Maigret und sein Rivale - Georges Simenon - E-Book

Maigret und sein Rivale E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Untersuchungsrichter Victor Bréjon, ein Freund Maigrets, überredet den Kommissar, in die Vendée zu reisen, um einen Mord aufzuklären: Bréjons Schwager, ein wohlhabender und im Dorf unbeliebter Gutsbesitzer, soll einen jungen Mann getötet haben. Der Kommissar stößt auf eine Mauer des Schweigens – und begegnet zu seinem großen Unmut einem ehemaligen Kollegen vom Quai des Orfèvres: Justin Cavre, "Inspektor Cadavre" genannt, inzwischen Leiter einer Privatdetektei, hat sich bereits des Falls angenommen – und ist Maigret immer einen Schritt voraus.

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Der 24. Fall

Georges Simenon

Maigret und sein Rivale

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Julia Becker

Kampa

1Der abendliche Bummelzug

Maigret machte ein missmutiges Gesicht, was ihm, ohne dass er es beabsichtigte, jene falsche Würde und Bedeutsamkeit verlieh, die man manchmal in vielen langweiligen Stunden Zugfahrt entwickelt. Lange bevor der Zug verlangsamt, um in den Bahnhof einzufahren, treten Männer in weiten Mänteln und mit einer ledernen Aktentasche oder einem Koffer in der Hand aus ihren Abteilen heraus und bleiben im Gang stehen, mit einer Miene, die zeigt, dass sie einander nicht beachten, die Hand lässig auf die Metallstange am Fenster gelegt.

An der Scheibe liefen dicke Regentropfen herunter. Weil es dunkel war, sah Maigret durch diese Wasserschicht zuerst das Licht des Stellwerks in tausend Strahlen aufleuchten. Dann folgten weiter unten übergangslos gerade Straßen, die wie Kanäle glänzten, Häuser, die vollkommen gleich aussahen, Fenster, Türen, Gehwege und in all dem eine einzige menschliche Gestalt, ein Mann in einem Regenmantel, der Gott weiß wohin ging.

Maigret stopfte sich bedächtig und sorgfältig seine Pfeife. Um sie anzuzünden, stellte er sich in Fahrtrichtung. Zwischen ihm und dem Gang standen vier oder fünf Reisende, die wie er darauf warteten, dass der Zug hielt, um sich in die leeren Straßen zu verstreuen oder ins Bahnhofsbuffet zu eilen. Unter diesen Leuten erkannte er ein bleiches Gesicht, das sich schnell abwandte.

Es war Cadavre!

Die erste Reaktion des Kommissars war zu brummen:

»Tut so, als ob er mich nicht gesehen hätte, der Idiot!«

Aber dann runzelte er die Stirn. Wollte Inspektor Cavre etwa auch nach Saint-Aubin-les-Marais?

Der Zug bremste und kam im Bahnhof von Niort zum Stehen. Auf dem nassen, kalten Bahnsteig fragte Maigret einen Beamten:

»Wann geht der Zug nach Saint-Aubin?«

»Acht Uhr siebzehn, Gleis drei.«

Er hatte eine halbe Stunde Zeit. Nachdem er die Toiletten am Ende des Bahnsteigs aufgesucht hatte, stieß er die Tür zum Bahnhofsrestaurant auf, steuerte einen der vielen leeren Tische an und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er stellte sich darauf ein, seine restliche Wartezeit in diesem schummrigen Licht mit Nichtstun zu verbringen.

Auch Cadavre war da. Wie Maigret saß er an einem leeren Tisch genau am anderen Ende des Saals, und wieder tat er so, als bemerkte er ihn nicht.

Sein wirklicher Name war Cavre, Justin Cavre, natürlich nicht Cadavre, aber schon vor zwanzig Jahren hatte jemand ihm den Spitznamen »Inspektor Cadavre« verpasst, und bei der Kriminalpolizei nannten ihn immer noch alle so.

Es war lächerlich, wie er sich da in seiner Ecke mit verkrampftem Gesichtsausdruck regelrecht verrenkte, um nur ja nicht in Maigrets Richtung blicken zu müssen. Er wusste, dass der Kommissar ihn sehr wohl gesehen hatte. Dürr und bleich, mit roten Augenlidern, erinnerte er an einen Schuljungen, der in der Pause abseits steht, sich langweilt und unter seiner mürrischen Maske nur schlecht verbirgt, wie gern er mit den anderen spielen würde.

Das passte zu Cavres Charakter. Er war intelligent. Vielleicht war er sogar der intelligenteste Mann, dem Maigret bei der Polizei je begegnet war. Sie waren ungefähr gleich alt, doch Cavre, der eine bessere Ausbildung genossen hatte, hätte vielleicht schon vor Maigret Kommissar werden können, wenn er bei der Polizei geblieben wäre.

Warum schien er schon in jungen Jahren die Last Gott weiß welchen Fluchs auf seinen mageren Schultern zu tragen? Warum blickte er die ganze Welt schief an, als ob er jeden verdächtigte, üble Absichten gegen ihn zu hegen?

»Cadavre hält mal wieder seine neuntägige Andacht«, hieß es früher oft am Quai des Orfèvres.

Beim geringsten Anlass, und manchmal ohne jeden Grund, verfiel er in misstrauisches, beinahe hasserfülltes Schweigen. Acht Tage lang sprach er mit niemandem ein Wort, und bisweilen ertappte man ihn dabei, dass er höhnisch vor sich hin kicherte, wie jemand, der die dunklen Absichten seiner Mitmenschen durchschaut hat.

Wenige Leute wussten, warum er plötzlich aus der Polizei ausgeschieden war. Maigret selbst hatte den Grund erst viel später erfahren, und er hatte Mitleid mit ihm gehabt.

Cavre liebte seine Frau auf krankhafte Weise, mit einer eifersüchtigen, zerstörenden Leidenschaft, nicht wie ein Ehemann, sondern wie ein Liebhaber. Was fand er nur an diesem vulgären Geschöpf mit dem aufdringlichen Benehmen einer Halbweltdame oder eines Möchtegernfilmstars? Jedenfalls hatte er ihretwegen ernste Pflichtverletzungen im Dienst begangen. Es wurden hässliche Geldgeschichten aufgedeckt. Eines Abends war Cavre mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern aus dem Büro des Leiters der Kriminalpolizei gekommen, und ein paar Monate später hörte man, dass er in der Rue Drouot über einer Briefmarkenhandlung ein Detektivbüro eröffnet hatte.

Einige Leute aßen zu Abend, schweigend und gelangweilt. Maigret trank sein Bier aus, wischte sich den Mund ab, nahm seinen Koffer und ging in nicht einmal zwei Metern Entfernung an seinem ehemaligen Kollegen vorbei. Dieser starrte auf einen Spuckeklecks auf dem Boden.

Der Bummelzug stand schon auf Gleis drei. Maigret setzte sich in die feuchte Kälte eines altmodischen Abteils und versuchte vergeblich, das Fenster fest zu schließen.

Auf dem Bahnsteig herrschte ein Kommen und Gehen, vertraute Geräusche, die man nur unbewusst wahrnimmt. Zwei- oder dreimal öffnete sich die Tür, und ein Kopf erschien. Jeder Reisende sucht nach einem leeren Abteil, und beim Anblick Maigrets schloss sich die Tür wieder.

Als der Zug sich in Bewegung setzte, ging der Kommissar in den Gang, um ein Fenster hochzuziehen, durch das es zog, und entdeckte im Nachbarabteil Inspektor Cadavre, der so tat, als ob er schliefe.

Na, wenn schon! Es war idiotisch, sich darüber Gedanken zu machen. Die ganze Geschichte war zu lächerlich, und Maigret wünschte sich, sie mit einem Schulterzucken abzutun.

Konnte es ihm nicht egal sein, dass Cadavre genau wie er nach Saint-Aubin fuhr?

Hinter den Fenstern zog die Dunkelheit vorüber, in der manchmal am Straßenrand das Licht einer Laterne aufblinkte, die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos oder, mysteriöser und anziehender, das gelbe Rechteck eines Fensters.

Der Untersuchungsrichter Bréjon, dieser schüchterne, gutmütige Mann, dessen Höflichkeit aus einem früheren Jahrhundert zu stammen schien, hatte ihm immer wieder gesagt:

»Mein Schwager Naud wird Sie am Bahnhof erwarten. Ich habe ihn von Ihrer Ankunft benachrichtigt.«

Während er an seiner Pfeife zog, konnte Maigret nicht anders, als sich immer wieder zu fragen:

»Was will dieser Cadavre dort bloß?«

Der Kommissar fuhr nicht einmal in dienstlichem Auftrag. Untersuchungsrichter Bréjon, mit dem er oft zusammenarbeitete, hatte ihm ein paar Zeilen geschickt und ihn um den Gefallen gebeten, in seinem Büro vorbeizukommen.

Es war Januar. In Paris regnete es ebenso wie in Niort. Schon seit mehr als einer Woche regnete es, und nicht ein einziges Mal hatte sich die Sonne gezeigt. Die Lampe auf dem Schreibtisch des Untersuchungsrichters hatte einen grünen Schirm, und während Bréjon sprach, wobei er ununterbrochen seine Brille putzte, dachte Maigret, dass auch er in seinem Büro so einen grünen Lampenschirm hatte, nur dass der des Richters gerippt war wie eine Melone.

»Es ist mir sehr peinlich, Sie zu bemühen. Zumal es sich nicht um eine dienstliche Angelegenheit handelt … Setzen Sie sich. Aber ja … Zigarre? … Sie wissen vielleicht, dass meine Frau eine geborene Lecat ist. Nun, das spielt auch keine Rolle. Was ich sagen wollte … Meine Schwester, Louise Bréjon, hat einen gewissen Naud geheiratet …«

Es war spät. Passanten, die an der dunklen Fassade des furchterregenden Palais de Justice hochblickten und Licht in den Fenstern des Büros des Richters entdeckten, mussten vermuten, dass dort schwerwiegende Fragen erörtert wurden.

Und der kräftige, stirnrunzelnde Maigret vermittelte den Eindruck von solcher geistigen Kraft, dass wohl niemand erraten hätte, woran er gerade dachte.

Denn während er mit halbem Ohr die Geschichte verfolgte, die ihm der hohe Beamte mit dem Spitzbart erzählte, stellte er in Gedanken diesen grünen Lampenschirm dem in seinem Büro gegenüber, dachte, dass er ihm besser gefiel, und träumte davon, sich auch so einen zu besorgen.

»Sie können sich die Situation sicher vorstellen … Es ist ein kleines Nest. Sie werden es selbst sehen … Man ist dort meilenweit von allem entfernt … Eifersucht, Neid, grundlose Bosheit … Mein Schwager ist ein wunderbarer, rechtschaffener Mann. Meine Nichte ist beinahe noch ein Kind … Wenn Sie bereit sind, dort hinzufahren, werde ich eine Woche Sonderurlaub für Sie beantragen, und wir werden Ihnen alle sehr dankbar sein …«

So lässt man sich in ein blödsinniges Abenteuer hineinziehen. Was hatte der Richter ihm eigentlich erzählt? Im Grunde war er ein Mann vom Land geblieben, und wie alle Provinziellen verlor er sich gern in Familiengeschichten, wobei er die Namen aussprach wie die historischer Persönlichkeiten.

Seine Schwester, Louise Bréjon, hatte Étienne Naud geheiratet.

»Er ist der Sohn von Sébastien Naud«, fügte der Richter hinzu, als handelte es sich um eine Berühmtheit.

Dabei war Sébastien Naud weiter nichts als ein reicher Viehhändler in Saint-Aubin, einem gottverlassenen Dorf in den entlegensten Sümpfen der Vendée.

»Étienne Naud ist mütterlicherseits mit den besten Familien der Gegend verwandt.«

Na und?

»Ihr Haus steht einen Kilometer von dem Dorf entfernt, dicht an der Eisenbahnlinie von Niort nach Fontenay-le-Comte. Vor etwa drei Wochen wurde am Bahndamm ein junger Mann aus dem Ort tot aufgefunden, der übrigens, zumindest von mütterlicher Seite, aus guter Familie stammt, denn die Mutter ist eine Pelcau … Im ersten Moment glaubten alle an einen Unfall, und ich glaube es immer noch. Aber seitdem gibt es Gerüchte … Anonyme Briefe … Kurz, mein Schwager ist jetzt in einer schrecklichen Lage, denn man beschuldigt ihn fast offen, den jungen Mann getötet zu haben. Er hat mir darüber einen ziemlich vagen Brief geschrieben. Ich habe mich daraufhin an den Staatsanwalt in Fontenay-le-Comte gewandt und um ausführlichere Auskunft gebeten. Entgegen meiner Erwartung hat er geantwortet, die Anschuldigungen seien ziemlich ernst und man werde wohl gezwungen sein, Ermittlungen einzuleiten. Darum, mein lieber Kommissar, habe ich mir erlaubt, Sie in aller Freundschaft zu mir zu bitten …«

Der Zug hielt. Maigret wischte die beschlagene Scheibe ab und sah nur ein winziges Gebäude, ein Stück Bahnsteig, eine einzige Lampe und einen einzigen Beamten, der am Zug entlanglief und schon pfiff. Eine Tür schlug zu, und der Zug fuhr weiter. Aber es war nicht die Tür des Nebenabteils. Inspektor Cadavre war immer noch da.

Hier und da, näher oder weiter entfernt ein tiefer unten liegender Bauernhof, und wenn man einen Lichtschein sah, spiegelte er sich immer in einer Wasserfläche, als führe der Zug an einem See entlang.

»Saint-Aubin!«

Er stieg aus. Sie waren zu dritt: Eine recht alte Frau mit einem schwarzen Korb, Cavre und Maigret. In der Mitte des Bahnsteigs stand ein sehr großer und breiter Mann, in einer Lederjacke und Ledergamaschen, der nicht recht zu wissen schien, an wen er sich wenden sollte.

Es war offensichtlich Naud. Sein Schwager hatte ihm die Ankunft des Kommissars angekündigt. Aber welcher der beiden Männer, die aus dem Zug gestiegen waren, war Maigret?

Er ging zuerst auf den Dünneren zu. Schon zog er den Hut und öffnete den Mund halb zu einer Frage. Aber Cavre ging verächtlich weiter. Seine Haltung schien zu sagen:

»Ich bin es nicht. Es ist der andere.«

Darauf wandte sich der Schwager des Untersuchungsrichters an Maigret:

»Kommissar Maigret, nehme ich an? Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht sofort erkannt habe. Ihr Bild war sicher oft in der Zeitung, aber in unserem kleinen Nest, wissen Sie …«

Er nahm Maigret energisch den Koffer aus der Hand. Als der Kommissar in seiner Tasche nach seiner Fahrkarte suchte, schob er ihn nicht in Richtung Bahnhof, sondern zum Bahnübergang und sagte:

»Die brauchen Sie hier gar nicht.«

Und zum Bahnhofsvorsteher gewandt:

»Bonsoir, Pierre.«

Es regnete immer noch. Ein vor einen offenen Wagen gespanntes Pferd war an einem Metallring festgebunden.

»Bitte steigen Sie ein. Bei diesem Wetter ist die Straße für Autos kaum befahrbar.«

Wo war Cavre? Maigret hatte ihn im Dunkeln verschwinden sehen. Er hatte Lust, ihm zu folgen, aber dafür war es jetzt zu spät. Hätte es außerdem vor seinem Gastgeber nicht lächerlich gewirkt, wenn er ihn gleich nach seiner Ankunft hätte stehen lassen, um einem anderen Reisenden nachzueilen?

Es war kein Dorf zu sehen. Nur eine einzelne Laterne ragte hundert Meter vom Bahnhof entfernt auf, dort, wo sich zwischen hohen Bäumen eine Straße abzeichnete.

»Legen Sie die Decke über die Beine. Doch, doch! Ihre Knie werden trotzdem nass werden, denn wir fahren gegen den Wind … Mein Schwager hat mir einen langen Brief über Sie geschrieben. Es ist mir peinlich, dass er wegen einer so unbedeutenden Angelegenheit einen Mann wie Sie herbemüht hat. Sie ahnen ja nicht, wie die Leute auf dem Lande sind …«

Er ließ seine Peitsche über das nasse Hinterteil des Pferds streifen, und die Wagenräder gruben sich tief in den schwarzen Schlamm des Weges ein, der parallel zu den Eisenbahnschienen verlief. Auf der anderen Seite war im Laternenlicht undeutlich eine Art Kanal zu erkennen.

Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts eine menschliche Gestalt auf, ein Mann, der sich die Jacke über den Kopf gezogen hatte und dem Wagen auswich.

»Bonsoir, Fabien!«, rief Étienne Naud ihm zu, wie zuvor dem Bahnhofsvorsteher. Er schien hier jeden zu kennen, war sozusagen der Herr des Dorfes, der jeden beim Vornamen nennt.

Wo zum Teufel konnte Cavre sein? Ohne es zu wollen, musste Maigret unentwegt an ihn denken.

»Gibt es ein Hotel in Saint-Aubin?«, fragte er.

Sein Begleiter lachte wie ein liebes Kind.

»Ein Hotel? Kommt gar nicht infrage! Wir haben genug Platz im Haus. Ihr Zimmer ist schon fertig. Wir haben das Abendessen um eine Stunde verschoben, weil ich dachte, dass Sie unterwegs bestimmt nichts gegessen haben. Ich hoffe, Sie haben nicht den Fehler gemacht, im Bahnhofsrestaurant von Niort zu Abend zu essen? Ich sage Ihnen aber lieber gleich, dass unsere Gastlichkeit ganz schlicht ist …«

Die Gastlichkeit war Maigret herzlich egal. Ihn interessierte nur Cavre.

»Ich wüsste gern, ob der andere, der mit mir ausgestiegen ist …«

»Ich kenne ihn nicht«, versicherte Étienne Naud hastig.

Warum sagte er das? Maigret hatte ihn nicht danach gefragt.

»Ich frage mich, ob er wohl eine Unterkunft findet …«

»Aber ich bitte Sie! Ich weiß ja nicht, wie mein Schwager Ihnen unseren Ort beschrieben hat. Seit er in Paris lebt, scheint er Saint-Aubin für ein richtiges Kaff zu halten. Aber es ist fast eine kleine Stadt, Monsieur. Sie haben noch nichts davon gesehen, denn der Bahnhof ist recht weit außerhalb. Wir haben zwei ausgezeichnete Gasthöfe, den Lion d’Or, der Taponnier gehört, dem alten François, wie ihn alle nennen, und genau gegenüber das Hôtel des Trois Mules. Ach, jetzt sind wir schon fast da. Das Licht, das Sie da sehen … Ja … Das ist unser bescheidenes Heim.«

Natürlich merkte man schon am Ton, in dem er das sagte, dass es ein großes Haus war. Und das war es in der Tat: weitläufig, gedrungen, mit vier erleuchteten Fenstern im Erdgeschoss und vorne, inmitten der Fassade, einer elektrischen Lampe, die den Ankommenden wie ein Stern entgegenfunkelte.

Hinter dem Haus erahnte man einen riesigen, von Ställen gesäumten Innenhof, von dem warme, duftende Luftzüge herüberwehten. Schon eilte ihnen ein Stallbursche entgegen, der sich um das Pferd kümmerte. Die Haustür öffnete sich, und ein Dienstmädchen kam heraus, um Maigrets Gepäck entgegenzunehmen.

»Da wären wir also. Sie sehen, es ist kein weiter Weg. Als dieses Haus gebaut wurde, hat man leider nicht vorausgesehen, dass eines Tages die Bahngleise fast unmittelbar vor unseren Fenstern entlanglaufen würden. Man gewöhnt sich zwar daran, zumal hier nur selten Züge fahren, aber … Treten Sie bitte ein, und legen Sie ab.«

Genau in diesem Augenblick dachte Maigret: Er hat die ganze Zeit geredet.

Darauf folgte ein Moment, in dem er gar nicht denken konnte, da zu vieles auf ihn einstürmte und eine ungewohnte Atmosphäre ihn immer enger umfing.

Der Flur war breit und grau gefliest, die Wände bis auf Kopfhöhe dunkel getäfelt. Die Glühbirne war von einer laternenartigen Lampe aus buntem Glas umfasst. Eine breite, mit einem roten Läufer belegte Eichentreppe führte in den oberen Stock, und ihr opulentes Geländer war blank poliert. Der Duft von Wachs und köchelnden Speisen zog durch das Haus, und es mischte sich noch eine süße und zugleich saure Note hinein, die Maigret wie der typische Geruch des Landlebens erschien.

Aber am bemerkenswertesten war die Ruhe, eine ewige Ruhe geradezu. Man spürte, dass in diesem Haus die Möbel und anderen Gegenstände seit Generationen an ihrem Platz standen und dass die Menschen in allem, was sie taten, genau festgelegten Riten folgten, die allem Unvorhergesehenen trotzten.

»Möchten Sie, ehe wir uns zu Tisch setzen, für einen Augenblick in Ihr Zimmer hinaufgehen? Wir sind doch ganz unter uns, nicht wahr? Wir machen hier keine Umstände.«

Der Hausherr stieß eine Tür auf, und in dem behaglichen Salon erhoben sich gleichzeitig zwei Personen.

»Darf ich dir Kommissar Maigret vorstellen … Meine Frau …«

Sie hatte die gleiche zurückhaltende, freundliche Art wie Untersuchungsrichter Bréjon, die auf eine gewisse bürgerliche Erziehung zurückzuführen war, aber einen Augenblick lang glaubte Maigret etwas Härteres, Kühleres in ihrem Blick zu spüren.

»Es tut mir leid, dass mein Bruder Sie bei einem solchen Wetter herbemüht hat …«

Als ob der Regen an dieser Reise etwas änderte oder irgendeine Rolle spielte!

»Ich möchte Ihnen einen Freund des Hauses vorstellen, Herr Kommissar: Alban Groult-Cotelle. Mein Schwager hat Ihnen vermutlich schon von ihm erzählt.«

Hatte der Richter das? Vielleicht. Maigret war zu sehr mit dem gerippten grünen Lampenschirm beschäftigt gewesen!

»Sehr erfreut, Herr Kommissar. Ich bin einer Ihrer größten Bewunderer.«

Maigret hätte ihm antworten können:

»Ich nicht.«

Denn Männer seines Schlags waren ihm zuwider.

»Schenkst du uns Porto ein, Louise?«

Er stand schon auf dem Tisch bereit. Das Licht war gedämpft und die Umgebung, wenn überhaupt, nur verschwommen zu erkennen. Die Sessel waren antik und größtenteils mit Stoff bezogen, die Teppiche in neutralen Farben oder verblichen. Im Kamin, vor dem eine Katze ausgestreckt lag, loderten Holzscheite.

»Bitte nehmen Sie Platz … Monsieur Groult-Cotelle wird mit uns zu Abend essen.«

Jedes Mal, wenn man seinen Namen aussprach, verbeugte sich dieser affektiert wie ein vornehmer Herr, dem es gefällt, sich unter einfachen Leuten so zeremoniell zu benehmen wie in feiner Gesellschaft.

»Man hat die Freundlichkeit, mir altem Einsiedler hier oft ein Plätzchen bereitzuhalten.«

Einsiedler, ja, und vermutlich auch Junggeselle. Es war zu spüren, woran auch immer. Ein prätentiöser Nichtsnutz. Voller Schrullen und Marotten und auch noch stolz darauf.

Es musste ihn ärgern, dass er nicht Graf oder Marquis war, ja nicht einmal ein Adelsprädikat besaß, aber immerhin hatte er diesen ausgefallenen Vornamen Alban, den er nur allzu gern hörte, und dann diesen Doppelnamen mit Bindestrich.

Er war etwa vierzig Jahre alt, groß und mager, von einer Magerkeit, die er bestimmt für aristokratisch hielt. Was den Mann ohne Ehefrau verriet, war vielleicht sein verstaubtes, wenn auch gepflegtes Aussehen, das stumpfe Gesicht und der bereits lichte Haaransatz. Seine Kleidung war elegant und in gedeckten Farben gehalten, sie schien nie wirklich neu gewesen zu sein, aber auch nicht zu altern – jene Art Kleidungsstücke, die so mit der Persönlichkeit ihres Trägers verbunden sind, dass er sich nie von ihnen trennt. Maigret sollte ihn noch oft in derselben grünlichen Jacke sehen, ganz im Stil eines Landadeligen, und mit derselben Hufeisen-Krawattennadel in einer Krawatte aus weißem Pikee.

»Sind Sie nicht zu müde nach der langen Reise, Herr Kommissar?«, fragte Louise Bréjon, während sie ihm ein Glas Porto reichte.

Und er, der so tief in seinen Sessel versunken war, dass die Dame des Hauses fürchten musste, ihn unter seinem Gewicht zusammenbrechen zu sehen, war im Bann so verschiedener Eindrücke, dass er dadurch wie betäubt war und seinen Gastgebern sicherlich wenig intelligent erschien.

Da war zunächst das Haus, der Inbegriff des Hauses, von dem er so oft geträumt hatte, mit seinen schützenden Mauern, zwischen denen die Luft zum Schneiden war. Die gerahmten Porträts erinnerten ihn an den langen Vortrag des Untersuchungsrichters über die Nauds, die Bréjons und die La Noues, denn die Bréjons waren mütterlicherseits mit den La Noues verwandt, und fast wünschte er sich, all diese ernst und etwas steif aussehenden Persönlichkeiten als Verwandte zu übernehmen.

Die Küchendüfte kündigten ein üppiges Essen an, und das Klirren von Porzellan und Glas ließ darauf schließen, dass im Esszimmer nebenan der Tisch gedeckt wurde. Im Stall rieb der Knecht vermutlich gerade die Stute ab, und zwei lange Reihen rotbrauner Kühe fraßen an ihren Krippen.

Himmlischer Frieden, Ordnung, Tugend und zugleich all die kleinen Ticks und liebenswerten Absonderlichkeiten einfacher Familien, die ein zurückgezogenes Leben führen.

Étienne Naud, groß und breitschultrig, mit rosigem Teint und vorstehenden Augen, sah Maigret unverwandt an, als ob er sagen wollte:

»Sehen Sie, so bin ich. Offen und gutmütig.«

Der gute Riese, der gute Dienstgeber, der gute Familienvater. Der Mann, der von seinem Wagen aus den Leuten zuruft:

»Bonsoir, Pierre! Bonsoir, Fabien!«

Seine Frau lächelte schüchtern im Schatten dieses riesigen Mannes, als bitte sie um Nachsicht dafür, dass er so viel Platz einnahm.

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Herr Kommissar …«

Aber natürlich. Er hatte es schon erwartet. Die vorbildliche Hausfrau, die einen letzten Blick auf die Vorbereitungen für das Abendessen werfen will.

Sogar Alban Groult-Cotelle, der aussah, als wäre er einem Kupferstich entstiegen, passte hier hinein, der feinere, vornehmere, klügere Freund, der Freund der Familie, der mit seinem herablassenden Gesichtsausdruck zu sagen schien:

»Sie sehen ja, das sind brave Leute, die besten Nachbarn, die man sich wünschen kann. Man kann sich zwar mit ihnen nicht über Philosophie unterhalten, aber abgesehen davon ist man bei ihnen sehr gut aufgehoben, und Sie werden feststellen, dass der Burgunder gediegen und der Cognac hervorragend ist.«

»Es ist angerichtet, Madame.«

»Nehmen Sie bitte rechts von mir Platz, Herr Kommissar«, sagte Louise.

Man spürte nicht die geringste Beklommenheit. Dabei war Richter Bréjon, als er Maigret in sein Büro kommen ließ, ziemlich besorgt gewesen.

»Wissen Sie«, hatte er gesagt, »ich kenne meinen Schwager, wie ich meine Schwester und meine Nichte kenne. Sie werden sich ja selbst ein Bild machen … Dennoch nimmt diese scheußliche Anschuldigung von Tag zu Tag mehr Gestalt an, sodass sich bald die Staatsanwaltschaft damit befassen muss. Mein Vater war vierzig Jahre lang Notar in Saint-Aubin, wie vorher sein Vater. Man wird Ihnen mein Elternhaus zeigen, das mitten im Dorf liegt. Ich frage mich, wie in so kurzer Zeit ein derart blinder Hass entstehen und von einem auf den anderen überspringen konnte, sodass er nun droht, das Leben unschuldiger Menschen unerträglich zu machen. Meine Schwester hatte nie eine kräftige Konstitution. Sie ist sehr nervös, schläft schlecht und reagiert empfindlich auf die kleinsten Verstimmungen.«

Von all dem war hier nichts zu spüren. Es war, als ob Maigret nur zu einem guten Abendessen und einer Partie Bridge eingeladen wäre. Da man ihm Lerchen servierte, erzählte man ihm ausführlich, wie die Bauern aus dem Marais sie buchstäblich fischten, indem sie ihre Netze nachts über die Wiesen zogen.

Aber warum war die Tochter eigentlich nicht da?

»Meine Nichte Geneviève«, hatte der Richter gesagt, »ist eine junge Frau, wie es sie sonst nur noch in Romanen gibt.«

Der oder die Verfasser der anonymen Briefe und die meisten Leute im Ort schienen darüber anderer Meinung zu sein, denn letzten Endes war sie es, die man beschuldigte.

Für Maigret war die ganze Geschichte noch recht verworren, aber sie passte so gar nicht zu dem, was er hier sah! Den Gerüchten zufolge war der auf dem Bahndamm gefundene Tote, Albert Retailleau, Geneviève Nauds Liebhaber gewesen, und man behauptete, dass er sie zwei- oder dreimal in der Woche nachts in ihrem Schlafzimmer besucht hatte.

Er war ein junger Mann ohne Vermögen und kaum zwanzig Jahre alt. Sein Vater, ein Arbeiter in der Molkerei von Saint-Aubin, war bei einer Kesselexplosion ums Leben gekommen. Seine Mutter lebte von einer Rente, zu deren Zahlung die Molkerei verurteilt worden war.

»Albert Retailleau hat sicher nicht Selbstmord begangen«, versicherten seine Freunde. »Dazu war er zu lebensfroh. Und er war auch nicht so dumm, selbst wenn er betrunken gewesen wäre, wie man behauptet, in dem Moment die Schienen zu überqueren, als ein Zug vorbeifuhr.«

Die Leiche war etwa fünfhundert Meter vom Haus der Nauds entfernt gefunden worden, etwa auf halber Strecke zum Bahnhof.

Und jetzt hieß es, dass die Mütze des jungen Mannes im Schilf am Kanal entdeckt worden sei, noch viel näher an ihrem Haus.