Maigret und sein Revolver - Georges Simenon - E-Book

Maigret und sein Revolver E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Es kommt nicht oft vor, dass Madame Maigret ihren Gatten im Büro anruft. Der Kommissar ist alarmiert. Ein junger Mann warte am Boulevard Richard-Lenoir auf ihn. Doch als Maigret zu Hause ankommt, ist der Besucher verschwunden – und mit ihm Maigrets Revolver, ein Smith & Wesson. Was hat der Dieb damit vor? Als dann noch eine Leiche in einem Koffer auftaucht, ist die Verwirrung perfekt. Maigret hat keine Zeit zu verlieren: Er muss einen Mord aufklären und einen weiteren verhindern. Die Ermittlungen führen ihn bis nach London ins vornehme Savoy Hotel.

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Der 40. Fall

Georges Simenon

Maigret und sein Revolver

Roman

Kampa

1Wo Maigret zu spät zum Mittagessen kommt und ein Gast beim Abendessen fehlt

Wenn Maigret später an diese Untersuchung zurückdachte, kam sie ihm immer noch ein wenig ungewöhnlich vor, wie diese Krankheiten, die nicht richtig ausbrechen, sondern mit einem vagen Unbehagen, einem Zwicken hier und da und Symptomen beginnen, die zu mild sind, als dass man ihnen Beachtung schenkt.

Es begann weder mit einer Anzeige bei der Kriminalpolizei noch mit einem Anruf in der Notrufzentrale, auch nicht mit einem anonymen Hinweis, sondern – um so weit wie möglich auszuholen – schlicht mit einem Anruf von Madame Maigret.

Die Pendeluhr aus schwarzem Marmor auf dem Kaminsims in seinem Büro zeigte zwanzig Minuten vor zwölf. Maigret sah die Stellung der Zeiger auf dem Zifferblatt noch deutlich vor sich. Das Fenster stand weit offen, denn es war Juni. Paris roch in der heißen Sonne nach Sommer.

»Bist du’s?«

Natürlich hatte seine Frau seine Stimme erkannt, aber sie fragte immer, ob er am Apparat sei, nicht aus Misstrauen, sondern weil sie sich beim Telefonieren nach wie vor etwas ungeschickt anstellte. Am Boulevard Richard-Lenoir standen die Fenster wahrscheinlich auch offen. Madame Maigret war um diese Zeit mit dem Großteil der Hausarbeit fertig. Es kam selten vor, dass sie ihn anrief.

»Ja, ich höre.«

»Ich wollte dich fragen, ob du zum Mittagessen nach Hause kommst.«

Noch seltener rief sie ihn an, um ihm diese Frage zu stellen. Er hatte die Stirn gerunzelt, nicht verärgert, sondern überrascht.

»Warum?«

»Ach, nichts. Oder, na ja, hier wartet jemand auf dich.«

Er spürte, dass sie verlegen war, fast schuldbewusst.

»Wer?«

»Niemand, den du kennst. Nichts Wichtiges. Ich möchte ihn nur nicht warten lassen, falls du nicht kommst.«

»Ein Mann?«

»Ein junger Mann.«

Sie hatte ihn vermutlich ins Wohnzimmer geführt, das sie sonst fast nie betraten. Das Telefon befand sich im Esszimmer, wo sie sich für gewöhnlich aufhielten und gute Freunde empfingen. Dort hatte Maigret seine Pfeifen, seinen Sessel und Madame Maigret ihre Nähmaschine. An ihrer gehemmten Art zu sprechen merkte er, dass sie nicht gewagt hatte, die Tür zwischen den beiden Zimmern zu schließen.

»Wer ist es?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was will er?«

»Das weiß ich auch nicht. Es geht um etwas Privates.«

Er maß dem keine große Bedeutung bei. Nur wegen ihrer Befangenheit und auch weil es ihm so vorkam, als hätte sie den Besucher bereits unter ihre Fittiche genommen, erkundigte er sich genauer.

»Ich denke, ich gehe gegen zwölf aus dem Büro«, sagte er schließlich.

Nur noch eine Person wollte ihn sprechen, eine Frau, die ihn schon drei- oder viermal aufgesucht und ihm von Drohbriefen einer Nachbarin berichtet hatte. Er klingelte nach dem Bürodiener:

»Bring sie rein!«

Dann zündete er sich eine Pfeife an und lehnte sich schicksalergeben in seinem Sessel zurück.

»Nun, Madame, haben Sie wieder einen Brief erhalten?«

»Zwei, Herr Kommissar. Ich habe sie mitgebracht. Wie Sie gleich sehen werden, gesteht sie in dem einen, dass sie meine Katze vergiftet hat, und droht damit, dass mir bald dasselbe blühe, wenn ich nicht ausziehe.«

Die Zeiger auf dem Zifferblatt rückten sehr langsam vor. Er musste so tun, als nähme er die Sache ernst. Es dauerte eine knappe Viertelstunde. Als er sich gerade erhob, um seinen Hut aus dem Schrank zu holen, klopfte es an der Tür:

»Sind Sie beschäftigt?«

»Was machst du denn in Paris?«

Es war Lourtie, einer seiner ehemaligen Inspektoren, den man zur mobilen Brigade nach Nizza versetzt hatte.

»Bin nur auf der Durchreise. Ich hatte Lust, mal wieder vorbeizuschauen und Ihnen die Hand zu schütteln. Haben Sie Zeit für einen Pastis in der Brasserie Dauphine?«

»Na ja, einen auf die Schnelle.«

Er mochte Lourtie, diesen hageren Kerl mit der Stimme eines Kirchensängers. In der Brasserie, wo sie sich an die Theke stellten, waren noch ein paar andere Inspektoren. Man sprach über dieses und jenes. Der Geschmack des Pastis war genau das Richtige an einem Tag wie diesem. Sie tranken einen, dann einen zweiten und einen dritten.

»Jetzt muss ich aber los. Ich werde zu Hause erwartet.«

»Kann ich Sie ein Stück begleiten?«

Sie gingen zusammen über den Pont-Neuf, Lourtie und er, dann bis zur Rue de Rivoli, wo Maigret gut fünf Minuten warten musste, bis er ein Taxi fand. Es war zehn vor eins, als er endlich die drei Stockwerke am Boulevard Richard-Lenoir hinaufstieg. Wie immer öffnete sich die Tür seiner Wohnung, bevor er dazu kam, den Schlüssel aus der Tasche zu ziehen.

Sofort fiel ihm die beunruhigte Miene seiner Frau auf. Da die Türen offen standen, fragte er leise:

»Wartet er noch?«

»Er ist gegangen.«

»Weißt du nicht, was er wollte?«

»Er hat’s mir nicht gesagt.«

Wäre da nicht das sonderbare Verhalten seiner Frau gewesen, hätte er mit den Schultern gezuckt und gebrummt:

»Sei’s drum!«

Aber statt in die Küche zurückzugehen und das Essen zu bringen, folgte sie ihm ins Esszimmer und setzte dabei eine Miene auf, als hätte sie etwas zu beichten.

»Warst du heute Morgen im Wohnzimmer?«, fragte sie nach einer Weile.

»Ich? Nein. Warum?«

Warum sollte er auch vor der Arbeit ins Wohnzimmer gehen, das er scheußlich fand?

»Mir war nur so, als ob.«

»Was ist denn?«

»Nichts. Ich hab versucht, mich zu erinnern. Ich habe in der Schublade nachgesehen.«

»Welcher Schublade?«

»Die, in der du deinen Revolver aus Amerika aufbewahrst.«

Da erst dämmerte ihm die Wahrheit. Als er auf Einladung des FBI einige Wochen in den Vereinigten Staaten gewesen war, hatte man sich viel über Waffen unterhalten. Bei seiner Abreise hatten ihm die Amerikaner einen Revolver geschenkt, auf den sie sehr stolz waren, einen Smith & Wesson 45  Special mit kurzem Lauf und extrem empfindlichem Abzug. Auf der Waffe war sein Name eingraviert:

To J.-J. Maigret

from his FBI friends.

Er hatte den Revolver nie benutzt. Aber ausgerechnet am Tag zuvor hatte er ihn aus der Schublade genommen, um ihn einem Freund zu zeigen, oder vielmehr einem Bekannten, den er auf einen Digestif ins Wohnzimmer eingeladen hatte.

»Warum J.-J. Maigret?«

Diese Frage hatte er sich auch gestellt, als man ihm die Waffe bei einem Cocktailempfang überreicht hatte. Die Amerikaner, die gewöhnlich von beiden Vornamen Gebrauch machten, hatten sich nach seinen erkundigt. Zum Glück nur nach den ersten beiden: Jules-Joseph. In Wahrheit hatte er noch einen dritten: Anthelme.

»Willst du damit sagen, dass mein Revolver verschwunden ist?«

»Also, das war so …«

Bevor er sie ausreden ließ, ging er ins Wohnzimmer, in dem es noch nach Zigaretten roch. Er warf einen Blick auf den Kaminsims, auf den er am Abend zuvor die Waffe gelegt hatte, wie er sich erinnerte. Sie war nicht mehr da. Aber er war sicher, sie nicht weggeräumt zu haben.

»Wer war es denn?«

»Setz dich erst mal. Ich bring dir das Essen, sonst verkocht der Braten. Ärger dich nicht!«

Doch das tat er.

»Ich finde, es ist schon ein starkes Stück, dass du einen Fremden hier hereinlässt und …«

Sie ging hinaus und kam mit einer Schüssel wieder.

»Wenn du ihn gesehen hättest …«

»Wie alt?«

»Ein ganz junger Mann. Neunzehn? Vielleicht zwanzig?«

»Was wollte er von dir?«

»Er hat geklingelt. Ich war gerade in der Küche und dachte, es sei der Gasableser. Ich hab die Tür geöffnet. Er hat mich gefragt, ob er hier richtig bei Kommissar Maigret sei. An seinem Verhalten hab ich gemerkt, dass er mich für das Dienstmädchen hielt. Er war nervös und machte einen verängstigten Eindruck.«

»Und du hast ihn ins Wohnzimmer geführt?«

»Weil er meinte, er müsse dich unbedingt sprechen und dich um Rat fragen. Ich hab ihm empfohlen, in dein Büro zu gehen, aber es schien etwas Persönliches zu sein.«

Obwohl Maigret weiter sein mürrisches Gesicht machte, hätte er fast gelächelt. Er stellte sich den verängstigten jungen Mann vor, der Madame Maigret sofort leidgetan hatte.

»Was für ein Typ?«

»Ein guter Junge. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Kein Sohn aus reichem Haus, aber jemand, der sich zu benehmen weiß. Er hatte bestimmt geweint. Er hat ein Zigarettenpäckchen aus der Tasche gezogen, sich dann jedoch sofort entschuldigt. Ich hab darauf zu ihm gesagt:

›Sie können ruhig rauchen. Ich bin es gewohnt.‹

Dann hab ich ihm versprochen, dich anzurufen, um sicherzugehen, dass du nach Hause kommst.«

»Lag der Revolver da noch auf dem Kamin?«

»Ganz sicher. Ich hab ihn zwar in dem Augenblick nicht gesehen, aber ich weiß noch, dass er dort war, als ich gegen neun Staub gewischt habe. Sonst ist niemand hier gewesen.«

Er wusste, sie hatte den Revolver deshalb nicht wieder in die Schublade gelegt, weil sie sich nie an Schusswaffen hatte gewöhnen können. Auch wenn sie sicher gewesen wäre, dass der Revolver nicht geladen war, hätte sie ihn um nichts in der Welt angefasst.

Er sah die Szene vor sich. Seine Frau, die ins Esszimmer ging, leise mit ihm telefonierte, dann wiederkam und sagte:

›Er ist spätestens in einer halben Stunde da.‹

Maigret fragte:

»Hast du ihn allein gelassen?«

»Ich musste mich ums Mittagessen kümmern.«

»Wann ist er gegangen?«

»Das weiß ich eben nicht. In dem Moment musste ich Zwiebeln braten und hab solange die Küchentür zugemacht, damit der Geruch nicht durch die ganze Wohnung zieht. Dann bin ich ins Schlafzimmer gegangen, um mich schnell ein wenig zurechtzumachen. Ich dachte, er wär noch da. Vielleicht war er’s auch. Ich wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen und ins Wohnzimmer gehen. Erst als ich ihn um kurz nach halb eins noch um etwas Geduld bitten wollte, ist mir aufgefallen, dass er weg war. Bist du mir böse?«

Ihr deswegen böse sein?

»Was glaubst du denn, worum es ging? Er sah gar nicht wie ein Dieb aus.«

»Nein, das sicher nicht. Wie hätte ein Dieb wissen sollen, dass ausgerechnet an diesem Morgen ein Revolver auf dem Kaminsims im Wohnzimmer der Maigrets herumliegt?«

»Du machst so ein besorgtes Gesicht. War die Waffe geladen?«

»Nein.«

»Na dann?«

Eine dumme Frage. Wer sich einen Revolver beschafft, hat auch die Absicht, ihn zu benutzen. Maigret wischte sich den Mund ab, stand auf und ging zur Schublade, wo er die Patronen an ihrem Platz fand. Bevor er sich wieder setzte, rief er im Büro an:

»Bist du’s, Torrence? Kannst du die Waffenhändler in der Stadt anrufen? … Hallo! … Die Waffenhändler, ja … Frag, ob jemand bei ihnen Patronen für einen Smith & Wesson 45 Special gekauft hat … Wie? … 45 Special … Falls noch niemand da war, aber heute Nachmittag oder morgen früh jemand auftaucht, soll man ihn eine Weile dabehalten und das nächste Kommissariat benachrichtigen … Ja. Das ist alles … Ich komme wie üblich ins Büro.«

Als er gegen halb drei zum Quai des Orfèvres kam, hatte Torrence bereits eine Meldung erhalten. Ein junger Mann hatte sich an einen Waffenhändler am Boulevard Bonne-Nouvelle gewandt, der nicht die Munition des gewünschten Kalibers vorrätig und den Käufer zu Gastinne-Renette geschickt hatte. Der hatte ihm eine Packung verkauft.

»Hat der junge Mann die Waffe vorgezeigt?«

»Nein, er hatte ein Stück Papier bei sich, auf dem die Marke und das Kaliber standen.«

Maigret musste sich an diesem Nachmittag mit anderen Fällen befassen. Gegen fünf ging er ins Labor hoch. Jussieu, der Leiter, fragte ihn:

»Gehen Sie heute Abend zu Pardon?«

»Brandade de morue!«, antwortete Maigret. »Pardon hat mich vorgestern angerufen.«

»Mich auch. Ich glaube, Doktor Paul kann nicht kommen.«

In jeder Ehe gibt es Zeiten, in denen man sich häufig mit einem anderen Ehepaar trifft, bis man sich irgendwann grundlos aus den Augen verliert.

Seit ungefähr einem Jahr gingen die Maigrets einmal im Monat zum Abendessen zu den Pardons oder, wie sie sagten, zum »Ärzteessen«. Jussieu, der das Labor des Gerichtsmedizinischen Instituts leitete, hatte den Kommissar eines Abends zu Doktor Pardon zum Boulevard Voltaire mitgenommen.

»Sie werden schon sehen! Er wird Ihnen gefallen. Ein überaus scharfsinniger Mann übrigens, der einer unserer besten Spezialisten hätte werden können. Ich möchte fast sagen, auf jedem Gebiet. Er war erst Internist im Val-de-Grâce, dann Assistent von Lebraz und darauf fünf Jahre Internist im Sainte-Anne.«

»Und jetzt?«

»Jetzt ist er als Hausarzt tätig, weil’s ihm Freude macht. Er arbeitet täglich zwölf bis fünfzehn Stunden, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob seine Patienten ihn bezahlen können. Meistens vergisst er sogar, ihnen eine Rechnung zu schicken. Abgesehen von seinem Beruf ist Kochen seine einzige Leidenschaft.«

Zwei Tage später hatte Jussieu ihn angerufen.

»Essen Sie gern cassoulet?«

»Warum?«

»Pardon lädt uns für morgen ein. Es gibt bei ihm immer nur eine Mahlzeit, meistens irgendein regionales Gericht. Er will vorher wissen, ob seine Gäste es mögen.«

»Na gut, von mir aus cassoulet.«

Seitdem hatte es noch weitere Abendessen gegeben, unter anderem mit coq au vin, Couscous und Seezunge à la dieppoise.

Diesmal gäbe es provenzalischen Stockfisch. Wen sollte Maigret bei diesem Essen noch treffen? Pardon hatte ihn am Tag zuvor angerufen.

»Haben Sie übermorgen Zeit? Essen Sie gern brandade? Sind Sie für oder gegen Trüffeln?«

»Für.«

Sie hatten es sich angewöhnt, sich mit »Maigret« und »Pardon« anzureden, während die Frauen sich beim Vornamen nannten. Die beiden Ehepaare waren fast gleichaltrig. Jussieu dagegen war zehn Jahre jünger. Doktor Paul, der Gerichtsarzt, der oft dabei war, etwas älter.

»Sagen Sie, Maigret, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ein alter Mitschüler von mir dazukommt?«

»Warum sollte es mir etwas ausmachen?«

»Ich weiß nicht. Ehrlich gesagt, ich hätte ihn nicht eingeladen, wenn er mich nicht gebeten hätte, ihn mit Ihnen bekannt zu machen. Er war vorhin in meiner Sprechstunde – er ist nämlich auch mein Patient – und wollte unbedingt wissen, ob Sie auch mit Sicherheit kommen.«

Um halb acht abends streifte Madame Maigret, die ein geblümtes Kleid trug und einen fröhlichen Strohhut aufgesetzt hatte, ein Paar weiße Stoffhandschuhe über.

»Kommst du?«

»Sofort.«

»Denkst du immer noch an den jungen Mann?«

»Aber nein.«

Das Angenehme an diesen Abendessen war unter anderem, dass die Pardons nur fünf Minuten zu Fuß entfernt wohnten. In den Fenstern der oberen Stockwerke spiegelte sich die Sonne. Auf den Straßen roch es nach warmem Staub. Kinder spielten noch draußen, während Ehepaare Stühle auf die Gehwege gestellt hatten, um frische Luft zu schnappen.

»Geh nicht so schnell.«

Er ging ihr immer zu schnell.

»Bist du sicher, dass er es war, der die Patronen gekauft hat?«

Seit dem Morgen, vor allem seit er ihr von Gastinne-Renette berichtet hatte, plagte sie ein beklemmendes Gefühl.

»Denkst du etwa, dass er sich das Leben nehmen wird?«

»Können wir nicht von etwas anderem sprechen?«

»Er war so nervös. Die Zigarettenstummel im Aschenbecher waren ganz zerbröselt.«

Die Luft war lau. Maigret hielt seinen Hut in der Hand wie ein Sonntagsspaziergänger. Sie erreichten den Boulevard Voltaire und betraten in der Nähe des Platzes das Wohnhaus der Pardons. Sie nahmen den engen Fahrstuhl, der beim Anfahren immer dasselbe Geräusch machte. Madame Maigret zuckte wie üblich zusammen.

»Kommen Sie herein. Mein Mann sollte in wenigen Minuten da sein. Er ist gerade zu einem Notfall gerufen worden, aber ganz in der Nähe.«

Es kam selten vor, dass der Arzt während eines Essens nicht gestört wurde. Er sagte:

»Warten Sie nicht auf mich.«

Oft gingen sie tatsächlich wieder fort, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben.

Jussieu war schon da. Er saß allein im Wohnzimmer, wo ein großes Klavier stand und alle Möbel mit Spitzendeckchen verziert waren. Wenige Minuten später kam Pardon hereingestürmt und verschwand zunächst in der Küche.

»Ist Lagrange noch nicht da?«

Pardon war klein, ziemlich beleibt, hatte einen sehr großen Kopf und hervorstehende Augen.

»Einen Augenblick, gleich werde ich Ihnen etwas servieren, das es in sich hat!«

Bei ihm gab es jedes Mal eine Überraschung, sei es ein besonderer Wein, ein Likör oder, wie heute, ein Pineau des Charentes, den ihm ein Gutsbesitzer aus Jonzac geschenkt hatte.

»Nicht für mich«, wehrte Madame Maigret ab, die schon nach einem einzigen Glas beschwipst war.

Man plauderte. Auch hier standen die Fenster offen. Das Leben auf dem Boulevard floss in Zeitlupe vorüber. Die Luft schimmerte golden, das Licht wurde noch etwas intensiver und rötlicher.

»Ich frage mich, wo Lagrange bleibt.«

»Wer ist das?«

»Jemand, den ich von früher vom Lycée Henri-IV kenne. Wenn ich mich recht erinnere, ist er bereits nach der Neunten abgegangen. Er wohnte damals in der Rue Cuvier, gegenüber vom Jardin des Plantes. Sein Vater hat mir sehr imponiert, weil er Baron war oder es zumindest behauptete. Ich habe ihn lange Zeit aus den Augen verloren, über zwanzig Jahre. Erst vor ein paar Monaten ist er zu mir in die Sprechstunde gekommen, nachdem er geduldig gewartet hatte, bis er an der Reihe war. Ich hab ihn trotzdem sofort wiedererkannt.«

Er blickte auf seine Uhr, dann auf die Standuhr.

»Ich wundere mich nur, weil er unbedingt dabei sein wollte und jetzt nicht kommt. Wenn er in fünf Minuten nicht da ist, fangen wir ohne ihn an.«

Er schenkte nach. Madame Maigret und Madame Pardon sagten nichts. Madame Pardon war zwar dünn und die Frau des Kommissars eher rundlich, doch beide legten gegenüber ihren Männern dieselbe zurückhaltende Art an den Tag. Während des Essens ergriffen sie selten das Wort. Erst danach zogen sie sich in eine Ecke zurück, um zu tuscheln. Madame Pardon hatte eine lange, viel zu lange Nase. Daran musste man sich gewöhnen. Am Anfang war es unangenehm, ihr ins Gesicht zu blicken. Lag es an dieser Nase, wegen der man sie in der Schule wahrscheinlich gehänselt hatte, dass sie so bescheiden war und ihren Mann ansah, als wäre sie dankbar, dass er sie geheiratet hatte?

»Ich wette«, sagte Pardon, »alle hier haben einen Jungen oder ein Mädchen vom Schlag Lagranges in der Klasse gehabt. Unter zwanzig oder dreißig Jungen ist fast immer mindestens einer dabei, der schon mit dreizehn fettleibig und pausbäckig ist und dicke, rosige Beine hat.«

»In meiner Klasse war ich das«, warf Madame Maigret ein.

Und Pardon, ganz galant:

»Bei Mädchen verliert sich das. Oft werden das sogar die hübschesten. Wir haben François Lagrange ›Baby Cadum‹ genannt. Als damals das Bild dieses Riesenbabys an jeder Straßenecke hing, wurden bestimmt Tausende in den Schulen Frankreichs so von ihren Mitschülern genannt.«

»Hat er sich nicht verändert?«

»Die Proportionen sind natürlich nicht mehr dieselben. Aber er ist immer noch ein Pummelchen. Sei’s drum! Wir essen jetzt!«

»Warum rufen Sie ihn nicht an?«

»Weil er kein Telefon hat.«

»Wohnt er hier im Viertel?«

»Ganz in der Nähe, in der Rue Popincourt. Ich möchte wissen, was er eigentlich von Ihnen will. Neulich lag in meinem Sprechzimmer eine Zeitung mit Ihrem Bild auf der Titelseite …«

Pardon blickte Maigret an.

»Entschuldigen Sie, mein Lieber. Ich weiß nicht mehr, warum ich erwähnt habe, dass ich Sie kenne. Ich habe wohl durchblicken lassen, dass Sie ein Freund von mir sind.

›Ist er wirklich so, wie man sagt?‹, hat mich Lagrange gefragt.

Ich habe geantwortet, Sie seien jemand, der …«

»Der was?«

»Nicht so wichtig. Ich habe gesagt, was mir gerade so einfiel, während ich ihn weiter untersuchte. Er ist Diabetiker. Obendrein hat er Probleme mit den Drüsen. Er kommt zweimal die Woche, denn er ist sehr besorgt um seine Gesundheit. Beim nächsten Besuch hat er wieder von Ihnen gesprochen, wollte wissen, ob ich Sie oft treffen würde. Ich meinte, dass wir einmal im Monat zusammen zu Abend essen. Daraufhin hat er mich geradezu angefleht, dass ich ihn auch mal einlade. Das hat mich überrascht, denn seit dem Henri-IV hab ich ihn nur in meiner Praxis gesehen. Aber jetzt wollen wir essen.«

Der brandade war ein Meisterwerk. Pardon hatte einen trockenen Wein aus der Gegend von Nizza aufgetrieben, der wunderbar zum Stockfisch passte. Nachdem sie über gutgenährte Leute geredet hatten, kamen sie auf Rothaarige zu sprechen.

»Es stimmt, in jeder Klasse ist auch ein Rothaariger.«

Das lenkte das Gespräch auf die Gentheorie. Am Ende sprach man immer über Medizin. Madame Maigret wusste, dass das ihrem Mann gefiel.

»Ist er verheiratet?«

Beim Kaffee war man – warum auch immer – wieder auf Lagrange zu sprechen gekommen. Die Luft draußen war von einem dunklen, samtenen Blau, das allmählich das Rot der untergehenden Sonne verdrängt hatte. Dennoch hatten sie noch kein Licht angemacht. Durch die Glastür sah man das Balkongeländer mit den pechschwarzen, schmiedeeisernen Arabesken. Von einer fernen Straßenecke waren die Klänge eines Akkordeons zu hören. Auf einem Nachbarbalkon unterhielt sich ein Paar mit gedämpfter Stimme.

»Ja, das hat er mir erzählt, aber seine Frau ist schon lange tot.«

»Was macht er?«

»Geschäfte, wohl ziemlich undurchsichtige. Auf seiner Visitenkarte steht ›Unternehmensberater‹ mit einer Adresse in der Rue Tronchet. Als ich mich einmal mit ihm verabreden wollte, habe ich dort angerufen, aber man sagte mir, das Büro gäbe es schon seit Jahren nicht mehr.«

»Kinder?«

»Zwei oder drei. Er hat insbesondere von einem Mädchen geredet, wenn ich mich recht erinnere, und von einem Jungen, für den er gern eine Festanstellung finden würde.«

Man wandte sich von Neuem der Medizin zu. Jussieu, der im Sainte-Anne gearbeitet hatte, erzählte Anekdoten über Charcot. Madame Pardon strickte und erklärte Madame Maigret ein kompliziertes Muster. Sie schalteten das Licht ein. Ein paar Mücken schwirrten umher. Es war elf, als sich Maigret erhob.

An der Ecke des Boulevards trennten sie sich von Jussieu, der an der Place Voltaire die Metro nahm. Maigret war etwas flau im Magen vom Stockfisch, vielleicht auch vom Wein aus dem Süden.

Seine Frau hatte sich bei ihm eingehakt, was sie fast nur tat, wenn sie abends nach Hause gingen. Ihr lag etwas auf dem Herzen. Woran merkte er es? Sie hatte noch nichts gesagt, und doch wartete er darauf.

»Woran denkst du?«, fragte er schließlich.

»Du wirst auch nicht wütend?«

Er zuckte mit den Schultern.

»An den jungen Mann von heute Morgen. Wenn wir zu Hause sind, solltest du dich vielleicht erkundigen, ob auch nichts passiert ist.«

Sie benutzte diese Umschreibung, doch er verstand, was sie eigentlich meinte: »… ob er sich nicht das Leben genommen hat.«

Seltsam, Maigret hatte eine ganz andere Vorstellung von dem, was geschehen könnte. Es war nur ein Bauchgefühl, das jeder Grundlage entbehrte. An Selbstmord dachte er nicht. Er war ein wenig beunruhigt, wollte es sich aber nicht anmerken lassen.

»Was hatte er denn an?«

»Ich habe nicht auf seine Kleidung geachtet. Ich glaube, er hatte was Dunkles an, ich glaube, was Marineblaues.«

»Sein Haar?«

»Hell. Ziemlich blond.«

»Schlank?«

»Ja.«

»Gutaussehend?«

»Ziemlich. Würde ich sagen.«

Er hätte schwören können, dass sie eben rot geworden war.

»Weißt du, ich hab ihn nicht so genau angesehen. Ich erinnere mich vor allem an seine Hände, weil er nervös mit der Krempe seines Huts gespielt hat. Er wagte nicht, sich zu setzen. Ich musste ihm erst einen Stuhl hinschieben. Er schien fast darauf zu warten, dass ich ihn hinauswerfe.«

Zu Hause rief Maigret den Bereitschaftsdienst der Polizei an, bei dem alle Notrufe eingingen.

»Maigret hier. Gibt’s was Neues?«

»Nur ein paar Bercys, Chef.«

So nannte man die Betrunkenen wegen des Weinmarkts am Quai de Bercy.

»Sonst nichts?«

»Eine Schlägerei am Quai de Charenton. Warten Sie! Doch. Am späten Nachmittag hat man eine Ertrunkene aus dem Canal Saint-Martin gezogen.«

»Identifiziert?«

»Ja, ein Straßenmädchen.«

»Kein Selbstmord?«

Das fragte er seiner Frau zuliebe, die mit ihrem Hut in der Hand auf der Schwelle der Schlafzimmertür stand und zuhörte.

»Nein, bisher nicht. Soll ich Sie anrufen, falls sich was tut?«

Er zögerte. Er wollte nicht den Anschein erwecken, als würde er sich für diese Geschichte interessieren, besonders nicht vor seiner Frau.

»Ja, bitte …«