Maigret verteidigt sich - Georges Simenon - E-Book

Maigret verteidigt sich E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Ein nächtlicher Anruf reißt Maigret aus dem Tiefschlaf. Eine junge Frau bittet den Kommissar um Hilfe. Mittelos und ohne Papiere sei sie in einer Bar gestrandet. Maigret besorgt der Siebzehnjährigen nicht nur ein Hotelzimmer, er bringt das betrunkene Mädchen auch zu Bett. Am nächsten Morgen liegt eine Anzeige gegen den Kommissar vor: Belästigung einer Minderjährigen. Er wird umgehend beurlaubt. Ist Maigret in eine Falle getappt? Wer will ihn aus dem Weg räumen? Eigentlich glaubt Maigret nicht an das grundlos Böse, aber diesmal kommen ihm Zweifel.

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Der 63. Fall

Georges Simenon

Maigret verteidigt sich

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung

Kampa

1

»Sagen Sie, Maigret …«

Ein Satzanfang, an den sich der Kommissar später erinnern sollte. In dem Moment aber fiel er ihm nicht auf. Alles war ihm vertraut: die Einrichtung, die Gesichter, selbst die Bewegungen der Menschen. So vertraut, dass er gar nicht mehr darauf achtete. Er befand sich wenige hundert Meter vom Boulevard Richard-Lenoir entfernt in der Rue Popincourt, bei den Pardons, bei denen die Maigrets seit mehreren Jahren einmal im Monat zu Abend aßen.

Der Arzt und seine Frau kamen ihrerseits alle vier Wochen zum Essen zu den Maigrets. Die beiden Frauen lieferten sich bei der Gelegenheit einen freundschaftlichen Wettkampf der Kochkünste.

Wie immer hatten sie lange bei Tisch gesessen. Die Tochter der Pardons, Solange, war zum zweiten Mal schwanger. Sie wirkte wie ausgestopft und schien sich für den Mangel an Grazie entschuldigen zu wollen. Da ihr Mann, Ingenieur im östlichen Stadtrandgebiet, an einem Kongress in Nizza teilnahm, war sie für einige Tage zu ihren Eltern gekommen.

Es war Juni. Der Tag war stickig gewesen und der Abend gewittrig. Durch das offene Fenster sah man manchmal den Mond zwischen zwei schwarzen Wolken, deren Ränder er für einen kurzen Moment weiß umsäumte.

Wie es seit dem ersten Abendessen Tradition war, hatten die Damen danach den Kaffee serviert und saßen nun am anderen Ende des Wohnzimmers. Sie unterhielten sich halblaut und ließen die beiden Männer miteinander allein. Der Raum diente auch als Wartezimmer des Arztes, auf einem Tischchen stapelten sich abgegriffene Zeitschriften.

Eine Kleinigkeit war übrigens anders als sonst. Während Maigret seine Pfeife stopfte und anzündete, war Pardon in sein Sprechzimmer verschwunden und mit einer Zigarrenkiste zurückgekommen.

»Ich biete Ihnen keine an, Maigret.«

»Danke. Sie rauchen jetzt Zigarren?«

Er kannte den Arzt nur Zigaretten rauchend. Nach einem Blick zu seiner Frau hatte Pardon gemurmelt:

»Sie hat mich darum gebeten.«

»Wegen der Artikel über Lungenkrebs?«

»Das hat sie sehr beeindruckt.«

»Glauben Sie daran?«

Pardon hatte mit den Schultern gezuckt.

»Selbst wenn …«

Leise hatte er hinzugefügt:

»Ich muss Ihnen gestehen, wenn ich unterwegs bin …«

Er schummelte. Zu Hause zwang er sich, Zigarren zu rauchen, was nicht zu ihm passte. Aber woanders rauchte er Zigaretten, heimlich wie ein Gymnasiast.

Er war weder groß noch dick. Sein dunkles Haar begann zu ergrauen, und sein Gesicht zeigte die Spuren eines anstrengenden Lebens. Selten endete der Abend, ohne dass Pardon zu einem angstvollen Kranken gerufen wurde und seine Gäste unter Entschuldigungen verlassen musste.

»Sagen Sie, Maigret …«

Er hatte das zögernd, mit einer gewissen Scheu gesagt.

»Wir müssen doch ungefähr gleich alt sein.«

»Ich bin zweiundfünfzig.«

Das wusste Pardon, denn er war der behandelnde Arzt des Kommissars und hatte eine Patientenakte von ihm angelegt.

»In drei Jahren werde ich pensioniert. Bei der Polizei wird man mit fünfundfünfzig zum Angeln geschickt.«

Eine leise Melancholie. Die beiden Männer nahe beim Fenster spürten manchmal einen frischen Luftzug und sahen einen Blitz über den Himmel zucken, aber es folgte kein Donner. In den Häusern gegenüber waren einige Fenster erleuchtet. Hinter den Vorhängen bewegten sich Gestalten. Ein alter Mann stützte sich auf die Fensterbank, hinter ihm ein dunkles Zimmer, er schien sie anzustarren.

»Ich bin neunundvierzig. Auf dem Gymnasium zählen drei Jahre Altersunterschied. Aber in unserem Alter nicht mehr.«

Maigret konnte nicht voraussehen, dass ihm die Einzelheiten dieser trägen Unterhaltung eines Tages wieder einfallen würden. Er schätzte Pardon sehr. Er gehörte zu den wenigen Menschen, mit denen er gern den Abend verbrachte.

Der Arzt fuhr fort, wobei er nach Worten suchte:

»Sie und ich, wir haben ja ähnliche Erfahrungen mit Menschen. Viele meiner Patienten könnten Ihre Klienten werden.«

Das stimmte. In diesem überbevölkerten Viertel begegnete einem alles, im besten und im schlechtesten Sinne.

»Ich möchte Ihnen eine Frage stellen.«

Seine Verlegenheit war offensichtlich. Sicher, sie waren Freunde, so wie auch ihre Frauen befreundet waren. Doch eine gewisse Scheu hielt sie davon ab, manche Themen zu berühren. Sie hatten noch nie über Politik oder Religion gesprochen.

»Sind Sie in Ihrer ganzen Laufbahn«, sagte Pardon, »je einem wirklich bösen Verbrecher begegnet? Ich meine …«

Er versuchte seinen Gedanken zu verdeutlichen.

»Ich meine den bewussten Verbrecher, wohlgemerkt. Der weiß, was er tut, der aus purer Bosheit handelt, aus moralischer Verkommenheit, wie manche sagen würden. Ich spreche nicht von Kinderquälern, zum Beispiel. Das sind fast alles grobe, geistig zurückgebliebene Kerle, die in der Welt der Erwachsenen nicht zurechtkommen und zu Säufern werden.«

»Sie meinen also den reinen Verbrecher?«

»Rein oder unrein … sagen wir, einer, der durch und durch Verbrecher ist.«

»Dem Strafgesetzbuch nach?«

»Nein. Ihrer Ansicht nach.«

Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete Maigret seinen Freund durch den Rauch seiner Pfeife. Sein Blick fiel vor allem auf die Zigarre, die Pardon unbeholfen hielt. Die Asche war zu lang geworden und würde gleich auf den Teppich fallen. Er lächelte schließlich, und der Arzt starrte seinerseits verlegen auf die Zigarre.

Sie verstanden sich. Es war diese Zigarren- und Zigaretten-Geschichte, die den Arzt der kleinen Leute geplagt und vielleicht unbewusst dazu getrieben hatte, die Frage zu stellen.

Er war neunundvierzig, wie er eben gesagt hatte. Jeden Tag, seit mehr als zwanzig Jahren, beugte er sich über Dutzende Kranke, die in ihm etwas wie den lieben Gott sahen und alles von ihm erwarteten: Gesundheit, Leben, einen Rat, die Lösung ihrer Probleme.

Er hatte Männer, Frauen, Kinder gerettet. Er hatte anderen geholfen, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Jeden Tag musste er blitzschnell Entscheidungen treffen, die unwiderruflicher waren als die der Richter.

Wegen bestimmter Zeitungsartikel hatte seine Frau ihn gebeten, mit dem Rauchen aufzuhören, und er hatte nicht den Mut gehabt, ihr die Bitte abzuschlagen. Also zog er zu Hause ungeschickt an einer Zigarre, die ihm bestimmt nicht schmeckte.

Aber kaum war er draußen in seinem Wagen, unterwegs zu einem Patienten, steckte er sich mit zitternden Händen eine Zigarette an, als hätte er ein Verbrechen begangen.

Maigret beantwortete die Frage seines Freundes nicht sofort. Fast hätte er zurückgefragt: Und Sie?

Aber das war zu leicht.

»Wenn ich durch unglückliche Umstände Richter hätte werden müssen«, begann er mit zögernder Stimme, »oder Geschworener in einem Prozess, dann weiß ich nicht, ob … Nein! Ich bin sicher, ich würde es nicht auf mich nehmen, einen Menschen zu verurteilen.«

»Egal bei welchem Verbrechen?«

»Nicht das Verbrechen zählt. Es kommt darauf an, was in dem Täter vor sich geht oder vor sich gegangen ist.«

»Sie haben also noch keinen Fall erlebt, in dem Sie ohne zu zögern ein Urteil gesprochen hätten?«

»Ein Verbrechen aus Bosheit, wie Sie es nannten? Doch, auf den ersten Blick, schon. Ich hatte Leute in meinem Büro, die musste ich einfach ohrfeigen. Aber je weiter ich in meinen Ermittlungen kam …«

An diesem Punkt wurde das Gespräch unterbrochen, denn eine der beiden Damen, Maigret wusste nicht mehr welche, war zu ihnen gekommen.

»Vielleicht einen kleinen Armagnac?«

Pardon warf einen kurzen Blick zu Maigret.

»Nein danke.«

»Übrigens, wann habe ich Sie zum letzten Mal untersucht?«

»Vor etwa einem Jahr.«

Ein krachender Donnerschlag. Er schien über die Dächer zu rollen. Doch der seit Tagen erwartete Regen fiel nicht.

»Wollen wir kurz in mein Sprechzimmer gehen?«

Das ältere Enkelkind der Pardons schlief dort in einem Klappbettchen.

»Keine Sorge. Er hat einen tiefen Schlaf. Leider nur bis fünf Uhr morgens! Lassen Sie mich Ihren Blutdruck messen.«

Maigret stand erst im Hemd, dann mit nacktem Oberkörper da. Pardon hatte unwillkürlich die ernste und ein wenig abwesende Miene des Arztes aufgesetzt.

»Atmen Sie ein! Tiefer. Und durch den Mund aus. Gut. Legen Sie sich hierhin und öffnen Sie Ihren Gürtel. Haben Sie denn meinen Rat befolgt und etwas weniger und gemächlicher gearbeitet?«

»Und Sie?«

»Ich weiß, ich weiß. Und wie ist es mit der Diät?«

Maigret schüttelte den Kopf.

»Wein, Bier, Schnaps? Haben Sie sich eingeschränkt?«

»Ich habe nur erreicht, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, wenn ich ein Bier oder einen Calvados trinke. Zwischen zwei Ermittlungen trinke ich tagelang höchstens etwas Wein zu den Mahlzeiten. Aber dann bin ich in einem Café, um das Haus gegenüber zu beobachten. Ich rieche den säuerlichen Duft der Pariser Bistros und …«

Wie Pardon mit seinen Zigaretten. Dabei waren sie beide erwachsene Männer!

Die Maigrets waren wie immer zu Fuß durch die Rue du Chemin-Vert nach Hause gegangen.

»Welchen einen Eindruck hat er von dir?«

»Es ist alles in Ordnung.«

Selbstverständlich entschied sich der Himmel über Paris genau in diesem Moment, all das Wasser, das er während der wochenlangen Hitze gesammelt hatte, auf einmal loszuwerden.

»Sollen wir uns in einem Torbogen unterstellen?«

Das war nun schon lange her. Zehn Tage waren vergangen, seit die Maigrets bei den Pardons zu Abend gegessen hatten. Wieder war es heiß geworden. Die Menschen fuhren in die Ferien. Der Kommissar arbeitete in seinem Büro bei weit geöffnetem Fenster und ohne Jacke, und die Seine schimmerte so graugrün wie das Meer an manchen windstillen Tagen.

Um halb elf, als Maigret die Berichte seiner Mitarbeiter durchsah, klopfte Joseph, der alte Bürodiener, in einer Weise an die Tür, die jeder im Haus kannte. Ohne eine Antwort abzuwarten, kam er herein und legte einen Brief auf den Schreibtisch des Kommissars.

Maigret runzelte die Stirn, als er den Aufdruck sah: Büro des Polizeipräsidenten.

In dem Umschlag steckte eine Karte.

Kommissar Maigret möge sich am 28. Juni um elf Uhr im Büro des Herrn Polizeipräsidenten einfinden.

Das Blut stieg Maigret in die Wangen wie früher als Gymnasiast, wenn er zum Direktor gerufen wurde. Der 28. Juni … er blickte unwillkürlich auf den Kalender … war heute! Dienstag, der 28. Juni! Und es war halb elf. Der Brief war nicht mit der Post gekommen, sondern von einem Boten gebracht worden.

Zum ersten Mal in seinen über dreißig Jahren bei der Kriminalpolizei und den zehn Jahren als Leiter der Mordkommission wurde er auf diese Weise einbestellt.

Er hatte ein gutes Dutzend Polizeipräsidenten einander ablösen sehen und zu jedem ein mehr oder weniger angenehmes Verhältnis gehabt. Einige von ihnen blieben so kurz auf ihrem Posten, dass er sie nicht einmal gesprochen hatte.

Andere riefen ihn an und baten ihn zu sich in ihr Büro. Es handelte sich meistens um einen delikaten und selten angenehmen Auftrag: dem Sohn oder der Tochter einer hohen Persönlichkeit oder gar der hohen Persönlichkeit selbst aus der Patsche zu helfen.

Seine erste Reaktion war, zum Leiter der Kriminalpolizei zu stürzen. Er wusste sicher Bescheid. Doch beim Rapport am Morgen hatte er nichts erwähnt, hatte sich benommen wie immer, etwas abwesend, hatte wie immer wenige Fragen gestellt, ohne ihnen Bedeutung beizumessen.

Er war erst vor drei Jahren zum Leiter der Kriminalpolizei ernannt worden, hatte keinerlei praktische Berufserfahrung und kannte die Polizeiarbeit höchstens aus Romanen. Als hoher Beamter war er vorher in verschiedenen Ministerien tätig gewesen.

Maigret erinnerte sich an die Zeit, da der Leiter der Kriminalpolizei unter den Kommissaren ausgewählt wurde. Seine Kollegen hatten ihn manchmal damit aufgezogen, dass sicher eines Tages er im Sessel des großen Chefs säße.

Er ging mit besorgtem Blick kurz ins Nebenzimmer und sagte zu seinen Mitarbeitern:

»Wenn nach mir verlangt wird, ich bin beim Polizeipräsidenten.«

Mindestens zwei der Männer blickten überrascht zu ihm auf. Lucas und Janvier hatten die Unruhe und schlechte Stimmung in Maigrets Stimme bemerkt. Sie kannten ihn besser als die anderen.

Die Pfeife zwischen den Zähnen, stieg er die große staubige Treppe hinunter, ging durch die Toreinfahrt, grüßte die wachhabenden Polizisten, ging den Quai des Orfèvres entlang und bog ein kleines Stück weiter in den Boulevard du Palais ein.

Fast wäre er, bevor er sich dem großen Manitu stellte, in die Bar gegenüber gegangen, hätte etwas getrunken, egal was, ein Bier, einen Weißwein, irgendeinen Aperitif. Doch dann musste er an das letzte Abendessen bei den Pardons denken, an die Geschichte mit den Zigaretten, an die Untersuchung neben dem Kinderbett.

Die Wachposten erkannten ihn, und er betrat den Fahrstuhl.

»Zum Büro des Polizeipräsidenten.«

»Haben Sie eine Vorladung?«

Er zeigte sie nur widerwillig. Hier konnte schließlich hereinkommen, wer wollte. Man führte ihn in ein Wartezimmer, das er gut kannte.

»Würden Sie bitte hier warten?«

Als hätte er eine Wahl! Auch der Polizeipräsident war ein Neuer. Erst seit zwei Jahren im Amt, ein junger Mann. Das war zurzeit modern. Er war noch keine vierzig, aber da er die École Normale absolviert und einen Haufen Diplome erworben hatte, durfte er an der Spitze einer Behörde sitzen.

»Der Besen« war der Spitzname, den ihm die Journalisten nach seiner ersten Pressekonferenz verpasst hatten. Die Polizeipräsidenten gaben nämlich mittlerweile Pressekonferenzen wie Filmstars und vergaßen nicht, das Fernsehen dazu einzuladen.

»Meine Herren, Paris soll eine saubere Hauptstadt sein! Deshalb ist es unerlässlich, einmal kräftig auszukehren. In den letzten Jahren haben hier zu viele Leute mit zu vielen privaten Interessen mitgemischt.«

Fünf nach elf … Zehn nach elf … Viertel nach elf … Vor seinem kleinen Tisch dämmerte der Bürodiener mit der silbernen Amtskette vor sich hin und warf dem Kommissar ab und zu einen gleichgültigen Blick zu. Dabei gehörte dieser Mann fast so lange zum Haus wie Maigret.

Ein schrilles Klingeln. Der Bürodiener erhob sich unwillig, öffnete die Tür einen Spaltbreit, gab Maigret ein Zeichen, und der Kommissar betrat endlich das große Büro. Es war mit einem grünen Teppich ausgelegt und im Empirestil eingerichtet.

»Setzen Sie sich, Herr Kommissar.«

Eine sanfte Stimme mit angenehmem Timbre; ein schmales, sehr junges, von blondem Haar umrahmtes Gesicht. Man wusste aus der Zeitung, dass der Polizeipräsident jeden Morgen ins Roland-Garros-Stadion ging, um sich mit ein paar Tennispartien in Form zu bringen, bevor er in seinem Präsidentensessel Platz nahm.

Er wirkte gesund, kräftig und sehr gepflegt in seiner Kleidung, die er sich gewiss in London schneidern ließ. Er lächelte. Auf allen Fotos lächelte er. Sein Lächeln galt allerdings niemandem. Mit diskreter Genugtuung lächelte er sich selbst zu.

»Sagen Sie …«

Wie Pardon neulich Abend, nur dass der Polizeipräsident statt einer Zigarre eine Zigarette rauchte. Vielleicht, weil seine Frau nicht anwesend war? Lächelte er in ihrer Gegenwart ebenso selbstgefällig?

»Sie sind, glaube ich, schon als sehr junger Mann zur Polizei gekommen?«

»Mit zweiundzwanzig Jahren.«

»Wie alt sind Sie heute?«

»Zweiundfünfzig.«

Immer noch wie Pardon, aber wahrscheinlich aus anderen Gründen.

Maigret hatte seine brummigste Miene aufgesetzt und spielte mit der leeren Pfeife. Er wagte nicht, sie zu stopfen.

Als wollte er das Schicksal ein wenig herausfordern, fügte er hinzu:

»Noch drei Jahre bis zur Pensionierung.«

»Richtig, ja. Erscheint Ihnen das nicht lang?«

Er spürte, dass er rot wurde. Um nicht seinem Ärger freien Lauf zu lassen, konzentrierte er sich auf die Bronzebeschläge der Schreibtischbeine.

»Haben Sie gleich bei der Kriminalpolizei angefangen?«

Die Stimme war immer noch von der gleichen Sanftheit, einer unpersönlichen, vielleicht angelernten Sanftheit.

»Zu meiner Zeit fing man nicht bei der Kriminalpolizei an. Wie die damaligen Kollegen habe ich in einem Kommissariat angefangen. Im 9. Arrondissement.«

»In Uniform?«

»Ich war zunächst Sekretär des Kommissars. Später eine Zeitlang im Streifendienst.«

Der Polizeipräsident musterte ihn neugierig, weder wohlwollend noch aggressiv.

»Und dann sind Sie verschiedene Dezernate durchlaufen?«

»Metro, Kaufhäuser, Bahnhöfe, Sitte, Glücksspiel …«

»Sie scheinen angenehme Erinnerungen daran zu haben.«

»An meine Gymnasialjahre auch.«

»Ich sage das nur, weil Sie gern darüber sprechen.«

Diesmal wurde Maigret dunkelrot.

»Was soll das bedeuten?«

»Sofern nicht andere an Ihrer Stelle darüber sprechen. Sie sind sehr bekannt, Monsieur Maigret, sehr beliebt.«

Die Stimme blieb weiterhin sanft. Man hätte annehmen können, der Polizeipräsident habe ihn einbestellt, um ihn zu beglückwünschen.

»Ihre Methoden sind spektakulär, liest man in der Zeitung.«

Der Manitu erhob sich, ging zum Fenster und betrachtete die Wagen und Busse, die am Palais de Justice vorüberfuhren. Als er in die Mitte des Zimmers zurückkam, hatte sich sein Lächeln, also seine Selbstzufriedenheit, vertieft.

»Als Leiter der Mordkommission nun auf der höchsten Leitersprosse angelangt, haben Sie doch Ihre Gewohnheiten aus der Anfangszeit nicht abgelegt. Sie verbringen wenig Zeit in Ihrem Büro, habe ich mir sagen lassen?«

»Ja, ziemlich wenig, Herr Präsident.«

»Und Sie befassen sich gern persönlich mit Aufgaben, die sonst Ihren Inspektoren zufallen.«

Schweigen.

»Darunter das, was Sie Beschattung nennen.«

Entschlossen und mit zusammengebissenen Zähnen stopfte Maigret jetzt seine Pfeife.

»So kann man Sie über Stunden in kleinen Bars und in Cafés antreffen, überhaupt an vielerlei Orten, wo man einen Beamten Ihres Ranges nicht erwarten würde.«

Sollte er die Pfeife anzünden oder nicht? Er wagte es noch nicht. Er beherrschte sich, immer noch in seinem Sessel sitzend, während der schlanke, elegante Polizeipräsident hinter seinem Mahagonischreibtisch auf und ab ging.

»Das sind veraltete Methoden, die in der damaligen Zeit ihre Berechtigung gehabt haben mögen.«

Das Streichholz ratschte laut und ließ den jungen Mann zusammenzucken, aber er gab keinen Kommentar ab. Sein Lächeln verschwand für eine Sekunde und kehrte zurück.

»Die alte Polizei hat so ihre Traditionen. Die Spitzel zum Beispiel. Man unterhält freundschaftliche Beziehungen zu Personen, die am Rande des Gesetzes leben, man sieht über ihre kleinen Vergehen hinweg, und dafür erweisen einem diese Leute ihrerseits gewisse Dienste. Arbeiten Sie weiterhin mit Spitzeln, Monsieur Maigret?«

»Wie jede Polizei auf der Welt.«

»Drücken Sie auch mal ein Auge zu?«

»Wenn nötig.«

»Haben Sie nie bemerkt, dass sich seit Ihren Anfangszeiten vieles geändert hat?«

»Ich habe neun Leiter der Kriminalpolizei und elf Polizeipräsidenten kommen und gehen sehen.«

Sei’s drum! Es war eine Frage der Ehre, sich selbst und all seinen Kollegen am Quai gegenüber, den alten unter ihnen jedenfalls, denn die jungen Inspektoren bevorzugten die Haltung dieses Tennisspielers.

Sollte der Schlag gesessen haben, dann ließ sich der Präsident jedenfalls nichts anmerken. Er hätte einen guten Diplomaten abgeben können. Wer weiß, vielleicht endete er eines Tages als Botschafter!

»Kennen Sie Mademoiselle Prieur?«

Der eigentliche Angriff begann. Aber auf welchem Terrain? Maigret hatte noch keine Ahnung.

»Müsste ich sie denn kennen, Herr Präsident?«

»Allerdings.«

»Und doch höre ich den Namen zum ersten Mal.«

»Mademoiselle Nicole Prieur. Sie haben auch noch nie von Monsieur Jean-Baptiste Prieur gehört, dem Maître des Requêtes im Staatsrat?«

»Nein.«

»Er wohnt am Boulevard de Courcelles, Nummer 42.«

»Sie haben sicher recht.«

»Er ist der Onkel von Nicole. Sie lebt bei ihm.«

»Ich glaube Ihnen, Herr Präsident.«

»Und ich frage Sie, Herr Kommissar, wo waren Sie heute Nacht um ein Uhr?«

Der Ton war jetzt kühl, die Augen lächelten nicht mehr.

»Ich warte auf Ihre Antwort.«

»Ist dies ein Verhör?«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich habe Ihnen eine klare Frage gestellt.«

»Darf ich Sie fragen, in welcher Eigenschaft?«

»Als Ihr Vorgesetzter.«

»Gut.«

Maigret ließ sich Zeit. Noch nie hatte er sich so gedemütigt gefühlt. Er drückte den Kopf der erloschenen Pfeife so fest, dass die Knöchel weiß wurden.

»Ich bin um halb elf zu Bett gegangen, nachdem ich mit meiner Frau ferngesehen hatte.«

»Haben Sie zu Hause zu Abend gegessen?«

»Ja.«

»Wann sind Sie ausgegangen?«

»Ich komme noch darauf, Herr Präsident. Kurz vor Mitternacht klingelte das Telefon.«

»Ihre Nummer steht wohl im Telefonbuch?«

»Ja.«

»Ist das nicht lästig? Es ermöglicht doch allen möglichen Leuten, auch Spaßvögeln, Sie anzurufen?«

»Das dachte ich auch. Jahrelang hatte ich eine Geheimnummer, aber die Leute haben sie schließlich doch herausgefunden. Nachdem ich sie fünf- oder sechsmal habe ändern lassen, steht meine Nummer jetzt im Telefonbuch, so wie die anderer Menschen auch.«

»Was für Ihre Spitzel sehr bequem ist. Man kann Sie persönlich anzurufen, statt sich an die Kriminalpolizei zu wenden. So fällt das ganze Verdienst einer aufgeklärten Affäre in den Augen der Öffentlichkeit Ihnen zu.«

Es gelang Maigret zu schweigen.

»Sie wurden also kurz vor Mitternacht angerufen. Wann genau?«

»Ich habe im Dunkeln abgenommen. Das Gespräch dauerte lang. Als meine Frau Licht machte, war es zehn vor zwölf.«

»Wer hat Sie angerufen? Jemand, den Sie kennen?«

»Nein. Eine Frau.«

»Hat sie ihren Namen genannt?«

»Zu dem Zeitpunkt nicht.«

»Also nicht während des Telefongesprächs, das Sie angeblich mit ihr geführt haben.«

»Das ich tatsächlich geführt habe.«

»Wie dem auch sei. Hat die Frau sich mit Ihnen in der Stadt verabredet?«

»In gewissem Sinn, ja.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Er begann zu merken, dass er naiv gewesen war, und es fiel ihm schwer, es sich vor diesem Grünschnabel mit seinem selbstzufriedenen Lächeln einzugestehen.

»Sie war gerade in Paris angekommen, wo sie noch nie vorher gewesen war.«

»Wie bitte?«

»Ich wiederhole, was sie mir berichtet hat. Sie hat hinzugefügt, sie sei die Tochter eines hohen Beamten in La Rochelle, sie sei achtzehn Jahre alt, sie ersticke in einer zu strengen Familie, umso mehr, als eine Schulfreundin, die seit einem Jahr in Paris sei, ihr den Zauber und die Möglichkeiten der Hauptstadt gepriesen habe.«

»Originell, nicht wahr?«

»Ich habe schon weniger originelle Beichten gehört, die aber nicht weniger aufrichtig waren. Wissen Sie, wie viele junge Mädchen aus sogenannten guten Familien jedes Jahr …?«

»Ich lese die Statistiken.«