Maigret und die braven Leute - Georges Simenon - E-Book

Maigret und die braven Leute E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Anständige Leute sind die Josselins. Hochanständige. Feinde haben sie keine. Sie führen ein ehrbares, wohlgeordnetes Leben. Mutter und Tochter gehen gerne ins Theater, der Vater, Kartonagenfabrikant im Ruhestand, spielt Schach mit dem Schwiegersohn. Und doch: Eines Abends liegt René Josselin erschossen in seinem Lieblingssessel. Irgendein dunkles Geheimnis muss es hier geben. Maigret versucht zunächst erfolglos, hinter die gutbürgerliche Fassade zu blicken. Doch dann zeigen sich erste Risse.

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Der 58. Fall

Georges Simenon

Maigret und die braven Leute

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung

Kampa

1

Als Maigret im Dunkeln nach dem Telefon tastete, brummte er nicht wie sonst, wenn er mitten in der Nacht angerufen wurde, sondern seufzte vor Erleichterung.

Er erinnerte sich nur verschwommen an den unangenehmen Traum, aus dem ihn das Klingeln gerissen hatte: Darin hatte er versucht, einer wichtigen Person, deren Gesicht er nicht sah und die sehr unzufrieden mit ihm war, zu erklären, dass er nichts dafür könne. Man müsse Geduld mit ihm haben, nur ein paar Tage, denn die Arbeit sei ihm noch ungewohnt und er fühle sich schlapp und nicht wohl in seiner Haut. Man solle ihm vertrauen, dann werde es nicht lang dauern. Vor allem dürfe man ihn nicht vorwurfsvoll oder gar spöttisch ansehen.

»Hallo …«

Während er den Hörer ans Ohr legte, knipste Madame Maigret, auf einen Ellbogen gestützt, die Nachttischlampe an.

»Maigret?«, fragte die Stimme am anderen Ende.

»Ja.«

Die Stimme kam ihm bekannt vor, auch wenn er nicht wusste, wer es war.

»Hier Saint-Hubert …«

Ein Polizeikommissar, ungefähr in seinem Alter, er kannte ihn seit seinen ersten Dienstjahren. Sie nannten sich beim Nachnamen, duzten sich aber nicht. Saint-Hubert war rothaarig, lang und mager, ein wenig langsam und feierlich und sehr gewissenhaft.

»Habe ich Sie geweckt?«

»Ja.«

»Das tut mir leid. Aber man wird Sie vermutlich sowieso gleich vom Quai des Orfèvres aus anrufen, um Sie zu informieren, denn ich habe gerade eben die Staatsanwaltschaft und die Kriminalpolizei verständigt.«

Maigret hatte sich im Bett aufgesetzt und nahm eine Pfeife vom Nachttisch, wo er sie vor dem Schlafengehen hingelegt hatte. Mit den Augen suchte er nach Streichhölzern. Madame Maigret stand auf, um ihm welche vom Kaminsims zu holen. Das Fenster stand offen. Es war eine laue Pariser Nacht, gesprenkelt vom Licht der Laternen, in der Ferne waren Autos zu hören.

Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr aus dem Urlaub vor fünf Tagen wurden sie auf diese Weise geweckt, und für Maigret war es wie die Wiederaufnahme des alltäglichen Lebens mit seiner Routine.

»Was gibt es?«, murmelte er und zog an seiner Pfeife, während seine Frau ihm das brennende Streichholz über den Pfeifenkopf hielt.

»Ich bin in der Wohnung von Monsieur René Josselin, Rue Notre-Dame des Champs Nummer siebenunddreißig, gleich neben dem Kloster der Petites Sœurs des Pauvres … Hier ist eben ein Mord entdeckt worden. Genaueres weiß ich noch nicht, ich bin selbst erst vor zwanzig Minuten hergekommen … Können Sie mich verstehen?«

»Ja.«

Madame Maigret ging in die Küche, um Kaffee zu kochen, und Maigret zwinkerte ihr komplizenhaft zu.

»Der Fall scheint schwierig zu sein, wahrscheinlich etwas delikat. Deshalb habe ich mir erlaubt, Sie anzurufen. Ich hatte befürchtet, dass man mir sonst nur einen der Inspektoren vom Bereitschaftsdienst schickt.«

Er wählte seine Worte sorgsam, vermutlich war er nicht allein im Raum.

»Ich weiß, dass Sie gerade erst aus dem Urlaub zurück sind.«

»Ich bin seit vergangener Woche wieder da.«

Es war Mittwoch. Genauer gesagt: Donnerstag, denn der Wecker auf Madame Maigrets Nachttisch zeigte zwei Uhr zehn. Sie waren zusammen im Kino gewesen, weniger des Films wegen, der belanglos gewesen war, als um ihre Gewohnheiten wieder aufzunehmen.

»Könnten Sie vorbeikommen?«

»Ich muss mich nur schnell anziehen.«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür. Ich kenne die Josselins nämlich persönlich ein wenig. Es sind Leute, bei denen man keine Tragödie erwarten würde …«

Selbst die Pfeife roch nach Beruf; eben wie eine Pfeife, die er am Abend zuvor hatte ausgehen lassen und mitten in der Nacht wieder ansteckte, wenn man ihn wegen eines Notfalls weckte.

Auch der Kaffee duftete anders als der Morgenkaffee. Und der Benzingeruch, der durch das offene Fenster hereindrang …

Seit acht Tagen hatte Maigret das Gefühl herumzudümpeln. Diesmal waren sie drei Wochen in Meung-sur-Loire geblieben, ohne jeden Kontakt zur Kriminalpolizei und ohne dass er wie in anderen Jahren wegen eines dringenden Falls nach Paris zurückgerufen worden war.

Sie hatten ihr Haus weiter eingerichtet und sich um den Garten gekümmert. Maigret ging angeln und spielte Belote mit Leuten aus dem Dorf. Seit seiner Rückkehr wollte es ihm nicht gelingen, im Alltag wieder Fuß zu fassen.

Und auch Paris war aus dem Tritt, hätte man meinen können. Das Wetter war nicht wie sonst nach dem Urlaub regnerisch und kühl. Die großen Reisebusse kutschierten immer weiter Touristen in grellen Hemden durch die Straßen, und auch wenn viele Pariser aus den Ferien zurückgekehrt waren, machten sich andere erst jetzt in vollgestopften Zügen auf den Weg.

Die Kriminalpolizei und sein Büro kamen Maigret fast ein bisschen unwirklich vor, und manchmal fragte er sich, was er dort eigentlich tat, so als fände das wirkliche Leben dort unten am Ufer der Loire statt.

Dieses Unbehagen war vermutlich der Ursprung seines Traums, an den er sich vergeblich genauer zu erinnern versuchte. Madame Maigret kam mit einer dampfenden Kaffeetasse aus der Küche und merkte sofort, dass ihr Mann keineswegs wütend darüber war, jäh aus dem Schlaf gerissen worden zu sein, sondern sogar ganz froh.

»Wo ist es?«

»Am Montparnasse, in der Rue Notre-Dame des Champs.«

Er hatte schon Hemd und Hose angezogen und band sich gerade die Schuhe zu, als das Telefon wieder klingelte. Diesmal war es die Kriminalpolizei.

»Hier Torrence, Chef … Wir haben soeben erfahren, dass …«

»… dass ein Mann in der Rue Notre-Dame des Champs ermordet wurde.«

»Sie wissen schon Bescheid? Fahren Sie hin?«

»Wer ist denn im Büro?«

»Dupeu, er verhört gerade einen Verdächtigen im Zusammenhang mit dem Juwelendiebstahl, außerdem Vacher. Moment, da kommt auch Lapointe …«

»Sag ihm, er soll am Tatort unten auf mich warten.«

Janvier hatte noch Urlaub. Lucas war tags zuvor zurückgekommen, aber noch nicht wieder zur Arbeit erschienen.

»Ich bestelle dir ein Taxi, ja?«, fragte Madame Maigret wenig später.

Unten traf er einen Fahrer an, der ihn kannte, und ausnahmsweise freute ihn das.

»Wohin kann ich Sie bringen, Chef?«

Maigret nannte ihm die Adresse und stopfte sich eine neue Pfeife. In der Rue Notre-Dame des Champs stand ein kleiner schwarzer Wagen der Kriminalpolizei. Lapointe rauchte auf dem Gehsteig eine Zigarette und unterhielt sich mit einem Polizisten.

»Dritter Stock links«, sagte dieser.

Maigret und Lapointe betraten das gepflegte Mietshaus und sahen Licht in der Loge. Hinter dem Tüllvorhang meinte der Kommissar einen Inspektor des 6. Arrondissements zu erkennen, der die Concierge befragte.

Kaum hatte der Fahrstuhl oben gehalten, öffnete sich eine Wohnungstür, und Saint-Hubert empfing sie.

»Die Staatsanwaltschaft wird erst in einer halben Stunde hier sein … Kommen Sie herein. Sie werden gleich verstehen, warum ich Sie angerufen habe …«

Sie traten in eine große Diele. Saint-Hubert stieß eine angelehnte Tür auf, und sie gelangten in ein stilles Wohnzimmer, in dem niemand war außer dem Leichnam eines Mannes in einem Ledersessel – ziemlich groß und dick, in sich zusammengesunken, der Kopf zur Seite gekippt, die Augen offen.

»Ich habe die Familie gebeten, sich in ein anderes Zimmer zurückzuziehen. Um Madame Josselin kümmert sich der Hausarzt, Doktor Larue. Er ist zufällig ein Freund von mir.«

»Ist Madame verletzt worden?«

»Nein. Sie war nicht hier, als es passierte. Ich erzähle Ihnen am besten, was ich bisher in Erfahrung gebracht habe.«

»Wer wohnt hier? Wie viele Personen?«

»Zwei.«

»Aber Sie haben von der Familie gesprochen.«

»Monsieur und Madame Josselin leben allein hier, seitdem ihre Tochter verheiratet ist. Sie hat einen jungen Arzt geheiratet, einen Kinderarzt, Doktor Fabre. Er ist Assistent von Professor Baron im Kinderkrankenhaus.«

Lapointe machte sich Notizen.

»Gestern Abend waren Madame Josselin und ihre Tochter im Théâtre de la Madeleine.«

»Und die Männer?«

»René Josselin war eine Zeit lang allein.«

»Ging er nicht gern ins Theater?«

»Das weiß ich nicht. Ich vermute, er ging ungern abends aus.«

»Was machte er beruflich?«

»Seit zwei Jahren nichts mehr. Früher hatte er eine Kartonagenfabrik in der Rue du Saint-Gothard. Dort wurden Pappkartons hergestellt, vor allem luxuriöse Verpackungen für Parfums. Aus gesundheitlichen Gründen hat er die Firma dann verkauft.«

»Wie alt war er da?«

»Fünfundsechzig oder sechsundsechzig … Gestern Abend war er zunächst allein zu Hause. Später, ich weiß nicht wann, ist sein Schwiegersohn gekommen, und die beiden haben Schach gespielt.«

Auf einem Tischchen war ein Schachspiel aufgebaut, und die Figuren standen da, als wäre die Partie unterbrochen worden.

Saint-Hubert sprach leise, und aus den anderen Zimmern, deren Türen nicht ganz geschlossen waren, waren Schritte zu hören.

»Als die beiden Frauen aus dem Theater zurückkamen …«

»Wann war das?«

»Um Viertel nach zwölf. Als sie also zurückkamen, haben sie René Josselin so vorgefunden, wie Sie ihn hier sehen.«

»Wie viele Kugeln?«

»Zwei … Beide in der Herzgegend.«

»Haben die anderen Mieter im Haus nichts gehört?«

»Die Nachbarn nebenan sind noch im Urlaub.«

»Wurden Sie sofort benachrichtigt?«

»Nein. Die beiden Frauen haben zuerst Doktor Larue gerufen. Er wohnt ganz in der Nähe, in der Rue d’Assas, und hat Josselin behandelt. Es hat trotzdem ein bisschen gedauert, bis er hier war. Erst um zehn nach eins habe ich einen Anruf von meinem Kommissariat bekommen, nachdem der Mord dort gemeldet worden war. Ich habe mich schnell angezogen und bin hierhergekommen. Bisher konnte ich nur wenige Fragen stellen, mehr war wegen Madame Josselins Zustand nicht möglich.«

»Und der Schwiegersohn?«

»Der ist kurz vor Ihnen erschienen.«

»Was sagt er?«

»Man hat ihn nicht gleich erreicht. Erst in der Klinik, wo er, wenn ich es richtig verstanden habe, bei einem kleinen Jungen mit Hirnhautentzündung war.«

»Wo ist er im Augenblick?«

»Da drüben.«

Saint-Hubert deutete auf eine der Türen. Man hörte Flüstern.

»Gestohlen wurde offenbar nichts, auch Spuren eines Einbruchs konnten wir nicht finden. Die Josselins wissen nichts von möglichen Feinden. Es sind brave Leute, sie führen ein unauffälliges Leben.«

Jemand klopfte an die Tür. Es war Ledent, ein junger Gerichtsmediziner, den Maigret kannte. Er gab allen die Hand, ehe er seine Tasche auf eine Kommode stellte und öffnete.

»Die Staatsanwaltschaft hat mich angerufen«, sagte er. »Der Staatsanwalt wird auch gleich hier sein.«

»Ich würde der jungen Frau gern einige Fragen stellen«, murmelte Maigret, der den Blick durch das Zimmer hatte schweifen lassen.

Er konnte Saint-Huberts Eindruck nachvollziehen. Das Ambiente war nicht nur elegant und behaglich, sondern verströmte eine friedliche, familiäre Atmosphäre. Es war kein prunkvoller Raum, sondern einer, in dem es sich gut leben ließ. Jedes Möbelstück schien seine Funktion und seine Geschichte zu haben.

So hatte Josselin offensichtlich jeden Abend in dem großen Sessel aus rotbraunem Leder gesessen. In seinem Blickfeld, auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, stand der Fernseher.

Auf dem Flügel hatte jahrelang ein kleines Mädchen gespielt, dessen Bild man an der Wand sah, und neben einem weiteren Sessel, weniger tief als der des Familienoberhaupts, stand ein hübscher Louis-XV-Nähtisch.

»Soll ich sie rufen?«

»Ich würde lieber in einem anderen Zimmer mit ihr sprechen …«

Saint-Hubert klopfte an eine Tür und verschwand für einen Augenblick. Er kam zurück, um Maigret zu holen, der in ein Schlafzimmer hineinblickte. Dort beugte sich ein Mann über eine im Bett liegende Frau.

Eine jüngere Frau kam auf den Kommissar zu und sagte leise:

»Bitte folgen Sie mir in mein früheres Zimmer.«

Es war ein Mädchenzimmer geblieben, in dem noch vieles aus ihrer Kindheit stand, Andenken, Krimskrams und Fotos, als sollte sie, wenn sie als verheiratete Frau zu ihren Eltern auf Besuch kam, die Umgebung ihrer Jugend wiederfinden.

»Sie sind Kommissar Maigret, nicht wahr?«

Er nickte.

»Rauchen Sie ruhig Ihre Pfeife … Mein Mann raucht von morgens bis abends Zigaretten, außer natürlich am Bett seiner kleinen Patienten.«

Sie trug ein recht elegantes Kleid und war vor dem Theaterbesuch beim Friseur gewesen. Ihre Finger nestelten an einem Taschentuch herum.

»Sie bleiben lieber stehen?«

»Ja … Sie auch, nicht wahr?«

Sie ging ruhelos hin und her, ihr Blick machte nirgends halt.

»Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, wie es sich anfühlt … Täglich erfährt man von Verbrechen, in den Zeitungen oder im Radio, aber dass einem selbst so etwas passiert, das kann man sich nicht vorstellen. Armer Papa!«

»Hingen Sie sehr an Ihrem Vater?«

»Er war ein außergewöhnlich gütiger Mensch. Ich war sein Ein und Alles, sein einziges Kind … Monsieur Maigret, Sie müssen herausfinden, wie das geschehen konnte! Und sie müssen es uns sagen. Ich werde den Gedanken nicht los, dass es sich um eine schreckliche Verwechslung handelt.«

»Meinen Sie, der Mörder könnte sich in der Etage geirrt haben?«

Sie blickte ihn an, als wollte sie nach einem Rettungsring greifen, aber dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein, das kann nicht sein. Das Schloss wurde nicht aufgebrochen. Mein Vater hat die Tür bestimmt selbst geöffnet.«

Maigret rief:

»Lapointe, du kannst hereinkommen!«

Er stellte ihn vor, und Lapointe errötete, als er merkte, dass er sich im Zimmer eines jungen Mädchens befand.

»Erlauben Sie, dass ich Ihnen einige Fragen stelle. Wessen Idee war es, gestern Abend ins Theater zu gehen? Ihre oder die Ihrer Mutter?«

»Schwer zu sagen. Ich glaube, Maman hatte die Idee. Sie besteht darauf, dass ich manchmal ausgehe. Ich habe zwei Kinder, ein dreijähriges und ein kleines, zehn Monate. Wenn mein Mann nicht gerade Sprechstunde hat, wo ich ihn nicht zu Gesicht bekomme, dann ist er in der Klinik, oder er macht Patientenbesuche. Er geht ganz in seinem Beruf auf. Deshalb ruft mich Maman von Zeit zu Zeit an, zwei- bis dreimal im Monat, und schlägt vor, dass wir zusammen ausgehen.

Gestern Abend wurde ein Stück gegeben, das Maman und ich gern sehen wollten …«

»Ihr Mann hatte keine Zeit?«

»Er hätte erst um halb zehn Zeit gehabt. Das war zu spät. Außerdem macht er sich nichts aus Theater.«

»Wann sind Sie hergekommen?«

»Gegen halb neun.«

»Wo wohnen Sie?«

»Am Boulevard Brune, unweit der Cité Universitaire.«

»Haben Sie ein Taxi genommen?«

»Nein. Mein Mann hat mich in seinem Wagen hergebracht. Er konnte es zwischen zwei Patientenbesuchen einrichten.«

»Ist er mit heraufgekommen?«

»Nein, er hat mich unten abgesetzt.«

»Hatte er vor, dann noch einmal zurückzukehren?«

»Es war wie immer, wenn meine Mutter und ich ausgingen. Paul – so heißt mein Mann – kam zu meinem Vater, wenn er seine Hausbesuche erledigt hatte, und dann spielten die beiden Schach oder sahen fern, bis wir wiederkamen.«

»Und so war es auch gestern Abend?«

»Nach dem, was er mir eben gesagt hat, ja. Er ist kurz nach halb zehn gekommen. Sie haben eine Partie begonnen. Aber dann bekam mein Mann einen Anruf …«

»Wann?«

»Er konnte es mir noch nicht genauer sagen. Er ist jedenfalls gegangen, und als Maman und ich nach Hause kamen, bot sich uns dieser entsetzliche Anblick.«

»Wo war Ihr Mann zu dem Zeitpunkt?«

»Ich habe ihn sofort bei mir zu Hause angerufen, und Germaine, unser Hausmädchen, hat gesagt, er sei noch nicht zurück.«

»Sie sind nicht auf die Idee gekommen, die Polizei zu benachrichtigen?«

»Ich weiß nicht … Maman und ich waren ganz durcheinander. Wir konnten es nicht fassen … Wir brauchten einen Rat von jemandem, und da kam mir in den Sinn, Doktor Larue anzurufen … Er ist Papas Arzt und zugleich unser Freund …«

»Waren Sie nicht erstaunt, dass Ihr Mann nicht hier war?«

»Ich dachte mir, dass ein Notfall ihn festgehalten hat … Als dann Doktor Larue hier war, habe ich in der Klinik angerufen. Dort habe ich ihn erreicht.«

»Wie hat er reagiert?«

»Er hat gesagt, er würde sofort kommen … Doktor Larue hatte inzwischen die Polizei benachrichtigt … Ob ich die Reihenfolge richtig wiedergebe, weiß ich nicht … Ich habe mich ja gleichzeitig um Maman gekümmert. Sie war vollkommen außer sich.«

»Wie alt ist sie?«

»Einundfünfzig. Sie ist viel jünger als Papa. Er hat erst spät geheiratet, mit fünfunddreißig.«

»Könnten Sie nun Ihren Mann zu mir hereinbitten?«

Durch die offene Tür hörte Maigret Stimmen im Wohnzimmer. Es waren Staatsanwalt Mercier und Etienne Gossard, ein junger Untersuchungsrichter, der wie alle anderen aus dem Bett geholt worden war. Bald würden auch die Männer vom Erkennungsdienst im Wohnzimmer auftauchen.

»Sie möchten mich sprechen?«

Der Mann war jung, mager, nervös. Seine Frau war mit ihm zurückgekommen und fragte schüchtern:

»Darf ich dableiben?«

Maigret nickte.

»Wie ich gehört habe, sind Sie gegen halb zehn hier eingetroffen, Herr Doktor.«

»Ja, vielleicht etwas später, aber nicht viel.«

»Waren Sie mit Ihrer Arbeit fertig?«

»Das dachte ich, aber in meinem Beruf ist man nie sicher.«

»Wenn Sie aus Ihrer Wohnung gehen, hinterlassen Sie vermutlich der Hausangestellten eine Adresse, wo man Sie erreichen kann?«

»Germaine wusste, dass ich hier war.«

»So heißt das Mädchen?«

»Ja. Sie kümmert sich auch um die Kinder, wenn meine Frau nicht zu Hause ist.«

»Welchen Eindruck hat Ihr Schwiegervater auf Sie gemacht?«

»Er war wie immer. Er sah fern, aber da das Programm nicht interessant war, schlug er vor, dass wir Schach spielen. Wir haben eine Partie angefangen. Um Viertel nach zehn klingelte das Telefon.«

»War der Anruf für Sie?«

»Ja. Germaine sagte mir, ich solle zu einem Notfall in die Rue Julie Nummer achtundzwanzig fahren. Die Straße liegt in meinem Viertel … Sie hatte den Namen nicht richtig verstanden, Lesage oder Lechat, vielleicht auch Lachat … Die Person, die angerufen hatte, schien sehr erregt gewesen zu sein.«

»Sind Sie sofort aufgebrochen?«

»Ja. Ich habe zu meinem Schwiegervater gesagt, dass ich noch einmal wiederkomme, wenn es bei dem Patienten nicht allzu lange dauert. Andernfalls würde ich direkt nach Hause fahren … Das war mein Plan. Ich muss sehr früh aufstehen, wegen der Klinik.«

»Wie lange sind Sie bei dem Patienten geblieben?«

»Es gab dort gar keinen Patienten. Ich habe die Concierge gefragt. Die hat mich überrascht angesehen und geantwortet, dass in dem Haus niemand wohnt, der Lesage oder Lachat oder so ähnlich heißt. Und sie wusste auch nichts von einem kranken Kind.«

»Was haben Sie da getan?«

»Ich habe darum gebeten, von ihr aus zu Hause anrufen zu dürfen, und dann habe ich Germaine noch einmal gefragt … Sie hat wiederholt, es sei bestimmt jemand aus dem Haus Nummer achtundzwanzig gewesen. Für alle Fälle habe ich noch bei den Häusern achtzehn und achtunddreißig geklingelt. Auch dort ohne Erfolg. Da ich nun schon unterwegs war, bin ich noch schnell in die Klinik gefahren, um nach einem kleinen Patienten zu sehen, der mir Sorgen macht.«

»Wie spät war es da?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe fast eine halbe Stunde am Bett des Kindes gesessen und dann mit einer der Schwestern eine Runde durch die Krankenzimmer gemacht. Schließlich hat man mich ans Telefon geholt, weil meine Frau am Apparat war.«

»Sie waren der Letzte, der Monsieur Josselin lebend gesehen hat. Er wirkte doch nicht besorgt?«

»Nein, überhaupt nicht. Als er mich zur Tür brachte, hat er gesagt, er wolle die Partie allein zu Ende spielen. Ich habe gehört, wie er die Kette eingehängt hat.«

»Sind Sie sich da ganz sicher?«

»Es war das typische Geräusch der Kette. Das könnte ich schwören.«

»Sodass er aufstehen musste, um seinem Mörder die Tür zu öffnen … Sagen Sie, Madame, als Sie mit Ihrer Mutter zurückkamen, war die Kette wohl nicht eingehängt?«

»Wie hätten wir sonst hereinkommen können?«

Der Arzt rauchte in kurzen schnellen Zügen, steckte sich die nächste Zigarette an, bevor die eine zu Ende geraucht war, starrte mal den Teppich und mal den Kommissar unruhig an. Er wirkte wie jemand, der sich vergeblich bemüht, ein Problem zu lösen. Seine Frau war nicht weniger erregt.

»Ich muss diese Fragen morgen leider noch einmal genauer durchgehen.«

»Ich verstehe.«

»Jetzt sollte ich erst einmal mit den Herren von der Staatsanwaltschaft sprechen.«

»Wird der Leichnam fortgebracht?«

»Daran führt kein Weg vorbei …«

Niemand sprach das Wort Autopsie aus, aber man merkte der jungen Frau an, dass sie daran dachte.

»Gehen Sie zu Ihrer Mutter zurück. Ich spreche nachher mit ihr, werde sie aber nur möglichst kurz belästigen.«

Im Wohnzimmer gab Maigret mechanisch allen die Hand und begrüßte die Männer vom Erkennungsdienst, die ihre Apparate aufstellten.

Der Untersuchungsrichter fragte besorgt:

»Was meinen Sie, Maigret?«

»Nichts.«

»Finden Sie es nicht merkwürdig, dass der Schwiegersohn gerade an diesem Abend zu einem Kranken gerufen wurde, der gar nicht existiert? Wie verstand er sich mit seinem Schwiegervater?«

»Ich weiß es nicht.«

Er hasste solche Fragen. Noch wusste keiner von denen, die sich mit dem Fall befassten, etwas vom privaten Leben dieser Familie. Der Inspektor, den Maigret bei der Concierge in der Loge gesehen hatte, kam mit einem Notizbuch in der Hand auf Maigret und Saint-Hubert zu.

»Die Concierge ist fest davon überzeugt, dass sie sich nicht irrt«, sagte er. »Ich vernehme sie schon seit fast einer Stunde. Sie ist eine intelligente junge Frau, ihr Mann ist bei der Schutzpolizei, er hat heute Nacht Dienst.«

»Was sagt sie?«

»Um fünf nach halb zehn hat sie Doktor Fabre die Tür aufgemacht. Sie weiß es so genau, weil sie sich gerade ins Bett legen wollte und den Wecker aufzog. Sie geht immer zeitig schlafen, weil ihr Baby, es ist erst drei Monate alt, sehr früh morgens seine Flasche haben will.

Sie war schon eingeschlafen, als es um Viertel nach zehn klingelte. Sie hat Doktor Fabres Stimme genau erkannt, er hat beim Vorbeigehen seinen Namen genannt.«

»Wie viele Personen sind danach ins Haus gekommen und hinausgegangen?«