Maigret vor dem Schwurgericht - Georges Simenon - E-Book

Maigret vor dem Schwurgericht E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Der Kommissar steht kurz vor der Pensionierung. Gerade war er mit Madame Maigret an der Loire. Zurück in Paris, muss er vor Gericht aussagen. Gaston Meurant wird beschuldigt, seine Tante und deren vierjährige Pflegetochter Cécile getötet zu haben. Ein blutiger Anzug, jede Menge Schulden und ein anonymer Hinweis sprechen gegen Meurant. Doch für Maigret passt vieles nicht zusammen, und so ermittelt er weiter. Aber tut er dem Angeklagten damit wirklich einen Gefallen?

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Der 55. Fall

Georges Simenon

Maigret vor dem Schwurgericht

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung

Kampa

Für Denise

1

Wie oft war er schon hier gewesen? Zweihundertmal oder dreihundertmal oder noch öfter? Er hatte weder Lust zu zählen, noch wollte er sich jeden Fall ins Gedächtnis zurückrufen. Auch nicht die berühmten Fälle, die in die Justizgeschichte eingegangen waren. Es war die unerfreuliche Seite seines Berufs.

Endeten nicht die meisten seiner Ermittlungen wie heute vor dem Schwurgericht oder der Strafkammer? Am liebsten hätte er diesen Teil ignoriert, sich zumindest von diesen letzten Formalitäten ferngehalten, an die er sich nie hatte gewöhnen können.

In seinem Büro am Quai des Orfèvres war das Ringen, das meistens erst in der Morgendämmerung ein Ende fand, noch eines zwischen zwei Menschen, sozusagen auf Augenhöhe. Aber man musste nur über ein paar Flure gehen, ein paar Treppen hinaufsteigen, und schon war man in einem anderen Universum, in dem die Worte nicht mehr den gleichen Sinn hatten, in einer abstrakten, feierlichen, würdevollen und zugleich lächerlichen Welt.

Er hatte eben mit anderen Zeugen den dunkel getäfelten Gerichtssaal verlassen, in dem sich das Licht der weißen Kugellampen mit dem Grau eines regnerischen Nachmittags vermischte. Wie ein Lehrer seine Schüler führte der alte Gerichtsdiener – seit Maigret ihn kannte, war er so alt – sie in einen kleinen Raum und deutete auf die festmontierten Bänke an den Wänden.

Die meisten setzten sich gehorsam, sprachen kein Wort, wie es ihnen der Vorsitzende Richter eingeschärft hatte, vermieden sogar, die anderen anzusehen.

Sie starrten vor sich, angespannt und verschlossen, und bewahrten ihr Geheimnis für den feierlichen Augenblick, wenn sie, allein im Zentrum eines furchteinflößenden Raums, verhört werden würden.

Es erinnerte ihn an früher. Als Kind war Maigret Ministrant gewesen und jeden Morgen in die Dorfkirche gegangen, und er hatte damals die gleiche Beklommenheit empfunden, wenn er in der Sakristei darauf wartete, dem Pfarrer zu dem vom zuckenden Schein der Kerzen beleuchteten Altar zu folgen. Er hatte die Schritte der unsichtbaren Gläubigen gehört, die ihre Plätze einnahmen, und das Kommen und Gehen des Küsters.

Auch jetzt konnte er den Ablauf der rituellen Zeremonie hinter der Tür verfolgen. Er kannte die Stimme des Vorsitzenden. Bernerie war der pedantischste und pingeligste aller Richter, aber vielleicht auch derjenige, der am gewissenhaftesten und leidenschaftlichsten um die Wahrheit bemüht war. Er war mager und kränklich, und mit seinen fiebrigen Augen und seinem trockenen Husten ähnelte er einem der Heiligen auf einem Kirchenfenster.

Dann hörte Maigret die Stimme des Staatsanwalts Aillevard, der die Anklage vertrat.

Schließlich nahten Schritte, der Gerichtsdiener öffnete die Tür einen Spaltbreit und rief:

»Herr Polizeikommissar Segré!«

Segré, der sich nicht gesetzt hatte, warf Maigret einen Blick zu und ging im Mantel, seinen grauen Hut in der Hand, in den Gerichtssaal. Die anderen sahen ihm einen Augenblick nach, wissend, dass auch sie bald an die Reihe kamen. Beklommen fragten sie sich, wie es werden würde.

Man konnte ein Stück des farblosen Himmels durch die unerreichbaren Fenster sehen. Sie waren so hoch angebracht, dass sie sich nur mithilfe einer Schnur öffnen und schließen ließen. Im elektrischen Licht wirkten die Gesichter mit den ausdruckslosen Augen wie geschnitzt.

Es war heiß, aber den Mantel auszuziehen hätte sich nicht gehört. Es gab Riten, die von jedem hinter der Tür befolgt wurden. Und obwohl Maigret praktisch von nebenan kam und nur durch die Flure des dunklen Palais de Justice hatte gehen müssen, trug auch er wie die anderen einen Mantel und hielt seinen Hut in der Hand.

Es war Oktober. Erst vor zwei Tagen war der Kommissar aus dem Urlaub nach Paris zurückgekehrt, wo es von früh bis spät regnete. Der Regen schien nicht wieder aufhören zu wollen. Das Gefühl, mit dem er seine Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir und dann sein Büro betreten hatte, war schwer zu beschreiben, vermutlich etwas zwischen Heiterkeit und Melancholie.

Wenn der Vorsitzende ihn gleich nach seinem Alter fragte, würde er antworten:

»Dreiundfünfzig.«

Was bedeutete, dass er vorschriftsgemäß in zwei Jahren pensioniert werden würde.

Er hatte oft daran gedacht und sich meistens darauf gefreut. Aber als er diesmal aus dem Urlaub zurückkehrte, war die Pensionierung keine vage, entfernte Vorstellung mehr, sondern lag logischer- und unvermeidlicherweise fast unmittelbar vor ihm.

In den drei Wochen an der Loire hatte die Zukunft der Maigrets in dem Moment Gestalt angenommen, als sie das Haus kauften, in dem sie ihre alten Tage verbringen würden.

Es war fast gegen ihren Willen geschehen. Wie in den Jahren zuvor waren sie in ihrem Hotel in Meung-sur-Loire abgestiegen. Dort fühlten sie sich wohl, und die Besitzer, die Fayets, behandelten sie wie Familienmitglieder.

Auf Aushängen an den Mauern der kleinen Stadt wurde die Versteigerung eines Hauses am Ortsrand angezeigt. Madame Maigret und er gingen hin, um es sich anzusehen. Es war ein sehr altes Gebäude, das mit seinem von grauen Steinmauern umschlossenen Garten an ein Pfarrhaus denken ließ.

Sie wurden über blau geflieste Flure geführt, drei Stufen hinunter in die mit dicken Deckenbalken versehene Küche, in der noch eine Wasserpumpe in der Ecke stand, und in den Salon, in dem es roch wie in einem klösterlichen Besucherraum. Und überall zerschnitten Sprossenfenster das einfallende Sonnenlicht auf mysteriöse Weise.

Bei der Versteigerung standen die Maigrets ganz hinten im Raum und blickten sich mehrmals fragend an. Sie waren beide davon überrascht, dass der Kommissar plötzlich die Hand hob, woraufhin sich einige Bauern nach ihnen umdrehten. Zum Zweiten … Zum Dritten … Zuschlag! Zum ersten Mal in ihrem Leben waren sie Hauseigentümer, und schon am nächsten Tag ließen sie Klempner und Tischler kommen.

In den letzten Ferientagen suchten sie sogar Antiquitätenhändler in der Gegend auf und kauften unter anderem eine Holztruhe mit dem Wappen von François I. Sie stand nun im Erdgeschoss im Flur, neben der Tür zum Salon, wo sich auch ein steinerner Kamin befand.

Maigret hatte weder Janvier oder Lucas noch sonst jemandem etwas davon erzählt, als schämte er sich, für die Zukunft zu sorgen, als hätte er den Quai des Orfèvres verraten.

Am Tag zuvor war ihm sein Büro verändert vorgekommen, und heute Morgen im Zeugenzimmer fühlte er sich, während er auf die Geräusche aus dem Gerichtssaal lauschte, wie ein Fremder.

In zwei Jahren würde er angeln, und an Winternachmittagen würde er in einer Ecke seines neuen Stammlokals mit anderen Stammgästen Belote spielen.

Der Vorsitzende Bernerie stellte genaue Fragen, und der Polizeikommissar des 9. Arrondissements beantwortete sie nicht weniger genau.

Die Zeugen, Männer und Frauen, die auf den Bänken rings um Maigret saßen, waren allesamt bei ihm im Büro gewesen, manche hatten mehrere Stunden dort verbracht. Waren sie von der Feierlichkeit dieses Ortes so eingeschüchtert, dass sie den Kommissar nicht wiederzuerkennen schienen?

Allerdings würde nicht er sie jetzt verhören. Sie hatten es nicht mit einem Menschen zu tun, sondern mit einem unpersönlichen Apparat, und es war nicht einmal sicher, ob sie die Fragen verstehen würden.

Die Tür öffnete sich halb. Jetzt war er an der Reihe. Wie sein Kollege vom 9. Arrondissement behielt er seinen Hut in der Hand, und ohne nach links oder rechts zu blicken, ging er auf den halbmondförmigen Zeugenstand zu.

»Ihr Name, Vorname, Alter und Beruf.«

»Maigret, Jules, dreiundfünfzig Jahre, Hauptkommissar bei der Kriminalpolizei in Paris.«

»Sie sind mit dem Angeklagten weder verwandt, noch stehen Sie in seinen Diensten. Heben Sie die rechte Hand. Schwören Sie, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit.«

»Ich schwöre.«

Zu seiner Rechten sah er die Silhouetten der Geschworenen, hellere Gesichter, die aus dem Halbdunkel hervortraten, und zur Linken, hinter den schwarzen Roben der Anwälte, den Angeklagten, der zwischen zwei Aufsehern saß. Er stützte das Kinn auf die gefalteten Hände und musterte ihn eindringlich.

Viele Stunden lang hatten sie zu zweit in dem überheizten Büro am Quai des Orfèvres verbracht, und immer wieder hatten sie das Verhör unterbrochen, um Sandwiches zu essen, Bier zu trinken und sich wie alte Freunde zu unterhalten.

»Hören Sie, Meurant …«

Hatte Maigret ihn nicht sogar manchmal geduzt?

Hier aber gab es eine unüberwindbare Barriere zwischen ihnen, und Gaston Meurant blickte ebenso ausdruckslos wie der Kommissar.

Der Vorsitzende Richter Bernerie und Maigret kannten sich auch, nicht nur weil sie hin und wieder in den Fluren plauderten, sondern weil der eine den anderen nun zum dreißigsten Mal einem Verhör unterzog.

Doch sie ließen sich beide nichts anmerken. Jeder spielte seine Rolle, als wären sie einander völlig unbekannt, Offizianten in einer Zeremonie, die so alt und rituell war wie eine Messe.

»Sie, Herr Hauptkommissar, haben doch in dem Fall, der hier heute verhandelt wird, die Voruntersuchung geführt?«

»Ja, Herr Vorsitzender.«

»Bitte erzählen Sie den Herren Geschworenen, was Sie wissen.«

»Am 28. Februar dieses Jahres wurde ich mittags gegen eins in meinem Büro am Quai des Orfèvres vom Polizeikommissar des 9.Arrondissements angerufen. In der Rue Manuel, ganz in der Nähe der Rue des Martyrs, war ein Verbrechen entdeckt worden, und er wollte sich zum Tatort begeben. Wenig später kam ein Anruf von der Staatsanwaltschaft. Ich sollte meinerseits hingehen und die Männer vom Erkennungsdienst hinbestellen.«

Maigret hörte hinter sich vereinzeltes Husten und das Schaben von Schuhsohlen auf dem Boden. Es war die erste Verhandlung nach den Gerichtsferien, und alle Plätze waren besetzt. Wahrscheinlich standen sogar Zuhörer neben der von Justizwachtmeistern bewachten Tür.

Der Vorsitzende Bernerie gehörte zu jener Minderheit von Richtern, die die Strafprozessordnung wortwörtlich auslegten. Deshalb begnügte er sich in der Schwurgerichtsverhandlung nicht mit einem Resümee der Ermittlung, sondern rekonstruierte sie bis in die Einzelheiten.

»Haben Sie einen Vertreter der Staatsanwaltschaft am Tatort angetroffen?«

»Ich war kurz vor ihm da. Ich fand dort Kommissar Segré, seinen Sekretär und zwei Inspektoren aus dem Viertel vor. Keiner von den vieren hatte etwas angerührt.«

»Sagen Sie uns, was Sie gesehen haben.«

»Die Rue Manuel ist eine friedliche, bürgerliche Straße mit wenig Verkehr. Sie mündet in die untere Rue des Martyrs. Die Nummer siebenundzwanzig ist ungefähr in der Mitte. Die Loge der Concierge liegt nicht im Erdgeschoss, sondern im Zwischenstock. Der Inspektor, der mich erwartete, führte mich in den zweiten Stock. Ich sah zwei Türen. Die rechte stand halb offen, und auf einem kleinen Messingschild las ich den Namen Madame Faverges.«

Maigret wusste, dass er nichts auslassen durfte, wenn er nicht schroff zur Ordnung gerufen werden wollte, denn für den Vorsitzenden Bernerie war alles wichtig.

»Der Vorraum wurde von einer matten elektrischen Birne erleuchtet. Ich habe dort nichts Ungewöhnliches bemerkt.«

»Einen Augenblick. Waren an der Tür Spuren einer gewaltsamen Öffnung zu sehen?«

»Nein. Ein Spezialist hat die Tür später untersucht. Er hat das Schloss herausgenommen und festgestellt, dass keins der Werkzeuge verwendet worden ist, die sonst bei Einbrüchen benutzt werden.«

»Ich danke Ihnen. Fahren Sie fort.«

»Die Wohnung besteht aus weiteren vier Räumen. Die Glastür zum Salon gegenüber dem Vorzimmer ist mit einer cremefarbenen Gardine bespannt. In diesem Raum, den eine weitere Glastür mit dem Esszimmer verbindet, habe ich die beiden Toten gesehen.«

»Wo befanden sie sich genau?«

»Der weibliche Leichnam – ich weiß inzwischen, dass sie Léontine Faverges hieß – lag auf dem Teppich, den Kopf Richtung Fenster. Ihre Kehle war durchgeschnitten, die Tatwaffe nirgends zu sehen, die Blutlache auf dem Teppich mindestens fünfzig Zentimeter groß. Was die Leiche des Kindes betrifft …«

»Es handelt sich doch um die vierjährige Cécile Perrin, die bei Léontine Faverges lebte?«

»Ja, Herr Vorsitzender. Ihre Leiche lag zusammengekauert auf einem Louis-XV.-Sofa, das Gesicht war unter Seidenkissen vergraben. Wie der Arzt des Viertels und wenig später Doktor Paul feststellten, wurde das Kind, nachdem es offenbar hatte erwürgt werden sollen, mit diesen Kissen erstickt.«

Es wurde unruhig im Saal, aber der Vorsitzende Richter brauchte nur den Kopf zu heben. Ein Blick über die Reihen der Zuschauer, und es war wieder still.

»Sind Sie, nachdem der Vertreter der Staatsanwaltschaft gegangen war, bis zum Abend mit Ihren Mitarbeitern in der Wohnung geblieben?«

»Ja, Herr Vorsitzender.«

»Sagen Sie uns, welche Beobachtungen Sie gemacht haben.«

Maigret zögerte nur kurz.

»Gleich zu Beginn fiel mir die Einrichtung auf. Léontine Faverges hatte in ihren Papieren angegeben, keinem Beruf nachzugehen. Sie lebte von einer kleinen Rente und hatte Cécile Perrin in Pflege. Deren Mutter ist Animierdame in einem Nachtlokal und konnte sich nicht selbst um das Kind kümmern.«

Als er in den Saal kam, hatte Maigret die Mutter, Juliette Perrin, in der ersten Reihe der Zuhörer sitzen sehen, denn sie trat als Nebenklägerin auf. Ihr Haar war rot gefärbt, und sie trug einen Pelzmantel.

»Sagen Sie uns genau, was Sie in der Wohnung überrascht hat.«

»Ein ungewöhnlicher Geschmack, ein besonderer Stil, der mich an gewisse Wohnungen aus der Zeit vor dem Prostitutionsgesetz erinnerte. Im Salon zum Beispiel war alles sehr gedämpft, flauschig, es gab eine Fülle von Teppichen und Kissen, an den Wänden galante Stiche. Die Lampenschirme hatten zarte Farben, genau wie in den beiden Schlafzimmern, wo ungewöhnlich viele Spiegel hingen.

Ich habe später erfahren, dass Léontine Faverges ihre Wohnung früher tatsächlich als Bordell benutzte. Auch nach dem Erlass der neuen Gesetze hat sie das Gewerbe noch eine Weile betrieben. Mehrmals musste sich das Sittendezernat mit ihr befassen, und erst nach einigen Geldstrafen hat sie jede Tätigkeit dieser Art aufgegeben.«

»Konnten Sie herausfinden, wovon sie gelebt hat?«

»Nach den Aussagen der Concierge, der Nachbarinnen und Bekannten hatte sie Ersparnisse. Sie war sparsam. Als Schwester der Mutter des Angeklagten ist sie eine geborene Meurant. Sie kam mit achtzehn Jahren nach Paris und arbeitete eine Zeit lang als Verkäuferin in einem Warenhaus. Mit zwanzig heiratete sie einen Handelsvertreter namens Faverges. Der kam drei Jahre später bei einem Autounfall ums Leben. Das Ehepaar wohnte damals in Asnières. Ein paar Jahre trieb sich die junge Frau in den Brasserien in der Rue Royal herum und war beim Sittendezernat registriert.«

»Befindet sich unter den Männern, mit denen sie damals verkehrte, vielleicht einer, der sich vor Kurzem plötzlich an sie erinnert hat und ihr übel mitspielen wollte?«

»Sie galt in ihrem Milieu als Einzelgängerin, was selten vorkommt. Sie hat immer Geld beiseitegelegt. So konnte sie sich später in der Rue Manuel niederlassen.«

»Als sie starb, war sie zweiundsechzig Jahre alt?«

»Ja. Sie hatte stark zugenommen, sich aber, soweit ich es beurteilen kann, ein jugendliches Aussehen und eine gewisse Eitelkeit bewahrt. Nach den Zeugenaussagen hing sie sehr an dem kleinen Mädchen, das sie zu sich in Pflege genommen hatte. Und zwar weniger deswegen, weil es ihr Geld einbrachte, als aus Angst vor der Einsamkeit.«

»Besaß sie ein Konto auf einer Bank oder einer Sparkasse?«

»Nein. Sie traute keinem Kreditinstitut, keinem Notar und keiner Geldanlage. Ihren Besitz bewahrte sie bei sich auf.«

»Hat man Geld gefunden?«

»Sehr wenig. Etwas Kleingeld und kleine Scheine in einer Handtasche und in einer Küchenschublade.«

»Gab es ein Versteck, und wenn, haben Sie es entdeckt?«

»Offenbar ja. Wenn Léontine Faverges krank war, was in den vergangenen Jahren zwei- oder dreimal vorgekommen ist, besorgte die Concierge den Haushalt und kümmerte sich um das Kind. Auf einer Kommode im Salon stand eine chinesische Vase mit künstlichen Blumen. Eines Tages nahm die Concierge die Blumen heraus, um sie abzustauben, und fand unten in der Vase einen kleinen Leinensack. Ihr schien, dass er Goldstücke enthielt. Sie behauptet, es müssen mehr als tausend darin gewesen sein, so groß und schwer war das Säckchen. Wir haben in meinem Büro das Experiment mit einem Leinensack und tausend Goldmünzen durchgeführt. Demnach können es tatsächlich tausend gewesen sein. Ich habe die Angestellten verschiedener Banken in der Umgebung befragen lassen. In der Filiale des Crédit Lyonnais erinnerte man sich an eine Frau, die der Personenbeschreibung von Léontine Faverges entsprach. Sie hat mehrmals Aktien gekauft. Einer der Kassierer, ein Monsieur Durat, hat sie auf dem Foto eindeutig wiedererkannt.«

»Es ist also wahrscheinlich, dass sich diese Aktien ebenso wie die Goldmünzen in der Wohnung befanden. Aber Sie haben nichts gefunden?«

»Nein, Herr Vorsitzender. Selbstverständlich wurden die ganze Wohnung, die chinesische Vase, alle Schubladen auf Fingerabdrücke untersucht.«

»Ohne Ergebnis?«

»Es waren nur die Fingerabdrücke der beiden Bewohnerinnen zu finden und in der Küche die eines Botenjungen. Sein Tagesablauf wurde überprüft. Er hat am Morgen des Siebenundzwanzigsten zum letzten Mal etwas geliefert. Nun ergibt die Obduktion der Leiche aber, wie Doktor Paul sagt, dass das Verbrechen am 27. Februar zwischen fünf Uhr nachmittags und acht Uhr abends begangen wurde.«

»Haben Sie alle Bewohner des Hauses vernommen?«

»Ja, Herr Vorsitzender. Sie haben bestätigt, was mir die Concierge schon gesagt hatte, dass nämlich Léontine Faverges nie einen Mann empfing, abgesehen von ihren beiden Neffen.«

»Meinen Sie den Angeklagten Gaston Meurant und seinen Bruder Alfred?«

»Laut der Concierge besuchte Gaston Meurant seine Tante ziemlich regelmäßig, ein- oder zweimal im Monat. Zum letzten Mal vor ungefähr drei Wochen. Der Bruder Alfred Meurant dagegen erschien nur selten in der Rue Manuel, er war bei Madame Faverges nicht gut angesehen. Ihre Flurnachbarin, eine Schneiderin namens Solange Sorris, hat erklärt, dass eine ihrer Kundinnen am 27. Februar um halb sechs zur Anprobe zu ihr kam. Diese Person heißt Madame Ernie und wohnt in der Rue Saint-Georges. In dem Moment, als sie die Treppe hinaufstieg, verließ ein Mann die Wohnung der Toten, sagt sie. Er bemerkte sie und änderte die Richtung. Statt die Treppe hinunter, ging er in den dritten Stock hinauf. Sein Gesicht konnte sie nicht genau erkennen, das Treppenhaus ist schlecht beleuchtet. Ihrer Meinung nach trug der Mann einen marineblauen Anzug und einen braunen Regenmantel mit Gürtel.«

»Sagen Sie uns, wie Sie mit dem Angeklagten in Verbindung getreten sind.«

»Während meine Männer und ich am Nachmittag des 28. Februar noch die Wohnung untersuchten und begannen, die Mieter des Hauses zu vernehmen, wurde in den Zeitungen schon über Einzelheiten des Mordes berichtet.«

»Einen Augenblick. Wie wurde das Verbrechen entdeckt?«

»Gegen Mittag des Tages, ich meine den Achtundzwanzigsten, wunderte sich die Concierge, dass sie bisher weder Léontine Faverges noch die Kleine gesehen hatte. Das Mädchen ging morgens in einen Kindergarten im Viertel. Sie klingelte daraufhin an der Tür. Da niemand antwortete, ging sie etwas später noch einmal hinauf, aber wieder meldete sich niemand. Schließlich rief sie auf dem Kommissariat an. Was Gaston Meurant angeht, so wusste die Concierge nur, dass er Bilderrahmen macht und gegenüber dem Père-Lachaise wohnt. Ich brauchte ihn nicht suchen zu lassen, denn am nächsten Morgen …«

»Also am 1. März.«

»Richtig. Am nächsten Morgen kam er von sich aus aufs Kommissariat des 9. Arrondissements. Er gab an, der Neffe der Ermordeten zu sein, woraufhin der Kommissar ihn zu mir schickte.«

Der Vorsitzende Bernerie gehörte nicht zu jenen Richtern, die sich Notizen machten oder während der Verhandlung ihre Post erledigten. Auch döste er nicht, sondern blickte unentwegt zwischen dem Zeugen und dem Angeklagten hin und her und warf manchmal auch einen kurzen Blick zu den Geschworenen.

»Erzählen Sie uns so genau wie möglich von ihrem ersten Gespräch mit Gaston Meurant.«

»Er trug einen grauen Anzug und einen beigefarbenen, ziemlich abgenutzten Regenmantel. Er wirkte etwas eingeschüchtert von der Umgebung. Ich hatte den Eindruck, dass seine Frau ihn zu diesem Besuch gedrängt hatte.«

»War sie mitgekommen?«