Maigret und die kopflose Leiche - Georges Simenon - E-Book

Maigret und die kopflose Leiche E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Zwei Schiffer fischen einen Arm aus dem Kanal Saint-Martin. Wenig später tauchen weitere Körperteile auf. Fest steht, bei dem Toten handelt es sich um einen Mann. Seine Identität allerdings ist unklar, denn der Kopf bleibt verschwunden. Der Zufall führt Maigret schon bei seinem ersten Besuch am Tatort in eine Bar, wo ihm die missmutige Wirtin erzählt, ihr Mann sei seit einigen Tagen verschollen. Ist er das Opfer? Wie immer verlässt sich Maigret auf seinen Spürsinn. Wäre da nur nicht sein Intimfeind, Richter Coméliau, dem die Ermittlungen viel zu lange dauern.

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Der 47. Fall

Georges Simenon

Maigret und die kopflose Leiche

Roman

Aus dem Französischen von Brigitte Große

Kampa

1Der Fund der Brüder Naud

Am Himmel zeigte sich ein erster heller Streifen, als Jules, der ältere der Brüder Naud, an Deck des Lastkahns auftauchte, der Kopf zuerst, dann die Schultern und danach der lange, dürre Körper. In der frühmorgendlichen Kühle fuhr er sich mit den Fingern durch die verstrubbelten flachsblonden Haare, ließ seinen Blick über die Schleuse, den Quai de Jemmapes auf der linken und den Quai de Valmy auf der rechten Seite wandern, und es vergingen noch ein paar Minuten, während er sich eine Zigarette drehte und sie rauchte, bis in der kleinen Bar an der Ecke zur Rue des Récollets eine Lampe anging.

In der Dämmerung wirkte das Gelb der Fassade noch greller als sonst. Auch noch unfrisiert und ohne Kragen trat Popaul, der Wirt, auf den Bürgersteig hinaus, um die Fensterläden zu öffnen.

Naud drehte sich seine zweite Zigarette, während er über den Steg an Land ging und den Quai überquerte.

Als Robert, der fast genauso groß und dünn war wie sein Bruder, nun auch aus einer Ladeluke stieg, konnte er Jules schon am Tresen der erleuchteten Bar lehnen sehen, wo ihm der Wirt gerade einen Schuss Schnaps in den Kaffee goss.

Auf die gleiche Art und Weise wie sein Bruder drehte Robert sich eine Zigarette. Anscheinend wartete er, bis er dran war. Als der Ältere aus der Bar kam, ging der Jüngere vom Schiff, sodass sie sich in der Mitte der Straße trafen.

»Ich schmeiß schon mal den Motor an«, sagte Jules.

An manchen Tagen wechselten sie nicht mehr als zehn solche Sätze. Ihr Schiff hieß Les Deux Frères – Die zwei Brüder. Sie hatten Zwillingsschwestern geheiratet und lebten beide mit ihren Familien an Bord.

Robert nahm Jules’ Platz in Popauls Bar ein. Es roch nach Kaffee mit Schuss.

»Schöner Tag«, verkündete der kleine, dicke Wirt.

Naud schaute durch das Fenster in den Himmel, der langsam rosa wurde. Die Schornsteine erwachten als Erstes zu Leben und Farbe in dieser Landschaft, während die zarte Reifschicht auf den Schieferplatten, Dachziegeln und Pflastersteinen, die von der Kälte der letzten Nachtstunden rührte, allmählich zu schmelzen begann.

Man hörte den Dieselmotor stottern. Das Heck des Lastkahns spuckte stoßweise schwarzen Rauch. Naud legte ein paar Münzen auf die Theke, tippte mit den Fingerspitzen an seine Mütze und überquerte zum zweiten Mal den Quai. Inzwischen war der Schleusenwärter in Uniform erschienen und bereitete die Schleusung vor. In der Ferne, auf dem Quai de Valmy, waren Schritte zu vernehmen, aber noch niemand zu sehen. Kinderstimmen drangen aus dem Inneren des Schiffs, wo die Frauen Kaffee kochten.

Jules kam wieder an Deck und beugte sich mit gerunzelter Stirn über die Reling. Sein Bruder ahnte, was das Problem war: Sie hatten in Beauval, bei Kilometerstein 48 des Canal de l’Ourcq, Quadersteine geladen. Und wie so oft waren es ein paar Tonnen zu viel gewesen, sodass sie schon am Vortag, als sie, aus dem Hafen von La Villette kommend, in den Canal Saint-Martin einfuhren, Schlamm vom Grund aufgewühlt hatten.

Normalerweise stand das Wasser im März hoch genug. Doch dieses Jahr hatte es seit zwei Monaten nicht geregnet, es konnte also knapp werden im Kanal.

Die Schleusentore gingen auf. Jules postierte sich am Steuerrad. Sein Bruder ging an Land, um die Leinen loszumachen. Die Schraube begann sich zu drehen, und wie die beiden befürchtet hatten, wirbelte sie zähen Schlick auf, der in großen Blasen zur Oberfläche trudelte.

Mit seinem ganzen Gewicht stemmte sich Robert gegen die Stange, um den Bug des Schiffs von der Uferwand wegzudrücken. Die Schraube schien leerzudrehen. Der Schleusenwärter war solche Verzögerungen gewohnt, er wartete geduldig und schlug sich nur mit den Armen über Kreuz, um warm zu werden.

Plötzlich gab es einen Ruck, ein verdächtiges Geräusch im Getriebe, Robert Naud drehte sich zu seinem Bruder um, und der würgte den Motor ab.

Sie wussten beide nicht, was passiert war. Die Schraube konnte den Grund nicht berührt haben, weil das Ruder sie davor schützte. Etwas musste sich darin verfangen habe, ein altes Tau vielleicht, wie so viele auf dem Grund der Kanäle herumliegen. Das würden sie schwerlich wieder loswerden.

Mit seiner Stange bewehrt ging Robert nach achtern, beugte sich über die Reling und stocherte im trüben Wasser, während Jules einen kleineren Bootshaken holte und seine Frau Laurence den Kopf aus der Luke steckte.

»Was ist?«

»Weiß nicht.«

Schweigend fuhrwerkten sie mit ihren Geräten an der blockierten Schraube herum, und nach ein paar Minuten stand Dambois, der Schleusenwärter, den alle Welt Charles nannte, auf dem Quai und schaute ihnen zu. Er stellte keine Fragen, sondern begnügte sich damit, an seiner Pfeife mit dem drahtgeflickten Mundstück zu ziehen.

Ein paar Passanten eilten Richtung Place de la République, Krankenschwestern in Uniform waren auf dem Weg zum Hôpital Saint-Louis.

»Hast du’s?«

»Glaub schon.«

»Ein Tampen?«

»Weiß nicht.«

Etwas hing an Jules’ Bootshaken, nach einer Weile gab das Ding nach, und wieder trudelten Blasen herauf.

Langsam zog er die Stange hoch, und als der Haken sich der Wasseroberfläche näherte, kam ein merkwürdiges Paket aus verschnürtem Zeitungspapier zum Vorschein.

Die Verpackung war aufgeplatzt, darin ein ganzer menschlicher Arm von der Schulter bis zur Hand, der im Wasser eine bleiche Farbe und die Konsistenz von totem Fisch angenommen hatte.

 

Depoil, Wachtmeister im 3. Quartier ganz am Ende des Quai de Jemmapes, beendete gerade seine Nachtschicht, als sich die große Gestalt des älteren Naud im Türrahmen abzeichnete.

»Ich liege mit der Péniche Les deux frères vor der Schleuse von Récollets. Wie wir losfahren wollen, blockiert die Schraube, weil ein Arm von einem Mann drin steckt.«

Depoil, der seit fünfzehn Jahren im 10. Arrondissement Dienst tat, reagierte so ungläubig wie jeder Polizist, der von dem Fall erfuhr:

»Von einem Mann?«

»Ja, von einem Mann, braun behaart …«

Von Zeit zu Zeit wurde im Canal Saint-Martin eine Leiche gefunden, und fast immer war eine Schiffsschraube der Auslöser. Die Leichen waren meist männlich und ganz, ein alter Clochard zum Beispiel, der nach einem Glas zu viel in den Kanal gefallen war, oder ein von einer rivalisierenden Bande erstochener Gangster.

Zerstückelte Leichen gab es auch, durchschnittlich zwei oder drei pro Jahr, aber so weit Wachtmeister Depoil zurückdenken konnte, waren diese ausnahmslos weiblich gewesen. Und man wusste auch immer gleich, wo man suchen musste, denn in mindestens neun von zehn Fällen handelte es sich um Prostituierte der untersten Kategorie, die sich oft nachts an den Quais herumtrieben.

»Lustmord«, stand dann als Fazit im Polizeibericht.

Die Polizei kannte die Fauna des Viertels und führte Buch über zweifelhafte Personen und verdächtige Subjekte. Nach ein paar Tagen war der Übeltäter meist gefasst, egal ob es sich um Ladendiebstahl oder bewaffneten Raubüberfall handelte. Mörder gingen ihnen allerdings seltener ins Netz.

»Haben Sie ihn mit?«

»Den Arm?«

»Ja, wo ist er?«

»Am Quai. Können wir weiterfahren? Wir müssen zum Quai de l’Arsenal, dort warten sie schon auf uns zum Löschen.«

Der Wachtmeister steckte sich eine Zigarette an und meldete den Vorfall erst einmal an die Notrufzentrale, dann ließ er sich die Privatnummer von Mon- sieur Magrin geben, dem Kommissar des Viertels.

»Tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe. Aber gerade hat ein Flussschiffer einen Arm aus dem Kanal gezogen … Nein! Von einem Mann! … Das hab ich mir auch gedacht … Wie bitte? … Ja, er steht vor mir, ich frag ihn gleich …«

Ohne den Hörer loszulassen, wandte er sich an Naud.

»Ob er so aussieht, als würde er schon länger im Wasser liegen?«

Naud der Ältere kratzte sich am Kopf.

»Hängt davon ab, was Sie mit ›länger‹ meinen.«

»Ob er stark verwest ist.«

»Schwer zu sagen. Zwei, drei Tage vielleicht, wenn Sie mich fragen.«

»Zwei, drei Tage vielleicht«, wiederholte der Wachtmeister in die Muschel.

Dann lauschte er eine Weile den Weisungen des Kommissars und spielte dabei mit seinem Stift.

»Können wir jetzt schleusen?«, fragte Naud noch einmal, nachdem Depoil aufgelegt hatte.

»Noch nicht. Es könnte nämlich sein, wie der Kommissar ganz richtig sagt, dass noch andere Teile an Ihrem Kahn dranhängen, die uns womöglich verloren gehen, wenn Sie weiterfahren.«

»Ich kann nicht ewig hier liegen! Hinter uns warten noch vier talfahrende Schiffe, die langsam ungeduldig werden!«

Der Wachtmeister hatte ein weiteres Gespräch angemeldet und wartete, dass jemand abnahm.

»Hallo, Victor! Hab ich dich geweckt? … Ach, du warst gerade beim Frühstück! Umso besser. Gibt Arbeit für dich.«

Victor Cadet wohnte nicht weit entfernt, in der Rue du Chemin-Vert. Und es verging kaum ein Monat, in dem seine Dienste nicht in Anspruch genommen wurden. Er war wohl derjenige, der die meisten Gegenstände unterschiedlichster Art, darunter auch menschliche Körper, aus der Seine und den Kanälen von Paris geholt hatte.

»Ich sag nur noch meinem Assistenten Bescheid«, erwiderte er.

Es war sieben Uhr morgens, als Madame Maigret, nach Seife duftend, gewaschen und angezogen, am Boulevard Richard-Lenoir Frühstück machte, während ihr Mann noch schlief. Um sechs Uhr hatten Lucas und Janvier am Quai des Orfèvres ihren Dienst angetreten, und es war Lucas, der als Erster von dem Fund im Kanal erfuhr.

»Komisch!«, brummelte er Richtung Janvier. »Die haben einen Arm aus dem Canal Saint-Martin gefischt, aber nicht von einer Frau.«

»Von einem Mann?«

»Ja, was denn sonst?«

»Hätt’ ja auch von einem Kind sein können.«

Das war schon vorgekommen, ein einziges Mal, vor drei Jahren.

»Sagen Sie dem Chef Bescheid?«

Lucas schaute auf die Uhr, überlegte kurz und schüttelte den Kopf.

»Eilt ja nicht. Lassen wir ihn in Ruhe seinen Kaffee trinken!«

Zehn Minuten vor acht hatte sich ein ziemlicher Auflauf um die Péniche Les Deux Frères gebildet, und ein Schutzmann musste die Neugierigen von einem Gegenstand abhalten, der unter einer Plane auf den Steinplatten des Quais lag. Victor Cadets Boot hatte soeben die Schleuse passiert und war dabei, anzulegen.

Cadet war ein Koloss, wahrscheinlich hatte er sich seinen Taucheranzug maßfertigen lassen. Sein Gehilfe dagegen war ein kleiner alter Mann, der bei der Arbeit Tabak kaute und den braunen Speichel in weitem Strahl ins Wasser spuckte.

Seine Aufgabe war es, die Leiter anzubringen, die Pumpe in Gang zu setzen und die riesige Kupferkugel über Victors Kopf zu stülpen und am Hals zu verschrauben.

Am Heck der Deux Frères standen zwei Frauen und fünf Kinder, allesamt weißblond; eine der Frauen war schwanger, die andere hielt ein Baby im Arm.

Die Sonne strahlte jetzt auf die Häuser am Quai de Valmy, und in ihrem heiteren hellen Licht konnte man sich nicht vorstellen, woher diese Gegend ihren finsteren Ruf hatte. Gut, die Fassaden waren nicht frisch gestrichen, das Weiß oder Gelb schon etwas verblasst, aber an diesem Märzmorgen lag eine Leichtigkeit über dem Ganzen wie auf einem Bild von Utrillo.

Auf den vier Frachtkähnen, die hinter Les Deux Frères warteten, trocknete Wäsche an der Leine, versuchte man Kinder zu beruhigen, und Teergeruch überlagerte die weit unangenehmeren Ausdünstungen des Kanals.

Um Viertel nach acht ereilte Maigret, der sich nach seiner zweiten Tasse Kaffee gerade den Mund abwischte, um seine erste Pfeife zu rauchen, der Anruf von Lucas.

»Ein Männerarm, sagst du?«

Auch er war erstaunt.

»Sonst wurde nichts gefunden?«

»Victor, der Taucher, ist schon an der Arbeit. Sie müssen die Schleuse so schnell wie möglich freigeben, sonst gibt’s Stau im Kanal.«

»Wer war denn bisher zuständig?«

»Judel.«

Judel war Inspektor im 10. Arrondissement, ein farbloser, aber gewissenhafter Beamter, dem man vertrauen konnte, was die ersten Feststellungen betraf.

»Wollen Sie dort vorbeischauen, Chef?«

»Ist ja kein großer Umweg.«

»Soll einer von uns nachkommen?«

»Wer ist denn alles im Büro?«

»Janvier, Lemaire … Warten Sie! Lapointe kommt gerade herein.«

Maigret zögerte. Auch hier schien die Sonne, sie hatten sogar das Fenster ein wenig geöffnet. Vielleicht war die Sache ja bedeutungslos und ohne jedes Geheimnis, dann könnte sich Judel weiter darum kümmern. Aber man weiß ja nie, vor allem wenn man ganz am Anfang steht! Wäre es ein Frauenarm gewesen, hätte Maigret darauf gewettet, dass der Rest nur noch Routine war.

Da es sich jedoch um einen Männerarm handelte, war alles möglich. Und wenn sich der Fall als kompliziert erwiese und er beschließen sollte, die Untersuchung selbst in die Hand zu nehmen, würde der Verlauf der kommenden Tage auch von der Entscheidung abhängen, die er jetzt treffen musste, denn es war ihm am liebsten, wenn er die Ermittlungen mit dem Inspektor weiter- und zu Ende führte, mit dem er sie begonnen hatte.

»Schick Lapointe!«, sagte er schließlich.

Es war eine Weile her, dass er enger mit Lapointe zusammengearbeitet hatte, dessen jugendliche Begeisterung ihn ebenso erheitern konnte wie seine betretene Miene, wenn er meinte, einen Fehler begangen zu haben.

»Soll ich dem Chef Bescheid sagen?«

»Ja. Ich komme bestimmt zu spät zum Rapport.«

Es war der 23. März. Zwei Tage zuvor hatte offiziell der Frühling begonnen, und jetzt war er schon zu spüren, was selten war zu dieser Zeit; fast hätte Maigret ohne Mantel das Haus verlassen.

Am Boulevard Richard-Lenoir nahm er sich ein Taxi. Es gab keinen direkten Autobus zum Fundort, und das Wetter war nicht dazu angetan, sich in der Metro zu verkriechen. Wie erwartet, war Maigret vor Lapointe an der Schleuse und traf dort Inspektor Judel an, der sich über das schwarze Wasser des Kanals beugte.

»Noch was gefunden?«

»Nein, Chef, bisher nicht. Aber Victor schwimmt noch einmal um das Schiff herum, um sicherzustellen, dass nichts mehr dranhängt.«

Zehn Minuten später hatte es auch Lapointe zum Fundort geschafft und stieg, just als helle Blasen im trüben Wasser Victors baldiges Auftauchen ankündigten, aus einem kleinen schwarzen Wagen der Kriminalpolizei.

Victors Gehilfe schraubte eilends den Kupferhelm ab, und der Taucher zündete sich als Erstes eine Zigarette an. Dann blickte er sich um, erkannte Maigret und winkte ihm freundlich zu.

»Nichts?«

»Nicht in diesem Abschnitt.«

»Kann die Deux Frères weiterfahren?«

»Ja, da ist sicher nichts dran außer Schlick.«

»Schmeiß den Motor an!«, rief Robert Naud, der das Gespräch mitgehört hatte, seinem Bruder zu.

»Haben Sie die Aussagen der beiden?«, fragte Maigret nun Judel.

»Ja, und unterschrieben haben sie auch. Außerdem liegen sie noch mindestens vier Tage am Quai de l’Arsenal, um die Ladung zu löschen.«

Das war nicht weit entfernt, nur gut zwei Kilometer den Kanal hinunter, zwischen Seine und Bastille.

Es dauerte eine Weile, das Schiff, dessen übervoller Bauch an der Kanalsohle schrappte, wieder in Fahrt zu bringen, aber irgendwann war es in der Schleuse, und die Tore schlossen sich.

Die Menge verlief sich allmählich. Ein paar Übriggebliebene, die offenbar nichts zu tun hatten, würden wohl noch den ganzen Tag herumlungern.

Victor hatte immer noch seinen Gummianzug an.

»Wenn es noch Teile gibt, finden wir die weiter oben. Beine, Rumpf und Kopf sind schwerer als ein Arm und treiben nicht so leicht ab.«

Zumindest an der Oberfläche war keine Bewegung zu erkennen, der Müll ruhte still auf dem Wasser.

»Klar gibt es im Kanal keine Strömung wie in einem Fluss. Trotzdem bilden sich über die gesamte Strecke fast unsichtbare Wirbel um die Schleusen.«

»Wir müssten also die Suche bis zur nächsten Schleuse ausdehnen?«

»Die Stadt zahlt, also sagen Sie, was zu tun ist!«, erklärte Victor zwischen zwei Zügen aus seiner Zigarette.

»Dauert das lange?«

»Das hängt davon ab, wo ich den Rest finde. Sofern er überhaupt im Kanal liegt, natürlich.«

Warum sollte jemand einen Teil der Leiche in den Kanal werfen und den Rest irgendwo im Gelände verteilen?

»Weitermachen!«, befahl Maigret.

Cadet gab seinem Gehilfen einen Wink, das Boot etwas weiter oben festzumachen, und wartete auf seinen Kupferhelm.

Maigret nahm Judel und Lapointe beiseite. Neugierige beobachteten das Dreiergrüppchen auf dem Quai mit jenem Respekt, den man Vertretern der Obrigkeit unbewusst zollt.

»Für alle Fälle sollten Sie die Brachen und Baustellen in der näheren Umgebung absuchen lassen.«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Judel. »Ich wollte nur noch Ihre Anweisungen abwarten.«

»Wie viele Männer haben Sie zur Verfügung?«

»Für den Vormittag zwei. Nachmittags vielleicht drei.«

»Versuchen Sie herauszufinden, ob es in den letzten Tagen hier in der Gegend irgendwelche Auseinandersetzungen gab, ob jemand vielleicht Schreie oder Hilferufe gehört hat.«

»Mach ich, Chef.«

Maigret ließ den uniformierten Polizisten stehen, um sich nun dem Arm zu widmen, der immer noch unter der Plane lag.

»Kommst du, Lapointe?«

Der Kommissar ging auf die knallgelb gestrichene Bar an der Ecke zu und öffnete die Tür zum Chez Popaul. Am Tresen machten ein paar Arbeiter im Blaumann Pause.

»Was darf ich bringen?«, fragte der Wirt beflissen.

»Haben Sie ein Telefon?«

Im selben Moment sah er es. Ein Wandapparat, nicht in einer Kabine, sondern direkt neben dem Tresen.

»Komm, Lapointe!«

Er hatte keine Lust, in aller Öffentlichkeit zu telefonieren.

»Wollen Sie gar nichts trinken?«, maulte Popaul.

»Später!«, versprach ihm der Kommissar.

So weit der Blick reichte, wechselten am Quai einstöckige Baracken mit Mietskasernen, Fabriken und großen Bürogebäuden aus Beton.

»Wir finden schon noch ein Bistro mit Telefonkabine.«

Sie gingen eine Weile den Bürgersteig entlang und sahen auf der anderen Seite des Kanals die blaue Laterne und die verblichene Fahne des Polizeireviers vor der dunklen Silhouette des Hôpital Saint-Louis.

Nach fast dreihundert Metern fanden sie ein düsteres kleines Bistro. Der Kommissar stieß die Tür auf, dann ging es zwei steinerne Stufen hinunter, und sie standen auf einem Fliesenboden aus lauter kleinen, dunkelroten Quadraten wie in den Häusern von Marseille.

Der Raum war leer – bis auf einen großen roten Kater am Ofen, der sich träge erhob, zu einer halb offenen Tür ging und verschwand.

»Ist da wer?«, rief Maigret.

Das hektische Ticktack einer Kuckucksuhr war zu hören. Der Geruch von Schnaps und Weißwein lag in der Luft, mehr Schnaps als Wein, mit einem Hauch Kaffee.

In einem Hinterzimmer bewegte sich etwas, dann erklang eine matte Frauenstimme.

»Gleich!«

Die niedrige Decke des verrauchten Lokals war mit der Zeit ebenso schwarz geworden wie die Wände, und das Halbdunkel wurde nur von ein paar Sonnenstrahlen durchbrochen wie bei einem Kirchenfenster.

Essen rund um die Uhr!, stand hingekrakelt auf einem Karton an der Wand, und ein anderes Schild ergänzte:

Selbstverpflegung erlaubt!

Noch schien das keinen anzusprechen, Maigret und Lapointe waren offenbar die ersten Gäste des Tages. In der Ecke stand eine Telefonkabine. Doch Maigret wollte auf die Wirtin warten.

Beim Eintreten steckte sie noch die letzten Nadeln in ihr dunkles, fast schwarzes Haar. Sie war mager, alterslos, zwischen vierzig und fünfundvierzig vielleicht, und schlurfte mit mürrischem Gesichtsausdruck auf Filzpantoffeln über die roten Fliesen.

»Was nehmen Sie?«

Maigret sah Lapointe an.

»Ist Ihr Weißwein genießbar?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Zwei Gläser Weißen! Und haben Sie einen Jeton für mich?«

Er schloss sich in der Kabine ein und rief im Büro des Staatsanwalts an, um mündlich Bericht zu erstatten. Dessen Stellvertreter, der am anderen Ende den Hörer abnahm, war genauso verblüfft wie alle anderen, als er erfuhr, dass der aus dem Kanal gefischte Arm zu einem Mann gehörte.

»Der Taucher sucht weiter im Kanal. Seiner Meinung nach müsste der Rest, so es einen gibt, weiter oben liegen. Mir persönlich wäre es wichtig, dass Doktor Paul den Arm so bald wie möglich untersucht.«

»Kann ich Sie zurückrufen? Ich versuche umgehend, ihn zu erreichen, und gebe Ihnen dann gleich Bescheid.«

Maigret las ihm die Nummer vor, die auf dem Apparat stand, und begab sich zum Tresen, auf dem zwei volle Gläser standen.

»Auf Ihr Wohl!«, sagte er zur Wirtin.

Es sah nicht so aus, als hätte sie ihm zugehört, sie betrachtete die beiden Männer ohne jede Sympathie und wartete anscheinend nur darauf, dass sie wieder gingen, um sich ihrer ursprünglichen Beschäftigung, wahrscheinlich ihrer Morgentoilette, zu widmen.

In ihrer Jugend war sie wohl hübsch. Jedenfalls musste sie, wie jeder Mensch, auch einmal jung gewesen sein. Nun aber sprach aus ihren Augen, ihrem Gesicht, ihrem ganzen Körper nur noch Müdigkeit. Vielleicht war sie krank und fürchtete einen Anfall? Menschen, die wissen, dass sie immer wieder eine Zeit des Leidens durchleben, haben manchmal so einen teilnahmslosen und gleichzeitig angespannten Gesichtsausdruck, wie Süchtige, die der nächsten Dosis entgegenfiebern.

»Ich warte noch auf einen Rückruf«, murmelte Maigret, wie zur Entschuldigung.

Obwohl das Lokal ja ein öffentlicher, gewissermaßen anonymer Ort war wie alle Bars oder Bistros, hatten die beiden das Gefühl, zu stören, als wären sie in eine Welt eingedrungen, in der sie nichts zu suchen hatten.

»Ihr Wein ist gut«, sagte Maigret, und das stimmte.

Die meisten Pariser Bistros bieten einen sogenannten Landwein an, der aber meist in Bercy zusammengepanscht wird. Dieser dagegen trug den Duft eines Terroirs, den Maigret zu entziffern versuchte.

»Sancerre?«, fragte er.

»Nein. Er kommt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Poitiers.«

Deshalb schmeckte er im Abgang nach Feuerstein!

»Haben Sie dort Familie?«

Sie antwortete nicht, und Maigret bewunderte ihre Fähigkeit, stumm und reglos hinterm Tresen zu stehen und die beiden Männer davor mit ausdruckslosem Gesicht zu mustern. Der Kater war zurück und strich jetzt um ihre nackten Beine.

»Und Ihr Mann?«

»Ist grad welchen holen.«

Wein holen, meinte sie wohl. Es war nicht einfach, das Gespräch aufrechtzuerhalten, und just als er ihr ein Zeichen gab nachzuschenken, erlöste ihn das Klingeln des Telefons.

»Ja, ich bin dran! Konnten Sie Paul erreichen? Hat er Zeit? In einer Stunde? Gut! Ich komme.«

Danach verdüsterte sich das Gesicht des Kommissars. Er hatte gerade erfahren, dass der Fall Untersuchungsrichter Coméliau zugeteilt werden würde, dem schlimmsten Nörgler und Opportunisten der Staatsanwaltschaft, einer Art Intimfeind des Kommissars.

»Er verlangt ausdrücklich, dass Sie ihn ständig auf dem Laufenden halten.«

»Ich weiß.«

Coméliau würde ihn fünf- bis sechsmal täglich anrufen, und er müsste jeden Morgen in seinem Büro zum Rapport antreten.

»Nun gut«, seufzte er. »Ich gebe mein Bestes.«

»Was hätte ich tun sollen, Kommissar? Er war der einzig verfügbare Richter …«

Die Sonnenstrahlen fielen jetzt etwas schräger herein und streiften Maigrets Glas.

»Wir gehen!«, murmelte er und nahm sein Geld aus der Tasche. »Was bin ich Ihnen schuldig?«

Im Gehen fragte er Lapointe:

»Bist du mit dem Wagen da?«

»Er steht noch bei der Schleuse.«

Lapointes Wangen waren vom Wein gerötet, und seine Augen glänzten. Von Weitem schon sahen sie eine Gruppe Schaulustiger am Quai, die jede Bewegung des Tauchers verfolgten. Als sie dort ankamen, zeigte Victors Gehilfe ihnen hinten im Boot ein Paket, das größer war als das erste.

»Bein mit Fuß«, erläuterte er, nachdem er ins Wasser gespuckt hatte.

Die Verpackung war weniger zerfleddert als beim ersten, aber Maigret verspürte nicht das Bedürfnis, sich näher damit zu befassen.

»Meinst du, wir sollten einen Leichenwagen anfordern?«, fragte er Lapointe.

»Nein, unser Kofferraum ist groß genug!«

Die Vorstellung gefiel keinem von beiden, aber sie wollten den Pathologen nicht warten lassen, mit dem sie in der Gerichtsmedizin verabredet waren, einem lichten, modernen Gebäude am Seineufer, unweit der Einmündung des Kanals.

»Was soll ich tun?«, fragte Lapointe.

Maigret sagte lieber nichts, während der Inspektor, der seinen Ekel nur mit Mühe unterdrückte, die beiden Pakete nacheinander im Kofferraum verstaute.

»Stinkt das?«, fragte der Kommissar, als Lapointe wieder zu ihm zurückkam.

Der hielt die Hände weit weg vom Körper und nickte naserümpfend.

 

Doktor Paul, mit weißem Kittel und Gummihandschuhen, war Kettenraucher. Er pflegte zu behaupten, Tabak sei eines der besten Desinfektionsmittel, und manchmal verqualmte er während einer Autopsie zwei seiner blauen Päckchen.

Er entfaltete Begeisterung, ja sogar Humor bei der Arbeit. Rauchend über den Marmortisch gebeugt, erläuterte er zwischen den Zügen: