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Quirl ist Kapitän der Hockeymannschaft und nimmt wenige Minuten vor einem wichtigen Entscheidungsspiel aus Angabe an einem 800-Meterlauf teil und belegt, allerdings ohne Wertung, den 2. Platz. Dabei beobachtet ihn eine Trainerin, die ihn für den Leistungssport gewinnen will. Nach reiflicher Überlegung nimmt Quirl das Angebot an und verlässt seine Mannschaft, um nun Leichtathletik zu trainieren. Den Verlust der Freundschaft mit den Mannschaftskameraden und seinem Hockeytrainer, sogar ihre Verachtung, nimmt er in Kauf. Nun verfolgt Quirl neben seiner Lehre nur ein Ziel: Er will zu den besten Mittelstreckenläufer der DDR gehören, sogar zur Europa- und Weltspitze aufsteigen. Das erstmals 1964 im Kinderbuchverlag Berlin in der Reihe "Robinsons billige Bücher" erschienene Buch beschreibt spannend, einfühlsam und überzeugend den Weg des Jungen mit dem Spitznamen Quirl zum Europameister und Teilnehmer am Endlauf bei den Olympischen Spielen in Rom. LESEPROBE: Frau Schablewsky hätte es nie für möglich gehalten, dass so viele Menschen in ihrem Wohnzimmer Platz finden könnten. Obwohl sie beide Fenster weit geöffnet hatte, war die Luft im Raum dick zum Zerschneiden. Onkel Franz paffte und nuckelte zur Feier des Tages an einer langen schwarzen Zigarre. Volker hatte Wochenendurlaub und Mulle und Anke eingeladen, die Übertragung des 800-Meter-Endlaufes am Bildschirm mitzuerleben. Ungeniert hatte Mulle die halbe Hockeymannschaft mitgebracht. Als Frau Schablewsky um ihre Möbel zu fürchten begann, waren aus dem Erdgeschoss auch noch der Hansi und sein Vater heraufgekommen. Der Mann qualmte nun mit dem Onkel um die Wette. Für Quirls Mutter war schließlich nur noch ein Eckchen auf der Sofakante frei geblieben. „Ruheee! Nun horcht doch mal!", schrie Onkel Franz, dabei hatte niemand ein Wörtchen gesagt. Nur das Knistern eines Bonbonpapiers war zu hören gewesen. Anke erstarrte und wagte keine Handbewegung mehr. Das Bonbon klebte zwischen ihren Fingern. Der Onkel aber lauschte hingerissen der Stimme des Fernsehkommentators und stieß Rauchwolken aus wie der Schornstein eines mit äußerster Kraft fahrenden Schnelldampfers. „Durch seine gute Platzierung im Vor- und Zwischenlauf kam unser Fred Schablewsky in den Vorendlauf", gab der Mann auf dem Bildschirm bekannt. Alle im Wohnzimmer hielten den Atem an. Onkel Franz vergaß, an seiner Zigarre zu ziehen. Es war, als könne der Fernsehsprecher ins Zimmer blicken, denn er lächelte beruhigend.
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Seitenzahl: 141
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Wolfgang Held
Quirl hält durch
ISBN 978-3-86394-940-2 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1964 beim Kinderbuchverlag Berlin in der Reihe "Robinsons billige Bücher".
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2013 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Godern
Tel.: 03860-505 788
E-Mail: [email protected]
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Die kleine thüringische Kreisstadt träumte in einen klaren Maisonntag hinein. Die ersten hellen Sonnenstrahlen streichelten die roten Ziegeldächer, ließen die vergoldete Kugel an der Kirchturmspitze aufblitzen und spiegelten sich in tausend blanken Fensterscheiben.
Es wird ein warmer Tag! gurrten die Tauben auf dem First einander zu, putzten eitel ihr Gefieder und blickten mit perlrunden Augen ein wenig entrüstet den schnellen Schwalben nach, die mit ihren schrillen Stimmen unbekümmert die morgendliche Stille der Straßen zerschnitten.
Bei Schablewskys rührte sich nichts. Kein Räuspern, kein Knarren, nicht der kleinste Laut drang durch die geschlossenen Türen in den lichtdurchfluteten Korridor. Es war wie das Schweigen in einem großen Konzertsaal, wenn der Dirigent den Taktstock gehoben hat. Und wie der erste Paukenschlag brach in diese Stille hinein plötzlich ein wütender Schrei: „Himmelkreuzdonnerwetter, Ruhe!"
Frau Schablewsky schnellte im Bett hoch. Erschrocken lauschte sie zum Zimmer ihrer drei Söhne hinüber. Es plumpste und rumpelte dort, dass die Wände bebten. Dann hörte sie rhythmisches Klatschen. Es klang, als schlüge jemand mit flacher Hand ins Wasser. Aber dort drüben war kein Wasser!
„Aua-aua-aua", wimmerte es jetzt erstickt herüber. Quirl! Frau Schablewsky erkannte sofort die Stimme ihres Jüngsten. Mit einem Satz war sie aus dem Bett. Sie warf den Bademantel über und eilte hinaus.
„Schluss!", befahl sie auf der Schwelle des Jungenzimmers. Sie wusste nicht recht, ob sie lachen oder wütend sein sollte. Quirl, den die beiden älteren Brüder bäuchlings aufs Bett geworfen hatten, rappelte sich umständlich hoch. Er massierte mit einer Hand eifrig sein Hinterteil, die andere umklammerte krampfhaft den Bund der Schlafanzughose. Das Gummiband war gerissen.
Quirls schmales Gesicht glühte vor Empörung, aber er presste hartnäckig die Zähne zusammen. Die beiden Älteren ließen die Arme hängen und studierten verlegen die Ritzen im Fußboden. Im Zimmer verstreut lagen die Sportsachen des jüngsten Mitglieds der Familie Schablewsky: Stollenschuhe, Jersey, Stutzen, Sporthose und Trainingsjacke. Die Trainingshose baumelte hoch oben von der Gardinenstange herab.
„Was war hier los?", fragte die Mutter. Streng blickte sie von einem zum anderen. Nur ein sehr scharfer Beobachter hätte in ihren Mundwinkeln ein verräterisches, heiteres Zucken bemerkt. Die Drei warfen sich gegenseitig schuldbewusste Blicke zu, doch keiner brachte auch nur eine Silbe über die Lippen. Großes Schweigen!
„Nun?" Die Stimme der Mutter war jetzt ruhig und dunkel. „Ich nehme an, es muss ziemlich wichtige Gründe geben, wenn ihr mir den einzigen Morgen in der Woche nehmt, an dem ich mal ausschlafen kann. Und ihr seid schließlich keine kleinen Kinder mehr ... Also?"
Immer noch Grabesstille. Quirl hatte seine Hinterteil-Massage beendet und hielt nun die Hose mit beiden Händen. Die Jungen zogen Gesichter, als hätten sie Brennnesseln unter den nackten Fußsohlen. Ihre Mutter war Leiterin einer Molkereiwaren-Verkaufsstelle des Konsums. An jedem Werktag ging sie halb sieben aus dem Haus, nachdem sie ihren Söhnen vorher das Frühstück hergerichtet hatte. Wenn die Drei auch da und dort mit zupackten, so reichte die Hausarbeit der Mutter doch oft noch bis weit in den Abend hinein. Frau Schablewsky hatte also allen Grund, sich auf jeden Sonntagmorgen zu freuen.
„Fred!", sagte die kleine, rundliche Frau, deren dunkles Haar vom silbrigen Altersschimmer durchwoben war. Sie schaute ihren Jüngsten an. Der zuckte mit dem Kopf wie nach einem Nasenstüber. Wenn seine Mutter ihn beim richtigen Vornamen nannte, dann stand die Sache schlimm. Und alles euretwegen! dachte er und warf seinen Brüdern einen schnellen, vorwurfsvollen Blick zu.
„Schlaf doch weiter, Mutti", sagte Quirl endlich und setzte eine lammfromme Unschuldsmiene auf. „Ich muss zum Stadion und wollte ja auch ganz leise sein ... Mir ist nur ein Schuh heruntergefallen und ..."
„... und mir genau auf den Riecher!", fuhr Heiner, der Älteste, hoch. „Mit Schwung noch dazu! Der Bursche fuhrwerkt hier mit seinen Sportklamotten umher als wäre er in einer Zirkusarena!"
„Kann ich vielleicht was dafür, wenn der Schnürsenkel reißt?", widersprach Quirl entrüstet. Es war passiert, als er seine Schuhe schwungvoll über die Schulter geworfen hatte. Wie eine Granate war einer davon in Heiners Gesicht gelandet und hatte den Wutschrei ausgelöst.
„Schnürsenkel!" Heiner kicherte gequält „Normalen Menschen reißt um diese Zeit kein Schnürsenkel. Normale Menschen schlafen am Sonntag aus!"
„Sportniete!", brummte Quirl verächtlich.
„Sportplatzwanze!", gab Heiner schlagfertig zurück.
„Milchpickel!" Quirl grinste überlegen. Heiners Wangen begannen zu glühen. Er hatte für den Sport nicht sonderlich viel übrig, aber er geriet jedes Mal in Wut, wenn Quirl ihn deshalb hänselte. Verbissen suchte er nach einer möglichst stacheligen Antwort auf den „Milchpickel", doch da schaltete sich Volker, der Sechzehnjährige, ein.
„Hört auf damit", meinte er gutmütig. „Quirl hat seine Tracht bekommen und nun Schluss ... Bitte leg dich wieder hin, Mutti. Heiner und ich werden das Essenkochen übernehmen."
„Bitte, wieso nur wir beide?", protestierte Heiner sofort. „Und Quirl?"
Volker blieb ruhig. Er blinzelte Quirl zu und erwiderte dann gelassen: „Quirl? Der gewinnt heute mit seiner Mannschaft den Pokal ... Ist das etwa nichts?"
Einen Augenblick lang sah Heiner ganz so aus, als wolle er entschieden Einspruch erheben. Gerade noch rechtzeitig entdeckte er die zufriedene Miene der Mutter und schwieg beleidigt. In unserer Familie ist einer eben glatt aufgeschmissen, wenn er den Sportfimmel nicht mitmacht, sagte er sich ärgerlich, kehrte seinen Brüdern den Rücken zu und angelte die Hausschuhe unter dem Bett hervor. Sein Groll hatte sich auch noch nicht gelegt, als er eine halbe Stunde später beim Kartoffelschälen war.
„Ihr mit eurem olympischen Klaps", brummte er und bearbeitete feindselig eine faustgroße Knolle. „Zum Glück sind drei Monate keine Ewigkeit mehr!" Heiner stand vor der letzten Abiturprüfung. Anfang September begann seine Dienstzeit in der Nationalen Volksarmee.
„Lass noch was zum Kochen!", meinte Volker feixend und wies auf das Kügelchen, das Heiners Messer von der Knolle übrig gelassen hatte.
Frau Schablewsky war wieder zu Bett gegangen, aber sie konnte keinen Schlaf mehr finden. Sie lag mit geschlossenen Lidern und lauschte auf das leise Ticken des Weckers. Manchmal sind sie wirklich noch wie kleine Jungen, dachte sie. In ihrem entspannten Gesicht nistete ein Lächeln. Sie war zufrieden mit ihren Söhnen. Heiner, der Älteste und Begabteste, würde nach seinem Wehrdienst studieren und gewiss ein tüchtiger Chemiker werden. Volker war Maurerlehrling. Er hatte nur noch ein Jahr vor sich bis zur Facharbeiterprüfung. Gleichzeitig ging er in die Abiturklasse der Betriebsschule. Lehrer und Meister hatten der Mutter übereinstimmend versichert, dass aus Volker sicher einmal ein umsichtiger Bauingenieur werden würde. Und Quirl?
Frau Schablewsky schlug die Augen auf und sah hinüber zur Wand. Ein Bild hing dort. Es zeigte einen dunkelhaarigen, lachenden Mann. Was den Sport angeht, da kommt der Quirl von allen Dreien am meisten nach dir! dachte sie.
Der Kraftfahrer Artur Schablewsky hatte vor vielen Jahren einen guten Namen auf den Sportplätzen der Stadt gehabt. Er galt damals nicht nur als schusskräftiger Stürmer der erfolgreichsten Stadtelf, sondern hatte auch bei vielen Leichtathletik-Ausscheiden auf dem Siegerpodest gestanden. „Halt die Jungen dazu an, dass sie Sport treiben!", hatte er seine Frau gebeten, bevor er nach dem letzten Weihnachtsurlaub 1944 wieder an die Front gefahren war. Und dann war der Tag gekommen, den Frau Schablewsky nie vergessen würde. An einem Mittwoch im Januar des Jahres 1945 hatte die Postbotin den Brief gebracht, dessen schrecklicher Inhalt auch durch tausend Tränen nicht gemildert werden konnte. Viele Frauen und Mütter hatten damals solche Briefe erhalten. Artur Schablewsky war nur einer von Hunderttausenden, die auf den Schlachtfeldern des 2. Weltkrieges von Kugeln durchbohrt, von Granaten zerrissen, von Bomben zerfetzt wurden.
Frau Schablewsky schaute noch immer zu dem Bild ihres gefallenen Mannes hin, aber es war keine Heiterkeit mehr in ihren Zügen. Nein, Artur, ich habe es nicht ganz so geschafft, wie du es dir wünschtest, ging es ihr durch den Kopf. Heiner hat eine Abneigung gegen Sportplätze, und Volker ist nur ein leidlicher Zuschauer geworden, abgesehen von seiner sommerlichen Schwimmlust. Aber ich glaube, du würdest trotzdem zufrieden sein, mit deinen Söhnen und auch mit mir. Wir haben uns Mühe gegeben in all den Jahren. Und es war auch für dein Andenken, Artur. Du hast einmal zu mir gesagt, dass es nicht genügt, den Frieden zu wollen. Man muss ihn schützen, ehe es zu spät dafür ist. Das hast du gesagt. Und genau dafür leben heute unsere Jungen. Alle drei, Artur! ... Und pass auf, der Quirl wird ein Sportler, wie du ihn dir immer gewünscht hast!
Quirl musste eine Weile suchen, bis er in den Haltegestellen noch einen freien Platz für sein Rad fand. Er schloss es ab, schnallte den Hockeyschläger von der Querstange, nahm die Aktentasche vom Gepäckträger und machte sich auf den Weg zum Hartplatz. Überall auf den weiträumigen Stadionanlagen herrschte munteres Treiben. Drüben hinter dem hohen Maschenzaun schlugen weiß gekleidete Tennisspieler ihre Bälle über die Netze. Auf den drei Vorderplätzen der großen Sportarena waren die Fußballlausscheide bereits wieder im vollen Gange, und die weißen, blauen, roten Sportdresse der Leichtathleten schmückten den riesigen grünen Rasenteppich, der vom tiefen Schwarz der Aschenbahn umkränzt wurde. Über fünfhundert Mädchen und Jungen aus allen Berufsschulen der Stadt standen hier seit gestern Mittag im sportlichen Wettstreit. Die Lehrlingsmannschaft aus dem VEB Maschinenbau hatte im Hockey das Endspiel erreicht. Das war keine Überraschung. Wer in der Stadt etwas vom Kampf um die kleine harte Kugel verstand, der wusste auch, dass bei diesem Turnier eigentlich nur eine von zwei Mannschaften als Pokalsieger in Betracht kam. Und viele tippten auf die jungen Maschinenbauer, deren Kapitän Quirl war. Die Jungen hatten ihn einstimmig gewählt, obwohl er nicht der älteste Spieler des Kollektivs war. Ausschlaggebend für das Vertrauen der Freunde war auch nicht allein Quirls sportliches Können als Außenstürmer. Gewiss, jeder gegnerische Torsteher fürchtete Quirls Scharfschüsse, und er hatte mit seinen wieselflinken Täuschungen im Schusskreis schon manchen Verteidiger ins Schwitzen gebracht, aber gute Spieler gab es in der Mannschaft auch noch andere. Mulle, der rechte Läufer zum Beispiel, oder auch der Mittelstürmer Sepp. Sie wären mit ihren Leistungen durchaus würdige Kapitäne gewesen. Und niemand konnte auch nur einem der elf Jungen unsportliches Verhalten nachsagen. In einem Punkt jedoch unterschied sich Quirl von seinen Freunden. Er blieb auch in den schwierigsten Situationen heiter und zuversichtlich. Kein anderer in der Mannschaft brachte das so fertig wie er. Und so etwas ist manchmal wichtiger als ein gelungener Torschuss! Einmal, als sie gegen eine Mannschaft der Bezirkshauptstadt schon mit 0:5 ins Hintertreffen gekommen waren und alles auf eine haushohe Niederlage hindeutete, hatte Quirl das sechste Tor der Gegner vergnügt mit den Worten „Nun fangt langsam an, Jungens, jetzt haben wir die nötige solide Grundlage!" kommentiert und damit die bereits auf den Nullpunkt gesunkene Stimmung so aufgefrischt, dass es bis zum Schlusspfiff noch zu einem 7:7 gekommen war. Und beim heutigen Endspiel würde Quirls Optimismus wieder besonders nötig sein!
Die Hockeyelf des VEB Straßenbau hatte den jungen Maschinenbauern bisher dreimal gegenüber gestanden. Jede der beiden Mannschaften war dabei einmal als Sieger vom Platz gegangen. Der letzte Kampf lag knapp vier Wochen zurück und hatte mit einem 5:5 keine Entscheidung gebracht. Im Hockeylager der Stadt wurde deshalb die heutige Auseinandersetzung mit ungewöhnlicher Spannung erwartet. Würde die bessere Technik der Maschinenbauer den Pokal erzwingen oder trugen Kraft und faire Härte der jungen Mannschaft aus dem Straßenbaubetrieb den Sieg davon?
Quirl schritt ohne Eile entlang der abgezäunten Aschenbahn, von deren schwarzer Haut sich die sauber gezogenen Trennlinien weiß wie Zahnpasta abhoben. Über der Tribüne wiesen die Zeiger der Stadionuhr auf vierzehn Minuten vor Neun. Quirl hielt Ausschau nach Mitspielern, aber er konnte nirgends einen aus seiner Mannschaft entdecken. Pünktlich um neun Uhr wollten sie sich im Umkleideraum hinter der Tribüne treffen. Auch der Hockeyplatz lag jenseits der hohen Sitzreihenterrasse. Der Spielbeginn war für halb zehn angesetzt.
Wegen des blöden Schnürsenkels werde ich wahrscheinlich heute noch der Letzte sein, dachte Quirl, aber er war nicht beunruhigt. Es schien ihm sicher, dass er auf keinen Fall zu spät kommen würde. Er bog zur Tribünenseite ein, wo die Mädchen ihre Weitsprung-Wettkämpfe austrugen. Einige von ihnen kannte er aus dem Lehrwerk. Die blonde Anke, die gerade zum Anlauf ansetzte, war Mulles Schwester. Sie wirbelte an ihm vorüber und stand schon bei den Schiedsrichtern, die ihre Weite notierten, als er an der Sprunggrube war.
„Hallo, Anke, zufrieden?", rief er dem Mädchen zu.
Sie sah zu ihm herüber, winkte bekümmert ab und zeigte dann zur Stadionuhr hinauf. „Du musst dich beeilen, Quirl!" Sie wischte eine helle Haarsträhne aus ihrer Stirn. „Und lasst euch nicht unterkriegen!"
Unternehmungslustig schwenkte Quirl den Schläger und setzte seinen Weg in Richtung einer Gruppe von Jungen fort, die auf das Startzeichen zum 800-Meter-Lauf warteten. Anke ist ein nettes Mädchen, dachte er und schaute sich noch einmal nach ihr um. Sie maß mit leichten, federnden Schritten die Anlaufstrecke für ihren nächsten Sprung ab. Quirl merkte gar nicht, dass er stehen blieb und lächelte. Wirklich ein feines Mädchen, wenn sie nur nicht dauernd so wichtigtuerisch daherreden würde. Mulle wird ja schon unruhig, wenn er sie von ferne sieht. Und mit mir fängt sie auch an. „Du musst dich beeilen, Quirl!" ... Als wenn nicht noch über eine halbe Stunde Zeit bis zum Spielbeginn wäre! Und den Mulle hat sie neulich vor der ganzen Mannschaft gefragt, ob er nicht das Zähneputzen wieder mal vergessen hätte. Den eigenen Bruder vor seinen Kameraden! Also nichts gegen Anke als Mädchen, aber als Schwester stelle ich sie mir ziemlich anstrengend vor. Noch viel anstrengender als zwei Brüder jedenfalls.
Quirl war mit seinen Gedanken noch bei Mulles blonder Schwester, als ihm jemand von hinten so kräftig auf die Schulter schlug, dass er mindestens einen Zentimeter in die Erde zu sinken glaubte. Wütend schnellte er herum und starrte in das lachende Gesicht eines Jungen, der mit Volker befreundet und ebenfalls Maurerlehrling war. „Na Quirl, schafft ihr es allein gegen die Teerkocher, oder soll ich euch helfen?"
Quirl zog vorsichtig seine Schulter unter der Respekt einflößenden Pranke des Jungen hervor, setzte eine nachdenkliche Miene auf und meinte endlich todernst: „Komm ruhig mal mit ... Weißt du, es ist immer besser, wenn der Schiedsrichter noch eine Ersatzpfeife zur Hand hat!"
Einen Augenblick lang bekam der Maurerlehrling den Mund nicht zu, dann schnappte er zwei-, dreimal nach Luft und zwang ein herablassendes Grinsen auf seine Lippen. „Würmchen! Schade, dass du keine Puste für die achthundert Meter hast!"
„Du meinst, dann hätte so ein Bär wie du keine Chance mehr?"
„Großmaul! Los, schwirr ab zu deinen Krückenheinis!"
„Du glaubst, ich trau mich nicht?" Ein Wort löste das andere aus, und zwei Minuten später wusste Quirl selbst nicht mehr genau, wie es gekommen war, dass er plötzlich mit an der Startlinie stand. Verlassen lagen sein Schläger, der Trainingsanzug und die Aktentasche mit den „Toppen" am Rande der Aschenbahn. „Ich laufe nur mal außer Konkurrenz mit", hatte er dem Mann mit der Startklappe gesagt, und der hatte keine Einwände gegen dieses Vorhaben gehabt.
„Auf die Plätze ...!", ertönte die scharfe Kommandostimme hinter den leicht nach vorn gekrümmten Rücken der angetretenen Achthundertmeterläufer. Ihre Muskeln waren hart und gespannt. Jeder Zug in den jungen, gebräunten Gesichtern verriet hohe Konzentration. Quirl hatte die Außenbahn. Auch er versuchte, sein ganzes Denken und Fühlen auf das Startzeichen zu richten, aber seine Gedanken waren in diesen Sekunden ungehorsam. Wie konntest du dich nur auf diesen Unsinn einlassen, schalten sie ihn. Bist du ein Achthundertmeterläufer? Nein, das bist du nicht! Aber ein Hockeyspieler bist du, und es ist gleich neun! Die Jungen werden warten, und der Trainer wird warten, und sie werden sagen, dass der Mannschaftskapitän am allerwenigsten die Zeit verbummeln darf.
„Fertig ...!", befahl die Kommandostimme. Und wenn dieser Bär von Maurerlehrling nun doch mehr Sturm in seinen Tretern hat, als ich glaube? überlegte Quirl. Also vor ihm muss ich unbedingt sein, sonst bin ich blamiert bis zur übernächsten Olympiade. Ich werde laufen wie ein ...
„Los!" Das laute, schussartige Klatschen der Startklappe gab der geballten Kraft von sieben Läufern den Weg frei. Alle kamen gleichzeitig und glatt von der weißen Kreidelinie los. Nach zehn, zwanzig Metern liefen sie noch dicht beieinander. Quirl schielte verstohlen nach links. Den Nebenmann, einen dürren Burschen in weinrotem Dress, kannte er nicht. Neben diesem, auf der anderen Seite, lief der Bär! Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich ihre Blicke. Flimmerte nicht ein Funken spöttischer Schadenfreude in den Augen des jungen Maurers? Quirl beschleunigte sein Tempo und war im Nu einige Schritte vor dem Feld. Am Ausgang der Kurve zur Gegengeraden betrug sein Abstand schon über sechs Meter. Er warf einen schnellen Blick über die Schulter und sah die anderen Läufer noch immer in geschlossener Formation.
Was sind das nur für lahme Enten? wunderte er sich. Achthundert Meter sind schließlich nur zwei Runden. Eine halbe Runde haben wir schon hinter uns. Wollt ihr etwa Kräfte sparen auf diesen paar Katzensprüngen? Bitte, wenn es euch Spaß macht! Aber ich kann mich da leider nicht anschließen, Freunde. Nur noch ein paar Minuten bis neun. Ich habe wirklich keine Zeit für so ein Opatempo.
In der Gegenkurve hatte Quirl den Abstand auf fünfzehn Meter erhöht. Der Bär wurde unruhig. Am Beginn der Geraden setzte er zur Verfolgung an. Die übrigen fünf Läufer ließen ihn kampflos ziehen und behielten ihren gleichmäßigen, zügigen Schritt bei, angeführt von dem Jungen im weinroten Dress.
Als Quirl den jungen Maurer nur noch wenige Meter hinter sich entdeckte und mit einem scharfen Zwischenspurt die Distanz wieder vergrößern wollte, musste er eine erschreckende Feststellung machen. Seine Beine verweigerten plötzlich ein schnelleres Tempo. Ihm war, als hätte er jetzt nicht mehr den biegsamen, weichen Porokrepp, sondern von Sekunde zu Sekunde schwerer werdende Bleisohlen unter den Füßen. Sein Atem war heiß und schnell geworden. Das dünne weiße Turnhemd begann schweißfeucht zwischen den Schultern zu kleben. Schon hörte er ganz nah die knirschenden Schritte seines Verfolgers. Und noch eine volle Runde lag vor ihm!
„Aufhören, Quirl!", drang in der Kurve unvermittelt eine helle Mädchenstimme zu ihm. Das ist doch Anke! dachte er und ließ sich nicht beirren. Aufhören? Sie spinnt ... Da, jetzt ist der Bär wirklich schon neben mir!
Die blonde Anke gestikulierte aufgeregt hinter den beiden Läufern her. Kurzentschlossen setzte sie ihnen nach, indem sie die Kurve quer über den grünen Rasen des Innenraumes schnitt.
Die ist ja heute besonders schlimm, dachte Quirl, als er Anke erneut am Rande der Aschenbahn erspähte. Sie muss doch sehen, dass ich mit dem Burschen neben mir jetzt gerade genug zu tun habe.