Maigret und der Samstagsklient - Georges Simenon - E-Book

Maigret und der Samstagsklient E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Maigret freut sich auf den Feierabend am Boulevard Richard-Lenoir, doch statt der Quiche Lorraine seiner Frau wartet ein Mann auf ihn. Keineswegs ein Unbekannter: Seit Wochen drückt er sich jeden Samstagabend am Quai des Orfèvres herum und verlangt, den Kommissar zu sprechen. Doch der Bittsteller ist stets verschwunden, bevor Maigret Zeit für ihn findet. Auch am Boulevard Richard-Lenoir zögert er eine Weile, bevor er mit der Sprache herausrückt: Er plant, seine Frau und deren Liebhaber umzubringen. Zwei Tage später ist der »Samstagsklient« wie vom Erdboden verschluckt.

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Der 59. Fall

Georges Simenon

Maigret und der Samstagsklient

Roman

Kampa

1

Manche Bilder prägen sich uns grundlos ins Gedächtnis ein, obwohl wir sie kaum bewusst wahrgenommen haben und sie sich auf nichts Bedeutendes beziehen. So sollte Maigret noch Jahre später Minute für Minute, Geste für Geste jenes ereignislosen Spätnachmittags am Quai des Orfèvres mühelos rekonstruieren können.

Da war zunächst einmal die schwarze Marmoruhr mit den Bronzeverzierungen, auf die sein Blick gefallen war, als sie sechs Uhr achtzehn anzeigte, was bedeutete, dass es kurz nach halb sieben war. In zehn anderen Büros am Quai des Orfèvres, beim Chef ebenso wie bei den anderen Abteilungsleitern, standen die gleichen Uhren zwischen mehrarmigen Kerzenständern, und auch sie gingen seit undenklichen Zeiten nach.

Warum war ihm dieser Gedanke gerade heute und an keinem anderen Tag gekommen? Kurz fragte er sich, wie viele Behörden und Ministerien ein gewisser F. Ledent, dessen Signatur in schöner Kursivschrift auf dem weißen Zifferblatt stand, einst mit diesen Uhren beliefert hatte, und er malte sich die Mauscheleien, Intrigen und Bestechungsaffären aus, die einem so wichtigen Geschäft vorausgegangen sein mussten.

Nach dem Stil seiner Uhren zu urteilen, war F. Ledent schon seit einem halben, vielleicht sogar einem ganzen Jahrhundert tot.

Die Lampe mit dem grünen Schirm brannte, denn es war Januar. Auch sie glich den anderen Lampen im Gebäude.

Lucas stand vor Maigret und schob die Dokumente, die dieser ihm nacheinander gereicht hatte, in eine gelbliche Aktenmappe.

»Soll Janvier noch im Crillon bleiben?«

»Nicht mehr lange. Schick jemanden hin, der ihn noch heute Abend ablöst.«

In den Luxushotels an den Champs-Élysées hatte es eine Serie von Juwelendiebstählen gegeben, und seitdem ließ man jedes einzelne unauffällig überwachen.

Maigret drückte mechanisch auf einen Klingelknopf. Gleich darauf öffnete der alte Joseph, der Bürodiener, die Tür.

»Niemand mehr für mich?«, fragte der Kommissar.

»Nur noch die Verrückte …«

Das war nicht wichtig. Schon seit Monaten erschien sie zwei- bis dreimal pro Woche am Quai des Orfèvres und schlich sich, ohne ein Wort zu sagen, in den Warteraum, wo sie zu stricken begann. Nie hatte sie sich angemeldet. Am ersten Tag hatte Joseph sie gefragt, wen sie zu sprechen wünsche.

Sie hatte ihn verschmitzt, fast spöttisch angelächelt und geantwortet:

»Kommissar Maigret wird mich rufen, wenn er mich braucht …«

Joseph hatte ihr einen Anmeldezettel gereicht. Sie hatte ihn in einer so regelmäßigen Handschrift ausgefüllt, die an die einer Klosterschülerin erinnerte. Sie hieß Clémentine Pholien und wohnte in der Rue Lamarck.

An jenem Tag hatte der Kommissar Janvier angewiesen, sie zu empfangen.

»Hat man Sie vorgeladen?«

»Kommissar Maigret weiß Bescheid.«

»Hat er Ihnen eine Vorladung geschickt?«

Sie lächelte; trotz ihres Alters war sie klein und zierlich.

»Eine Vorladung ist nicht nötig.«

»Haben Sie ihm etwas zu sagen?«

»Vielleicht.«

»Er ist im Augenblick sehr beschäftigt.«

»Das macht nichts. Ich kann warten.«

Sie hatte bis sieben Uhr abends gewartet und war dann gegangen. Wenige Tage später hatte man sie wieder gesehen, mit demselben zartlila Hut, derselben Strickarbeit, und wieder hatte sie sich in den Warteraum mit der Glaswand gesetzt.

Für alle Fälle hatte man Erkundigungen eingeholt. Sie hatte lange ein Kurzwarengeschäft im Montmartre geführt und bezog eine stattliche Rente. Ihre Neffen und Nichten hatten mehrmals versucht, sie in die Nervenklinik einweisen zu lassen, aber jedes Mal hatte man sie mit der Begründung weggeschickt, dass sie nicht gefährlich sei.

Wo hatte sie Maigrets Namen aufgeschnappt? Sie kannte ihn nicht vom Sehen, denn er war mehrmals an dem Glaskäfig vorbeigegangen, als sie dort saß, und sie hatte ihn nicht erkannt.

»Nun, mein lieber Lucas, machen wir Schluss für heute.«

Sie machten früh Feierabend, vor allem für einen Samstag. Der Kommissar stopfte sich eine Pfeife und holte Mantel, Hut und Schal aus dem Wandschrank.

Er ging an dem Glaskäfig vorbei, das Gesicht vorsichtshalber abgewandt. Als er auf den Hof kam, umgab ihn ein gelblicher Nebel, der sich im Lauf des Nachmittags über Paris gelegt hatte.

Er hatte es nicht eilig. Den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen, ging er um den Palais de Justice herum und unter der großen Uhr hindurch zum Pont-au-Change. Als er die Mitte der Brücke erreichte, hatte er das Gefühl, dass ihm jemand folgte, und er drehte sich unvermittelt um. In beide Richtungen waren viele Fußgänger unterwegs. Wegen der Kälte gingen fast alle schnell. Er war sich fast sicher, dass ein dunkel gekleideter Mann etwa zehn Meter hinter ihm plötzlich auf dem Absatz kehrtmachte.

Maigret dachte nicht weiter darüber nach. Vielleicht hatte er sich geirrt.

Wenige Minuten später wartete er an der Place du Châtelet auf seinen Bus. Er fand einen freien Platz auf der Plattform, wo er seine Pfeife weiterrauchen konnte. Hatte sie wirklich einen besonderen Geschmack? Er hätte es schwören können. Vielleicht lag es am Nebel und der Beschaffenheit der Luft. Ein sehr angenehmer Geschmack.

Er dachte an nichts Bestimmtes, träumte vor sich hin, während er vage die hin und her schwankenden Köpfe der anderen Fahrgäste betrachtete.

Bald darauf war er wieder auf dem Gehweg, am fast menschenleeren Boulevard Richard-Lenoir und sah von Weitem die Lichter seiner Wohnung. Er ging die vertraute Treppe hinauf, sah die Lichtstreifen unter den Türen, hörte gedämpfte Stimmen und Radiomusik.

Wie gewöhnlich öffnete sich die Tür, bevor er den Knauf berührt hatte. Madame Maigret stand im Gegenlicht und legte geheimnisvoll einen Finger auf die Lippen.

Er blickte sie fragend an und versuchte, an ihr vorbeizusehen.

»Es ist jemand da …«, flüsterte sie.

»Wer?«

»Ich weiß nicht. Er ist seltsam.«

»Was hat er gesagt?«

»Dass er dich unbedingt sprechen muss.«

»Was hältst du von ihm?«

»Ich weiß es nicht, aber er hat eine Fahne.«

Es gab Quiche Lorraine zum Abendessen, wie ihm der Duft verriet, der aus der Küche strömte.

»Wo ist er?«

»Ich habe ihn ins Wohnzimmer geführt.«

Sie nahm ihm Mantel, Hut und Schal ab. Die Wohnung erschien ihm weniger hell als sonst, aber das bildete er sich wahrscheinlich nur ein. Schulterzuckend öffnete er die Tür zum Wohnzimmer, in dem seit gut einem Monat ein Fernsehapparat den zentralen Platz einnahm.

Der Mann stand im Mantel, den Hut in der Hand, in einer Ecke. Er wirkte eingeschüchtert und wagte kaum, den Kommissar anzublicken.

»Entschuldigen Sie, dass ich zu Ihnen nach Hause gekommen bin«, stammelte er.

Maigret hatte sofort seine Hasenscharte bemerkt. Er war froh, dem Mann endlich gegenüberzustehen.

»Sie waren schon am Quai des Orfèvres, um mich zu sehen, nicht wahr?«

»Ja, mehrmals.«

»Sie heißen … Warten Sie … Planchon.«

»Ja, Léonard Planchon.«

Und noch kleinlauter wiederholte er:

»Entschuldigen Sie …«

Sein Blick schweifte durch das kleine Wohnzimmer und blieb an der halb geöffneten Tür hängen, so als wollte er sofort wieder davonlaufen. Wie oft war er schon zum Quai des Orfèvres gekommen und wieder gegangen, ohne den Kommissar gesprochen zu haben?

Fünfmal mindestens. Immer samstagnachmittags. Sodass man ihn schließlich den Samstagsklienten genannt hatte.

Es erinnerte Maigret ein bisschen an die Geschichte mit der Verrückten. Wie die Zeitungen zieht die Kriminalpolizei alle möglichen merkwürdigen Leute an, und man lernt sich schließlich kennen; die Gesichter werden vertraut.

»Zuerst habe ich Ihnen geschrieben«, murmelte er.

»Setzen Sie sich.«

Durch die Glastür sah man den gedeckten Tisch im Esszimmer, und der Mann warf einen Blick dorthin.

»Sie wollen jetzt essen, nicht wahr?«

»Setzen Sie sich«, wiederholte der Kommissar mit einem Seufzer.

Da kam er einmal früh nach Hause und würde trotzdem spät zu Abend essen. Schade um die Quiche! Und die Nachrichten im Fernsehen! Seit einigen Wochen hatten sich seine Frau und er angewöhnt, beim Essen fernzusehen, und sich sogar dafür umgesetzt.

»Sie sagen, Sie haben mir geschrieben?«

»Mindestens zehn Briefe.«

»Von Ihnen unterschrieben?«

»Die ersten waren nicht unterschrieben. Ich habe sie zerrissen. Die anderen auch. Dann habe ich mich entschlossen, Sie aufzusuchen.«

Auch Maigret bemerkte die Alkoholfahne, aber sein Gesprächspartner war nicht betrunken. Nervös, ja. Er verschränkte die Finger so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten. Erst allmählich wagte er, den Kommissar anzusehen, und sein Blick war beinahe flehend.

Wie alt mochte er sein? Schwer zu sagen. Er war weder jung noch alt und sah so aus, als wäre er nie jung gewesen. Fünfunddreißig?

Auch seine soziale Herkunft war nicht leicht zu bestimmen. Seine Kleidung war schlecht geschnitten, aber von guter Qualität, und seine sehr sauberen Hände waren die eines Arbeiters.

»Warum haben Sie die Briefe zerrissen?«

»Ich hatte Angst, Sie könnten mich für verrückt halten …«

Er hob den Blick und fügte mit Nachdruck hinzu:

»Ich bin nicht verrückt, Herr Kommissar. Ich bitte Sie, halten Sie mich nicht für verrückt.«

Solche Beteuerungen waren fast immer ein schlechtes Zeichen, und dennoch war Maigret schon halb überzeugt. Er hörte seine Frau in der Küche hin und her gehen. Wahrscheinlich hatte sie die Quiche aus dem Ofen genommen, die jetzt wohl ohnehin verkocht war.

»Sie haben mir also mehrere Briefe geschrieben. Dann sind Sie zum Quai des Orfèvres gegangen. An einem Samstag, wenn ich mich nicht täusche?«

»Das ist mein einziger freier Tag.«

»Was sind Sie von Beruf, Monsieur Planchon?«

»Ich bin Malermeister und habe ein kleines Geschäft. Wenn es gut läuft, beschäftige ich fünf bis sechs Gesellen. Sie können sich denken, wie das ist.«

Wegen der Hasenscharte war es schwer zu sagen, ob er schüchtern lächelte oder eine Grimasse schnitt. Seine Augen waren von einem sehr hellen Blau, und sein blondes Haar hatte einen rötlichen Schimmer.

»Ihr erster Besuch war vor etwa zwei Monaten. Sie haben auf den Anmeldezettel geschrieben, dass Sie mich persönlich sprechen wollen. Warum?«

»Weil ich nur Ihnen vertraue. Ich habe in der Zeitung gelesen …«

»Gut! Aber an jenem Samstag sind Sie, statt zu warten, nach zehn Minuten wieder gegangen.«

»Ich hatte Angst.«

»Wovor?«

»Ich dachte, Sie würden mich nicht ernst nehmen oder mich von meinem Vorhaben abbringen.«

»Am Samstag drauf sind Sie wiedergekommen.«

»Ja.«

Maigret war an jenem Tag mit dem Chef und zwei anderen Abteilungsleitern in einer Besprechung gewesen. Als er eine Stunde später zurückgekehrt war, hatte er den Warteraum leer vorgefunden.

»Hatten Sie immer noch Angst?«

»Ich wusste nicht mehr …«

»Was?«

»Ob ich die Sache wirklich durchziehen wollte …«

Er strich sich mit der Hand über die Stirn.

»Das ist kompliziert! Wissen Sie, manchmal verliere ich den Boden unter den Füßen.«

Ein anderes Mal hatte Maigret Lucas zu ihm geschickt. Der Mann hatte sich geweigert, ihm den Grund seines Besuchs zu nennen, hatte gesagt, es sei etwas Persönliches, und war regelrecht geflüchtet.

»Von wem haben Sie meine Adresse?«

»Ich bin Ihnen gefolgt. Letzten Samstag hätte ich Sie beinahe auf der Straße angesprochen, aber dann schien es mir doch nicht der geeignete Ort für ein Gespräch, wie ich es mit Ihnen führen will. Ihr Büro kam auch nicht in Frage. Vielleicht werden Sie verstehen …«

»Woher wussten Sie heute Abend, dass ich nach Hause gehen würde?«

Plötzlich erinnerte sich Maigret an sein Gefühl auf dem Pont-au-Change.

»Sie haben mir am Quai aufgelauert, nicht wahr?«

Planchon nickte.

»Sind Sie mir bis zum Bus gefolgt?«

»Ja … Dann habe ich ein Taxi genommen und war wenige Minuten vor Ihnen hier.«

»Bedrückt Sie etwas, Monsieur Planchon?«

»Wenn es nur das wäre …«

»Wie viel haben Sie getrunken, bevor Sie hierherkamen?«

»Zwei … vielleicht auch drei Gläser. Früher habe ich nicht getrunken, höchstens ein Glas Wein zum Essen.«

»Und jetzt?«

»Das kommt auf den Tag an. Oder vielmehr auf den Abend, denn tagsüber trinke ich nicht. Mit den drei Cognac vorhin wollte ich mir nur Mut antrinken. Finden Sie das schlimm?«

Maigret rauchte bedächtig seine Pfeife, ohne den Mann aus den Augen zu lassen, und versuchte, sich eine Meinung über ihn zu bilden. Es war ihm noch nicht gelungen. Er spürte bei Planchon einen Hang zum Pathos, der ihn verwirrte, eine unterdrückte Leidenschaft, eine überwältigende Verzweiflung und zugleich eine außergewöhnliche Geduld.

Er hätte die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass dieser Mann wenig Kontakt zu anderen Menschen hatte und alles mit sich selbst ausmachte. Seit zwei Monaten quälte ihn das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Er hatte Samstag für Samstag versucht, vor dem Kommissar zu erscheinen, aber jedes Mal war er im letzten Augenblick davongelaufen.

»Wie wäre es, wenn Sie mir einfach Ihre Geschichte erzählen?«

Wieder ein Blick zum Esszimmer, wo zwei Gedecke auf dem Tisch vor dem Fernseher lagen.

»Es ist mir unangenehm, Sie vom Essen abzuhalten. Es wird lange dauern. Ihre Frau wird sich über mich ärgern. Hören Sie, wenn es Ihnen nichts ausmacht, warte ich hier, bis Sie gegessen haben. Oder ich komme später wieder. Ja, ich komme später wieder.«

Er machte Anstalten, aufzustehen, doch der Kommissar zwang ihn, sitzen zu bleiben.

»Nein, Monsieur Planchon! Jetzt sind Sie schon mal hier, nicht wahr? Sagen Sie mir, was Sie bedrückt. Sagen Sie mir einfach geradeheraus, was in all den Briefen stand, die Sie zerrissen haben.«

Den Blick auf den Teppich mit dem roten Rautenmuster gerichtet, stammelte der Mann plötzlich:

»Ich will meine Frau umbringen.«

Gleich darauf blickte er den Kommissar an, der sich zusammenreißen musste, um nicht zusammenzuzucken.

»Sie wollen Ihre Frau umbringen?«

»Es muss sein! Es gibt keinen anderen Ausweg. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Jeden Abend sage ich mir, es wird geschehen, es ist unmöglich, dass es nicht eines Tages geschieht. Da dachte ich mir, wenn ich Sie davon in Kenntnis setzte …«

Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und putzte seine Brillengläser, während er nach Worten suchte. Maigret bemerkte einen Knopf an seiner Jacke, der nur noch an einem Faden hing.

Trotz seiner Erregung war Planchon dieser Seitenblick nicht entgangen, und er lächelte oder schnitt eine Grimasse.

»Ja … Das kommt noch hinzu«, sagte er unwillig. »Sie tut nicht einmal mehr so, als ob …«

»Als ob was?«

»Als ob sie sich um mich kümmern würde oder meine Frau wäre.«

Bereute er, hergekommen zu sein? Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und blickte manchmal zur Tür, als wollte er Hals über Kopf hinausstürzen.

»Ich frage mich, ob es richtig von mir war … Aber Sie sind der einzige Mensch auf der Welt, dem ich vertraue. Ich habe das Gefühl, Sie schon lange zu kennen. Ich bin fast sicher, dass Sie verstehen werden …«

»Sind Sie eifersüchtig, Monsieur Planchon?«

Ihre Blicke trafen sich. Maigret glaubte, in dem seines Gegenübers völlige Offenheit zu lesen.

»Nicht mehr, glaube ich. Früher schon. Nein, jetzt bin ich darüber hinweg.«

»Und Sie wollen sie trotzdem umbringen?«

»Weil es keine andere Lösung gibt. Deshalb dachte ich, wenn ich Sie schriftlich oder mündlich informiere … Erstens wäre das anständiger, und zweitens würde ich meine Meinung dann vielleicht ändern. Verstehen Sie? Nein, man kann es nicht verstehen, wenn man Renée nicht kennt. Entschuldigen Sie, wenn ich so wirr daherrede. Renée ist meine Frau. Meine Tochter heißt Isabelle. Sie ist sieben. Und sie ist alles, was ich auf der Welt noch habe. Sie haben keine Kinder, nicht wahr?«

Er blickte sich wieder um, als wollte er sich vergewissern, dass weder Spielzeug noch andere kleine Gegenstände herumlagen, die die Anwesenheit eines Kindes verrieten.

»Die wollen sie mir auch noch nehmen. Sie setzen alles daran. Sie machen keinen Hehl daraus. Ich wünschte, Sie könnten sehen, wie sie mich behandeln. Denken Sie, ich bin nicht ganz richtig im Kopf?«

»Nein.«

»Obwohl das ja besser wäre. Man würde mich sofort wegsperren. Und ich würde auch hinter Gittern landen, wenn ich meine Frau umbringen würde. Oder wenn ich ihn töten würde. Wenn ich die Sache richtig angehen will, muss ich sie beide töten. Aber wer würde sich um Isabelle kümmern, wenn ich im Gefängnis sitze? Verstehen Sie mein Problem?

Ich habe mir sehr komplizierte Pläne ausgedacht. Mindestens zehn, die ich alle bis ins kleinste Detail ausgearbeitet habe. Mir lag vor allem daran, nicht gefasst zu werden. Man sollte glauben, die beiden wären zusammen auf und davon. Ich habe in einer Zeitung gelesen, dass jedes Jahr Tausende von Frauen in Paris verschwinden und die Polizei sich nicht die Mühe macht, sie zu suchen. So wäre es wohl auch, wenn er gleichzeitig verschwinden würde.

Einmal habe ich mir sogar überlegt, wo ich die Leichen verstecken würde. Ich habe auf einer Baustelle ganz oben in Montmartre gearbeitet. Man gießt dort Beton. Ich hätte sie nachts in meinem Lieferwagen dorthin transportiert, und man hätte sie nie gefunden …«

Er wurde zunehmend erregt und war jetzt viel redseliger, wobei er immer wieder auf die Reaktionen des Kommissars achtete.

»Ist schon einmal jemand zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen, dass er seine Frau oder sonst wen umbringen will?«

Das kam so unerwartet, dass Maigret unwillkürlich sein Gedächtnis durchforstete.

»Nicht so«, antwortete er schließlich.

»Glauben Sie, dass ich lüge und eine Geschichte erfinde, um mich aufzuspielen?«

»Nein.«

»Glauben Sie, dass ich meine Frau wirklich umbringen will?«

»Sie hatten es auf jeden Fall vor.«

»Und dass ich es tun werde?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil Sie zu mir gekommen sind.«

Planchon sprang auf. Er war zu nervös, zu angespannt, um noch still sitzen zu können. Er hob die Arme in die Luft.

»Genau das sage ich mir auch«, stieß er fast schluchzend hervor. »Deshalb bin ich jedes Mal wieder gegangen, bevor Sie mich empfangen konnten. Deshalb musste ich Sie auch sprechen. Ich bin kein Verbrecher. Ich bin ein anständiger Mensch. Und doch …«

Maigret stand ebenfalls auf, holte die Karaffe mit Pflaumenschnaps aus dem Schrank und goss seinem Besucher ein Glas ein.

»Trinken Sie keinen?«, murmelte Planchon beschämt.

Dann blickte er zum Esszimmer und sagte:

»Sie haben immer noch nicht gegessen. Und ich rede und rede. Ich möchte Ihnen alles erklären, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

»Wie wäre es, wenn ich Ihnen Fragen stelle?«

»Vielleicht wäre es dann leichter.«

»Setzen Sie sich.«

»Ich will es versuchen …«

»Wie lange sind Sie schon verheiratet?«

»Seit acht Jahren.«

»Haben Sie davor allein gelebt?«

»Ja. Ich bin immer allein gewesen. Seit ich mit fünfzehn meine Mutter verloren habe. Wir haben in der Rue Picpus gewohnt, nicht weit von hier. Sie war Putzfrau.«

»Und Ihr Vater?«

»Ich habe ihn nicht gekannt.«

Er wurde rot.

»Haben Sie eine Lehre gemacht?«

»Ja, ich bin Malergeselle geworden. Ich war sechsundzwanzig, als mein Chef, der in der Rue Tholozé gewohnt hat, von seiner Herzkrankheit erfuhr und beschloss, sich aufs Land zurückzuziehen.«

»Haben Sie das Geschäft übernommen?«

»Ich hatte Ersparnisse. Ich habe ja fast nichts ausgegeben. Trotzdem hat es sechs Jahre gedauert, bis ich den Laden abbezahlt hatte.«

»Wo haben Sie Ihre Frau kennengelernt?«

»Kennen Sie die Rue Tholozé, die genau gegenüber vom Moulin de la Galette auf die Rue Lepic stößt? Eine Sackgasse mit einer kleinen Treppe am Ende. Ich wohne am Fuß dieser Treppe in einem kleinen Haus im Hinterhof. Das ist praktisch wegen der Leitern und Materialien.«

Er wurde ruhiger und sprach weniger erregt, mit monotoner Stimme.

»Wenn man die Straße hochgeht, findet man auf der Mitte links das Bal des Copains, ein Tanzlokal, wo ich samstagabends manchmal ein oder zwei Stunden verbracht habe.«

»Haben Sie getanzt?«

»Nein. Ich habe mich in eine Ecke gesetzt und eine Limonade bestellt, denn damals trank ich noch keinen Alkohol. Ich habe der Musik zugehört und den Paaren zugesehen.«

»Hatten Sie damals Freundinnen?«

Zögernd antwortete er:

»Nein.«

»Warum nicht?«

Er hob seine Hand an seine Lippe.

»Ich sehe nicht gut aus. Frauen haben mich immer eingeschüchtert. Es kommt mir so vor, als würden sie sich vor meiner Fehlbildung ekeln.«

»Sie haben dort also eine Frau namens Renée kennengelernt?«

»Ja, an dem Abend waren viele Leute da. Man hat uns denselben Tisch zugewiesen. Ich habe mich nicht getraut, sie anzusprechen. Sie war genauso schüchtern wie ich. Man spürte, dass sie es nicht gewohnt war …«

»Was? Tanzen zu gehen?«