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Für Artur Milan, Meister in einem Metallwerk, wird die Nachtschicht zur Qual. Seine Frau ist nach mehr als dreißig Ehejahren von einem Besuch bei ihrem Bruder in der Bundesrepublik nicht zurückgekommen und hat ihn in einem Brief zum Nachkommen aufgefordert. Soll er alles aufgeben und seine Kollegen einfach im Stich lassen? Da ist seine Erinnerung an die schweren Jahre nach dem Kriege, als er trotz dauerndem Hunger ein anständiger Mensch blieb und seine Frau diese Entscheidung schweren Herzens billigte. Oder der Schweißer Krauß, der als Schieber im Gefängnis saß. Ruth Wächter gehört nach der Entlassung aus der Haft wegen Diebstahls am Volkseigentum zu seinen besten Drehern. Egon Felsner erhielt im 2. Weltkrieg für die Rettung von 18 Kameraden das Eiserne Kreuz und hat nichts dagegen, dass sein Sohn es im Bach versenkt hat. Der lebenserfahrene Meister Minde spricht von Liebe und Vertrauen. Milan macht sich seine Entscheidung nicht leicht, aber am Morgen steht sie für ihn fest. Die 1959 beim Volksverlag Weimar veröffentlichte Erzählung ist das erste Buch von Wolfgang Held, der über 30 Bücher und 15 Drehbücher geschrieben hat. Es stellt ein interessantes Stück Zeitgeschichte dar, spannend geschrieben ist es durchaus auch nach über fünfzig Jahren noch lesenswert.
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Seitenzahl: 95
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Wolfgang Held
Die Nachtschicht
ISBN 978-3-86394-939-6 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1959 beim Volksverlag Weimar.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2013 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Godern
Tel.: 03860-505 788
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Es war kurz nach 22 Uhr.
In der weiträumigen Werkhalle surrten die Drehbänke, zischten Schweißbrenner grelle Lichtblitze, dröhnte Blech unter Hammerschlägen. Die Nachtschicht hatte begonnen. Zu den Obliegenheiten des Schichtmeisters gehörte es. unmittelbar nach Arbeitsbeginn den Kontrollgang zu machen. Längst hatten an diesem Abend die Meister der einzelnen Bereiche ihre Anwesenheitsmeldungen für den Schichtmeister fertig, doch er kam nicht.
„Vielleicht ist er in einem anderen Bereich aufgehalten worden", erklärten sich die einen dieses außergewöhnliche Vorkommnis. Andere schmunzelten schadenfroh: „Die Zeit verbummelt - warum soll ausgerechnet dem Milan nie so etwas passieren!"
Der Schichtmeister Artur Milan war jedoch weder aufgehalten worden, noch zum ersten Male seit Jahren unter den „Nachzüglern" gewesen. Er saß in seinem kleinen, von der Werkhalle abgeteilten Arbeitsraum und hatte vor sich auf dem Schreibtisch das aufgeschlagene Schichtbuch liegen. Unverwandt blickte Artur Milan auf die eckigen Bleistifteintragungen, die der Meister der Spätschicht gemacht hatte: „Kostenstelle 134 dringend Elevatorwellen für Mähdrescher ... Im Schiff drei Hinterachsbolzen ... Zehn Vorderachsrohre schweißen ... Jeder Satz enthielt eine Aufgabe für die bevorstehende Nacht. Es waren viele Aufgaben. Die Zeit drängte. Anweisungen mussten gegeben werden. Für die Härterei, an die Schweißer, für die Kollegen an den Fräsen - wertvolle Minuten verstrichen. Regungslos saß Meister Milan da, starrte auf die Schrift, und nicht ein einziges dieser Worte wurde ihm bewusst. Nur ein Gedanke war seit Stunden in seinem Kopf und ließ für nichts anderes Platz. Artur Milan wollte diese Last abwerfen, wollte mit hundert Gründen einfach alles beiseiteschieben und als törichtes Hirngespinst abtun. Vergeblich. Tatsache blieb Tatsache: Sie war nicht zurückgekommen!
Den ganzen Nachmittag hatte Schichtmeister Milan am Bahnhof gewartet. Hunderte von Menschen waren an ihm vorbei durch die Sperre gegangen. Lachende Menschen, ernst blickende Menschen - seine Frau war nicht gekommen! Nicht um 15:36 Uhr, nicht 17:18 Uhr und auch nicht 18:45 Uhr. Er hatte es trotzdem nicht aufgegeben. Sogar dann nicht, als kein Zug aus jener Richtung mehr zu erwarten war. Er hatte sich an einen Ausnahmefall geklammert, irgendeine Zugverspätung vielleicht. Herrgott noch mal, es musste doch so eine ganz ausgefallene Möglichkeit geben! Noch eine Stunde wartete er voll Ungeduld. Der Mann an der Auskunft kannte ihn schon. „Es ist sinnlos. Kollege, vielleicht morgen!"
„Vielleicht morgen ...", damit hatte sich Artur Milan gestern noch zufriedengegeben. Das Abschiednehmen fällt ihr schwer nach diesem Wiedersehen mit ihrem Bruder, so konnte er gestern noch verständnisvoll denken. Heute Vormittag aber war der Brief gekommen, dieser unbegreifliche Brief!
Jede Zeile, Wort für Wort hatte Artur Milan im Gedächtnis: „Alles ist so herrlich hier! Paul hat eine wunderbare Wohnung, eine Werkwohnung. Er sagt, Du kannst sofort in der Fabrik als Meister anfangen, und einen Kredit bekommst Du auch. Und als Lohn, stell Dir vor, 750,- Westmark im Monat! Das mit den Entlassungen wäre halb so wild, sagt Paul, da kommen vor allem die Politischen dran. Außerdem hat er einen guten Stand bei seinen Chefs und sorgt schon für Dich. Er hat sogar schon mit ihnen gesprochen. Artur, komm und bring nur das Wichtigste mit. Vielleicht kannst Du von meinen Kleidern noch das Mattgraue im Koffer unterbringen und, wenn es geht, auch die schwarzen Pumps. Ich habe sie kaum getragen ..." Paul! Sie hat sich beschwatzen lassen von diesem Speichellecker! Die Knöchel an Artur Milans Fäusten wurden weiß. Er dachte an die Zigarren, an den Kaffee und an die Briefe, in denen er selbst Dank geschrieben hatte für jedes Päckchen, das von drüben gekommen war.
Gut, Paul ist ihr Bruder, aber bin ich nicht ihr Mann, zu dem sie gehört? Über drei Jahrzehnte ist sie an meiner Seite gegangen, und es hat schwere Zeiten gegeben. Jetzt, ausgerechnet jetzt kommt dieser Brief. Ihre Hand hat diese Sätze aneinandergereiht? Die gleiche Hand, deren seltene Zärtlichkeiten Artur Milan in all den Jahren wie wärmendes Sonnenlicht empfunden hatte, deren regsamen Fleiß er genauso achtete wie die Arbeit seiner eigenen Hände. Nun schien sie ihm plötzlich fremd geworden, diese Hand.
„... bring nur das Wichtigste mit!" - Artur Milan bekam einen schmalen, strengen Mund bei dem Gedanken an diese Zeile. Das mattgraue Kleid und die schwarzen Pumps! Sie hat vergessen, was das alles für Mühe und Schweiß gekostet hat, der gedeckte Tisch, das Radio, die neuen Möbel und überhaupt alles in unserem Leben! Sie ist nicht gekommen! Sie wartet drüben auf mich ...
Heftig wurde in diesem Augenblick die Tür aufgerissen. Ein Mann im ölfleckigen Arbeitsanzug stürmte herein, kam ohne Gruß auf Artur Milan zu und hielt ihm ein knapp daumengroßes Etwas unter die Nase. „Hier, Meister, schau dir das an ... ausgebrochen! Und das schon nach einer halben Stunde!"
Artur Milan nahm ihm den Drehstahl aus der Hand, musterte die Bruchstelle und begann, eine Anweisung für das Materiallager auszufüllen. Verwundert beobachtete ihn der Kollege dabei. Nanu, staunte er, der sucht ja heute nicht mal bei mir nach dem Grund ... scheint krank zu sein, der Alte! Als er den Zettel in der Hand hielt, machte er sich schleunigst aus dem Staub. Schließlich konnte man ja nie wissen ... Vielleicht besann sich der Meister doch noch!
Artur Milan aber hatte den Vorfall vergessen, noch ehe der Kollege die Tür hinter sich wieder schloss. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass sie fährt! warf sich der Meister vor und wusste doch im gleichen Moment, wie sinnlos jetzt solche Überlegungen geworden waren. Und die beiden Jungen? „Die beiden Alten sind verrückt geworden!", werden sie zu ihren Frauen sagen. Vielleicht sogar noch Schlimmeres, jedenfalls der Manfred auf seiner MTS da oben in Mecklenburg. Aber was habe ich da eben gedacht? Die beiden Alten? Ist es denn schon so weit mit mir? ... Ja. aber verdammt noch mal, was soll ich denn noch hier ohne Hilde? Schichtmeister Milan rieb seine schmerzende Stirn. Ganz zufällig fiel sein Blick auf die Uhr über dem Sanitätskasten an der Wand. Schon wollte er sich wieder abwenden, da traf es ihn wie ein Schlag. Halb elf?
Halb elf! Noch keine Aufgabenverteilung, keine Anwesenheitsmeldung. ... Zum Teufel, Schluderei soll mir keiner nachsagen können, wenn ich wirklich ... Artur Milan zwang sich, diesen Gedanken nicht aufkommen zu lassen. Er ging zur Tür, und bevor ihn das Maschinendröhnen der Werkhalle empfing, war in seinem Kopf für den Bruchteil einer Sekunde die Erinnerung an die Sache damals mit dem Rucksack. Wenn ich wenigstens mit Hilde sprechen könnte, dachte er noch, dann nahm ihn der Arbeitslärm auf. Damals, das war im Herbst 1945 ...
Als es nicht nur um einen Rucksack ging
Seit einer Woche gab es wieder Gas.
Die Leute in den Randgebieten der Stadt sprachen schon nicht mehr darüber. Sie hatten ihre Gaskocher bereits vor vier Wochen, Anfang Juli, wieder in Betrieb genommen. Die amerikanischen Bomben waren nicht in den Villenvierteln detoniert.
Die Straßen ohne Häuserfronten, die Backsteinberge, riesige Grabhügel mit ihren herausragenden, verkrüppelten Stahlträgern, die Kreideschrift an der gestorbenen Mauer: „Vati, wir sind bei Tante Marie ..." Das alles war im Zentrum der Stadt.
Doch es gab auch Häuser dort. Wenige nur, mit pockennarbigen Fassaden, brandigen Dachstuhlskeletten. Aber hinter den notdürftig abgedichteten Fenstern flackerte an diesem Morgen kein Herdfeuer unter den Wasserkesseln. Seit einer Woche gab es ja wieder Gas ...
Frau Milan holte eine zweite, gut einen Viertelliter fassende Henkeltasse aus dem Schrank und goss sich von der dunklen, angebrannt schmeckenden Brühe ein, die „Ersatzkaffee'" hieß. Ohne etwas Heißes im Magen wurde das Warten zu schwer bis zur Mittagszeit.
Frau Milan sah zu ihrem Manne hin. Er stand an der Wasserleitung und spülte sich die Schlafwärme vom nackten Oberkörper. Gleich würde er am Tisch seine Morgenzigarette drehen. Eigenbau eines Kollegen ... Wenn er sich bloß dabei nicht noch etwas wegholt!
Die Frau presste die Lippen zusammen. Die scharf hervorstehenden Rückgratwirbel stachen ihr ins Herz. Schlecht sieht er aus, dachte sie. Sogar noch schlechter als in der Hungerzeit 1929!
„Du musst dich beeilen, Artur, es geht auf sieben!"
Er kam zum Tisch. Ihr entging nicht sein kurzer, verstohlener Blick neben die Tasse.
„Vielleicht kommt die Kartenfrau heute schon. Wenn nicht, geben mir Pfeiffers sicher noch ein Brot im Voraus", sagte sie und mochte ihren Mann nicht ansehen.
Artur Milan machte den ersten tiefen Lungenzug, unterdrückte mit gerötetem Gesicht einen Hustenstoß, und es war weder Vorwurf noch Einspruch in seiner Antwort „Und nächsten Monat sind wir noch eher mit den Marken fertig!"
Sie hob die Tasse an die blassen Lippen. Er hat ja recht, musste sie zugeben, aber was half es. Trümmer wegräumen ist eine schwere Arbeit, und die beiden Jungen beginnen den Tag so, wie sie den vergangenen beendet haben: mit Hungeraugen! Und morgen? Und übermorgen? Ich muss ihn darum bitten! dachte die Frau. Er muss es noch einmal tun!
Sie prüfte im Gesicht ihres Mannes, ob sie es wagen konnte. Gewiss, bei guter Laune war er nicht. Woher auch. Bevor die Frau ihre bange Bitte ausgesprochen hatte, sagte ihr Mann plötzlich: „Weißt du, was wir bauen sollen, wenn es wieder losgeht mit der Produktion? ... Landmaschinen! Man munkelt jedenfalls davon." Er leckte das locker gewordene Zigarettenpapier wieder fest. „Na ja. mir soll es egal sein. Kochtöpfe oder Landmaschinen ... Hauptsache keine Kanonen! Waggons reparieren wie im unteren Werk, das wäre mir lieber gewesen, aber schließlich sollen die Bauern ja ..."
Jäh brach Artur Milan ab. Beinah gleichzeitig mit seiner Frau hatte er während der letzten Worte hin zum Türpfosten gesehen. Dort hing der Rucksack!
Als Artur Milan den Blick seiner Frau fand, brauchte sie ihm nichts mehr zu sagen. Er verstand sofort, und sein Mund wurde schmal. Die Frau ging dennoch zur Tür und kam mit dem Rucksack zurück.
„Was soll denn sonst werden, Artur?", fragte sie leise. Sie legte den Rucksack langsam auf den Tisch. Die breiten Lederträger hatte Artur Milan längst durch Stricke ersetzt. Das Leder trugen die beiden Jungen unter ihren Schuhen. Der Rucksack war alt, und er roch nach Erde.
Artur Milan sagte kein Wort. Steifnackig und stumm saß er am Tisch.
Die Frau kannte diese Eiskälte. Sie hatte ihren Mann so gesehen, als fünf Jahre zuvor die Nachricht gekommen war, dass die Gestapo seinen Bruder geholt hatte. Dieser verhaltene, ohnmächtige Zorn war auch in den starren, leicht nach vorn gekrümmten Schultern ihres Mannes gewesen, als sein jüngster Sohn zum ersten Male in der Pimpfenuniform vor ihm gestanden hatte. Damals hatte ihr Mann geschwiegen, aber es war vieles anders geworden seitdem ...
Frau Milan merkte nicht die Nässe in ihren Augen. Erst als die Faust ihres Mannes auf den Tisch krachte und dann den Rucksack wegfegte, als sie der zornige Blick traf, da erst fühlte sie ihre Tränen, und sie wandte sich ab.
„Was werden soll, fragst du?", hörte sie die erregte Stimme ihres Mannes hinter sich. „Diebe und Gauner werden wir alle, wenn das so weitergeht!"
Fast zwanzig Jahre waren sie miteinander verheiratet. Ihr Mann hatte sie nie geschlagen in dieser Zeit. Jetzt spürte die Frau, dass auch Worte Schläge sein können. Und die Frau empfand den Schmerz doppelt, weil sie ihrem Mann recht geben musste. Aber konnte sie mit dieser Wahrheit die Jungen satt machen? Die Frau vermochte nicht weiterzudenken: Sie schluchzte ihre Hilflosigkeit in die vorgehaltenen Hände.
Artur Milan war aufgesprungen. Er achtete nicht auf die zuckenden Schultern seiner Frau. Die Fäuste in den Taschen, so stand er am Fenster.
„Das ist doch idiotisch: Am Tage schinden wir uns mit dem Aufbauen ab, und am Abend mausen wir den Neubauern die Kartoffeln von den Feldern ... Merkst du denn nicht selbst, dass wir so aus dem Dreck nie herauskommen?"
Der Mann drehte sich zu seiner Frau um. Seine Züge entspannten sich. Ihr Weinen beschämte ihn. Als wenn es ihre Schuld wäre! ging es ihm durch den Kopf. Verlegen trat er neben sie.
„Hör doch auf zu heulen", bat er und legte ihr unbeholfen den Arm auf die Schulter. „Ich weiß ja, dass du nichts dafür kannst!"
Er fühlte, wie sie sich sanft an ihn lehnte und war ihr dankbar dafür. Als sie ihn aus verweinten Augen anschaute, kam ihm für eine Sekunde der Gedanke, diese Augen zu küssen. Er tat es nicht. Nur ein wenig fester zog er sie an seine Seite.