Maigrets Geständnis - Georges Simenon - E-Book

Maigrets Geständnis E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Der Mitinhaber des Pharmakonzerns Josset & Virieu hat sich der Polizei gestellt – Adrien Josset wird verdächtigt, seine Frau ermordet zu haben. Er hat eine junge Geliebte und deren Vater versprochen, sie zu heiraten. Doch im Verhör beteuert er seine Unschuld. Maigret ist versucht, Josset zu glauben, zumal bei den Ermittlungen des Untersuchungsrichters offenbar einiges unter den Teppich gekehrt wird. Für die Presse steht Jossets Schuld längst fest, und Maigret scheinen die Hände gebunden zu sein.

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Der 54. Fall

Georges Simenon

Maigrets Geständnis

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung

Kampa

1Der Reiskuchen von Madame Pardon

Das Dienstmädchen hatte den Reiskuchen in die Mitte des runden Tisches gestellt, und Maigret bemühte sich, sowohl überrascht als auch glücklich auszusehen, als Madame Pardon ihm errötend einen verschmitzten Blick zuwarf.

Es war nicht der erste Reiskuchen in den vier Jahren. So lange pflegten die Maigrets einmal im Monat am Boulevard Voltaire bei den Pardons zu Abend zu essen, und vierzehn Tage später kamen die Pardons in die Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir, wo sich dann Madame Maigret mächtig ins Zeug legte.

Im fünften oder sechsten Monat hatte Madame Pardon einen Reiskuchen aufgetischt. Maigret hatte zweimal nachgenommen und gesagt, der Kuchen erinnere ihn an seine Kindheit. Seit vierzig Jahren habe er keinen so vorzüglichen gegessen, was auch stimmte.

Seitdem endete jedes Abendessen bei den Pardons in ihrer neuen Wohnung am Boulevard Voltaire mit diesem schweren Dessert, das sowohl das Süße und Erholsame wie auch das etwas Glanzlose der Zusammenkünfte betonte.

Die Maigrets hatten keine Verwandtschaft in Paris und kannten deshalb solche Abende nicht, die man an feststehenden Terminen bei Angehörigen verbringt. Die Essen bei den Pardons erinnerten sie an Besuche bei Tanten und Onkeln in ihrer Kindheit.

An diesem Abend war auch Alice mit ihrem Mann anwesend. Sie kannten die Tochter der Pardons schon seit deren Gymnasialzeit. Sie war seit einem Jahr verheiratet und im siebten Monat schwanger. Sie hatte die sogenannte »Maske«, rote Flecken auf der Nase und unter den Augen. Ihr junger Ehemann wachte darüber, dass sie genügend aß.

Maigret wollte gerade wieder den köstlichen Reiskuchen seiner Gastgeberin loben, als das Telefon klingelte, zum dritten Mal seit der Suppe. Die Freunde kannten das schon und fragten sich zu Beginn des Abends im Spaß, ob der Doktor es wohl bis zum Dessert schaffen würde, ohne von einem seiner Patienten angerufen zu werden.

Der Apparat stand auf einer Konsole, über der ein Spiegel hing. Pardon, die Serviette noch in der Hand, nahm den Hörer.

»Hallo, hier Doktor Pardon.«

Alle sahen zu ihm hin. Eine sehr schrille Stimme ließ den Hörer vibrieren. Außer dem Arzt konnte niemand die Worte verstehen. Man hörte nur aufeinanderfolgende Töne, wie von einer zu schnell abgespielten Schallplatte.

Maigret runzelte die Brauen. Das Gesicht seines Freundes wurde ernst und ein wenig beklommen.

»Ja … Ich höre Ihnen zu, Madame Kruger … Ja.«

Die Frau am anderen Ende der Leitung bedurfte keiner Ermunterung, um zu sprechen. Die Laute überschlugen sich und bildeten, jedenfalls für die, die nicht den Hörer am Ohr hatten, eine unverständliche, aber eindringliche Litanei.

In Pardons Mimik spiegelte sich stumm ein Drama. Der Arzt, der noch kurz zuvor entspannt und amüsiert die Szene mit dem Reiskuchen verfolgt hatte, wirkte jetzt wie weit entfernt von dem stillen bürgerlichen Esszimmer.

»Ich verstehe, Madame Kruger … Ja, ich weiß … Wenn es eine Hilfe für Sie ist, komme ich gern.«

Der Blick, den Madame Pardon den beiden Maigrets zuwarf, besagte:

»Da haben wir’s. Wir müssen wieder einmal ohne ihn weiteressen.«

Aber sie irrte sich. Immer noch schrillte die Stimme im Telefon. Dem Arzt wurde noch unbehaglicher zumute.

»Ja … Offenbar … Versuchen Sie, ihn ins Bett zu bringen.«

Seine Ohnmacht und Ratlosigkeit waren ihm anzusehen.

»Ich weiß, ja. Ich könnte nicht mehr für ihn tun als Sie.«

Keiner aß. Niemand am Tisch sagte ein Wort.

»Sie müssen sich darüber klar sein, wenn das so weitergeht, sind Sie es, die …«

Er seufzte und strich sich mit der Hand über die Stirn. Mit fünfundvierzig Jahren war er schon fast kahl.

Schließlich sagte er seufzend und mit matter Stimme, als gäbe er einem unerträglichen Druck nach:

»Also geben Sie ihm eine von den rosa Tabletten … Nein! Nur eine! Wenn sich in einer halben Stunde noch keine Wirkung zeigt …«

Alle meinten, die Erleichterung am anderen Ende der Leitung zu spüren.

»Nein, ich bin zu Hause … Guten Abend, Madame Kruger.«

Er legte auf und setzte sich wieder an den Tisch. Niemand stellte ihm Fragen. Es dauerte mehrere Minuten, bis die Unterhaltung wieder in Gang kam. Aber Pardon war abwesend. Der Abend verlief nach dem traditionellen Rhythmus. Man erhob sich, um den Kaffee im Salon zu trinken. Dort war der Tisch mit Zeitschriften bedeckt, denn während der Sprechzeiten diente dieser Raum als Wartezimmer.

Die beiden Fenster standen offen. Es war Mai. Der Abend war milde, und die Pariser Luft roch trotz der Autos und Busse nach Frühling. Familien aus dem Viertel schlenderten über den Boulevard Voltaire, und auf der Terrasse gegenüber saßen zwei Männer in Hemdsärmeln.

Der Kaffee war nachgeschenkt, die Frauen hatten sich mit ihrem Strickzeug in ihrer gewohnten Ecke niedergelassen, Pardon und Maigret saßen an einem der Fenster. Alice’ junger Ehemann zögerte, welcher Gruppe er sich anschließen sollte, und setzte sich schließlich zu seiner Frau.

Es stand schon fest, dass Madame Maigret die Patin des Kindes sein würde, und sie strickte ihm ein Jäckchen.

Pardon steckte sich eine Zigarre an. Maigret stopfte seine Pfeife. Beiden stand der Sinn nicht nach einem Gespräch, und so saßen sie eine ganze Weile schweigend da, während das Gemurmel der Frauen zu ihnen herüberklang.

Schließlich sagte der Arzt leise und wie zu sich selbst:

»Wieder mal ein Abend, an dem ich wünschte, ich hätte einen anderen Beruf.«

Maigret drängte ihn nicht, sich auszusprechen. Er mochte Pardon sehr. In seinen Augen war er ein echter Mensch im wahren Sinn des Wortes.

Pardon sah verstohlen auf seine Uhr.

»Vielleicht dauert es drei oder vier Stunden, aber es könnte auch jeden Moment sein, dass sie mich ruft.«

Er fuhr fort, ohne die Einzelheiten auszuschmücken, sodass man sich aus den Stichworten ein Bild machen musste:

»Ein kleiner Schneider, polnischer Jude, wohnt in der Rue Popincourt über einer Kräuterhandlung. Fünf Kinder, das älteste neun Jahre alt, die Frau erwartet das sechste.«

Er blickte unwillkürlich hinüber zu seiner Tochter.

»Aus medizinischer Sicht ist er nicht zu retten. Seit fünf Wochen quält er sich und kann nicht sterben. Ich habe alles versucht, damit er ins Krankenhaus geht. Aber wenn ich nur das Wort ausspreche, gerät er außer sich, ruft seine Familie herbei, weint, stöhnt, fleht sie an, sie dürften nicht zulassen, dass man ihn gewaltsam fortbringt.«

Pardon rauchte seine erste und einzige Zigarre an diesem Tag ohne Freude.

»Sie hausen in zwei Zimmern. Die Kinder schreien. Die Frau ist am Ende ihrer Kräfte. Sie müsste ich eigentlich behandeln, aber solange der Zustand andauert, bin ich machtlos. Vor dem Essen war ich dort, habe dem Mann eine Spritze gegeben und seiner Frau ein Beruhigungsmittel. Aber es wirkt bei beiden nicht mehr. Während wir hier beim Essen saßen, hat er angefangen zu stöhnen, dann vor Schmerzen gebrüllt, und seine Frau, die selbst …«

Maigret zog an seiner Pfeife und murmelte:

»Ich glaube, ich verstehe.«

»Gesetzlich, medizinisch darf ich ihm keine weitere Dosis geben. Es ist nicht der erste Telefonanruf dieser Art. Bisher konnte ich sie überzeugen.«

Er sah den Kommissar an, als wollte er ihn um Nachsicht bitten.

»Versetzen Sie sich in meine Lage.«

Wieder sah er verstohlen auf seine Uhr. Wie lange würde der Kranke sich noch quälen müssen?

Es war ein milder Abend, in der Luft hing eine gewisse Trägheit. Aus der Ecke des Salons hörte man das Gemurmel der Frauen und das rhythmische Klappern der Nadeln.

Zögerlich sagte Maigret:

»Es ist bei mir natürlich nicht ganz dasselbe. Aber wie oft habe auch ich mir gewünscht, ich hätte einen anderen Beruf gewählt.«

Es kam kein richtiges Gespräch auf, in dem ein Wort das andere gibt. Stattdessen entstanden immer wieder Löcher und Pausen, und aus Maigrets Pfeife stiegen die Rauchwölkchen auf.

»Seit einiger Zeit haben wir bei der Polizei nicht mehr die gleichen Befugnisse wie früher und infolgedessen auch nicht mehr die gleiche Verantwortung.«

Er dachte laut. Er fühlte sich Pardon sehr nah, was auf Gegenseitigkeit beruhte.

»Ich habe während meiner Laufbahn erlebt, wie unsere Befugnisse immer stärker zugunsten der Richter eingeschränkt wurden. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Jedenfalls war es nie unsere Aufgabe, ein Urteil zu fällen. Es ist Sache der Gerichte und der Geschworenen zu entscheiden, ob ein Mensch schuldig ist oder nicht, ob und in welchem Maß er verantwortlich gemacht werden kann.«

Während er sprach, spürte er die Spannung seines Freundes, spürte, dass er mit seinen Gedanken anderswo war, in den beiden Zimmern in der Rue Popincourt, wo der polnische Schneider im Sterben lag.

»Selbst heute noch, da wir nur noch Werkzeuge der Staatsanwaltschaft und des Untersuchungsrichters sind, gibt es immer den Augenblick, in dem wir eine folgenschwere Entscheidung treffen müssen. Denn schließlich können sich die Richter und Geschworenen erst aufgrund unserer Untersuchung und des von uns zusammengetragenen Beweismaterials eine Meinung bilden. Allein die Tatsache, dass jemand verdächtigt wird, dass er am Quai erscheinen soll und seine Familie, seine Freunde, die Concierge und die Nachbarn nach ihm ausgefragt werden, kann sein Leben völlig verändern.«

Es war Pardon, der jetzt murmelte:

»Ich verstehe.«

»War dieser Mensch fähig, ein Verbrechen zu begehen? Was man auch tut, es ist fast immer unsere Aufgabe, diese Frage zu stellen. Oft gibt es gar keine Indizien, oder sie sind wenig überzeugend.«

Das Telefon klingelte. Es war, als hätte Pardon Angst, an den Apparat zu gehen. Seine Tochter nahm den Hörer ab.

»Ja, Monsieur … Nein … Sie haben sich verwählt.«

Lächelnd erklärte sie:

»Unsere Nummer wird oft mit der vom Vertus verwechselt.«

Das Vertus war ein Tanzlokal in der Rue du Chemin Vert mit einer ähnlichen Telefonnummer.

Maigret fuhr halblaut fort:

»War der Mensch, den man vor sich hat und der ganz normal wirkt, fähig zu töten? Verstehen Sie, was ich sagen will, Pardon? Es geht nicht darum zu entscheiden, ob er schuldig oder unschuldig ist. Das ist nicht Sache der Kriminalpolizei. Und doch müssen wir uns fragen, ob es möglich ist, dass … Und insofern urteilen wir eben doch! Mir graut davor! Wenn ich das gewusst hätte, als ich bei der Polizei eintrat, ich weiß nicht, ob ich dann …«

Ein längeres Schweigen folgte. Er klopfte seine Pfeife aus und zog eine andere aus der Tasche, die er bedächtig und fast zärtlich stopfte.

»Ich erinnere mich an einen Fall, der noch nicht so lang zurückliegt. Haben Sie die Affäre Josset verfolgt?«

»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»In den Zeitungen wurde viel darüber geschrieben, aber die Wahrheit, sofern es die gab, kam nie wirklich ans Licht.«

Es geschah selten, dass Maigret von einem Fall sprach, mit dem er sich befasst hatte. Manchmal wurde unter Kollegen am Quai des Orfèvres auf einen berühmten Fall angespielt, auf eine schwierige Ermittlung, aber immer nur in wenigen Worten.

»Ich sehe Josset noch vor mir, am Ende seines ersten Verhörs. Da war der Augenblick, in dem ich mir diese Frage stellen musste. Ich könnte Ihnen das Protokoll zu lesen geben, um Ihre Meinung zu hören. Aber selbst wenn – Sie hätten eben nicht den Mann zwei Stunden lang vor sich gehabt, nicht seine Stimme gehört, nicht seine Mimik beobachtet.«

 

Es war in Maigrets Büro am Quai des Orfèvres an einem Dienstag – er erinnerte sich genau an den Tag –, nachmittags gegen drei Uhr. Auch damals war Frühling, Ende April oder Anfang Mai.

Als der Kommissar an jenem Morgen in sein Büro kam, wusste er noch nichts von dem Fall. Erst gegen zehn Uhr war er unterrichtet worden, zunächst von der Polizei in Auteuil und dann von Untersuchungsrichter Coméliau.

Es hatte an dem Tag eine gewisse Verwirrung geherrscht. Das Polizeirevier in Auteuil behauptete, es habe die Kriminalpolizei schon in den frühen Morgenstunden von der Sache in Kenntnis gesetzt, aber aus irgendeinem Grund schien die Nachricht nicht angekommen zu sein.

Es war fast elf Uhr, als Maigret in der Rue Lopert, zwei- oder dreihundert Meter von der Kirche in Auteuil entfernt, aus dem Wagen gestiegen war. Er kam als Allerletzter. Journalisten und Fotografen waren schon da, umgeben von vielen Neugierigen, die von Polizisten zurückgedrängt wurden. Vertreter der Staatsanwaltschaft waren ebenfalls bereits eingetroffen, und fünf Minuten später erschienen die Männer vom Erkennungsdienst.

Um zehn Minuten nach zwölf ließ der Kommissar Adrien Josset in sein Büro eintreten, einen gutaussehenden Mann von vierzig Jahren. Er war ziemlich schlank und strahlte Eleganz aus, obwohl er unrasiert war und sein Anzug etwas zerknittert.

»Nehmen Sie bitte Platz.«

Maigret hatte die Tür zum Büro der Inspektoren geöffnet und den jungen Lapointe gerufen.

»Bring Block und Bleistift mit.«

Das Büro war von Sonne durchflutet, und durch die offenen Fenster drangen die Geräusche von Paris herein. Lapointe, der gleich verstanden hatte, dass er das Verhör mitstenographieren sollte, setzte sich an eine Ecke des Tischs. Maigret stopfte seine Pfeife und beobachtete mehrere Lastkähne, die hintereinander die Seine hinauffuhren, während sich ein Mann in einem Boot treiben ließ.

»Ich bin leider gezwungen, Ihre Antworten auf meine Fragen zu Protokoll zu nehmen, Monsieur Josset. Sie sind nicht zu erschöpft?«

Der Mann schüttelte den Kopf, wobei er ein wenig bitter lächelte. Er hatte die Nacht nicht geschlafen und war von der Polizei von Auteuil schon lange verhört worden.

Maigret hatte das Protokoll nicht gelesen. Er wollte sich erst selbst ein Bild machen.

»Beginnen wir mit den einfachen Fragen zur Person. Name, Vorname, Alter, Beruf …«

»Adrien Josset, vierzig Jahre alt, geboren in Sète im Hérault …«

Wenn man das wusste, hörte man auch den leichten südlichen Akzent.

»Beruf des Vaters?«

»Lehrer. Er ist vor zehn Jahren gestorben.«

»Lebt Ihre Mutter?«

»Ja. Sie wohnt noch in demselben kleinen Haus in Sète.«

»Haben Sie in Paris studiert?«

»In Montpellier.«

»Sie sind, glaube ich, Apotheker?«

»Ich habe Pharmazie studiert und dann zwei Semester Medizin. Das Medizinstudium habe ich wieder aufgegeben.«

»Warum?«

Er zögerte. Maigret merkte, dass sein Zögern eine Art Aufrichtigkeit war. Er bemühte sich, genau und wahrhaftig zu antworten, bis jetzt wenigstens.

»Es gab vermutlich mehrere Gründe dafür. Am wichtigsten war, dass meine Freundin mit ihren Eltern nach Paris zog.«

»War das die Frau, die Sie dann geheiratet haben?«

»Nein, unsere Beziehung hielt nur noch ein paar Monate. Ich glaube auch, ich hatte kein Talent für die Medizin. Meine Eltern waren nicht wohlhabend, sie mussten sich sehr einschränken, damit ich studieren konnte. Ich hätte mich nach der Approbation nur schwer als Arzt niederlassen können.«

Er strengte sich an, trotz seiner Müdigkeit den Faden nicht zu verlieren. Manchmal warf er Maigret einen Blick zu, als wollte er prüfen, welchen Eindruck seine Worte auf den Kommissar machten.

»Ist das wichtig?«

»Alles kann wichtig sein.«

»Ich verstehe … Ich frage mich, ob ich eine ausgesprochene Neigung für irgendeinen Beruf hatte. Ich hörte, dass die Laboratorien gute Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Die meisten pharmazeutischen Firmen betreiben Forschungslabore. Als ich nach Paris kam, mit meinem pharmazeutischen Diplom in der Tasche, habe ich mich um eine solche Stellung bemüht.«

»Ohne Erfolg?«

»Das Einzige, was ich fand, war eine Vertretung in einer Apotheke. Und danach in noch einer.«

Es war heiß. Auch dem Kommissar, der in seinem Büro auf und ab ging und manchmal am Fenster stehen blieb, war heiß.

»Hat man Ihnen diese Fragen in Auteuil gestellt?«

»Nein. Nicht die gleichen. Sie versuchen herauszufinden, wer ich bin. Das verstehe ich. Wie Sie sehen, bemühe ich mich, Ihnen aufrichtig zu antworten. Ich glaube, ich bin weder besser noch schlechter als andere.«

Er musste sich den Schweiß von der Stirn wischen.

»Haben Sie Durst?«

»Vielleicht …«

Maigret öffnete die Tür zum Büro der Inspektoren.

»Janvier, würden Sie uns bitte etwas zu trinken heraufbringen lassen?«

Und zu Josset:

»Bier?«

»Ja, gern.«

»Haben Sie Hunger?«

Ohne die Antwort abzuwarten, sagte er zu Janvier:

»Bier und Sandwiches.«

Josset lächelte traurig.

»Davon habe ich gelesen …«, murmelte er.

»Was haben Sie gelesen?«

»Bier, Sandwiches … Der Kommissar und die Inspektoren, die sich beim Verhör ablösen … Das macht allmählich die Runde, nicht wahr? Ich ahnte nicht, dass eines Tages ich …«

Er hatte schöne Hände, die seine Nervosität verrieten.

»Ich weiß, wie man hier hereinkommt, aber …«

»Seien Sie beruhigt, Monsieur Josset. Ich versichere Ihnen, ich bin nicht voreingenommen Ihnen gegenüber.«

»Der Inspektor auf dem Revier in Auteuil war es.«

»Hat er Sie stark bedrängt?«

»Er hat mich sehr grob behandelt und dabei Worte gebraucht, die … Nun, wer weiß, ob ich an seiner Stelle …«

»Kommen wir auf Ihre Anfänge in Paris zurück. Wie lange hat es gedauert, bis Sie Ihre zukünftige Frau kennenlernten?«

»Ungefähr ein Jahr. Ich war fünfundzwanzig und arbeitete in einer englischen Apotheke im Faubourg Saint-Honoré, als ich ihr zum ersten Mal begegnete.«

»War sie dort Kundin?«

»Ja.«

»Ihr Mädchenname?«

»Fontane … Christine Fontane. Aber sie trug noch den Namen ihres Ehemanns, Lowell. Er war wenige Monate zuvor gestorben. Er stammte aus der englischen Bierbrauerfamilie. Sie haben den Namen bestimmt schon auf Bierflaschen gesehen.«

»Sie war also seit einigen Monaten Witwe – und wie alt?«

»Neunundzwanzig.«

»Kinder?«

»Nein.«

»Reich?«

»O ja. Sie war eine der besten Kundinnen in den Luxusläden des Fauborg Saint-Honoré.«

»Sind Sie ihr Geliebter geworden?«

»Sie führte ein sehr freies Leben.«

»Schon, als ihr Mann noch lebte?«

»Das nehme ich an.«

»Aus welchem Milieu kam sie selbst?«

»Aus einem bürgerlichen … Die Familie war nicht vermögend, aber es ging ihr gut. Christine ist im 16. Arrondissement aufgewachsen. Ihr Vater war Vorsitzender mehrerer Aufsichtsräte.«

»Sie haben sich in sie verliebt.«

»Ja, sehr schnell.«

»Hatten Sie da die Beziehung zu Ihrer Freundin aus Montpellier schon abgebrochen?«

»Schon seit einigen Monaten.«

»War zwischen Christine Lowell und Ihnen sofort von Heirat die Rede?«

Er zögerte nur einen Augenblick.

»Nein.«

Jemand klopfte an die Tür. Es war der Kellner der Brasserie Dauphine, der das Bier und die Sandwiches brachte. Das verschaffte ihnen eine Pause. Josset aß nichts, sondern trank nur ein halbes Glas Bier. Maigret ging weiter auf und ab, während er ein Sandwich aß.

»Können Sie mir sagen, wie das gekommen ist?«

»Ich will es versuchen. Aber es ist nicht leicht, immerhin liegt es fünfzehn Jahre zurück. Ich war jung, wie mir erst jetzt richtig bewusst wird. Das Leben war damals anders, so kommt es mir im Rückblick vor. Die Dinge hatten nicht so viel Bedeutung wie heute. Ich verdiente wenig Geld. Ich hatte ein möbliertes Zimmer in der Nähe der Place des Ternes und aß in billigen Restaurants, manchmal auch nur ein Croissant. Für meine Kleidung gab ich mehr aus als für das Essen.«

Diese Vorliebe für gute Kleidung hatte sich Josset bewahrt. Der Anzug, den er trug, war von einem der besten Pariser Schneider gemacht, sein Hemd mit eingesticktem Monogramm ebenso wie die Schuhe waren nach Maß angefertigt.

»Christine lebte in einer anderen Welt, die ich nicht kannte. Ich war geblendet. Ich kam aus der Provinz, Sohn eines kleinen Lehrers, und in Montpellier hatte ich einer Gruppe von Studenten angehört, die nicht mehr Geld hatten als ich.«

»Hat Christine Sie ihren Freunden und Freundinnen vorgestellt?«

»Erst lange danach. Es war etwas in unserer Beziehung, das mir erst später bewusst geworden ist.«

»Zum Beispiel?«

»Man kennt es von Geschäftsleuten, Industriellen oder Bankiers, die sich ein Abenteuer mit einer Verkäuferin oder einem Mannequin leisten … So war es ein wenig bei ihr, nur umgekehrt. Sie traf sich mit dem Angestellten einer Apotheke, mittellos und ohne Erfahrung … Sie wollte unbedingt meine Wohnung kennenlernen, das möblierte Zimmer, das gekachelte Treppenhaus, die Geräusche, die man durch die dünnen Wände hörte … Sie fand das entzückend … Sonntags nahm sie mich im Wagen mit aufs Land, und wir gingen in einen Landgasthof.«

Seine Stimme war dumpfer geworden. Heimweh und etwas wie Groll waren herauszuhören.

»Anfangs dachte ich, es ist ein Abenteuer, das nicht lange dauert.«

»Aber Sie waren in sie verliebt.«

»Ja. Wie gesagt, ich hatte mich schnell verliebt.«

»Waren Sie eifersüchtig?«

»Auch das. So hat das alles angefangen. Sie erzählte mir von ihren Freunden und sogar von ihren Liebhabern. Es machte ihr Spaß, mir alles haarklein zu berichten. Zuerst habe ich dazu geschwiegen. Dann habe ich sie in einem Anfall von Eifersucht laut beschimpft und schließlich geschlagen. Ich war davon überzeugt, dass sie sich über mich lustig machte und den anderen von meiner Unbeholfenheit und Naivität erzählte, kaum hatte sie mein Bett verlassen. Wir haben uns mehrmals so gestritten … Ich habe sie dann einen Monat lang nicht gesehen.«

»Kam sie dann wieder an?«

»Sie oder ich. Einer von uns beiden hat immer um Verzeihung gebeten … Wir haben uns wirklich geliebt, Herr Kommissar.«

»Wer hat zuerst von Heirat gesprochen?«

»Das weiß ich nicht mehr. Ich kann es nicht sagen. Wir waren so weit gekommen, dass wir uns absichtlich wehtaten. Manchmal kam sie halb betrunken um drei Uhr morgens und klopfte an meine Zimmertür … Wenn ich schmollte und nicht sofort aufmachte, beschwerten sich die Nachbarn