Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet - Georges Simenon - E-Book

Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Der Handlungsreisende Émile Gallet wirkt durch und durch gewöhnlich: unauffällige Kleidung, biederes Häuschen auf dem Land. Weniger gewöhnlich ist der Umstand, dass er offenbar in einem Hotel in Sancerre ermordet wurde. Und Maigret fördert weitere Absonderlichkeiten zutage: Warum ist Gallet unter falschem Namen in dem Gasthof abgestiegen? Wieso erhält seine Frau weiterhin Postkarten von ihm? Alles deutet darauf hin, dass Gallet ein Doppelleben geführt hat.

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Der 2. Fall

Georges Simenon

Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung

Kampa

1Eine lästige Pflicht

Der erste flüchtige Kontakt zu dem Toten, der in den folgenden Wochen auf höchst verwirrende Weise zu Maigrets engstem Bekanntenkreis gehören sollte, fand am 27. Juni 1930 statt. Die Umstände waren gleichermaßen banal wie lästig und unvergesslich.

Unvergesslich vor allem, weil bei der Kriminalpolizei seit einer Woche unentwegt Meldungen eingingen. Es wurde daran erinnert, dass der spanische König am Siebenundzwanzigsten des Monats nach Paris kommen sollte und dass die in einem solchen Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen seien.

Doch der Polizeichef befand sich in Prag auf einem kriminaltechnischen Kongress, und der Stellvertreter hatte sich eilig in sein Ferienhaus in der Normandie begeben, weil eins seiner Kinder erkrankt war.

Als dienstältester Kommissar war Maigret für alles zuständig. Es herrschte eine drückende Hitze, und wegen der Urlaubszeit war die Besetzung am Quai des Orfèvres auf ein Mindestmaß zusammengeschrumpft.

Im Morgengrauen des 27. Juni entdeckte man in der Rue de Picpus die ermordete Inhaberin eines Kurzwarengeschäfts.

Um neun Uhr morgens befanden sich alle verfügbaren Inspektoren an der Gare du Bois de Boulogne, wo der spanische Souverän erwartet wurde.

Maigret hatte Durchzug im Gebäude angeordnet. Die offenen Türen klapperten, und die Papiere flatterten von den Tischen.

Um kurz nach neun kam ein Telegramm aus Nevers:

Émile Gallet, Handelsvertreter, wohnhaft Saint-Fargeau, Seine-et-Marne, in der Nacht vom 25. zum 26. im Hôtel de la Loire, Sancerre, ermordet. Zahlreiche Unstimmigkeiten. Bitte Angehörige benachrichtigen zwecks Identifizierung. Wenn möglich, Beamten aus Paris schicken.

Maigret blieb nichts anderes übrig, als selbst nach Saint-Fargeau zu fahren, von dessen Existenz er bis vor einer Stunde nichts gewusst hatte. Es lag fünfunddreißig Kilometer von der Hauptstadt entfernt.

Er kannte den Fahrplan nicht. An der Gare de Lyon hörte er, dass ein Personenzug gleich abfuhr. Er lief auf den Bahnsteig und sprang gerade rechtzeitig auf den hintersten Wagen auf.

Da er korpulent war, genügte das schon, um ihm den Schweiß aus den Poren zu treiben. Er verbrachte die Fahrt damit, wieder zu Atem zu kommen und sich die Stirn zu wischen.

Als einziger Fahrgast stieg er in Saint-Fargeau aus. Einige Minuten ging er auf dem weichen Asphalt des Bahnsteigs hin und her, bis er schließlich einen Beamten entdeckte.

»Monsieur Gallet? Ganz am Ende der Hauptstraße der Siedlung … Die Villa heißt Les Marguerites, steht auf einem Schild. Es ist außerdem fast das einzige fertige Gebäude.«

Maigret zog seine Jacke aus. Um den Nacken zu schützen, klemmte er sich ein Taschentuch unter seinen steifen Hut, denn die besagte »Straße« war zwar an die zweihundert Meter breit, aber nur in der Mitte begehbar, und dort gab es keine Spur von Schatten.

Die Sonne war trist kupferfarben, die Mücken stachen wie wild. Ein Gewitter kündigte sich an.

Weit und breit keine Menschenseele, die dem Bild eine freundlichere Note und dem Reisenden eine Auskunft hätte geben können.

Die Siedlung war nichts als ein riesiger Wald, der einmal Teil hochherrschaftlicher Ländereien gewesen sein musste. Man hatte bisher nur ein Gitter aus Straßen hindurchgezogen, wie mit dem Rasenmäher geschnitten, und Kabel für die Stromversorgung der künftigen Villen verlegt.

Auf dem Platz vor dem Bahnhof gab es immerhin schon ein Wasserbecken aus Mosaiksteinen und einen Springbrunnen. An einer Holzbaracke gegenüber stand: Büro – Grundstücke – Verkauf. Der Plan daneben verzeichnete die noch leeren Straßen, sie trugen bereits Namen von Politikern und Generälen.

Alle fünfzig Meter zog Maigret das Taschentuch unter seinem Hut heraus, wischte sich den Schweiß von der Stirn und legte es wieder in den Nacken, der allmählich zu brennen begann.

Hier und dort standen Rohbauten und erst zum Teil hochgezogene Wände. Die Handwerker hatten die Baustellen wohl der Hitze wegen verlassen.

Etwa zwei Kilometer vom Bahnhof entfernt stieß er auf die Villa Les Marguerites. Mit ihrer komplizierten Bauweise und dem roten Backstein erinnerte sie ein wenig an ein englisches Landhaus. Eine grobe Mauer trennte den Garten vom Wald, der wohl noch einige Jahre lang ein Wald bleiben würde.

Durch die Fenster im Erdgeschoss konnte er ein Bett erkennen, darauf eine zusammengeklappte Matratze. Kissen und Decken lagen zum Lüften auf einem Fensterbrett.

Er klingelte. Eine Bedienstete, etwa dreißig Jahre alt, schielte durch das Guckloch in der Tür, und während sie noch zögerte zu öffnen, zog Maigret sich seine Jacke wieder an.

»Kann ich Madame Gallet sprechen?«

»Wen darf ich melden?«

Aber da fragte schon eine Stimme im Innern des Hauses:

»Wer ist da, Eugénie?«

Madame Gallet erschien auf dem Treppenabsatz und erwartete mit erhobenem Kinn die Erklärung des Eindringlings.

»Sie haben da etwas verloren«, sagte sie ohne jede Liebenswürdigkeit. Er hatte nicht an das Taschentuch gedacht, als er seinen Hut abnahm, und es war auf den Boden gefallen.

Er grummelte Unverständliches, als er es aufhob, und stellte sich vor.

»Kommissar Maigret von der Pariser Kriminalpolizei. Ich möchte Sie einen Augenblick sprechen, Madame.«

»Mich?«

Sie wandte sich an die Angestellte und sagte:

»Worauf warten Sie noch?«

Was Madame Gallet betraf, hatte Maigret sofort einen Eindruck gewonnen. Sie war zwischen fünfzig und sechzig und wenig sympathisch. Trotz der Hitze und der vormittäglichen Stunde, trotz der Stille in der Villa trug sie ein blasslila Seidenkleid, und ihrer tadellos strengen Frisur entwich kein einziges der grauen Haare. Hals, Brust und Hände waren reichlich bestückt mit goldenen Ketten, Broschen und Ringen.

Widerwillig führte sie den Besucher in den Salon. Im Vorübergehen warf Maigret durch die halb geöffnete Tür einen Blick in eine weiße Küche, wo Aluminium- und Kupfergeschirr blitzte.

»Kann ich mit dem Bohnern anfangen, Madame?«

»Natürlich. Warum nicht?«

Die Angestellte verschwand im Esszimmer nebenan, und gleich darauf war zu hören, wie sie, wahrscheinlich auf dem Boden kniend, das Wachs einrieb, wobei sich starker Terpentingeruch im Haus verbreitete.

Auf allen Möbeln im Salon lagen Stickereien. An der Wand hing die vergrößerte Fotografie eines Jungen im Kommunionsanzug, lang und mager, mit hervorspringenden Knien und unfreundlichem Gesicht.

Ein kleineres Foto, das auf dem Klavier stand, zeigte einen Mann mit borstigem Haar und graumeliertem Kinnbärtchen, der ein an den Schultern schlecht sitzendes Jackett trug.

Er hatte wie der Junge ein langes, ovales Gesicht. Etwas in dem Gesicht war erschreckend, und Maigret brauchte eine Weile, um zu verstehen, was es war: Die ungewöhnlich schmalen Lippen teilten das Gesicht fast in zwei Hälften.

»Ihr Mann?«

»Ja, mein Mann. Aber ich wüsste doch gern, was die Polizei hier will.«

Während des folgenden Gesprächs blickte Maigret immer wieder zu dem Foto. Dies war seine erste Begegnung mit dem Toten.

 

»Ich habe eine traurige Nachricht für Sie, Madame. Ihr Mann ist auf Reisen, nicht wahr?«

»Ja. Nun sprechen Sie schon. Ist …«

»Ja, es hat einen Unfall gegeben. Eigentlich war es kein Unfall. Ich muss Sie bitten, tapfer zu sein.«

Sie saß kerzengrade vor ihm. Eine Hand hatte sie auf das Beistelltischchen gelegt, neben eine unechte Bronzefigur. Das Gesicht war hart und misstrauisch, nur die feisten Finger bewegten sich nervös. Maigret fragte sich, ob sie nicht in der ersten Hälfte ihres Lebens schlank, vielleicht sogar sehr schlank gewesen und erst mit dem Alter fett geworden war.

»Ihr Mann ist in der Nacht vom Fünfundzwanzigsten zum Sechsundzwanzigsten in Sancerre ermordet worden. Ich habe die traurige Pflicht …«

Der Kommissar zeigte auf das Bild des Erstkommunikanten an der Wand und fragte:

»Sie haben einen Sohn?«

Für einen Moment schien Madame Gallet beinahe die steife Haltung zu verlieren, die aus ihrer Sicht offenbar zu einem würdevollen Auftreten gehörte. Widerwillig sagte sie:

»Ja, einen Sohn.«

Und gleich darauf mit triumphierender Stimme:

»Sie sagten doch Sancerre, nicht wahr? Und heute haben wir den Siebenundzwanzigsten. Das muss ein Irrtum sein. Warten Sie …«

Sie ging ins Esszimmer, in dem Maigret die Angestellte auf allen vieren sah. Als Madame Gallet zurückkam, reichte sie ihm eine Ansichtskarte.

»Diese Karte ist von meinem Mann. Sie trägt das Datum vom Sechsundzwanzigsten – also gestern – und wurde in Rouen aufgegeben.«

Nur mit Mühe unterdrückte sie ein schadenfrohes Lächeln, weil sie den dreisten Eindringling in Verlegenheit bringen konnte.

»Es handelt sich zweifellos um einen anderen Gallet, obwohl ich nicht wüsste …«

Es fehlte nicht viel und sie hätte ihm die Tür geöffnet, auf die sie unablässig blickte.

»Heißt Ihr Mann mit Vornamen Émile? Und steht als Beruf Handelsvertreter in seinem Ausweis?«

»Er ist Vertreter der Firma Niel & Co. für die ganze Normandie.«

»Ich fürchte, Madame, Ihre Hoffnung ist nicht berechtigt. Ich muss Sie bitten, mich nach Sancerre zu begleiten. In Ihrem wie in meinem …«

»Aber, wenn doch …«

Sie schwenkte die Postkarte, eine Ansicht von der Place du Vieux-Marché in Rouen. Die Tür zum Esszimmer stand noch offen. Mal waren Hinterteil und Füße der Bediensteten zu sehen, mal Kopf und Haare, die das Gesicht verdeckten. Dazu hörte man das Geräusch des hin und her wischenden, mit Wachs eingefetteten Lappens auf dem Parkett.

»Glauben Sie mir, ich wünschte, es läge ein Irrtum vor. Aber die Papiere, die man bei dem Toten gefunden hat, sind die Ihres Mannes.«

»Sie können ihm gestohlen worden sein.«

Ihre Stimme klang nun doch ungewollt beunruhigt. Sie folgte Maigrets Blick, der wieder zum Klavier wanderte.

»Als das Foto aufgenommen wurde, musste er schon Diät halten.«

»Wollen Sie erst noch zu Mittag essen?«, sagte der Kommissar. »Dann hole ich Sie in einer Stunde ab.«

»Nein. Wenn Sie meinen, dass … Wenn es sein muss … Eugénie! Den schwarzen Seidenmantel, meine Handtasche und die Handschuhe!«

 

Maigret hatte wenig Lust auf diese Geschichte. Sie wies alle Merkmale eines unangenehmen Falls auf. Ihm war gar nicht bewusst, dass er sich das Bild des Mannes mit dem kleinen Bart – auf Diät! – und des Jungen im Kommunionsanzug schon eingeprägt hatte.

Alles Folgende empfand Maigret als lästige Pflicht. Wieder ging er die famose Allee entlang, diesmal in noch größerer Hitze und ohne dass er die Jacke ausziehen konnte.

Dann wartete er über eine halbe Stunde auf einer Bank im Bahnhof von Melun, wo er sich Sandwiches, Obst und eine Flasche Bordeaux besorgte.

Um drei Uhr nachmittags schließlich saß er Madame Gallet gegenüber im Schnellzug nach Moulins über Sancerre in einem Abteil erster Klasse.

Die Vorhänge waren geschlossen, die Fenster geöffnet, aber nur hin und wieder wehte ein frischer Luftzug herein.

Maigret hatte seine Pfeife schon aus der Tasche gezogen. Doch nach einem Blick auf seine Reisegefährtin verzichtete er darauf, in ihrer Gegenwart zu rauchen.

Sie saßen eine gute Stunde im Zug, als sie, mit etwas menschlicher klingender Stimme, fragte:

»Wie erklären Sie sich das alles?«

»Bisher kann ich mir noch gar nichts erklären. Ich weiß nur, dass das Verbrechen in der Nacht vom Fünfundzwanzigsten zum Sechsundzwanzigsten im Hôtel de la Loire begangen wurde.

Es ist Ferienzeit. Hinzu kommt, dass die Staatsanwaltschaft in der Provinz nicht gerade zügig arbeitet … Die Kriminalpolizei wurde erst heute Morgen benachrichtigt.

Schickte Ihr Mann Ihnen häufig Postkarten?«

»Jedes Mal, wenn er unterwegs war.«

»Und er war viel unterwegs?«

»Etwa drei Wochen im Monat. Er fuhr nach Rouen und stieg im Hôtel de la Poste ab. Seit zwanzig Jahren! Von dort aus bereiste er die ganze Normandie. Aber er versuchte es immer so einzurichten, dass er abends nach Rouen zurückkehren konnte.«

»Haben Sie nur den einen Sohn?«

»Ja. Er arbeitet in Paris bei einer Bank.«

»Er wohnt nicht bei Ihnen in Saint-Fargeau?«

»Es ist zu weit, um jeden Tag hin und her zu fahren. Aber er verbringt die Sonntage bei uns.«

»Möchten Sie nicht doch etwas essen?«

»Danke nein!«, sagte sie in einem Ton, als müsste sie eine Unverschämtheit zurückweisen.

Eigentlich hätte er sich auch nicht vorstellen können, dass sie wie eine gewöhnliche Frau in ein Sandwich biss und lauwarmen Wein aus dem Pappbecher der Eisenbahngesellschaft trank.

Es war deutlich, dass Würde für sie großes Gewicht hatte. Sie war gewiss nie hübsch gewesen, aber ihr Gesicht hatte regelmäßige Züge, und wäre sie etwas weniger steif gewesen, hätte sie mit ihrem melancholischen Ausdruck und der Art, den Kopf leicht schräg zu halten, durchaus einen gewissen Charme gehabt.

»Warum sollte man meinen Mann töten wollen?«

»Hatte er Feinde?«

»Weder Feinde noch Freunde! Wir lebten ganz für uns. Wie alle Menschen, die eine andere als die grausame Nachkriegszeit kennengelernt haben.«

»Ah ja.«

Die Reise wollte kein Ende nehmen. Mehrmals ging Maigret auf den Gang, um an seiner Pfeife zu ziehen. Sein Hemdkragen war vom Schweiß aufgeweicht. Er beneidete Madame Gallet, der die dreiunddreißig oder vierunddreißig Grad im Schatten nichts anzuhaben schienen. Ihre Haltung war noch dieselbe wie bei Abfahrt des Zuges, als säße sie im Bus: die Handtasche auf dem Schoß, die Hände auf der Handtasche und den Kopf zur Abteiltür gewandt.

»Wie ist er … dieser Mann … ermordet worden?«

»Im Telegramm steht nichts darüber. Soweit ich weiß, hat man ihn am Morgen tot aufgefunden.«

Madame Gallet zuckte zusammen und öffnete leicht den Mund, um Luft zu holen.

»Es kann nicht mein Mann sein. Diese Postkarte beweist es doch, oder nicht? Ich hätte gar nicht mitkommen sollen.«

Ohne recht zu wissen, warum, bedauerte Maigret, die Fotografie auf dem Klavier nicht eingesteckt zu haben. Er konnte sich nur noch vage an die obere Gesichtshälfte erinnern, dagegen sah er den überbreiten Mund deutlich vor sich, den kleinen Kinnbart und die schlecht sitzende Jacke.

Es war sieben Uhr abends, als der Zug auf dem Bahnhof Tracy-Sancerre hielt. Sie mussten noch einen Kilometer auf der großen Straße zurücklegen und auf der Hängebrücke die Loire überqueren.

Der Fluss bot an dieser Stelle keinen majestätischen Anblick, sondern schien sich aus vielen kleinen Rinnsalen zusammenzusetzen, die zwischen hellgelben Sandbänken hindurchflossen.

Auf einer dieser kleinen Inseln stand ein Mann in einem Nanking-Anzug und angelte. Das Hôtel de la Loire, dessen gelbe Fassade am Quai aufragte, war zu sehen.

Die Sonne stand schon tiefer, aber die Luft war vom Wasser aufgeheizt und immer noch stickig.

Mittlerweile ging Madame Gallet voran. Mit gerunzelter Stirn bemerkte der Kommissar einen vor dem Hotel auf und ab schreitenden Mann, vermutlich ein Kollege. Maigret war sich bewusst, dass er und Madame Gallet ein lächerliches Paar abgaben.

Sommerlich gekleidete Urlaubsgäste, vor allem Familien, nahmen auf der überdachten Terrasse Platz. Kellnerinnen in weißen Schürzen und Hauben eilten hin und her.

Madame Gallet hatte das Schild entdeckt, auf dem zwischen Klubabzeichen der Name des Hotels stand. Sie steuerte geradewegs auf den Eingang zu.

»Kriminalpolizei?«, fragte der davor postierte Mann Maigret.

»Ja … und?«

»Er wurde ins Rathaus gebracht. Die Autopsie findet um acht Uhr statt. Wenn Sie sich beeilen, kommen Sie noch rechtzeitig …«

 

Rechtzeitig, um einen Toten kennenzulernen! Maigret empfand die Aufgabe nach wie vor als abstoßende und mühsame Pflicht.

Er würde später Muße haben, sich an die Einzelheiten dieser zweiten Begegnung zu erinnern, der keine weitere folgen konnte.

Grellweiß lag das Städtchen an diesem Spätnachmittag in gewittrigem Licht. Hühner und Gänse überquerten die große Straße, und fünfzig Meter weiter im Schatten waren zwei Männer in blauen Arbeitsschürzen dabei, ein Pferd zu beschlagen.

Gegenüber vom Rathaus saßen Leute auf der Terrasse eines Cafés unter der rot und gelb gestreiften Markise. Auf den Tischen stand kühles Bier, Eisstückchen klirrten in den Aperitifs, und Pariser Zeitungen lagen aus.

Drei Autos parkten auf dem Platz. Eine Krankenschwester suchte die Apotheke. Im Rathaus wischte eine Frau den grauen Steinfußboden.

»Pardon … Die Leiche?«

»Dort hinten! Unter dem Dach auf dem Schulhof. Die Herren sind schon da. Sie können hier entlanggehen.«

Sie deutete auf eine Tür, über der das Wort Mädchen stand, während über der entgegengesetzten Tür Jungen zu lesen war.

Madame Gallet ging energisch voraus, doch Maigret glaubte zu spüren, dass nur ihre Nervosität sie vorwärtstrieb.

Auf dem Schulhof schlenderte ein Arzt in weißem Kittel, eine Zigarette rauchend wie ein Wartender, auf und ab. Hin und wieder rieb er seine feingliedrigen Hände aneinander.

Zwei weitere Männer unterhielten sich leise neben einem Tisch, auf dem die Leiche unter einem weißen Tuch lag.

Der Kommissar versuchte, seine Begleiterin zurückzuhalten, doch sie hatte den überdachten Teil des Hofs schon erreicht, blieb einen Augenblick zögernd vor dem Tisch stehen und hob dann mit einem Ruck das Tuch vom Gesicht des Toten.

Sie stieß keinen Schrei aus. Die beiden Männer, die sich unterhielten, drehten sich erstaunt zu ihr um. Der Arzt streifte Gummihandschuhe über und rief in eine halb offen stehende Tür hinein:

»Ist Mademoiselle Angèle denn noch nicht zurück?«

Während er einen der Handschuhe wieder auszog, um sich eine neue Zigarette anzustecken, stand Madame Gallet steif und reglos neben dem Toten. Maigret hielt sich bereit, um sie notfalls zu stützen.

Brüsk und mit hasserfülltem Gesicht wandte sie sich zu ihm um und schrie:

»Wie ist das möglich? Wer konnte es wagen …«

»Kommen Sie, Madame. Er ist es, nicht wahr?«

Mit leerem Blick starrte sie auf die beiden Männer, den Arzt in Weiß und die Krankenschwester, die sich langsam näherte.

»Was geschieht jetzt mit ihm?«, fragte sie heiser.

Da Maigret verlegen mit der Antwort zögerte, stürzte sie sich auf den Leichnam ihres Mannes, funkelte alle Umstehenden wütend an und kreischte:

»Nein! Ich will es nicht!«

Maigret musste sie gewaltsam fortführen. Er vertraute sie der Putzfrau an, die ihre Wassereimer stehen ließ. Als er in den Innenhof zurückkam, hatte der Arzt ein Skalpell in der Hand und trug eine Maske vor dem Gesicht. Die Schwester reichte ihm eine undurchsichtige Glasflasche.

Versehentlich stieß der Kommissar mit dem Fuß gegen einen kleinen schwarzen Seidenhut, verziert mit einer blasslila Schleife und einer Schnalle aus Strass.

 

Er wohnte der Autopsie nicht bei. Es begann schon zu dämmern, und der Arzt hatte gesagt:

»Ich erwarte sieben Personen zum Abendessen in Nevers.«

Die beiden anderen Männer waren der Untersuchungsrichter und der Gerichtsschreiber. Nachdem der Richter dem Kommissar die Hand gegeben hatte, sagte er nur:

»Sprechen Sie mit der Ortspolizei, sie hat bereits mit der Ermittlung begonnen. Es ist ein fürchterlich verworrener Fall.«

Man nahm die Decke ab. Der Leichnam war nackt.

Maigret sah ihn nur wenige Sekunden. Was er sah, entsprach dem, was er sich nach der Fotografie hatte vorstellen können: Der Körper war lang und knochig, mit eingefallener Bürokratenbrust und blasser Haut, von der die Haare dunkel abstachen. Die Brustbehaarung war rötlich.

Nur die rechte Gesichtshälfte war unversehrt, die linke Wange von der Kugel zerfetzt.

Die mausgrauen Augen standen offen und wirkten kaum erloschener als auf dem Foto.

Er musste Diät halten, hatte Madame Gallet gesagt.

Unter der linken Brust schließlich klaffte eine kleine Wunde mit sauberem Rand, die von einer Klinge herrührte.

Der Arzt hinter Maigret trat vor Ungeduld von einem Bein aufs andere.

»Soll mein Bericht an Sie gehen? Wohin soll ich ihn schicken?«

»Ins Hôtel de la Loire.«

Der Untersuchungsrichter und sein Schreiber sahen schweigend woanders hin. Maigret irrte sich beim Verlassen des Gebäudes in der Tür und landete in einem der Klassenzimmer.

Dort war es wunderbar kühl, und der Kommissar blieb einen Augenblick vor den bunten Bildern stehen, die an der Wand hingen. Sie hießen Die Ernte, Bauernhof im Winter und Markttag in der Stadt.

Auf einem Regal standen, fein säuberlich nach Größe aufgereiht, Gewichte und Hohlmaße aus Holz, Zinn und Eisen.

Der Kommissar wischte sich den Schweiß von der Stirn. Als er den Klassenraum verließ, stieß er auf den Polizeiinspektor von Nevers, der ihn suchte.

»Ach, gut, dass ich Sie treffe! Ich muss dringend zu meiner Frau nach Grenoble … Stellen Sie sich vor, gestern Morgen, als der Anruf kam, wollte ich gerade in den Urlaub fahren.«

»Haben Sie etwas herausgefunden?«

»Absolut nichts. Sie werden sehen, es ist eine ganz merkwürdige Geschichte. Vielleicht könnten wir zusammen zu Abend essen, dann berichte ich Ihnen einige Einzelheiten, sofern man sie als solche bezeichnen kann. Es wurde nichts gestohlen. Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Und kein Mensch weiß, warum dieser arme Teufel ermordet wurde. Es gibt nur eine seltsame Sache, aber die wird uns wahrscheinlich auch nicht weiterbringen. Wenn er im Hôtel de la Loire abstieg, was er von Zeit zu Zeit tat, dann trug er sich dort als Monsieur Clément ein, Rentner aus Orléans.«

»Nehmen wir einen Aperitif zusammen«, schlug Maigret vor.

Er dachte an die verlockende Atmosphäre auf der Terrasse, die ihm vorhin wie das ideale Refugium erschienen war.

Doch als er dort vor einem Bier saß, fühlte er sich weniger wohl als erwartet.

»Selten war eine Ermittlung so unergiebig«, seufzte der Inspektor. »Sie werden mir zustimmen. Kein einziger Anhaltspunkt! Und überhaupt nichts Ungewöhnliches, abgesehen davon, dass der Mann ermordet worden ist.«

Einige Minuten lang fuhr er in diesem Ton fort, ohne zu merken, dass der Kommissar kaum zuhörte.

Es gibt Menschen, denen man nur ein einziges Mal auf der Straße begegnet, deren Gesicht man aber nicht vergisst. Von Émile Gallet hatte Maigret nichts gesehen als ein Bild, ein halbes Gesicht und einen aschfahlen Körper. Und doch stand ihm die Fotografie klar vor Augen.

Maigret versuchte sich Monsieur Gallet lebend vorzustellen, zu zweit mit seiner Frau, in dem Esszimmer in Saint-Fargeau, oder wie er die Villa verließ, um zum Bahnhof zu gehen.

Wie vom Blitz erhellt, wurde die obere Gesichtshälfte von Monsieur Gallet deutlich. Er meinte sogar die bleifarbenen Tränensäcke vor sich zu sehen.

»Ich wette, er litt an einer Leberkrankheit«, sagte er plötzlich halblaut.

»Aber an einer Leberkrankheit ist er gewiss nicht gestorben«, erwiderte der Inspektor ärgerlich. »Eine Leberkrankheit zerfetzt einem nicht das halbe Gesicht und durchbohrt einem nicht das Herz!«

Auf dem Platz wurde ein Karussell mit Holzpferden abgebaut, und in einer Schießbude daneben gingen die Lampen an.

2Ein junger Mann mit Brille

Nur an zwei oder drei Tischen saßen noch Gäste. Aus manchen Zimmern im ersten Stock drang das Protestgebrüll von Kindern, die ins Bett gehen mussten.

Hinter einem offenen Fenster sagte eine Frauenstimme:

»Hast du den dicken Mann gesehen? Der ist Polizist! Wenn du nicht brav bist, steckt er dich ins Gefängnis.«

Während Maigret aß und seine Blicke schweifen ließ, hörte er ein unaufhörliches Brummen. Es stammte von Inspektor Grenier aus Nevers. Er redete und redete, weil er gern redete.

»Ach, wenn man ihm wenigstens etwas gestohlen hätte! Dann wäre alles geradezu lächerlich einfach. Heute ist Montag. Das Verbrechen wurde in der Nacht vom Samstag zum Sonntag begangen. Da war Jahrmarkt. An solchen Tagen streichen alle Arten von Leuten herum. Außer den Schaustellern, denen ich prinzipiell misstraue. Sie kennen die ländliche Gegend nicht, Herr Kommissar. Man stößt hier auf mindestens so zwielichtige Gestalten wie in der Pariser Unterwelt.«

»Kurz gesagt«, unterbrach ihn Maigret, »wäre nicht Jahrmarkt gewesen, hätte man das Verbrechen sofort entdeckt.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass wegen des Lärms niemand den Schuss gehört hat. Sagten Sie nicht, Gallet sei nicht an der Kopfverletzung gestorben?«