Maigret und die widerspenstigen Zeugen - Georges Simenon - E-Book

Maigret und die widerspenstigen Zeugen E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Ein grauer Herbst drückt Maigret aufs Gemüt. Außerdem steht seine Pensionierung kurz bevor, was die Stimmung auch nicht gerade aufhellt, ganz zu schweigen von dem Fall, mit dem er befasst ist: Keksfabrikant Lachaume wurde erschossen aufgefunden, seine Verwandten hüllen sich in Schweigen, und die Atmosphäre im Haus der Familie könnte kaum trister sein. Alles nur halb so wild, wäre da nicht der junge Untersuchungsrichter Angelot, der nichts auf seine brandneuen Ermittlungsmethoden kommen lässt.

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Der 53. Fall

Georges Simenon

Maigret und die widerspenstigen Zeugen

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Heiko Arntz

Kampa

1

»Hast du deinen Regenschirm nicht vergessen?«

»Nein.«

Gleich würde sich die Tür schließen, und Maigret wandte den Kopf schon der Treppe zu.

»Du solltest lieber deinen Schal umbinden.«

Seine Frau lief, um ihn zu holen, nicht ahnend, dass dieser kleine Satz ihn verdrießlich und melancholisch stimmen würde.

Es war erst November – der 3. November –, und es war nicht besonders kalt. Doch aus einem tiefhängenden grauen Himmel fiel diese Art von Regen, die, besonders am frühen Morgen, feuchter und hinterhältiger wirkte als gewöhnlicher Regen. Als er vorhin aufgestanden war, hatte er das Gesicht verzogen, denn sein Nacken schmerzte, wenn er den Kopf drehte. Es war keine regelrechte Nackenstarre, aber doch eine empfindliche Verspannung.

Am Abend zuvor, als sie aus dem Kino gekommen waren, hatten sie noch einen Spaziergang auf den Boulevards gemacht, obwohl es auch da schon geregnet hatte.

Das alles war ganz ohne Belang, und doch genügte die Erwähnung des Schals – vielleicht auch, weil es ein dicker Schal war, den seine Frau gestrickt hatte –, dass Maigret sich alt fühlte.

Als er die Treppe hinunterging, auf der sich feuchte Schuhabdrücke abzeichneten, und dann auf der Straße, unter dem aufgespannten Schirm, musste er wieder an ihre Worte vom Vorabend denken: In zwei Jahren würde er pensioniert werden.

Der Gedanke gefiel ihnen. Sie hatten davon gesprochen, dass sie auf dem Land leben würden, in der Gegend um Meung-sur-Loire, die sie beide liebten.

Ein barhäuptiger Junge lief an ihm vorbei und stieß ihn an, ohne sich zu entschuldigen. Ein junges Ehepaar ging Arm in Arm unter einem gemeinsamen Schirm. Sie arbeiteten gewiss in Büros, die dicht beieinander lagen. Der Sonntag war öder gewesen als üblich. Vielleicht weil es Allerseelen gewesen war. Er hätte schwören können, dass er noch immer den Duft der Chrysanthemen roch. Von ihrem Fenster aus hatten sie gesehen, wie sich Familien auf den Weg zu den Friedhöfen machten. Sie selbst hatten niemanden in Paris, dessen Grab sie besuchen konnten.

An der Ecke des Boulevard Voltaire, wo er auf seinen Bus wartete, wurde er noch mürrischer, als er das schwere Gefährt näher kommen sah. Es hatte keine Plattform mehr, sodass er nicht draußen stehen konnte und obendrein seine Pfeife ausmachen musste.

Aber solche Tage kannte wohl jeder, oder nicht?

Wenn nur die beiden Jahre schon um wären, dann bräuchte er keinen Schal mehr, um frühmorgens im Regen durch ein Paris zu fahren, das an diesem Tag so schwarz und weiß aussah wie ein Stummfilm.

Im Bus saßen lauter junge Leute, von denen ihn einige erkannten und andere keine Notiz von ihm nahmen.

Auf dem Quai war es windiger, der Regen kälter. Er eilte in die zugige Toreinfahrt des Polizeipräsidiums, dann ging er die Treppe hinauf. Der unverwechselbare Geruch des Hauses und der fahle Schein der Lampen, die noch brannten, empfingen ihn wie stets, und mit einem Mal stimmte ihn der Gedanke traurig, dass er dies schon bald missen sollte.

Der alte Joseph, der auf rätselhafte Weise der Pensionierung entgangen zu sein schien, grüßte ihn mit verschwörerischer Miene und raunte:

»Inspektor Lapointe erwartet Sie, Herr Kommissar.«

Wie jeden Montag hielten sich im Wartezimmer und in dem breiten Flur viele Leute auf. Einige Unbekannte; zwei oder drei junge Frauen, über deren Anwesenheit man sich nur wundern konnte; vor allem aber »Stammkunden«, die man immer wieder vor einer der Türen stehen sah.

Er ging in sein Büro, hängte seinen Mantel in den Schrank, seinen Hut und den berühmten Schal, zögerte, den Schirm zu öffnen und ihn zum Trocknen in eine Ecke zu stellen, wie Madame Maigret es ihm empfahl, und stellte ihn dann schließlich ebenfalls in den Schrank.

Es war noch nicht ganz halb neun. Post wartete auf seiner Schreibunterlage. Er öffnete die Tür zum Büro der Inspektoren, hob die Hand, um Lucas, Torrence und zwei oder drei andere zu begrüßen.

»Sagt Lapointe, dass ich da bin.«

Gleich würde es einer dem anderen zuraunen, dass der Chef seinen schlechten Tag habe, was jedoch nicht ganz stimmte. Manchmal sind es gerade die Tage, an denen man verstimmt, mürrisch und gereizt gewesen ist, die einem, wenn man später an sie zurückdenkt, als die glücklichsten erscheinen.

»Guten Morgen, Chef.«

Lapointe war blass, doch seine vom Schlafmangel geröteten Augen glänzten vergnügt. Er zitterte geradezu vor Ungeduld.

»Es ist geschafft! Ich habe ihn!«

»Wo ist er?«

»In dem Verschlag am Ende des Flurs. Torrence bewacht ihn.«

»Um wie viel Uhr?«

»Um vier.«

»Hat er etwas gesagt?«

»Ich habe Kaffee kommen lassen, dann gegen sechs Frühstück für zwei. Wir haben uns wie alte Freunde unterhalten.«

»Hol ihn.«

Es war ein guter Fang. Grégoire Brau, genannt »der Geduldige« oder auch »der Domherr«, trieb seit Jahren sein Unwesen, ohne dass es ihnen gelungen war, ihn auf frischer Tat zu ertappen.

Ein einziges Mal, vor zwölf Jahren, hatte man ihn erwischt, weil er zu lange geschlafen hatte, doch nach abgesessener Strafe hatte er seine Tätigkeit unverändert wieder aufgenommen.

Er betrat das Büro, begleitet von einem Lapointe, der triumphierte, als ob er die größte Forelle oder den größten Hecht des Jahres geangelt hätte, und blieb verlegen vor Maigret stehen, der in seine Post vertieft war.

»Setz dich.«

Während der Kommissar einen Brief zu Ende las, fügte er hinzu: »Hast du Zigaretten?«

»Ja, Monsieur Maigret.«

»Du kannst rauchen.«

Es war ein dicker Kerl von dreiundvierzig Jahren, der sicherlich schon fettleibig gewesen war, als er noch zur Schule ging. Er hatte eine helle, rosige Haut, die sich leicht in Rot verwandelte, eine Knollennase, ein Doppelkinn und einen kindlichen Mund.

»Hat man dich also endlich gekriegt.«

»Ja, hat man.«

Das erste Mal hatte Maigret ihn selbst verhaftet. Sie waren sich seitdem oft begegnet und hatten sich jedes Mal ohne Groll begrüßt.

»Das warst wieder du!«, pflegte der Kommissar dann zu sagen, in Anspielung auf eine Wohnung, in die gerade eingebrochen worden war.

Statt es abzuleugnen, lächelte der Domherr bescheiden. Man konnte ihm nichts beweisen, doch obwohl er nie auch nur einen Fingerabdruck hinterließ, trugen alle Einbrüche unverkennbar seine Handschrift.

Er arbeitete allein und bereitete jede Tat mit großer Geduld vor. Er war die Ruhe in Person, ein Mann ohne Laster, ohne Leidenschaften, ohne Nerven.

Die meiste Zeit saß er in der Ecke einer Bar, eines Cafés oder eines Restaurants, wo er so tat, als ob er eine Zeitung läse oder vor sich hinträumte, aber mit seinem feinen Gehör entging ihm nichts von dem, was um ihn her gesprochen wurde.

Er war auch ein eifriger Leser der Wochenzeitungen, deren Gesellschaftsspalte er sorgfältig studierte, sodass er stets sehr genau wusste, wo sich bestimmte Prominente gerade aufhielten.

Und eines schönen Tages wurde die Kriminalpolizei dann von einer bekannten Persönlichkeit angerufen, einem Schauspieler oder Filmstar etwa, der bei seiner Rückkehr aus Hollywood, London, Rom oder Cannes feststellen musste, dass in seiner Wohnung eingebrochen worden war. Noch ehe der Betreffende die Geschichte zu Ende erzählt hatte, pflegte Maigret zu fragen:

»Und der Kühlschrank?«

»Geleert.«

Mit dem Weinkeller war es das Gleiche. Man konnte außerdem sicher sein, dass das Bett zerwühlt war und dass der Einbrecher Pyjama, Morgenmantel und Pantoffeln des Hausherrn benutzt hatte.

Es war die Handschrift des Domherrn. Schon seit seinen Anfängen mit zweiundzwanzig Jahren machte er es so, vielleicht weil er damals wirklich Hunger gelitten und sich nach einem weichen Bett gesehnt hatte. Wenn er sicher war, dass eine Wohnung mehrere Wochen lang unbewohnt, auch das Hauspersonal auf Urlaub war und die Concierge nicht den Auftrag hatte, hinaufzugehen und zu lüften, verschaffte er sich Zutritt, ohne dafür eine Brechstange zu benutzen, denn er kannte das Geheimnis aller Schlösser.

War er erst einmal in der Wohnung, dann raffte er nicht in aller Eile Wertgegenstände, Schmuckstücke, Bilder und dergleichen zusammen, sondern richtete sich für eine Weile häuslich ein, so lange meistens, wie die vorhandenen Lebensmittelvorräte reichten.

Nach seinem Verschwinden fand man dann bis an die dreißig leere Konservenbüchsen und natürlich auch eine hübsche Anzahl geleerter Flaschen. Er las. Er schlief. Er benutzte das Badezimmer geradezu mit Wollust, ohne dass andere Mieter auch nur das Geringste von seiner Anwesenheit bemerkten.

Wenn er dann in seine eigene Behausung zurückkehrte, nahm er sein übliches Leben wieder auf, begab sich nur abends in eine anrüchige Bar in der Avenue des Ternes, wo er Belote spielte und wo man ihn, weil er allein arbeitete und nie mit seinen Taten prahlte, respektvoll und misstrauisch zugleich betrachtete.

»Hat sie Ihnen geschrieben, oder hat sie angerufen?«

Er stellte diese Frage mit einer Melancholie, die derjenigen Maigrets ähnelte, als er vorhin das Haus verlassen hatte.

»Wovon sprichst du?«

»Das wissen Sie genau, Monsieur Maigret. Sonst hätten Sie mich nicht gekriegt. Ihr Inspektor« – er wandte sich Lapointe zu – »war schon im Treppenhaus, bevor ich dort ankam, und ich nehme an, ein Kollege von ihm stand auf der Straße. Stimmt’s?«

»Ja, das stimmt.«

Nicht nur eine Nacht, sondern zwei Nächte hatte Lapointe auf der Treppe eines Hauses in Passy verbracht, in dem ein gewisser Monsieur Ailevard eine Wohnung besaß. Ailevard war nach London gefahren, wo er sich zwei Wochen aufhalten wollte. Die Zeitungen hatten von seiner Reise berichtet, denn er hatte mit einem Film zu tun und mit einer sehr bekannten Schauspielerin.

Brau stürmte nicht sofort in die Wohnungen, sobald ihre Besitzer fort waren. Er nahm sich Zeit und traf seine Vorsichtsmaßnahmen.

»Ich verstehe nicht, wieso ich Ihren Inspektor nicht bemerkt habe. Tja! Das soll mir eine Lehre sein … Hat sie Sie angerufen?«

Maigret schüttelte den Kopf.

»Hat sie Ihnen geschrieben?«

Maigret nickte.

»Sie können mir den Brief wohl nicht zeigen? Sie hat bestimmt ihre Schrift verstellt.«

Nicht einmal. Aber warum ihm das sagen?

»Ich habe es immer geahnt, ohne es glauben zu wollen – eines Tages musste es passieren. Sie ist ein Luder, verzeihen Sie meine Ausdrucksweise. Aber ich kann ihr nicht einmal böse sein … Ich bekomme mindestens zwei Jahre, oder?«

All die Jahre hatte man geglaubt, er habe nichts mit Frauen. Seines Äußeren wegen hänselten ihn manche und behaupteten, er habe gute Gründe für sein züchtiges Verhalten.

Mit einundvierzig Jahren heiratete er dann plötzlich eine gewisse Germaine, die zwanzig Jahre jünger war als er und die man seitdem kaum noch in der Avenue de Wagram auf und ab gehen sah.

»Hast du dich standesamtlich mit ihr trauen lassen?«

»Auch kirchlich. Sie ist eine Bretonin. Ich nehme an, sie ist schon zu Henri gezogen?«

Er sprach vom »blauäugigen Henri«, einem jungen Zuhälter.

»Er ist zu dir gezogen.«

Brau entrüstete sich nicht darüber, klagte das Schicksal nicht an. Er gab sich selber alle Schuld.

»Wie viel bekomme ich?«

»Zwei bis fünf Jahre. Hat Inspektor Lapointe deine Aussage zu Protokoll genommen?«

»Er hat notiert, was ich ihm erzählt habe.«

Das Telefon klingelte.

»Hallo! Kommissar Maigret.«

Maigret hörte zu, runzelte die Stirn.

»Wiederholen Sie bitte den Namen.«

Er zog einen Notizblock heran und schrieb: Lachaume.

»Quai de la Gare? … In Ivry? … Gut … Ist ein Arzt am Tatort? … Der Mann ist wirklich tot?«

Der Domherr war schlagartig unwichtig geworden, und er schien es zu spüren. Ohne dazu aufgefordert zu sein, erhob er sich.

»Sie haben gewiss etwas anderes zu tun …«

Maigret wandte sich an Lapointe.

»Bring ihn ins Untersuchungsgefängnis, und dann geh schlafen.«

Er öffnete seinen Schrank, um Mantel und Hut herauszunehmen, besann sich dann anders und reichte dem dicken Mann mit dem rosigen Gesicht die Hand.

»Es ist nicht unsere Schuld, mein Lieber.«

»Ich weiß.«

Er ließ den Schal im Schrank. Im Büro der Inspektoren wählte er Janvier aus, der gerade erst gekommen war und noch nicht bei der Arbeit saß.

»Du kommst mit mir.«

»Ja, Chef.«

»Du, Lucas, rufst die Staatsanwaltschaft an. Am Quai de la Gare in Ivry ist ein Mann durch einen Schuss in die Brust getötet worden. Er heißt Lachaume. Die Keksfabrik Lachaume …«

Der Name weckte in ihm Erinnerungen, die bis in seine Kindheit auf dem Land zurückreichten. Damals fand man in jedem schlecht beleuchteten Dorfladen, wo man auch Bohnen, Gummistiefel und Nähgarn bekam, in Zellophan verpackte Schachteln mit der Aufschrift: Keksfabrik Lachaume. Es gab Lachaume-Butterkekse und Lachaume-Waffeln, die im Übrigen den gleichen, etwas pappigen Geschmack hatten.

Seitdem hatte er nie wieder davon gehört. Er hatte auch keinen der Kalender mehr gesehen, auf denen ein kleiner Junge mit übertrieben roten Backen und einem dümmlichen Lächeln zu sehen war, der eine Lachaume-Waffel aß, und nur noch ganz selten fand sich in irgendeinem gottverlassenen Provinznest der mehr oder weniger verblasste Namenszug an einer Hauswand.

»Und verständige den Erkennungsdienst, hörst du?«

»Ja, Chef.«

Lucas hatte schon den Telefonhörer in der Hand. Maigret und Janvier gingen die Treppe hinunter.

»Nehmen wir den Wagen?«

Maigrets melancholische Stimmung war in der Atmosphäre des Polizeialltags verflogen. Die Pflicht rief, und er grübelte nicht mehr über sein Leben nach und quälte sich nicht mit Fragen.

Sonntage sind gefährlich. Im Wagen fragte er, während er sich eine Pfeife ansteckte, die ihm wieder schmeckte:

»Kennst du die Lachaume-Kekse?«

»Nein, Chef.«

»Natürlich, dafür bist du zu jung.«

Vielleicht waren sie auch in Paris nie im Handel gewesen. Es gab viele Waren, die nur für die ländlichen Gebiete hergestellt wurden. Man sah auch Marken, die aus der Mode gekommen waren, aber denen eine bestimmte Kundschaft auf dem Land noch immer die Treue hielt. Er erinnerte sich an Aperitifs, die in seiner Jugend berühmt gewesen waren und die man jetzt nur noch in einsam gelegenen Gasthöfen bekam.

Nachdem sie die Brücke überquert hatten, konnten sie nicht weiter am Quai entlangfahren, der hier eine Einbahnstraße war. Janvier musste mehrere Umwege nehmen, bevor sie gegenüber von Charenton wieder an die Seine gelangten. Am anderen Ufer sah man die Wein-Markthallen und links einen Zug, der gerade auf einer Eisenbrücke über den Fluss fuhr. Dort, wo es einst nur einfache Landhäuser und Bauplätze gegeben hatte, ragten jetzt sechs- oder siebenstöckige Mietshäuser auf, mit Läden und Kneipen im Erdgeschoss. Aber hier und dort gab es noch Lücken, Brachland, Werkstätten, zwei oder drei niedrige Häuser.

»Welche Nummer?«

Maigret nannte sie ihm, und sie hielten vor einem Haus, das mit seinen beiden Etagen aus Naturstein und Ziegeln einmal eine elegante Villa gewesen sein musste und hinter dem sich ein hoher Schornstein erhob, der an einen Fabrikschlot erinnerte. Vor der Tür parkte ein Wagen. Ein Polizist ging auf dem Bürgersteig auf und ab.

Es war schwer zu sagen, ob man sich noch in Paris oder schon in Ivry befand. Vermutlich bildete die Straße, an der sie eben vorübergekommen waren, die Grenze zwischen den beiden Gemeinden.

»Guten Tag, Herr Kommissar. Die Tür ist nicht verschlossen. Man erwartet Sie oben.«

Es war eine grün gestrichene Toreinfahrt, in die eine kleine Tür eingelassen war. Die beiden Männer gelangten in einen Gewölbegang ähnlich dem am Quai des Orfèvres, mit dem Unterschied, dass dieser am anderen Ende von einer Tür mit Milchglasscheiben versperrt war. Eine der Scheiben war herausgebrochen und durch Pappe ersetzt.

Es war kalt hier und feucht. Zu beiden Seiten gab es Türen. Maigret überlegte, welche er öffnen sollte, entschloss sich dann für die rechte, die gewiss die richtige war, denn er sah eine Art Halle, von der aus eine breite Treppe hinaufführte.

Die einst weißen Wände waren vergilbt und dunkel gefleckt. Hier und dort war der Putz abgebröckelt. Die drei ersten Stufen waren aus Marmor, die anderen aus Holz. Sie schienen seit einer Ewigkeit nicht gekehrt worden zu sein und knarrten unter ihren Schritten.

Dies alles erinnerte Maigret an gewisse Amtsstellen, wo man beim Eintreten unwillkürlich das Gefühl hatte, sich in der Tür geirrt zu haben. Hätten er oder Janvier etwas gesagt, hätten sie dann ein Echo ihrer Stimmen gehört?

Im ersten Stock bewegte sich etwas. Jemand beugte sich über das Geländer. Es war ein noch junger Mann mit müdem Gesicht, der sich vorstellte, sobald Maigret den Treppenabsatz erreichte.

»Legrand, Sekretär vom Kommissariat Ivry … Der Herr Kommissar erwartet Sie schon.«

Wieder eine Halle, Marmorfliesen, ein Fenster ohne Vorhänge, durch das man die Seine und den Regen sah.

Es war ein weitläufiges Haus, mit Türen zu allen Seiten und Fluren wie in einem Amtsgebäude, mit der gleichen trostlosen Atmosphäre eines solchen und dem gleichen Geruch nach uraltem Staub.

Am Ende eines schmaleren Flurs klopfte der Sekretär links an eine Tür und öffnete sie. Man sah in ein Schlafzimmer, wo es so dunkel war, dass der Kommissar die Lampe hatte brennen lassen.

Dieses Zimmer ging auf den Hof. Durch die verstaubten Musselingardinen fiel der Blick auf den Schornstein, den Maigret schon von außen bemerkt hatte. Er kannte den Kommissar von Ivry nur flüchtig. Der Mann gehörte nicht zu seiner Generation und drückte ihm mit übertriebenem Respekt die Hand.

»Als ich den Anruf erhalten habe, bin ich sofort gekommen …«

»Ist der Arzt schon fort?«

»Ja, er hatte einen Notfall. Ich hielt es nicht für notwendig, ihn aufzuhalten. Der Gerichtsarzt wird sowieso jeden Augenblick hier sein.«

Der Tote lag auf dem Bett. Außer dem Polizeikommissar befand sich niemand in dem Zimmer.

»Die Angehörigen?«

»Ich habe ihnen gesagt, sie sollen auf ihre Zimmer gehen oder in den Salon. Ich dachte, es wäre Ihnen lieber …«

Maigret zog seine Uhr aus der Tasche. Es war Viertel vor zehn. »Wann hat man Sie benachrichtigt?«

»Vor etwa einer Stunde. Ich war gerade ins Büro gekommen. Jemand hat meinen Sekretär angerufen und gebeten, dass ich hier vorbeikomme.«

»Wissen Sie wer?«

»Ja, der Bruder, Armand Lachaume.«

»Kennen Sie ihn?«

»Nur dem Namen nach. Er war ein paarmal auf dem Kommissariat wegen der Beglaubigung einer Unterschrift oder irgendeiner anderen Formalität. Es sind Leute, mit denen man nicht viel zu tun hat.«

Die Bemerkung verwunderte Maigret. Leute, mit denen man nicht viel zu tun hat. Er verstand, denn das Haus ebenso wie die Lachaume-Kekse schienen einer anderen Zeit anzugehören, schienen nichts mehr mit der modernen Welt zu tun zu haben. Seit Jahren hatte Maigret kein Schlafzimmer mehr wie dieses gesehen, das bis ins kleinste Detail aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen schien. Sogar einen Waschtisch mit Schubladen gab es, und auf der grauen Marmorplatte sah man eine Waschschüssel, eine Kanne aus Steingut mit Blumenmuster und Schalen aus dem gleichen Steingut für die Seife und für die Kämme.

Die Möbel und anderen Gegenstände waren an sich durchaus nicht hässlich. Einige hätten zweifellos bei einer Versteigerung oder bei einem Antiquar einen ganz guten Preis erzielt, aber so, wie sie hier herumstanden, hatten sie etwas Tristes und Bedrückendes. Es war, als wäre irgendwann vor langer Zeit das Leben hier zum Stillstand gekommen, nicht das des auf dem Bett liegenden Mannes, sondern das Leben des Hauses, das Leben der Welt, und selbst der Fabrikschornstein hinter den Vorhängen wirkte lächerlich und altmodisch mit seinem großen L aus schwarzen Ziegeln.

»Wurde etwas entwendet?«

»Zwei oder drei Schubladen waren aufgezogen. Vor dem Schrank lagen Krawatten und Wäschestücke auf dem Boden.

Eine Brieftasche, in der ein größerer Geldbetrag war, scheint verschwunden zu sein.«

»Wer ist der Mann?«

Maigret deutete auf den Toten. Die Laken und Decken waren zerwühlt. Das Kopfkissen war heruntergerutscht, ein Arm hing heraus. Man sah Blut auf dem Pyjama, der durch den Schuss zerrissenen oder versengt war.

Maigret, der am Morgen an das Schwarz-Weiß der Stummfilme gedacht hatte, fühlte sich hier in diesem Zimmer an die alten Sonntagszeitungen erinnert, als man noch keine Fotos brachte, sondern Zeichnungen, mit denen das dramatische Ereignis der Woche illustriert wurde.

»Léonard Lachaume, der älteste Sohn.«

»Verheiratet?«

»Witwer.«

»Wann ist es passiert?«

»Heute Nacht. Laut Doktor Voisin ist der Tod gegen zwei Uhr eingetreten.«

»Wer befand sich im Haus?«

»Warten Sie … Die Alten, der Vater und die Mutter im Stock darüber, im linken Flügel … Das macht zwei … Der Junge …«

»Was für ein Junge?«

»Der Sohn des Toten. Zwölf Jahre alt … Im Augenblick ist er in der Schule.«

»Trotz der Tragödie?«

»Als er um acht Uhr zum Gymnasium gegangen ist, wusste man offenbar noch von nichts.«

»Es hat also niemand etwas gehört? Wer war noch im Haus?«

»Das Dienstmädchen. Ich glaube, sie heißt Catherine. Sie schläft oben in der Nähe der Alten und des Jungen. Scheint aus der gleichen Zeit zu stammen wie das Haus. Reichlich verwittert … Und dann der jüngere Bruder, Armand.«

»Der Bruder von wem?«

»Von dem Toten. Sein Zimmer und das seiner Frau liegt auf der anderen Seite des Flurs.«

»Sie waren alle heute Nacht hier? Und der laute Knall hat niemanden geweckt?«

»Sie behaupten es. Ich habe ihnen nur wenige Fragen stellen können. Es ist schwierig. Sie werden sehen.«

»Was ist schwierig?«

»Etwas aus ihnen herauszubekommen. Als ich ankam, wusste ich nicht, worum es geht. Armand Lachaume, der, der mich angerufen hat  … Er hat mir unten die Tür aufgemacht. Er wirkte verschlafen. Ohne mich anzusehen, hat er gesagt:

›Mein Bruder ist ermordet worden, Herr Kommissar.‹

Er hat mich hierhergeführt und mir das Bett gezeigt. Ich habe ihn gefragt, wann es passiert sei, und er hat geantwortet, er habe nicht die leiseste Ahnung.

Ich habe nachgehakt:

›Waren Sie im Haus?‹

›Wo sollte ich sonst gewesen sein? Ich habe in meinem Zimmer geschlafen.‹«

Der Polizeikommissar schien mit sich selbst unzufrieden zu sein. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Gewöhnlich, wenn sich eine solche Tragödie in einer Familie ereignet, sind alle bei der Leiche. Die Leute weinen. Andere wollen einem alles erklären, reden eher zu viel als zu wenig …

In diesem Fall brauchte ich eine ganze Zeit, um zu erfahren, dass die beiden Männer nicht allein im Haus waren.«

»Haben Sie die übrigen Angehörigen gesehen?«

»Die Frau.«

»Die Frau von Armand, der Sie angerufen hat?«

»Ja. Ich habe ein Rascheln im Flur gehört. Ich habe die Tür geöffnet, und da stand sie. Sie hatte gelauscht. Sie sah ebenso müde aus wie ihr Mann, wirkte aber nicht verlegen. Ich habe sie gefragt, wer sie sei, und Armand hat für sie geantwortet:

›Das ist meine Frau.‹

Ich wollte wissen, ob sie in der Nacht etwas gehört habe, und sie hat gesagt, nein, sie nehme immer irgendwelche Tabletten, um schlafen zu können.«

»Wer hat die Leiche entdeckt und wann?«

»Das alte Dienstmädchen, um Viertel vor acht.«

»Haben Sie sie gesehen?«

»Ja. Sie ist jetzt wohl wieder in der Küche. Ich