch. Wir haben von seiner Tochter und dem Schwiegersohn gesprochen und von der Kreuzfahrt, die sie nächsten Sommer zu den Balearen machen wollen.«

Hörte Maigret ihr zu? Er zog sich an und dachte darüber nach, was Pardon zu dem Anruf veranlasst haben könnte.

»Ich mache dir einen Kaffee.«

»Nicht nötig. Madame Pardon macht uns schon welchen.«

»Soll ich dir ein Taxi rufen?«

»Bei dem Wetter wird keins kommen, oder es braucht eine halbe Stunde.«

Es war der 14. Januar, ein Freitag. Die Temperatur in Paris hatte den ganzen Tag bei zwölf Grad unter null gelegen. Der in den Tagen zuvor gefallene Schnee war so hart geworden, dass es unmöglich war, ihn wegzuschippen, und obwohl man Salz gestreut hatte, waren die Gehsteige teils so vereist, dass die Passanten ausrutschten.

»Nimm den dicken Schal …«

Ein Wollschal, den sie ihm gestrickt hatte und den zu tragen er noch kaum Gelegenheit gehabt hatte.

»Vergiss die Gummischuhe nicht … Darf ich mitkommen?«

»Warum?«

Sie ließ ihn nur ungern allein gehen. Obwohl sie auf dem Heimweg sehr vorsichtig gewesen waren, den Blick unverwandt auf den Boden gerichtet, war Maigret an der Ecke Rue du Chemin Vert schwer gestürzt und hatte eine ganze Weile verdattert und beschämt auf dem Gehsteig gehockt.

»Hast du dir wehgetan?«

»Nein. Ich habe mich nur erschreckt …«

Er hatte sich nicht aufhelfen lassen, wollte sich auch nicht bei ihr unterhaken.

»Sonst fallen wir bloß beide hin …«

Sie begleitete ihn zur Tür, küsste ihn und flüsterte:

»Sei vorsichtig!«

Bis er unten angelangt war, ließ sie die Tür einen Spaltbreit offen. Maigret mied die Rue du Chemin Vert, wo er vorhin ausgerutscht war, und machte lieber einen kleinen Umweg, ging den Boulevard Richard-Lenoir bis zum Boulevard Voltaire hinunter, wo die Pardons wohnten.

Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, er hörte nur seine eigenen Schritte. Kein Taxi, kein Wagen war zu sehen. Paris wie ausgestorben. Nur zwei- oder dreimal in seinem Leben hatte er die Stadt so in Frost und Kälte erstarrt gesehen.

Am Boulevard Voltaire allerdings, bei der Place de la République, hörte man den Motor eines Lastwagens, sah man ein paar dunkle Gestalten: Männer, die mit großen Schaufeln Salz auf die Fahrbahn streuten.

Bei den Pardons brannte hinter zwei Fenstern Licht; es waren die einzigen erleuchteten Fenster auf dieser Seite der Straße. Maigret bemerkte jemanden hinter der Gardine, und noch ehe er klingeln konnte, öffnete sich die Haustür.

»Entschuldigen Sie nochmals, Maigret.«

Doktor Pardon trug dieselbe marineblaue Jacke wie vorhin beim Essen.

»Ich habe mich in eine sehr heikle Lage gebracht und weiß nicht, was tun.«

Im Fahrstuhl merkte der Kommissar, wie mitgenommen der Arzt aussah.

»Haben Sie noch gar nicht geschlafen?«

Pardon erwiderte verlegen:

»Als Sie gegangen sind, war ich nicht müde, darum habe ich noch an überfälligen Patientenberichten gearbeitet.«

Mit anderen Worten, trotz seiner Arbeit hatte er das traditionelle Abendessen nicht verschieben wollen.

Zufällig waren die Maigrets länger geblieben als sonst. Man hatte vor allem vom Urlaub gesprochen, und Pardon hatte gesagt, seine Patienten kämen immer erschöpfter aus den Ferien zurück, vor allem nach Gruppenreisen.

Sie gingen durch das Wartezimmer, in dem nur eine kleine Lampe brannte, betraten dann aber nicht das Wohnzimmer, sondern Pardons Sprechzimmer.

Gleich darauf erschien Madame Pardon mit einem Tablett, darauf zwei Tassen, eine Kaffeekanne und eine Zuckerdose.

»Entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug. Ich wollte mich nicht noch einmal anziehen. Ich gehe auch gleich wieder, mein Mann möchte mit Ihnen allein sprechen …«

Sie trug einen hellblauen Morgenrock über dem Nachthemd, und ihre bloßen Füße steckten in Pantoffeln.

»Er wollte Sie nicht aus dem Schlaf holen, aber ich habe ihn gedrängt, Sie anzurufen. Verzeihen Sie bitte, falls das falsch war …«

Sie goss ihm Kaffee ein und ging zur Tür.

»Ehe ihr fertig seid, werde ich nicht einschlafen können. Ruft mich also ruhig, wenn ihr etwas braucht … Haben Sie Hunger, Monsieur Maigret?«

»Dafür habe ich viel zu gut zu Abend gegessen.«

»Du auch nicht?«

»Nein, danke …«

Die Tür zu dem kleinen Zimmer, in dem der Arzt seine Patienten untersuchte, stand offen. In der Mitte sah man einen hohen verstellbaren Tisch mit einem blutbefleckten Tuch, und auch auf dem grünen Linoleum bemerkte Maigret große Blutflecke.

»Setzen Sie sich bitte«, sagte Pardon. »Trinken Sie erst einmal Ihren Kaffee …«

Er deutete auf einen Stoß Papiere und Akten auf seinem Schreibtisch.

»Da sehen Sie’s … Die Leute machen sich nicht klar, dass wir abgesehen von den Sprechstunden und Krankenbesuchen noch den ganzen Papierkram bewältigen müssen. Und bei all den Notfällen verschieben wir das immer auf später, und eines schönen Tages ersticken wir fast darin … Ich hatte vor, zwei bis drei Stunden damit zu verbringen …«

Pardon machte seine Besuche ab acht Uhr morgens, und um zehn Uhr begann dann seine Sprechstunde. Picpus ist kein reiches Viertel. Es wohnen dort kleine Leute. Und nicht selten kam es vor, dass fünfzehn Patienten im Wartezimmer saßen. Man konnte die monatlichen Abendessen, bei denen Pardon nicht irgendwohin gerufen wurde und dann eine Stunde oder länger fortblieb, an einer Hand abzählen.

»Ich war in diese Papiere vertieft … Meine Frau schlief … Ich habe kein Geräusch gehört, bis es plötzlich klingelte, so schrill, dass ich zusammenfuhr. Als ich aufmachte, stand da ein Paar, das seltsam wirkte.«

»Warum?«

»Vor allem, weil ich weder die Frau noch den Mann kannte, im Allgemeinen bemühen mich mitten in der Nacht nur meine Patienten, und auch nur diejenigen, die kein Telefon haben.«

»Verstehe.«

»Außerdem schienen sie nicht aus dem Viertel zu sein. Die Frau trug einen Ottermantel und einen Hut aus dem gleichen Pelz. Erst vor zwei Tagen hat meine Frau beim Durchblättern einer Modezeitschrift plötzlich zu mir gesagt:

›Wenn du mir einen Pelzmantel schenkst, dann bitte keinen Nerz, sondern Otter … Nerz trägt heute jeder, aber Otter …‹

Ich hatte nicht weiter hingehört, aber als ich da in der Tür stand und die beiden erstaunt betrachtete, fiel es mir wieder ein. Der Mann war auch nicht so gekleidet wie die Leute hier in der Gegend.

Mit leichtem Akzent hat er gefragt:

›Doktor Pardon?‹

›Ja, das bin ich.‹

›Diese Dame ist verletzt, und ich möchte, dass Sie sie untersuchen.‹

›Woher haben Sie meine Adresse?‹

›Eine ältere Frau, die auf dem Boulevard Voltaire vorüberkam, hat sie uns gegeben. Wahrscheinlich eine Patientin von Ihnen.‹

Sie sind in mein Sprechzimmer gegangen. Die Frau war leichenblass und schien nahe daran, in Ohnmacht zu fallen. Sie blickte mich mit großen, ausdruckslosen Augen an, beide Hände an die Brust gepresst.

›Ich glaube, Sie sollten sich beeilen, Herr Doktor‹, sagte der Mann und zog seine Handschuhe aus.

›Um was für eine Verletzung handelt es sich?‹

Er wandte sich der Frau zu. Sie war hellblond und vermutlich noch keine dreißig.

›Besser, Sie ziehen Ihren Mantel aus.‹

Sie tat es, schweigend, und ich sah, dass ihr strohgelbes Kleid hinten bis zur Taille blutdurchtränkt war.

Sehen Sie den Blutfleck dort auf dem Teppich neben meinem Schreibtisch? Da hat sie gestanden, schwankend. Ich habe sie ins Untersuchungszimmer geführt und habe sie gebeten, ihr Kleid auszuziehen. Ich wollte ihr dabei behilflich sein, aber sie hat nur den Kopf geschüttelt und es allein ausgezogen.

Der Mann ist nicht mitgekommen, aber die Tür zwischen den Zimmern blieb offen, und er sprach weiter mit mir, oder vielmehr, er antwortete mir weiter. Ich habe meinen Kittel übergestreift und mir die Hände gewaschen. Die Frau lag reglos auf dem Bauch, nicht ein Stöhnen kam aus ihrem Mund.«

»Wie spät war es?«, fragte Maigret, der sich seine erste Pfeife seit dem Telefonanruf angesteckt hatte.

»Ich habe auf die Uhr gesehen, als es klingelte. Da war es zehn nach eins. Es ging alles sehr schnell, hat viel kürzer gedauert, als ich dafür brauche, es zu erzählen.

Ich war schon dabei, die Wunde auszuwaschen und die Blutung zu stillen, als mir plötzlich aufging, in was ich da reingeraten war. Auf den ersten Blick wirkte die Wunde nicht allzu schlimm. Sie war rechts an ihrem Rücken, etwa acht Zentimeter lang, und blutete noch immer.

Während ich die Frau verarztete, bat ich den Mann, den ich drüben im Sprechzimmer nicht sehen konnte:

›Erzählen Sie mir, was passiert ist.‹

›Ich ging über den Boulevard Voltaire, etwa hundert Meter von hier, und die Frau war vor mir.‹

›Sie wollen mir doch nicht sagen, dass sie ausgerutscht ist?‹

›Nein. Es hat mich überrascht, dass sie um diese Zeit allein draußen war, und ich bin langsamer gegangen, damit sie nicht denkt, ich will sie ansprechen … Und da habe ich einen Wagen gehört …‹«

Pardon schwieg, trank seinen Kaffee aus und goss sich nach.

»Möchten Sie auch noch?«

»Gern.«

Maigret war immer noch schläfrig. Seine Lider brannten, und er hatte das Gefühl, dass er einen Schnupfen bekam. Zehn Inspektoren lagen mit Grippe im Bett, was ihm die Arbeit in den letzten Tagen nicht eben erleichtert hatte.

»Ich versuche alles so genau wie möglich wiederzugeben, aber ich kann mich nicht für jedes Wort verbürgen.

Ich merkte, dass die Wunde zwischen der dritten und vierten Rippe sehr tief war, und als ich sie desinfizierte, fiel etwas auf den Boden, ohne dass ich gleich darauf achtete.«

»Eine Kugel?«

»Warten Sie … Der Mann nebenan fuhr fort:

›Als der Wagen die Dame erreichte, wurde er langsamer, dabei war er schon vorher nicht schnell. Ich habe gesehen, wie jemand einen Arm aus der Tür streckte …‹«

»Vorne oder hinten?«, fiel Maigret ein.

»Das hat er nicht gesagt, und mir ist auch nicht der Gedanke gekommen, ihn danach zu fragen … Vergessen Sie nicht, ich musste einen chirurgischen Eingriff vornehmen. Hin und wieder kommt so was mal vor, aber eigentlich ist das nicht meine Sache, und ich fand die ganze Angelegenheit sehr seltsam. Am meisten überraschte mich, dass die Patientin kein einziges Wort sagte.

Der Mann fuhr also fort:

›Ich habe einen Schuss gehört und sah, wie die Frau schwankte und nach der Hauswand tastete, dann ging sie in die Knie und sackte langsam im Schnee zusammen.

Der Wagen war schon weitergefahren und rechts abgebogen, in eine Straße, die ich nicht kenne. Ich bin zu ihr hin, sah, dass sie nicht tot war, und half ihr auf. Ich habe sie gefragt, ob sie verletzt ist, und sie hat genickt.‹

›Hat sie nichts gesagt?‹

›Nein. Ich wusste nicht, was ich tun soll. Ich habe mich nach Hilfe umgeschaut … Eine alte Frau kam vorbei, und ich habe sie gefragt, ob sie einen Arzt in der Nähe kennt. Sie hat mir Ihr Haus gezeigt und Ihren Namen genannt …‹«

Pardon verstummte und blickte Maigret mit der Miene eines Kindes an, das etwas ausgefressen hat.

Der Kommissar fragte:

»Warum hat der Mann sie nicht ins Krankenhaus gebracht?«

»Das habe ich ihn auch gefragt, ich habe ihm gesagt, das Krankenhaus Saint-Antoine sei ganz in der Nähe. Er hat nur gemurmelt: ›Das wusste ich nicht.‹«

»Und er wusste auch nicht, dass das Kommissariat des Viertels nur hundert Meter entfernt ist?«

»Wahrscheinlich … Ich war verwirrt. Ich weiß ja, dass ich Schussverletzungen nicht behandeln darf, ohne die Polizei zu benachrichtigen. Aber ich hatte ja schon mit dem Eingriff begonnen. Ich habe ihm gesagt:

›Ich kann nur Erste Hilfe leisten, dann rufe ich einen Krankenwagen … Ich habe ihr einen provisorischen Verband gemacht. Und damit sie ihre blutbefleckten Kleider nicht wieder anziehen muss, leihe ich ihr einen Bademantel.‹

Sie hat den Kopf geschüttelt, und ein paar Augenblicke später zog sie ihren Unterrock und ihr Kleid an und ging ins Sprechzimmer zu dem Mann.

Ich habe zu beiden gesagt:

›Nehmen Sie Platz. Ich bin gleich wieder da …‹

Ich wollte meine Gummihandschuhe und den blutigen Kittel ausziehen und die Flaschen verkorken, die ich benutzt hatte. Ich redete weiter:

›Sie müssen mir beide Ihren Namen und Ihre Anschrift geben. Wenn Sie lieber in eine Privatklinik wollen, sagen Sie es mir, damit ich das Notwendige veranlassen kann …‹«

Maigret hatte schon verstanden.

»Wie lange sind Sie nebenan geblieben?«

»Schwer zu sagen. Ich erinnere mich, ich habe die Kugel aufgehoben, die während der Behandlung auf den Boden gefallen war, und die blutige Watte und das Verbandszeug in den Abfalleimer getan.

Zwei Minuten, vielleicht drei … Während ich sprach, ging ich zur Tür, und da sah ich, dass niemand mehr im Sprechzimmer war.

Ich eilte in die Diele und dann auf den Treppenabsatz … Da ich weder den Fahrstuhl noch Schritte auf der Treppe hörte, bin ich zurück ins Sprechzimmer und habe durchs Fenster geblickt, aber ich konnte den Bürgersteig unten nicht sehen.

In dem Augenblick habe ich deutlich gehört, wie ein Auto wegfuhr. Dem Geräusch nach könnte ich schwören, dass es ein schwerer Sportwagen war. Als ich das Fenster endlich geöffnet hatte, war auf dem Boulevard Voltaire nichts mehr zu sehen. Nur ein Streuwagen bei der Place de la République, und in der anderen Richtung ein einsamer Passant.«

 

Sah man einmal von seinen engsten Mitarbeitern ab – Lucas, Janvier, Torrence und, seit Kurzem, der junge Lapointe –, war Doktor Pardon Maigrets einziger Freund.

Sie waren fast gleichaltrig und beide tagtäglich mit den Krankheiten der Menschen und der Gesellschaft befasst, sodass ihre Art, die Dinge zu sehen, sich sehr ähnelte.

Im Anschluss an die monatlichen Abendessen am Boulevard Richard-Lenoir oder am Boulevard Voltaire konnten sie stundenlang plaudern, ohne zu merken, wie die Zeit verging, und die Erfahrungen, von denen sie sprachen, glichen sich fast aufs Haar. Ob sie der Respekt, den sie füreinander empfanden, daran hinderte, sich zu duzen?

In dieser Nacht, in der Ruhe und Stille des Sprechzimmers, waren sie nicht so entspannt wie noch einige Stunden zuvor, vielleicht, weil der Zufall sie zum ersten Mal auf beruflichem Gebiet zusammenbrachte.

Der Arzt, dem nicht wohl zumute war, sprach schneller als sonst, und man spürte, es drängte ihn zu beweisen, dass er in gutem Glauben gehandelt hatte, so als wäre er vor die Ärztekammer zitiert worden. Maigret seinerseits vermied es, zu viele Fragen zu stellen, und selbst jene, die er für unerlässlich hielt, äußerte er erst nach einigem Zögern.

»Sagen Sie, Pardon, Sie haben mir gleich zu Anfang gesagt, dass der Mann und die Frau nicht aus der Gegend zu kommen schienen.«

Der Arzt versuchte zu erklären:

»Meine Patienten sind vor allem Ladenbesitzer, Handwerker, kleine Leute. Ich bin kein Modearzt, auch kein Spezialist, sondern einer, der Tag für Tag zwanzigmal fünf, sechs Stockwerke in Häusern ohne Fahrstuhl hinaufsteigt. An diesem Boulevard gibt es zwar auch komfortable Wohnungen, aber Leuten wie den beiden von vorhin bin ich hier noch nie begegnet.

Die Frau hat zwar kein Wort gesagt, aber ich bin überzeugt, dass sie Ausländerin ist. Ausgesprochen nordischer Typ, heller Teint und so blond, wie man es selten in Paris sieht, es sei denn gefärbt, aber ihre Haarfarbe ist echt. Ihre Brüste deuten darauf hin, dass sie ein oder zwei Kinder geboren und sie selber gestillt hat.«

»Keine besonderen Merkmale?«

»Nein … Wobei … Eine etwa zwei Zentimeter lange Narbe, vom linken Auge zum Ohr. Sie ist mir aufgefallen, weil sie wie ein Krähenfuß aussieht, was in einem jungen Gesicht einen gewissen Reiz hat …«

»Glauben Sie, dass sie absichtlich geschwiegen hat?«

»Da bin ich sicher. Und genauso sicher war ich, als ich die beiden im Flur und dann im Sprechzimmer betrachtet habe, dass sie sich kannten, sogar intim kannten. Das mag dumm klingen, aber ich glaube, Liebende haben so etwas wie eine Aura, und selbst wenn sie einander nicht ansehen, sich nicht berühren, spürt man, dass sie auf besondere Weise miteinander verbunden sind.«

»Erzählen Sie mir von ihm.«

»Ich habe ihn weniger lange gesehen, und er hat seinen Mantel aus weicher Wolle nicht ausgezogen.«

»Trug er einen Hut?«

»Nein. Er hatte braunes Haar, feine Gesichtszüge, dunkle Haut, fast schwarze Augen … Etwa fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, und so wie er spricht und sich benimmt, seiner ganzen Erscheinung nach, würde ich sagen, er hat sich immer in besseren Kreisen bewegt … Ein attraktiver, sanfter Mann, etwas melancholisch vielleicht. Spanier oder Südamerikaner.

Was soll ich jetzt tun? Da ich die Namen der beiden nicht weiß, kann ich keine Karteikarte ausfüllen. Aber offenbar liegt hier ja ein Verbrechen vor.«

»Haben Sie geglaubt, was der Mann berichtet hat?«

»Erst habe ich nicht darüber nachgedacht. Aber als ich sah, dass die beiden Vögel ausgeflogen waren, und dann nach meinem Telefonanruf auf Sie wartete, da kam mir seine Erklärung komisch vor.«

Maigret sah sich die Kugel an.

»Wahrscheinlich eine 6.35er, nicht sehr treffsicher, eine Waffe, die nur auf kurze Distanz wirklich gefährlich ist.«

»Das erklärt die Wunde. Die Kugel hat den Rücken schräg getroffen, die Haut einige Zentimeter weit aufgerissen und ist dann zwischen zwei Rippen stecken geblieben.«

»Kann die Frau in dem Zustand weit gehen?«

»Das kann ich nicht beurteilen. Ich frage mich auch, ob sie irgendein Beruhigungsmittel genommen hatte, sie ist nämlich bei der Behandlung kaum zusammengezuckt, und dabei sind Streifwunden oft besonders schmerzhaft.«

»Hören Sie, Pardon«, murmelte Maigret und erhob sich, »ich werde mich mit den beiden befassen. Morgen früh schicken Sie mir einen Bericht mit allem, was Sie mir gesagt haben.«

»Ich werde doch keinen Ärger bekommen?«

»Sie sind verpflichtet, jedem Verletzten Beistand zu leisten, nicht wahr?«

Er steckte sich eine neue Pfeife an, ehe er die Handschuhe anzog und den Hut aufsetzte.

»Ich halte Sie auf dem Laufenden.«

Er war wieder draußen in der eisigen Luft und ging etwa hundert Meter, wobei er die Schneehaufen vor den Häusern eingehend betrachtete. Aber er sah keine Blutflecke oder Spuren von einem Sturz. Er machte kehrt, überquerte die Place Léon Blum und betrat das Kommissariat im Erdgeschoss der Mairie. Hinter der Schranke saß Brigadier Demarie, den er schon seit Jahren kannte.

»Guten Abend, Demarie.«

Der, überrascht, den berühmten Kriminalkommissar hier zu sehen, erhob sich mit verlegener Miene, weil er gerade einen Comic gelesen hatte.

»Guten Abend, Louvelle.«

Sergent Louvelle machte Kaffee auf einem Spirituskocher.

»Sagen Sie, hat jemand von Ihnen vor einer Stunde etwas gehört?«

»Nein, Herr Kommissar.«

»So was wie einen Schuss, etwa hundert Meter von hier entfernt?«

»Nichts.«

»Zwischen eins und zehn nach eins?«

»Wo?«