Maigret und Inspektor Griesgram - Georges Simenon - E-Book

Maigret und Inspektor Griesgram E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Ein Notruf aus dem 18. Arrondissement lässt Maigret aufhorchen. "Ich sch... auf die Polizei", tönt es aus dem Hörer, dann folgt ein Schuss. Die Leiche liegt gleich neben der Notrufsäule in der Rue Lamarck. Am Tatort trifft Maigret auf den eigentlich zuständigen Inspektor Lognon, der mit diesem Fall endlich Ruhm ernten will. Lognon, besser bekannt als Inspektor Griesgram, ist wenig begeistert von Maigrets Anwesenheit. Notgedrungen machen sich die beiden ungleichen Kollegen gemeinsam an die Arbeit ... Maigrets 101. Fall spielt im Pariser Stadtteil Montmartre

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Der 101. Fall

Georges Simenon

Maigret und Inspektor Griesgram

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Bärbel BrandsMit einem Nachwort von Jean Améry

Kampa

1Ein Herr, der ebenso auf sein Leben pfeift wie auf die Polizei

Der junge Mann schob den Kopfhörer ein wenig von den Ohren zurück.

»Wo war ich gerade, Onkel Jules? … Ach, ja … Als die Kleine aus der Schule zurückkam und meine Frau die roten Flecken an ihrem Körper sah, dachte sie zunächst, es sei Scharlach und …«

Es war nicht möglich, einen längeren Satz zu Ende zu bringen. Immer wieder leuchtete auf dem riesigen Stadtplan von Paris, der ein gewaltiges Stück Wand einnahm, ein Lämpchen auf. Diesmal im 13. Arrondissement, und Daniel, Maigrets Neffe, schob den Stecker in eine der Buchsen der Fernsprechanlage und murmelte:

»Was gibt es?«

Er hörte gleichgültig zu und wiederholte für den Kommissar, der auf einer Tischecke saß:

»Schlägerei zwischen zwei Arabern in einem Bistro an der Place d’Italie …«

Gerade wollte er den Bericht über seine Tochter fortsetzen, als wieder eine Lampe aufleuchtete.

»Hallo! … Wie? … Autounfall am Boulevard de la Chapelle?«

Hinter den gardinenlosen hohen Fenstern sah man den Regen in Strömen niedergehen, ein Sommerregen, der die Nacht mit seinen langen, fließenden Fäden hell schraffierte. Maigret fühlte sich wohl in dem großen Raum der Notrufzentrale, in den er geflüchtet war, auch wenn es dort ein wenig stickig war.

Kurz zuvor war er in seinem Büro am Quai des Orfèvres gewesen. Er erwartete einen Anruf aus London, bei dem es um einen international gesuchten Betrüger ging, den seine Inspektoren in einem Luxushotel an den Champs-Élysées aufgespürt hatten. Der Anruf konnte ebenso gut um Mitternacht wie um ein Uhr morgens eingehen, und Maigret, der nichts anderes zu tun hatte, langweilte sich in seinem Büro.

Also hatte er die Vermittlung angewiesen, alle für ihn bestimmten Gespräche an die Notrufzentrale auf der anderen Straßenseite weiterzuleiten, und war, um ein wenig zu plaudern, zu seinem Neffen gegangen, der gerade Nachtdienst hatte.

Maigret hatte diesen weitläufigen Raum immer gemocht, der so still und sauber war wie ein Labor und von dem die meisten Pariser nichts wussten, obwohl er doch das Herz der Stadt war.

An jeder Kreuzung in Paris gibt es rot lackierte Apparate mit einer Scheibe, die man nur einschlagen muss, um sowohl mit dem Polizeirevier des Viertels als auch der Zentrale verbunden zu werden.

Sobald irgendjemand aus diesem oder jenem Grund um Hilfe ruft, leuchtet eins der Lämpchen auf dem riesengroßen Stadtplan auf, und der diensthabende Beamte hört den Ruf im selben Augenblick wie der Polizist des nächstgelegenen Reviers. Unten, im dunklen, stillen Hof des Hauptkommissariats stehen zwei Mannschaftswagen mit Polizisten bereit, um im Ernstfall auszurücken. In sechzig Polizeirevieren warten weitere Mannschaftswagen sowie Polizisten auf Fahrrädern.

Wieder blinkte ein Lämpchen.

»Selbstmordversuch mit Veronal in einer Pension in der Rue Blanche«, wiederholte Daniel.

So zeichnet sich Tag und Nacht das tragische Hauptstadtleben durch das Aufleuchten kleiner Lämpchen auf einer Wand ab. Kein Wagen, keine Streife verlässt auch nur eins der Polizeireviere, ohne dass der Anlass der Zentrale gemeldet wird.

Maigret hatte immer behauptet, die jungen Inspektoren müssten mindestens ein Jahr ihrer Dienstzeit in diesem Raum verbringen, um etwas über die Geografie des Verbrechens der Hauptstadt zu lernen. Er selbst kam gern für ein oder zwei Stunden hierher, wenn er nichts anderes zu tun hatte.

Einer der anwesenden Polizeibeamten aß gerade Brot und Wurst. Daniel fuhr fort:

»Sie hat sofort Doktor Lambert angerufen, und als er eine halbe Stunde später eintraf, waren die roten Flecken verschwunden. Es war nichts weiter als ein Nesselausschlag … Hallo! …«

Soeben leuchtete ein Lämpchen im 18. Arrondissement auf. Eine direkte Verbindung. Jemand hatte an dem Apparat, der an der Ecke Rue Caulaincourt und Rue Lamarck stand, die Scheibe eingeschlagen.

Für einen Neuling ist das ziemlich beeindruckend … Man sieht die Kreuzung in der Nacht verlassen vor sich liegen, den Regen, der wie Bindfäden das Dunkel durchsetzt, das feuchte Pflaster, Pfützen, in denen sich das Licht der Straßenlaternen spiegelt, weiter weg ein paar erleuchtete Cafés und einen Mann oder eine Frau, die auf den Apparat zustürzt, vielleicht taumelt und verfolgt wird, jemanden, der Angst hat oder Hilfe braucht und sich hastig ein Taschentuch um die Hand wickelt, um die Scheibe einzuschlagen …

Maigret, der unwillkürlich seinen Neffen anblickte, sah, wie dieser die Stirn runzelte. Im Gesicht des jungen Mannes zeichnete sich Erstaunen und dann Entsetzen ab.

»Großer Gott, Onkel Jules …«, stammelte er.

Er hörte noch einen Augenblick zu und stöpselte dann um.

»Hallo! Ist dort das Revier in der Rue Damrémont? … Sind Sie es, Dambois? Haben Sie den Anruf gehört? … Es ist ein Schuss gefallen, nicht wahr? … Ja, mir kam es auch so vor … Was sagen Sie? … Ihr Wagen ist schon unterwegs?«

Mit anderen Worten: In weniger als drei Minuten würden die Polizisten vor Ort sein, denn die Rue Damrémont liegt ganz in der Nähe der Rue Caulaincourt.

»Entschuldige bitte, Onkel Jules … Aber das kam so unerwartet … Ich habe zuerst eine Stimme gehört, die rief: ›Die Polizei kann mich mal am …!‹

Und gleich darauf einen Schuss …«

»Bitte richte dem Polizisten in der Rue Damrémont aus, dass ich auf dem Weg bin. Sie sollen nichts anrühren.«

Und schon eilte Maigret durch die verlassenen Flure, die Treppe hinunter auf den Hof und schwang sich in einen der kleinen schwarzen Polizeiwagen, die für die Inspektoren bereitstanden.

Es war erst Viertel nach zehn.

»Rue Caulaincourt … Schnell!«

Genau genommen ging ihn der Fall gar nichts an. Die Polizei des Viertels war zur Stelle, und erst wenn sie ihren Bericht geschickt hatte, würde man entscheiden, ob sich die Kriminalpolizei damit befassen musste. Maigret folgte seiner Neugier. Außerdem hatte er sich, noch während Daniel sprach, an etwas erinnert.

Zu Beginn des letzten Winters – es war im Oktober, und es regnete ebenso heftig wie in dieser Nacht – war er um elf Uhr abends noch in seinem Büro gewesen, als das Telefon läutete.

»Kommissar Maigret?«

»Ja, bitte?«

»Ist da wirklich Kommissar Maigret am Apparat?«

»Sicher …«

»Sie können mich mal am …!«

»Wie bitte?«

»Ich sage, Sie können mich mal am …! Ich habe gerade vom Fenster aus die beiden Polizisten abgeknallt, die Sie vor dem Haus abgestellt haben … Es hat keinen Sinn, andere zu schicken … Sie werden mich sowieso nicht kriegen …«

Ein Schuss …

Der polnische Akzent des Mannes hatte Maigret genug gesagt.

Das Geschehen musste sich in einem kleinen Hotel an der Ecke Rue de Birague und Faubourg Saint-Antoine zugetragen haben, wohin ein gefährlicher polnischer Verbrecher geflüchtet war, der mehrere Bauernhöfe im Norden Frankreichs überfallen hatte.

Tatsächlich hatten zwei Polizisten das Hotel bewacht, denn Maigret wollte den Mann im Morgengrauen eigenhändig verhaften.

Einer der Inspektoren war auf der Stelle tot, der andere nach fünfwöchigem Krankenhausaufenthalt wieder genesen. Der Pole hatte sich während des Telefongesprächs mit dem Kommissar eine Kugel in den Kopf gejagt.

Diese merkwürdige Übereinstimmung hatte Maigret in dem weitläufigen Raum der Notrufzentrale stutzig gemacht. In seinen über zwanzig Berufsjahren hatte er nur einen einzigen Fall dieser Art erlebt, in dem jemand am Telefon Beleidigungen ausstieß und sich dann umbrachte.

War es nicht merkwürdig, dass sich in einem Abstand von ungefähr sechs Monaten der gleiche Vorfall wiederholte, zumindest ein ganz ähnlicher?

Das kleine Auto fuhr durch Paris und erreichte den Boulevard Rochechouart mit seinen hell erleuchteten Kinos und Tanzlokalen. Aber gleich hinter der Kreuzung der Rue Caulaincourt, die ziemlich steil bergab geht, war es still, geradezu ausgestorben. Hin und wieder fuhr ein Autobus durch die Straße, und einsame Fußgänger eilten über die regennassen Gehsteige.

An der Ecke der Rue Lamarck waren die Umrisse einer kleinen Gruppe dunkler Gestalten auszumachen. Der Polizeiwagen hatte ein paar Meter weiter gehalten. Leute standen an den Fenstern, Conciergen in den Hauseingängen; im strömenden Regen hatten sich nur wenige Schaulustige eingefunden.

»Bonsoir, Dambois.«

»Bonsoir, Kommissar.«

Dambois deutete auf einen Umriss auf dem Gehsteig, weniger als einen Meter vom Notrufmelder entfernt. Ein Mann kniete neben dem ausgestreckten Körper; man hatte einen Arzt aus der Nachbarschaft herbeirufen können. Dabei waren seit dem Schuss kaum zwölf Minuten verstrichen.

Der Arzt richtete sich auf und erkannte die unverwechselbare Gestalt Maigrets.