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Der Brigadier Klaus und die Betriebsschwester Monika lieben sich und freuen sich auf das gemeinsame Kind. Anfang der 1960er Jahre ist es selbstverständlich, dass die beiden ganz schnell heiraten wollen. Doch damit beginnen die Probleme. Monika, die Tochter des Kirchenältesten von Streckenroda, träumt von einer kirchlichen Trauung im Heimatdorf. Klaus' Brigade kämpft als erste im Automobilwerk um den Titel "Kollektiv der sozialistischen Arbeit". Dazu gehört nach der Bitterfelder Konferenz aber auch das sozialistische Leben. Alle Brigademitglieder erwarten von Klaus, der nicht konfirmiert und schon lange aus der Kirche ausgetreten ist, eine sozialistische Eheschließung, ohne Pfarrer und Kirche. Die harte Bewährungsprobe der beiden Liebenden eskaliert fast, als ein Redakteur der Regionalzeitung den Konflikt aufgreift und damit öffentlich macht. Das 1962 erstmals veröffentlichte Buch schildert spannend und mit satirischer Überspitzung Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat in der DDR zu Beginn der 1960er Jahre. Mit seinem für den heutigen Leser unerwarteten Schluss ist der Roman nach den politischen Veränderungen scheinbar noch interessanter als bei seinem erstmaligen Erscheinen.
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Seitenzahl: 326
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Wolfgang Held
Manche nennen es Seele
Roman
ISBN 978-3-86394-938-9 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1962 beim Volksverlag Weimar.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2013 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Godern
Tel.: 03860-505 788
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.ddrautoren.de
Leise Tanzmusik kam aus dem kleinen Radio.
„Bitte ...", flüsterte das Mädchen auf dem Bett.
Leise Tanzmusik kam aus dem Radio.
Der junge, breitschultrige Mann mit dem offenen Hemdkragen gab keine Antwort.
Das dunkelhaarige Mädchen wandte ihren Kopf leicht zur Seite. Der Kuss hatte ihr den Atem schnell gemacht. Sie fühlte das Blut so heiß in ihren Adern, dass sie davon wie benommen war. Wie in einem Spiegel sah sie sich in den hellen Augen dicht über ihrem Gesicht. Auch der Atem des Mannes war hastig wie bei einem Fiebernden. Die Lippen des Mädchens bewegten sich kaum, und ihre Worte waren nur ein Hauch:
„Bitte, du ..."
„Angst?"
„Nein, aber ... Es ist alles so ... so ... ich weiß nicht." Der Blick des dunkelhaarigen Mädchens irrte durch das kleine Zimmer, unsicher und ziellos wie der Fluchtflug einer getroffenen Wildtaube. Ich liebe ihn doch! dachte das Mädchen. Ich liebe ihn, weil er gut ist und ehrlich und stark ... und weil er mich liebt! Habe ich Angst? Warum bin ich dann mit hierher in sein Zimmer gegangen? Ich wusste doch, dass ... Weil ich ihn liebe, deshalb! Ich will seine Küsse fühlen und seine Hände; ich will keine Angst haben vor alldem, was vor uns ist ... Morgen, nächste Woche und später, das alles ist so weit. Und er liebt mich. Und wir sind jung. Und wir leben doch, um glücklich zu sein ... Niemand soll uns trennen können! Nichts soll uns trennen können! Nichts! Nichts!
„Meine Wirtsleute, sie können uns nicht hören", sagte der junge Mann leise. „Ihr Wohnzimmer liegt auf der anderen Seite, und die Tür ist abgeschlossen!"
Seine Lippen suchten ihren Mund, berührten die warme, glatte Haut in der sanften Biegung ihres Halses zur Schulter. Ihre Hand glitt weich über seinen kräftigen, gebräunten Nacken ...
„Bitte", flüsterte sie noch einmal und schaute ihn nicht an. „Bitte mach doch das Licht aus ..
Die Hand des jungen Mannes tastete nach dem Schalter der kleinen Lampe auf dem Nachttisch.
Leise Tanzmusik kam aus dem Radio.
Der April dieses Jahres hatte an jenem Tag schon einen milden Sommerabend ...
Und die Tage vergingen nach dieser Stunde in dem Zimmer des jungen Mannes.
Und die Wochen danach hatten keine Schatten für ihn und das dunkelhaarige Mädchen, bis dann der Tag kam ...
Irgendwo im Dorf kläffte ein Hund. Regenböen peitschten die zerfurchte Straße. Das bläulich-kalte Licht der schaukelnden Lampe zuckte und tanzte über Hausfronten und Hoftore. Für Sekunden wurde das Gesicht eines Mannes erhellt. Er stampfte eilig durch knöchelhohen Schlamm und ging den Pfützen nicht aus dem Weg,
„Mistwetter, verdammtest", fluchte Anton Grattke. Er neigte seinen Kopf den bissigen Windstößen entgegen und presste die linke Hand fester gegen die Brust. Ein Stofffetzen hüllte diese Hand ein. Er fühlte die warme, klebrige Feuchtigkeit des durchdringenden Blutes. Das muss mir passieren! dachte Grattke. Der Mittfünfziger war mit einer Häckselmaschine schon fertig geworden, als er den Federhalter noch nicht richtig führen konnte. Nun, heute Abend hatte ihm dieses unmoderne Ding doch das Fell gehörig aufgerissen. Grattke kniff ärgerlich die Mundwinkel ein. Der Monika und dem Eisen-Franz werde ich sagen, dass sie es nicht an die große Glocke hängen sollen, nahm er sich vor. Was würde das auch für ein Schmunzeln geben im Dorf, wenn herauskäme, dass ausgerechnet dem LPG-Vorsitzenden die „individuelle Hauswirtschaft" die Hand zuschanden machte! Wer wetterte denn bei jeder Gelegenheit dagegen, dass das „Individuelle" noch wie ein gefräßiger Wurm in der Genossenschaft säße, wer passte denn mit Luchsaugen auf, dass keiner der Genossenschaft nur die halbe Hand gab ..., Grattke, der Vorsitzende!
Ein Glück, dass der Eisen-Franz keiner von denen ist, die gern das Maul wetzen, dachte Grattke und trat durch das offene Hoftor.
An den verwitterten Planken war ein weißes Schild angebracht. Sonne und Regen hatten noch keine Risse in die Farbe geschnitten. Den schwarzen Buchstaben war anzusehen, dass sie noch nicht allzu lange an diesem Tor verkündeten: „LPG ,Thomas Müntzer' - Schmiede." Die Eingeweihten wussten, wie viele durchstrittene Stunden diesem Schild vorausgegangen waren. Heiße Köpfe hatte es darum gegeben, harte Worte und Fäuste, die auf die Tischplatten krachten. Vielleicht wäre der alte Schmied auch dann noch nicht zur Erkenntnis gekommen, wenn er einen Sohn gehabt hätte, einen Nachfolger für die Brandner-Schmiede ...
„Ach du bist es ...", sagte Eisen-Franz. Die Bauern aus Streckenroda nannten ihren Schmied seit jener Kirmes vor fast 20 Jahren so, bei der er mit bloßen Fäusten ein Hufeisen auseinandergebogen hatte. Die Geschichte war durch alle Schenken gegangen und hatte den Namen in jeden Hof getragen. Die Enttäuschung in der Stimme des alten Schmiedes war deutlich. Er ging Grattke voraus ins Wohnzimmer und warf erst dort einen Blick auf den blutigen Fetzen an dessen Hand.
„Monika ist noch nicht da", sagte er rau. „Möchte wissen, wo das Mädel heute bleibt! ... Na, dann zeig mal her den Schaden."
Vorsichtig wickelte Grattke den blutgetränkten Stoff von der noch immer blutenden Wunde. Eisen-Franz schüttelte den Kopf. Er brummte etwas Unverständliches vor sich hin und holte dann einen Sanitätskasten herbei. Neugierig schaute Grattke zu, wie der Schmied mit viel Geschick einen Verband anlegte.
„Donnerwetter, besser hätte es deine Tochter wohl auch nicht fertiggebracht. Hast ihr sicher manches abgeschaut, wie?" Zufrieden betrachtete er seine Rechte und versuchte, die Finger zu bewegen. „Na bitte, das funktioniert ja noch!"
„So spät ist sie noch nie gekommen, ohne wenigstens vorher angerufen zu haben!" Eisen-Franz räumte den Sanitätskasten zur Seite. Er kam vom Schrank mit einer Weinbrandflasche wieder und füllte zwei Gläser. „Wenn ihr bloß nichts passiert ist bei dem Dreckwetter ... Prost!" Grattke schluckte den scharfen Schnaps und wischte sich mit der gesunden Hand die Lippen. „Nun mach's mal halb!", sagte er belustigt. „Schließlich ist das Mädel schon im Heiratsalter ... Vielleicht schläft sie gleich in ihrer Sanitätsstelle. Wäre ihr nicht zu verdenken bei diesem Regen und ..."
„Sie hätte angerufen!" Eisen-Franz war zum Fenster gegangen. Schwarz stand die Juninacht hinter den Scheiben. Im Glas spiegelte sich das harte, kantige Gesicht des Schmiedes. Schon über ein Jahr arbeitete seine Tochter Monika als Betriebsschwester in der Kreisstadt. Mit dem Motorroller waren es bis dorthin knappe 20 Minuten ... Und Monika hatte vor fünf Stunden ihre Arbeit beendet!
„Vielleicht hat sie eine Panne", meinte Grattke und stand auf. „Ich kann ihr ja meinen Großen entgegenschicken, was meinst du?"
Eisen-Franz nickte. „Aber du musst noch mal wiederkommen, Anton. Möglich, dass dir Monika noch eine Spritze geben will ... Wegen Starrkrampf, glaube ich."
„Eine Spritze? Wegen dieses Kratzers? ... Kein Stück!" Grattke ließ an seiner Abneigung gegen Injektionen keinen Zweifel. Er grinste. „Lieber mache ich euch beiden die Freude und komme mal mit in die Kirche!" Eisen-Franz wandte den Kopf ab. Anton Grattke merkte sofort, dass er das mit der Kirche lieber nicht hätte sagen sollen. Schließlich konnte er sich doch schon vorher an seinen fünf gesunden Fingern abzählen, dass der Eisen-Franz als Kirchenältester in der Gemeinde in Religionsdingen keinen Scherz vertragen konnte. „Also, ich sage dem Bruno dann gleich Bescheid, nicht wahr", lenkte er schnell ab. Eisen-Franz ging darauf ein.
„Wenn dein Junge sie nicht unterwegs trifft, soll er ..." Der Schmied verstummte. Lauschend hob er den Kopf. Er schaute wieder zum Fenster hinaus. Auch Anton Grattke hörte jetzt deutlich Motorengeräusch. Draußen stach ein Lichtstrahl in die Dunkelheit des Hofes.
„Sie ist es!", sagte Eisen-Franz erleichtert. Grattke erinnerte sich an die Spritze. Er hatte es plötzlich eilig. Auf dem Flur nickte er Monika nur einen flüchtigen Gruß zu und versteckte sorgfältig die verbundene Hand unter seiner Joppe. Immer noch fegte draußen der Wind Sprühwolken über die spärlich erleuchtete Dorfstraße. Niemand begegnete dem heimwärts stampfenden Vorsitzenden. Nur einmal unterbrach er seinen Gang. Es war ihm eingefallen, dass der Eisen-Franz gar nicht nach der Ursache der verletzten Hand gefragt hatte. Nein, viele Worte hat der Eisen-Franz eigentlich nie gemacht, sinnierte Grattke im Weitergehen. Und seitdem ihm damals kurz vor Kriegsende die Jagdflieger Monikas Mutter weggeschossen haben, ist er noch schweigsamer geworden. Im Dorf erzählen sie ja heute noch davon, wie Eisen-Franz an jenem Vormittag aufgerichtet neben seiner toten Frau auf dem Acker gestanden hatte, geradeso, als wollte er noch eine Kugelgarbe für sich fordern ... Die Monika ist ein tüchtiges Mädchen. Hat ihrem Vater manchen Packen von den Schultern genommen und war doch noch ein halbes Kind. Aber es tut nicht gut, eine Birke zu dicht unter einer alten Eiche anzupflanzen ... Der Alte war ja wie Stein, nur weil seine Tochter mal über die Zeit ausblieb. - Du wirst noch manchen Kummer durchstehen müssen, Eisen-Franzi
Unter dem Regendach seiner Haustür streifte der LPG-Vorsitzende die bis an die Schäfte schmutzigen Stiefel von den Füßen. Plötzlich fiel sein Blick auf ein zweites, nicht weniger schlammbeschmiertes Stiefelpaar neben der Tür. So spät noch Besuch? Unwillkürlich schaute sich Grattke im Hof nach einem Motorrad um. Denen von der Kreisverwaltung war zuzutrauen, dass sie sogar noch in der Dunkelheit ... Aber nein, die ziehen ihre Stiefel nicht vor den Türen aus! Also einer aus dem Dorf ... Und Grattke erkannte die Stimme sofort.
„Anton? ... Bleib mal gleich in den Pötten! ... Wir müssen noch zum großen Stall. Den Tierarzt habe ich schon angerufen."
Es war der Viehzuchtbrigadier. Er ließ den Vorsitzenden nicht erst an den Abendbrottisch. Tierarzt? Ein unwilliger Schnaufer blieb das einzige Zeichen dafür, dass Grattke jetzt viel lieber im Trockenen geblieben wäre. Aber er zwängte seine müden Füße wieder durch die feuchten Lederschäfte. Wenn der Tierarzt schon kommen musste, war es wirklich wichtig. Grattke kannte seinen Brigadier.
Keine fünf Minuten später verschluckte die Dunkelheit die beiden davonstampfenden Gestalten. Lautlos schlief das Dorf in die Nacht hinein. Nur hinter wenigen Fenstern brannte noch Licht. Auch der kläffeifrige Köter hatte es aufgegeben, gegen den Regen zu belfern.
Das Werk war wie eine Stadt. Es hatte Straßen und Plätze, ein paar stille Ecken und weite Räume lärmender, tätiger Unruhe. Hier, im Knattern und Surren der Maschinen, entstanden sie, die chromglänzenden eleganten Personenwagen des VEB Automobilwerk. Alle zwölf Minuten ein Auto - Tag und Nacht, Schicht um Schicht ... Alle zwölf Minuten ein Auto! Das helle Licht hinter den hohen Bogenfenstern der Werkhallen und der blendende Schein der ungezählten Lampen über dem Werkgelände hielten die Nacht fern von den surrenden Maschinen, den kreischenden Rädern und dröhnenden Niethämmern. Erst vor wenigen Minuten hatte die Nachtschicht begonnen, und doch wussten in der Abteilung Motorenbau die Mitglieder der Brigade „Roter Stern" schon jetzt: Dem Brigadier Klaus Sänger musste eine gewaltige Laus über die Leber gelaufen sein! „Ich habe nachgezählt: Genau fünfzehn Wörter hat er gesprochen!" Werner, ein kleiner, spitzgesichtiger Bursche mit kühn ins Genick geschobener Sportmütze von undefinierbarer Farbe und von seinen Kollegen nur kurz „Zwecke" genannt, versuchte, sich mit einem Schraubenschlüssel hinter dem Ohr zu kratzen. Das komische Bild, das er dabei bot, reizte jedoch weder die blonde Petra noch den schon grauhaarigen Brunner zum Lachen. Zwecke hatte recht. So wortkarg und abweisend hatte die Brigade den Klaus noch nie erlebt.
„Also an uns kann es nicht liegen ... Mindestens zwei Tage Planvorsprung waren es gestern ... Vielleicht hat er Krach mit dem Meister gehabt!" Brunner prüfte mit einem schnellen Blick die Einstellung an seiner Drehbank und drückte dann auf den Knopf. Das eingespannte Werkstück begann lautlos zu rotieren. Über der scharfen Schnittfläche des Drehstahls kringelten sich blau schimmernde Metallspäne. Brunner hielt den Kopf ein wenig zur Seite geneigt und blickte Petra belustigt an. „Oder meinst du, es könnte Liebeskummer sein?" Diese Frage sollte von dem Mädchen als Scherz aufgefasst werden, doch Petra merkte, dass mehr dahintersteckte. Brunner zog diese Möglichkeit auch ernsthaft in Erwägung!
„Die möchte ich sehen, die nicht stolz ist, wenn sie so einen Prachtjungen bekommt ...", antwortete sie und wurde puterrot, weil Brunner grinsend ein Auge zukniff und fragte: „Hast ihn wohl auch schon heimlich ins Herz einquartiert, wie?"
Petra wurde ihre roten Ohren nicht so schnell los. Aber sie verlor deshalb nicht ihre Schlagfertigkeit. „Na, und wenn? Wegen mir macht er jedenfalls nicht so ein Sauergurkengesicht!"
Brunner setzte zu einer stachligen Antwort an, aber da brach Zwecke dem sich anbahnenden Wortgefecht die Spitze.
„Sind wir ein Kollektiv? Wir sind ein Kollektiv! ... Und deshalb gehe ich jetzt einfach hin und frage, was mit ihm los ist!" Ohne die Reaktion der beiden abzuwarten, setzte er sich in Richtung auf den Glasverschlag des Meisters in Bewegung. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, den Schraubenschlüssel zur Seite zu legen. Die blonde Petra und der Brigadeälteste Brunner schauten ihm nach.
„Da bin ich wirklich mal gespannt!", sagte Brunner und griff nach der Schublehre. Er beugte sich über das eingespannte Werkstück und gab keine Antwort, als Petra noch meinte: „Vielleicht hättest besser du gehen sollen!"
Auch Petra hatte ihren Arbeitsplatz an einer Drehbank. Die Brigade fertigte Gelenkstücke für den Personenwagen an und Aluminiumteile für den Motor, die Achse und die Lenkung des Wagens. Dreher, Fräser, Stanzer und Schleifer gehörten zur Brigade „Roter Stern". 19 Männer und Frauen. Allerdings arbeiteten sie nicht in einer Schicht, obwohl das große rote Transparent über den Maschinen alle Namen gemeinsam nannte. „Die Brigade ,Roter Stern' kämpft um den Titel ,Brigade der sozialistischen Arbeit'" war da zu lesen. Die gelben Buchstaben wirkten unbeholfen. Dreher sind eben oft keine guten Schriftenmaler, aber was sollte man machen. „So ein Transparent muss her, schließlich seid ihr die Ersten im Werk!", hatte der Vorsitzende der Abteilungsgewerkschaftsgruppe gesagt. Für ihn gab es keine wichtige Sache ohne ein Transparent. Dafür, dass die 19 Brigademitglieder in zwei Schichten auseinandergerissen waren und so nur sehr selten zusammentreffen konnten, dafür hatte er allerdings nur ein ratloses Schulterzucken gehabt und die Worte: „Hauptsache, wir können erst einmal eine Brigade melden, die um den Titel kämpft!"
Die blonde Petra und der grauhaarige Brunner waren mit ihren Gedanken jetzt nur halb bei der Arbeit. Immer wieder wanderten ihre Blicke hinüber zur anderen Ecke des lang gestreckten Maschinensaales. Lange Minuten vergingen. Zwecke blieb unsichtbar!
Durch die staubigen Scheiben hatte Zwecke einen neugierigen Blick hinein in die „Meisterbude" geworfen und war erst eingetreten, nachdem er wusste, dass sich außer dem Brigadier niemand im Raum befand. Klaus Sänger hob beim Türgeräusch nicht den Kopf. Breitschultrig wie ein Bär saß er in seinem ölfleckigen Schlosseranzug am Schreibtisch. Er rechnete Zahlen einer Tabelle zusammen. Zwecke sah, dass noch immer jener Schatten auf dem Gesicht seines Brigadiers lag. Über eine Minute verstrich lautlos. Zwecke stand an der Tür und beobachtete Klaus. Er hatte ihn noch nie so niedergeschlagen gesehen. Unwillkürlich erinnerte er sich an den Tag, an dem er zur Brigade „Roter Stern" gekommen war. „Mensch, hast du Schwein, dass du dort reinkommst!", hatten damals die Kollegen in der Halle I beinahe neidisch gesagt. „Klaus Sänger und seine Truppe, die haben immer den richtigen Riecher! Die Ersten im Betrieb, beim Wettbewerb um den Titel, die Ersten bei der Planerfüllung und immer die mit den dicksten Prämien - ein Durchreißer ist das, der Klaus. Feuer hat er in der Brust ... Hast du ein Glück, Zwecke!" Das hatten sie gesagt, und schon nach der ersten Woche war Zwecke sich darüber klar geworden, dass die Kollegen der Halle I nicht geprahlt hatten. Doch nun? Das Feuer musste eine ganz gehörige Dusche bekommen haben! Zwecke dachte angestrengt nach. Ich muss fragen, denn wie sollen wir ihm sonst helfen können! Natürlich darf ich nicht gleich mit der Faust auf die wunde Stelle hauen. Klar, so was verlangt sozusagen Gefühl ... Seele, wie manche es nennen, und damit ist es ja eine schwierige Sache ... Brunner könnte das bestimmt besser als ich. Oh ich ihm lieber die ganze Geschichte überlasse? Oder dem Schrumm, unserem FDJ-Mann? Immerhin weiß Schrumm am besten von uns allen mit wissenschaftlichen Sachen Bescheid, und der beste Redner ist er ja auch unbestritten ... Aber ein Referat scheint mir nicht das Richtige bei so einer Seelengeschichte. Nein, Schrumm kommt nicht infrage ...
Aber da hob Klaus Sänger den Kopf.
„Ihr würdet es ja sowieso bald alle wissen ... Stell dir vor, Zwecke, ich bekomme ein Kind ...!" Die Stimme des Brigadiers stellte diese unvermittelten Sätze in den Raum wie einen mächtigen, zentnerschweren Felsblock. Zwecke stand ein paar Sekunden mit halb offenem Mund, dann rang er mühsam aus seiner Kehle: „Ein ... ein was?"
„Du hast dich nicht verhört: ein Kind!... Ich werde Vater!"
„Ja Mann, aber das ist doch ... Moment!" Zwecke musste sich erst fassen. Hastig schaute er sich nach einer Sitzgelegenheit um. Klaus ein ... Das haute ja glatt einen Eskimo vom Schlitten! Zwecke zog den dreibeinigen Schemel aus der Ecke ganz dicht an Klaus heran, setzte sich und fand nun endlich seine normale Sprache wieder.
„Also wie war das: Du wirst Vater - gut! Unter solchen Umständen freut man sich, und du bist sauer - schlecht! Aber sind wir ein Kollektiv? Wir sind ein Kollektiv! ... Und deshalb musst du uns schon erklären, warum du nicht freudestrahlend Bier herschleppst! Willst du vielleicht das Mädchen nicht heiraten? Offen gestanden ..."
Klaus ließ ihn nicht weiterreden. „Wer sagt denn das! Monika ist das beste Mädel, das ich mir denken kann. Klar, wir wollen heiraten, aber das ist ja gerade der Haken ..." Er zögerte einen Augenblick, bevor er weitersprach. „Also hör zu ... Je länger Klaus Sänger sprach, um so nachdenklicher wurde Zwecke. Von seinem jugendlichen Übermut blieb kein Fünkchen mehr übrig. Als der Brigadier schwieg, war auch Zwecke eine ganze Weile stumm. Langsam stand er dann auf, klopfte sich ein paarmal unschlüssig den Schraubenschlüssel in die Handfläche und meinte nachdenklich: „Ich glaube, Klaus, da müssen wir mit der ganzen Brigade darüber sprechen ... Wenn du mich fragst ..." Zwecke fühlte den gespannten Blick des Brigadiers auf sich gerichtet und presste die Lippen zusammen. Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Langsam ging er zur Tür. Erst dort drehte er sich zu Klaus um.
„Noch heute müssen wir darüber sprechen, gleich nach der Schicht, Klaus, und wenn es auch ein paar Stunden dauert!" Durch das Surren und Dröhnen des Maschinensaales ging Zwecke zurück zu seinem Arbeitsplatz. Verwundert zog Brunner die Augenbrauen zusammen, als er Zweckes Gesicht sah.
„Man könnte meinen, das mit Klaus wäre ansteckend"', sagte er. Doch wenig später war ihm nicht mehr zum Scherzen zumute. Und Petra schaute nicht weniger sorgenvoll zu dem Glasverschlag hinüber.
Zwei Augenpaare sahen sich an. Nicht viel mehr als eine Handbreite war zwischen Vater und Tochter. Das fein geschnittene offene Gesicht Monikas mochte ein wenig mehr gerötet sein, ihre braunen, glänzenden Augen wirkten um einen Schein dunkler als sonst, aber sie wich dem Blick des Vaters nicht aus. Stumm standen sie einander gegenüber. Hart und gleichmäßig drang das Ticken der altmodischen Wanduhr in die Stille des Wohnzimmers. Nur ein paar Armlängen von dem träge hin- und herschwingenden Pendel blickte von der Wand herab der Gekreuzigte auf Monika. Die Züge des Mannes mit der Dornenkrone und die des grauhaarigen Schmiedes hatten in diesen Stunden etwas Gemeinsames.
„Wir lieben uns doch, Vati!" Leise, fast behutsam kamen die Worte von Monikas Lippen. Unwillig zog Eisen-Franz die borstig-buschigen Brauen zusammen.
„Liebe!" Er wandte sich von seiner Tochter ab und ging mit schweren Schritten ein paarmal hin und her. Die Fäuste in seinen Taschen waren geballt. Das kantige Kinn gesenkt, die massigen Schmiedeschultern leicht nach vorn gekrümmt, so schien ihm plötzlich der Raum eng zu werden wie ein Käfig. Hier gab es kein Entweichen mehr. Es blieb unabwendbar, unwiderruflich: ein Kind! Franz Brandner war in seinem Innersten getroffen. Bilder längst vergangener Tage erwachten und lösten sich ab. Da war wieder jene Stunde vor seinen Augen, auf die er nach seiner Hochzeit lange Monate gewartet hatte. An einem Sonntag nach der Kirche war es gewesen, und die Stimme Gertruds hatte den gleichen Klang gehabt wie die eben gesprochenen Worte Monikas. „Wir werden ein Kind haben, Franz!" Waren je einem Ungeborenen solche Pläne gemacht worden wie unter dem Dach der Brandner-Schmiede? Und auch, wenn es dann kein Junge war, wenn es das einzige blieb: Gab es einen Vater, der mehr Liebe aufbringen konnte für sein Kind? Was wäre aus ihm geworden nach Gertruds jähem Tod! Ihm, dem Eisen-Franz, war die größte Freude beschieden gewesen, die einem Vater zuteilwerden konnte. Sein Kind war ihm der engste Vertraute geworden, Freund und Lebensinhalt. Monika hatte das Haus hell gemacht für ihn, hatte seinem Fleiß einen Sinn gegeben ... Und sie war herangewachsen. Wie ungern hatte er ihrem Wunsch entsprochen und sie in der Stadt den Schwesternberuf erlernen lassen. Schwer war ihm die Zeit der Trennung gefallen. Als Monika dann die Arbeit im Werk begonnen hatte und wieder zu Hause wohnen konnte, war für ihn eine graue Zeit endlich zu Ende gegangen. Er hatte sie wieder in seiner Nähe, konnte das Brot aus ihren Händen entgegennehmen und das weiße Hemd am Sonntag, konnte ihrer Stimme lauschen und mit ihr besprechen, was anzuschaffen wäre und wie man mit einem Ärger fertig würde. Gewiss, er war kein solcher Narr, dass er nicht auch in die Zukunft gedacht hätte. Das Brandner-Haus hatte doch Platz für eine junge Familie und auch für einen ... naja, einen Großvater. Im Dorf gab es eine Menge tüchtiger Burschen, die - und wenn Monika einen aus einer anderen Gemeinde auswählte, was war dabei. Herrgottnochmal, ich bin kein altmodischer Greis. Meinetwegen auch einen aus der Stadt, dem die Landluft nicht in die Nase sticht ... Aber doch nicht so!
Ein Kind! Ein Kind von einem, dem nichts heilig ist ... Mein Gott, warum werde ich so gestraft!
Monika beobachtete ihren Vater ratlos. Sie hatte für ihre Nachricht von ihm keine unvermittelte Freude erwartet, kein glückliches Umarmen etwa. Sie wusste, dass er Zeit brauchen würde, um zu begreifen. Warum aber dieser Zorn, diese nur mühsam unterdrückte Empörung? „Du hast nie ein Wort gegen Klaus gesagt, Vati ... Im Gegenteil!" Mitten im Zimmer blieb der Vater stehen. Streng musterte er seine Tochter. Er sah sie an wie eine Fremde! Seine Stimme war scharf und kalt. „Nie etwas gesagt! ... Konnte ich wissen, dass du mit ihm gleich ... Als wenn es hier in der Gemeinde nicht genug Burschen gäbe, die für ein Leben in Fleiß und Ordnung taugen! Dieser Klaus mag ein tüchtiger Kerl sein, sonst hätte er bei dir wohl auch kaum Glück gehabt ..." Monika schoss das Blut ins Gesicht. Ihr Atem war schneller geworden während der Rede ihres Vaters. Sie ließ ihn nicht weitersprechen. „Sprich nicht so, Vater! Ich kenne keinen im Dorf, der besser wäre als Klaus. Für mich gibt es keinen anderen! ..." Einen Augenblick lang schwieg Monika, dann fügte sie leise und eindringlich hinzu: „Und ich bin froh über dieses Kind ... Auch wenn du keine Liebe dafür hast!" Mit Eisen-Franz ging eine Veränderung vor sich. Zwei Schritte, und er stand vor ihr. Seine kräftigen, von Eisen und Gluthitze gehärteten Hände umfassten ihre Schultern. Sichtlich erschrocken sah er seine Tochter an.
„Wie kannst du so etwas sagen, Mädel!" Die Entrüstung machte seine Stimme rau. „Das Kind! Wie könnte ich mich so versündigen, Mädchen! Natürlich freue ich mich über das Kind! Das wird doch wieder ein Leben im Haus sein mit so einem kleinen Rabauken. Auf den Schultern werde ich ihn tragen, durch das ganze Dorf, verstehst du? Und ... und ... einen Hund soll er haben oder vielleicht gar ein Ponny, wie du es dir immer gewünscht hast. ..."
„Vielleicht wird es gar kein Junge?" Der temperamentvolle Ausbruch des Vaters rief ein Lächeln in Monikas Gesicht. Schon seine nächsten Worte jedoch dämpften ihre aufsteigende Heiterkeit.
„Junge oder Mädchen, als ob es darauf ankäme ... Um die Hochzeit geht es mir! Habt ihr schon darüber gesprochen?"
„Hochzeit? Ja glaubst du etwa, der Klaus würde mich sitzen lassen? Wir heiraten so schnell wie möglich, darüber brauchen wir nicht lange zu sprechen, Vati." Monika verstand nicht recht, warum ihr Vater sich aufgebracht mit gespreizten Fingern durch das Haar fuhr.
„Dass du das nicht begreifst! Als wenn das mit dem Heiraten heute noch so einfach wäre! Ist er nicht in so einer Brigade, dein Klaus? Hat er nicht damals die Hände neben den Teller gelegt, als wir unser Tischgebet sprachen? ... Denkst du vielleicht, der geht mit dir zum Traualtar? So weit reicht seine Liebe nicht, das wirst du sehen!" Gespannt blickte Eisen-Franz seine Tochter an. Monika schaute an ihm vorbei. Ihr Blick hatte kein Ziel. Plötzlich war in ihr das Gefühl, auf einem sonnenhellen Weg vor einem jäh sich auftuenden Abgrund in letzter Minute gewarnt worden zu sein. Ihre Gedanken eilten zurück zum Anfang dieses Weges. Sie sah das lachende Gesicht von Klaus, der seine Hände mit einem Putzlappen säuberte. Sie hörte ihn sagen: „Es lag an der Zündkerze ... Sie haben den Roller wohl noch nicht lange?" Sie tanzte mit ihm über das spiegelnde Parkett des Klubhauses, fühlte seine vertraute Nähe neben sich im großen Saal des Schauspielhauses, das Klingen der Weingläser war in ihren Ohren, zärtliche Liebesworte und die gedämpfte Musik aus dem kleinen Radio in Klaus' möbliertem Zimmer. Sie jagte mit ihm auf dem Sozius seines Motorrades über das graue Band der Autobahn, schwamm mit ihm um die Wette im sönnenüberstrahlten Waldbad und stritt mit ihm über ein Gedicht oder die Schädlichkeit des Zigarettenrauchens ...
Warum nur haben wir darüber nie gesprochen? fragte sich Monika. Sie wusste keine Antwort. Nein, Klaus hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass er gegen Kirche und Religion eine Abneigung besaß. An jenem Sonntag zum Beispiel, als ich ihn gebeten hatte, doch mit zum Gottesdienst zu kommen, da hat er nur lächelnd den Kopf geschüttelt und gewitzelt: „Was musst du noch alles lernen ...!"
Noch immer stand Monika reglos. Sie blickte an dem Vater vorbei. Eisen-Franz wartete geduldig. Er glaubte zu ahnen, was in diesen Sekunden in seiner Tochter vor sich ging. Es ist eine starke Versuchung, dachte er. Aber sie ist meine Tochter! Sie wird nicht wankend werden im Glauben, der sie geleitet hat durch all die Jahre ... Eine gute Christin ist sie, meine Monika!
Und Monika dachte an das schneeweiße Brautkleid, an das Glockenläuten und an die festlich-aufbrausenden Orgelklänge drüben in der alten Dorfkirche. Bilder, vertraut aus vielen Träumen, erstanden vor ihr. Warum sollten das Träume bleiben? Nein, es konnte doch keinen Grund dafür geben ... oder?
„Warum soll er nicht mit zum Altar gehen, Vater? ... Klaus hat mich lieb ...", sagte sie endlich.
Ihr Vater hob überrascht den Kopf. „Und die in seiner Brigade? Sie werden da ein Wörtchen mitreden wollen, glaube ich ... Man hört so manches über diese Brigaden!"
„Sie werden ihn mir nicht wegnehmen können. Und Klaus ... Sie müssen ihn verstehen, denn schließlich sind sie seine Freunde!" Monika sagte das ruhig und bestimmt. Es gelang ihr trotzdem nur schwer, die erwachenden Zweifel vor dem Vater zu verbergen.
Wenig später, in der Dunkelheit ihres Zimmers, war sie allein mit der von Gedanken zu Gedanken mächtiger werdenden Unsicherheit. Trotz des kühlen Regens draußen dehnte sich beklemmende Wärme in dem nicht sehr großen Raum mit dem Fenster zur Straße hin. Monika warf die Bettdecke zurück. Sie ging barfüßig zum Fenster und öffnete die Flügel weit. Wohltuend empfand sie die hereinwehende frische Nachtluft. Sie schaute einen Augenblick hinaus auf die schwarzen Konturen der Dächer und achtete nicht der Regentropfen, die ihr der Wind auf die warme Haut sprühte. Erst als ein Frösteln sie überlief, suchte sie schnell zu ihrem Bett zurück. Sie schloss die Augen. Auch das eintönige Raunen des Regens brachte ihr noch keinen Schlaf.
Mein Glauben, seine Brigade - das kann doch nicht gegen uns sein? Bestimmt, ganz bestimmt stellt sich Vati das alles nur so kompliziert vor! Nein, ein Christ ist Klaus gewiss nicht, aber warum soll er mir nicht das weiße Kleid, die Glocken und die Orgel gönnen? Traudel und Heinz, Bärbel und Volker, sie alle sind doch den Weg zu unserem Altar gegangen und waren vorher sicher seit der Konfirmation nicht mehr in der Kirche. Volker zum Beispiel, der Traktorist - jeder im Dorf weiß, dass er mit der Religion noch nie etwas im Sinn gehabt hat. Und wer hat danach gefragt? Nicht einmal der Herr Pfarrer!
Monikas Hände fanden sich auf dem weißen, rauen Leinen. Kaum merklich bewegten sich ihre Lippen. Die nagende Unruhe verlosch endgültig in ihrem lautlosen Gebet. Unten vor dem Fenster brummte ein Auto vorüber. Monika kannte dieses Motorengeräusch. Dein Wille geschehe ... Ein Wagen aus unserem Werk, sicher der Tierarzt! ... Und führe uns nicht in Versuchung ... Gleich in der Mittagspause werde ich morgen zu Klaus fahren ... Sondern erlöse uns von dem Übel ... Die ineinander verschränkten Finger wurden locker. Monikas schmale, feingliedrige Hand glitt langsam zur Seite. Weich und ganz gemächlich neigte sich ihr Kopf der Schulter zu ...
„Junge, hatte ich einen Bammel. Wenn es wirklich die Klauenseuche gewesen wäre ... Aber nun wird es langsam Zeit, dass du deine Bücher wegpackst!", sagte zur gleichen Stunde der kurz vorher aus dem Stall zurückgekommene Anton Grattke zu seinem Sohn. Bruno brütete unter der tief herabgezogenen Küchenlampe über einer mathematischen Aufgabe. Er hatte seit dem Eintreten des Vaters noch nicht einmal den Kopf gehohen. Zweiundzwanzig Jahre alt war Bruno Grattke. Mit dem Eintritt des Vaters in die LPG war aus dem „Hoferben" auch ein Genossenschaftsbauer geworden. Niemand im Dorf konnte behaupten, dass Bruno jetzt weniger zupackte als früher. Er war kein schlechter Feldbaubrigadier, aber es gab da auch einen Umstand, der vor allem seinem Vater einiges Kopfzerbrechen bereitete. Mit der LPG-Gründung war in Bruno ein alter, oft gewaltsam unterdrückter Wunsch wieder wach geworden. Jahr für Jahr hatte er diesen Gedanken niedergezwungen. Ich darf den Vater und den Hof nicht im Stich lassen! war Brunos entsagende Einsicht gewesen. Dann aber, als die Zeit der Handtuchfelder zu Ende gegangen war, da hatte sich Bruno im stillen gedacht: Jetzt geht es hier auch ohne mich. So viele aus dem Dorf sind in die Stadt gegangen, warum soll ausgerechnet ich hierbleiben! So hatte er gedacht, und so dachte er auch jetzt noch. Aber Bruno Grattke war auch keiner von denen, die mit stumpfem Beil zum Holzschlag gehen. Recht oft war er früher nur mit den Füßen in die Schule gegangen und hatte die Gedanken draußen bei den zwitschernden Lerchen gelassen. Nun gab es da manches nachzuholen. Er wollte nicht, dass einer im Automobilwerk über den „Dörfler" schmunzeln konnte. Wozu hatte er ein Motorrad, und wozu gab es in der Volkshochschule drüben in Heichelfeld einen Lehrgang für den Abschluss der zehnten Klasse! Schon seit über einem Jahr waren die Nächte kurz für Bruno Grattke. Vorsichtig seine verbundene Hand schräg nach oben haltend, spülte der Vater an der Wasserleitung den Seifenschaum von den knochigen Armen. Er griff zum Handtuch und kam, sich abtrocknend, an den Tisch heran. Über Brunos Schultern warf er einen Blick auf die Zeichen und Zahlen und zog verächtlich die Mundwinkel herab. „Wenn es wenigstens noch etwas Nützliches wäre, von Viehzucht, meine ich, oder vom Feldbau ... Andere in deinem Alter helfen schon ihren eigenen Kindern bei den Schularbeiten!" Seine Worte waren für Bruno ein altes Lied. Er kannte die Gedanken seines Vaters und auch die Übertreibungen, deren er fähig war. Mit einem Seufzer klappte er das Heft zu. Er wusste genau, was nun kam, und er irrte sich auch diesmal nicht. Da soll nun einer ruhig bleiben, zum Teufel noch mal! wurmte es ihn. Mistfahren und Kindermachen, was anderes weiß er nicht für mich. Die Alten haben gut reden. Was wissen die schon vom Leben. Sonntags im Kulturhaus sitzen sie immer am anderen Tisch. Sie hören nichts von dem, was die erzählen, die schon längst in die Stadt gegangen sind und auch an Wochentagen einen Schlips tragen. Kein Wort von Schinderei, für die ist 16 Uhr Feierabend. Dann geht's ins Kino, ins Theater, immer ist irgendwo Tanz., und wenn du im Restaurant eine Bockwurst essen willst, bekommst du dazu Messer und Gabel. Da interessiert sich der Kellner nicht dafür, ob wir am Quellenberg schon die Gerste herunterhaben. Aber von all dem begreifen die Alten ja nichts. Sie können einem immer nur wieder das Klagelied über ihre eigene Jugend vorsingen. Zu unserer Zeit hättet ihr euch umgeguckt ... Zu unserer Zeit hieß es noch den Rücken krumm machen bis in die Nächte, und keiner hatte mit neunzehn Jahren ein Motorrad ... Zu unserer Zeit gab es kein Kulturhaus in Streckenroda und keine Filmveranstaltungen ... Zu unserer Zeit - aber ihre Zeit ist nicht mehr meine Zeit! Da himmeln sie den Mähdrescher an und die drei Traktoren, als ob damit der Zehnstundentag ihr wahres Glück geworden wäre ... Ich weiß, ich weiß, früher waren es vierzehn Stunden und mehr ... Aber ich will nicht mehr! Das Dorfleben hier kotzt mich an, versteht ihr! ...
Das alles saß Bruno Grattke wie ein nicht ausgestoßener Schrei in der Kehle. Aber er schwieg weiter. Noch war es nicht so weit. Zuerst mussten die Bücher her. Alle sollten sich wundern, die in Streckenroda und überhaupt alle! Er würde lernen! Immerhin konnte er sich jetzt eine sarkastische Antwort nicht ganz verkneifen: „Die Monika wartet gerade auf mich, so einen LPG-Heini!"
„Jetzt aber Schluss! Du hast doch dem Mädel früher schon verliebte Augen gemacht. Nun tust du, als hätten sie dich drüben in Heichelfeld kastriert ... Ist ja schon gut, dir braucht nicht gleich der Kamm zu schwellen. Der Eisen-Franz jedenfalls hätte ganz bestimmt nichts gegen dich einzuwenden."
Bruno stand auf und legte seine Bücher zusammen. Er tat es mit harten, unwilligen Bewegungen.
„Außerdem hat die Monika längst einen andern, das hab ich dir schon ein paarmal gesagt. Einen aus der Stadt, und ich kann es ihr nicht verdenken. Wer bleibt schon hier! Was an Gutem hier wächst, kommt in die Stadt: die fettesten Schweine, die schwersten Rinder, die klügsten Jungen und die hübschesten Mädchen ..."
„Zum Teufe], nun halt aber die Luft an!" Anton Grattke stemmte die gesunde Faust auf den Tisch. „Wenn man dich so reden hört, könnte man denken, du wärest auch schon so einer von den Stadtpinkels, die ... die ... jedenfalls will ich so etwas nicht mehr von dir hören, damit du das weißt!"
Ein Glück, dass auch ein LPG-Vorsitzender, selbst wenn man ihn zum Vater hat, einem anderen nicht in die Seele schauen kann. Bestimmt, er würde handgreiflich werden! schmunzelte Bruno in sich hinein. Er war mit seinem Ärger wieder einmal fertig geworden.
„Nun reg dich mal nicht auf, Vater. Du kommst schon noch zu einer Schwiegertochter", sagte er besänftigend und fügte in Gedanken hinzu: Eine aus Streckenroda wird es allerdings kaum sein, und deinen Wunsch nach einer LPG-Sanitätsstelle wirst du wohl noch eine Weile mit dir umhertragen müssen! Misstrauisch musterte Anton Grattke seinen Sohn, der nun auch zur Wasserleitung ging. Der LPG-Vorsitzende kniff die Augen ein wenig zusammen, geradeso, als wäre er eben mit der verletzten Hand irgendwo hart angestoßen. Wenn den mal bloß nicht auch schon der Stadthafer sticht, überlegte er und: Ich werde ein Auge auf ihn haben müssen in der nächsten Zeit.
Die Mitglieder der Brigade „Roter Stern" hatten nicht bis zum Schichtende gewartet. Zwar war Schrumm, nachdem ihn Zwecke informiert hatte, von einem zum anderen gegangen, damit sich keiner nach Arbeitsschluss gleich aus dem Staube machte, aber nun war es doch anders gekommen. Gleich nach erfolgtem Signal zur spätnächtlichen „Mittagspause" versammelte sich die Brigade. Es gab heute keinen, der schnell mal hinüber in die andere Halle zur Nachtverkaufsstelle des Konsums nach Zigaretten lief.
Kauend oder rauchend umringten die Brigademitglieder den jungen Kollegen. Schrumm leitete nicht nur die FDJ-Arbeit der Brigade. Seiner nie erlahmenden Bereitschaft für gesellschaftliehe Aufgaben verdankte er beinahe sämtliche politischen und kulturellen Funktionen innerhalb des Kollektivs. „Das macht Schrumm!" war bei den Kollegen ein oft ausgesprochener Satz - Und Schrumm machte es ja dann auch immer!
„Hier, Freunde, stehen wir vor einem wirklich schwierigen Problem!", verkündete Schrumm. Fast triumphierend blickte er in die besorgt dreinschauende Runde. „Vor uns erhebt sich die Frage, dieses Problem ..." Weiter kam er nicht.
Zwecke hatte mit einiger Anstrengung den erst halb gekauten Bissen heruntergewürgt und platzte nun los: „Problem, Frage - ein gewaltiger dicker Hund ist das, Mensch! Nur mal angenommen, Klaus würde das Mädchen wirklich in der Kirche heiraten: Wir wären blamiert bis in den dritten Siebenjahrplan! - Sind wir ein Kollektiv? Wir sind ein Kollektiv! Und deshalb kann sich da überhaupt nichts abspielen, sage ich!"
Es war, als habe Zwecke mit seinen Worten eine Schleuse geöffnet. Alle redeten gleichzeitig. Schrumms Zeigefinger wirbelte über den Köpfen. Petra und Hannelore, die beiden Mädchen der Brigade, schienen miteinander in Streit geraten. Klaus und Zwecke machten den Wortschwall nur noch unverständlicher. Allein Brunner stopfte seelenruhig seine Tabakpfeife und schmunzelte. Er hielt das Streichholzflämmchen an den Tabak, paffte ein paar Züge und sagte dann ohne merklichen Stimmenaufwand ganz schlicht und ruhig: „Also, hört mal, die Sache liegt doch so." Ein Wunder: Das Stimmengewirr erstarb! Spannung zeichnete jetzt die Gesichter. Brunner blickte Klaus an. „Wenn dein Mädel den lieben Gott braucht, dann muss sie ihn wohl haben. Menschen sind keine Drehbänke, man kann sie nicht mit ein paar Handgriffen so einrichten, wie man sie gern haben möchte. Aber ebenso muss dein Mädel einsehen, dass es in deinem Kopf ein wenig anders aussieht und du außerdem ihretwegen nicht uns alle zum Gespött des Werkes machen kannst. In allen Meisterbereichen würde es doch sofort heißen: Seht sie euch an, diese Großfressen, erst dicke Reden schwingen über sozialistisch leben und so, und dann marschiert der Brigadier höchstpersönlich zur Hochzeit in die Kirche ... Ausgerechnet du, Klaus!"
Klaus hatte seine Hände in den Taschen. Keiner konnte sehen, wie die Knöchel weiß wurden an den geballten Fäusten. Er suchte krampfhaft nach einer Erwiderung. Zwecke kam ihm zuvor.
„Brunner hat recht! Noch vor ein paar Wochen hast du ihm begreiflich gemacht, dass er seine Tochter mit zur Jugendweibe lassen muss, wenn das auch hundertmal Ärger mit der ganzen Verwandtschaft gibt. Du selbst hast ihm gesagt, dass es für ein Brigademitglied Ehrensache ist mit der Jugendweihe, und nun kommst du uns von der Seite! Komm, Klaus, es ist allein deine Schuld, wenn du dir so 'ne komplizierte Puppe suchst. Als wenn es hier im Werk nicht genug dufte Mädchen gäbe!" Zwecke drehte den Kopf zu Petra und Hannelore bin. Vielsagend blinkerte er ihnen zu. Die Mädchen lachten.
„Was verstehst du Würmchen schon von Liebe!", kam es spitz von Petras Lippen. Hannelore meinte spöttisch: „Denkst du vielleicht, ich habe mich bei meinem Heino vor dem ersten Kuss nach seiner Weltanschauung erkundigt? Bei dir piept es, Zwecke!"
Mit einer gebieterischen Handbewegung verhinderte Schrumm den zu erwartenden Temperamentsausbruch seines jungen Kollegen. Nun wollte er endlich zum Zuge kommen. „Freunde!", sagte er im Tonfall des routinierten Redners. „Freunde, es ist, wie ich schon sagte: Ein Beispiel für die Problematik unserer Tage ... Moment, Klaus, lass mich ausreden! ... Wissenschaftlich muss man da herangeben, wissenschaftlich! Und unsere Waffe ist die Überzeugung!" Schrumm beachtete nicht, dass Zwecke in gespielter Verzweiflung einen flehenden Blick zur Decke hinauf schickte. „Klaus muss sein Mädel überzeugen, dass überhaupt nur eine sozialistische Eheschließung infrage kommt! - Und wir werden ihm dabei helfen ... schrumm!"
Diesem „Schrumm" hatte der hochgewachsene junge Kollege seinen Spitznamen zu verdanken. Eigentlich hieß er ja Georg, aber keiner nannte ihn so. Alle in der Brigade wussten, dass sein „Schrumm!" für ihn stets wie ein Schlusspunkt war. Sie sahen sich an. Brunner wiegte nachdenklich den Kopf. Offensichtlich war er nicht sehr begeistert. Auch Klaus' Miene verriet wenig Zuversicht. Um so vielversprechender erschien Schrumms Vorschlag den beiden Mädchen. Auch Zwecke nickte Zustimmung.
„Den Fall übernehme ich freiwillig!", verkündete der Brigadejüngste. „Zart und gefühlvoll, wie das bei solchen Angelegenheiten ja selbstverständlich ist, werde ich zu dem Fräulein Schwester sagen: Kollegin, der Klaus ist unser Brigadier, und mit Kirche schiebt sich da gar nichts zusammen!"
„Und ich an ihrer Stelle würde dir darauf eine schmieren, dass dir die Zähne klappern!", erklärte Hannelore impulsiv und blitzte ihn empört an.
„Zwecke scheidet sowieso aus!", unterstützte Brunner den Protest des Mädchens. Auch Klaus schüttelte den Kopf.
„Lasst mich erst einmal allein mit ihr reden", sagte er entschieden. „Es ist gut, dass wir jetzt schon über die Sache gesprochen haben, aber zu allererst muss das einmal zwischen Monika und mir ausgemacht werden ... Wie sieht es bei euch mit den Teilen aus, Petra?"
„Genug bis zum Ende der Schicht, Klaus. Aber knapp! Wenn die Frühschicht nicht mit Däumchendrehen beginnen soll ..."
„Ich werde mich gleich darum kümmern. Komm mit, Zwecke, wir machen das zusammen."
Am unteren Ende des Maschinensaales hatten die Kollegen der Nachbarbrigade bereits wieder die Arbeit aufgenommen. Die aus der Brigade „Roter Stern" sahen, dass es durch die überzogene Pausenzeit bei ihnen bestimmt zu einem Tempoverlust gekommen war. Keiner sagte etwas dazu, aber ihre Gedanken glichen alle in einem Punkt denen von Brunner. So fängt es an! Und es soll mich wundern, wenn diese Geschichte uns nicht noch manche gute Stunde kosten wird! dachte der Brigadeälteste, aber das war noch nicht alles. Irgendwo im letzten Winkel seines Herzens gab es da ganz versteckt sogar einen Funken Freude über diese Komplikation. Je länger ihm die Geschichte durch den Kopf ging, um so deutlicher wurde ihm, dass die Sache mit Klaus und der Hochzeit eigentlich für ihn zu einem günstigen Zeitpunkt über die Brigade gekommen war ...!
In der im Nebengebäude gelegenen Vorfertigung hatten Klaus und Zwecke inzwischen einen griesgrämig über seine Brillengläser äugenden Meister in die Zange genommen. „Einmal im Leben möchte ich euch zufrieden sehen", knurrte der Alte, nachdem ihm Klaus einige wenig freundliche Worte über die stockende Zulieferung der benötigten Halbfertigteile gesagt hatte. „Denkt ihr vielleicht, wir liegen auf der faulen Haut? Die Teile sind längst so weit. Was können wir dazu, wenn den Eidechsenfahrer die Grippe erwischt hat ... Und wir sind keine Transportarbeiter. Bitte, dort drüben liegt das Zeug. Wenn bei euch einer mit einer Eidechse umgehen kann, holt es euch doch selbst!"
Der Meister grinste breit, als er sah, wie die beiden aus der Brigade „Boter Stern" zwischen Zornausbruch und Ratlosigkeit schwankten, „Na also, nun steht ihr da mit hängenden Ohren. Aber uns Vorwürfe machen, da seid ihr immer schnell dabei ..." Klaus ließ dem Meister nicht viel Zeit, sich in Überlegenheit zu sonnen.
„Pass auf, Zwecke, wir holen sie uns mit einem Rollwagen. Ich schicke dir den Schrumm noch herüber", entschied Klaus und beachtete den verblüfften Meister überhaupt nicht mehr. Während Klaus und Zwecke eilig in verschiedene Richtungen davonliefen, putzte der alte Meister nachdenklich seine Brille. So sind sie immer, dachte er. Ich möchte bloß wissen, wo die ihren Eifer hernehmen. Facharbeiter plagen sich mit dem Rollwagen als Transporter ab ... Zustände sind das ... Na, das sollte mal einer von mir verlangen!