Uns hat Gott vergessen - Wolfgang Held - E-Book

Uns hat Gott vergessen E-Book

Wolfgang Held

4,9

Beschreibung

Dieses Buch lässt den Leser teilhaben an einem authentischen tragischen Familienschicksal. Mehr und mehr muss Markus erkennen, dass sich sein „Mädchen", wie er Monika, seine Frau, liebevoll nennt, verändert. Aber auch Monika merkt, dass nichts mehr so ist wie früher. Alltägliche Handgriffe werden zu unüberwindlichen Hindernissen. Ihre Krankheit, bald als Morbus Alzheimer diagnostiziert, frisst den liebenden Partner förmlich auf, schränkt aber seine Liebe nicht ein. Das ergreifende Tagebuch eines langen Abschieds erschien erstmals 2000 im quartus-Verlag, Bucha. LESEPROBE: Markus: Montag, am 1. September Es ist noch früh am Nachmittag. Der Park liegt einsam unter dem blauen Himmel. Über dem Rasen flimmert die Luft. Ich brauche das jetzt, Wärme und Stille. Wie gestern zu den Mahlzeiten, so habe ich Monika im Krankenhaus auch vor zwei Stunden zum Mittag wieder Nahrung eingeflößt. Sie nimmt von den Schwestern weder Essen noch Trinken an, dabei ist sie trotz der Spezialkost zum Erschrecken abgemagert und geschwächt. Sie muss beim Gang zur Toilette gestützt werden, und selbst das Sprechen verlangt ihr sichtlich Mühe ab. Als die Schwester mir sagte, dass die Stationsärztin mit mir reden möchte, habe ich insgeheim auf irgendeine ermutigende Nachricht gehofft. Vielleicht, dass es ein neues Medikament für Monika gibt, eine hilfreiche Therapie, mit der dieses teuflische Leiden, wenn auch nicht geheilt, so doch mindestens in seinem Verlauf gebremst werden könnte. Aber nichts dergleichen. Die Frau Doktor, bestimmt schon nahe der Sechzig und spürbar im Besitz der in diesen Jahren gesammelten Erfahrungen mit Leben und Tod, wollte mich untersuchen. Mich! Blutdruck messen, Herztöne prüfen, Lunge abhorchen. Das Ergebnis schien sie nicht zu überraschen. Ich könne so nicht weitermachen, eröffnete sie mir. Krankenpflege sei Schwerstarbeit. Unvorstellbar beispielsweise, dass eine Schwester ihren Patienten 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Wochen und zwölf Monate im Jahr ohne längere Erholungspause betreut. Genau dies aber sei mit der Pflege meiner Frau nun schon im dritten Jahr mein Bemühen, und selbst im Ergebnis der flüchtigen Untersuchung zeichne sich bei mir bereits deutlich ein in absehbarer Zeit zwangsläufig eintretender Zusammenbruch ab. Die Ärztin erschreckte mich nicht.

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Impressum

Wolfgang Held

Uns hat Gott vergessen

Tagebuch eines langen Abschieds

ISBN 978-3-86394-954-9 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 2000 beim quartus-Verlag, Bucha.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Godern

Tel.: 03860-505 788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.ddrautoren.de

Gewidmet den Grauen Schwestern vom Orden der Heiligen Elisabeth, dem Personal im Sankt-Elisabeth-Heim Weimar, und all jenen Menschen, die liebevoll und aufopfernd den langen Weg eines Alzheimer-Kranken in die Dunkelheit begleiten.

Im ersten Jahr

Monika: Montag, am 20. März

Ich habe Angst. Markus soll zu einem Vortrag fahren. Am Donnerstag. Das ist übermorgen. Am Abend und mit dem Auto keine Stunde von hier. Vor Mitternacht wird er wieder zu Hause sein, verspricht er, und er hat mich noch nie belogen. Gern würde ich mitfahren, aber das sage ich nicht. Wahrscheinlich wäre er sogar einverstanden, doch ich weiß, dass er es nicht mag, wenn ich dabei bin. Es macht ihn nervös, ich habe das schon erlebt. Er ist dann mit seinen Augen und seinen Gedanken mehr bei mir als bei seiner Rede. Ein paar Mal habe ich mich auch eingemischt und dazwischen geredet. Ganz spontan. So bin ich nun mal. Und ich habe meinen Mann gelobt vor seinen Zuhörern, das hat ihm gar nicht gefallen. Dabei wollte ich doch nur, dass die Leute begreifen, was ich für einen klugen Gatten habe. Ich denke, jeder kann wissen, dass ich stolz bin, seine Frau zu sein. Und ich unterhalte mich gern mit den Zuhörern. Ich möchte ihnen von unserer Tochter erzählen, von unserem Häuschen und wie wir es eingerichtet haben, von unserem Urlaub am Schwarzen Meer und dass unsere Enkelin die Beste in ihrer Klasse ist. Das alles mag Markus nicht. Deshalb werde ich zu Hause bleiben und auf ihn warten. Am Fenster. Vor unserem Haus draußen, gleich neben der Gartentür, steht eine Laterne. So kann ich ihn schon erkennen, wenn er aus dem Auto steigt. Aber in den Stunden bis dahin fürchte ich mich. Alleinsein ist schlimm. Ich weiß das, deshalb ist sie schon jetzt da, die Angst. Nein, ich will eigentlich, dass Markus bei mir bleibt. Er hat Kollegen, die den Vortrag halten können. Mir wird übel bei dem Gedanken, dass ich warten muss, allein und bis spät in die Nacht. Früher, als Elke noch klein und bei mir war, ist das anders gewesen. Jetzt wird mir das Haus ganz fremd, wenn außer mir niemand da ist. Vielleicht werde ich krank. Mein Herz schlägt viel zu schnell. Bestimmt werde ich krank. Er wird bei mir bleiben, wenn ich leide, das weiß ich. Ich werde ganz gewiss krank.

Markus: Dienstag, am 21. März

Wenn ich am Computer sitze, steht die Tür zum Arbeitszimmer immer offen. So kann ich das Klirren beim Aufwasch hören, den Staubsauger, das Brummen der Waschmaschine, Klappern von Geschirr. Früher hat Monika manchmal bei der Hausarbeit gesungen. Deutsch oder bisweilen auch Polnisch. Das ist freilich schon eine Weile her. Ein Jahr vielleicht oder noch länger. Neulich erst habe ich sie gefragt, weshalb sie das nicht mehr tut. Ich bekam keine Antwort, nur ein kurzes Lächeln, verlegen, wie mir schien, und fast so, als hätte ich an ein Geheimnis gerührt. Sechzig Minuten geben sie mir für den Vortrag, den ich morgen Abend halten soll. „Produktwerbung - Arglist der Verführer." Wo es unzählige Beispiele für die Hundert psychologischen Kniffe und Tausend lügnerischen Tricks der PR-Experten gibt, ist eine Stunde wenig. Konzentrieren auf das Wesentliche folglich, die drastischsten Fälle ... Eigentlich müsste ich es Betrügereien nennen oder wenigstens Hinterlist ... War da eben ...? Monika!

Sie liegt auf der Couch unten im Wohnzimmer, steif und nach Atem ringend. Ihr Pulsschlag ist kaum zu zählen. Drei-, viermal ist das schon in den letzten Jahren passiert. Meine Hand mit dem Telefonhörer zittert. Monika keucht leise. Nein, sie will keinen Arzt. Jetzt nicht. Ich soll warten. Bisher habe ich ihren Wunsch immer erfüllt, habe ihr kaltes Wasser gegeben, sie in den Arm genommen, ihre Stirn gestreichelt, und sie ist dabei langsam wieder zur Ruhe gekommen. Diesmal sieht es schlimmer aus. Über ihre Lippen, über ihr Gesicht zieht bläuliche Färbung. Ihre Hand umklammert meinen Arm, als drohe Sturz in die Tiefe. Ich wähle die Nummer des Notrufes. Fast eine halbe Stunde vergeht. Monika spricht kein Wort. Wenn sie mich anschaut, ist ihr Blick bänglich und vorwurfsvoll. Allmählich atmet sie ruhiger und löst ihren Griff. Vielleicht war ich doch zu voreilig? Der Notarzt kommt mit weißem Gefolge. Ein EKG-Gerät wird angeschlossen, dann nimmt der Arzt mir meinen Zweifel. Heftige Arrhythmien. Wahrscheinlich vegetative Labilität und kein Grund zu ernsthafter Besorgnis, aber Klarheit kann nur eine gründliche Untersuchung bringen. Deshalb sofortige Einweisung ins Krankenhaus. Sie legen Monika auf die Trage und schieben sie vor dem Haus in das Sanitätsauto. Ihr Blick klagt mich an.

Monika: Donnerstag, am 23. März

Krankenhaus ist furchtbar. Jeder ist ganz allein, auch gemeinsam mit anderen in einem Zimmer. Wie im Warteraum fürs Sterben. Gestern kam Markus gleich. Er hat mich geküsst und gestreichelt, da war alles gut, aber nur solange er bei mir blieb. Nun habe ich immer noch die Kontakte an der Brust. Auf dem Nachttisch stehen die kleinen, blauen Orchideen, die er mir mitgebracht hat. Was soll ich hier damit? Blumen sind nur dort schön, wo man zu Hause ist. Ich will sie nicht sehen. Sie können nicht zärtlich sein. Sie sind kein Ersatz für jemanden, den man liebt.

Die Ärztin, die Schwestern, alle hier quälen mich. Sie nehmen Blut aus meinem Arm, schieben mich in so ein neues Gerät, kleben mir Sauger an die Haut und lassen damit mein Herz belauern. Aber mein Herz ist gesund, sagte die Ärztin vorhin. Ich weiß das doch. Ich war selbst Schwester in einem Lazarett. Damals in Allenstein. Bis zur Flucht. Ich habe es seinerzeit noch einmal bis nach Hause, nach Mielau, geschafft und Mutti mitgenommen. Und Pikus, meinen Dackel. Und zwei kleine Koffer, mehr nicht. Das meiste von dem, was wir eingepackt haben, konnten wir gar nicht gebrauchen. Alles war so schnell gegangen an diesem Tag. Wir haben schon die deutschen und die russischen Kanonen gehört. Drei Monate immer unterwegs nach Westen. In Sachsen hat ein Bauer meinen Pikus erschlagen, nur weil er ihn angebellt hat. Pikus konnte Männer in Stiefeln nicht leiden. Wir sind allein weitergezogen, Mutti und ich. Bis nach Thüringen ...

Jetzt kommen die Kopfschmerzen wieder. Ich will nach Hause. Markus braucht mich. Schwester, ich will hier weg! Schnell weg! Ich muss telefonieren, meinen Mann anrufen. Er holt mich ab! Ganz bestimmt holt er mich ab. Er braucht mich doch!

Markus: Freitag, am 24. März

Wo in einer Ehe die Liebe nicht mit den Jahren welkt, wird einer des anderen Atem. Bei uns jedenfalls ist das so. Auch schon nach einem einzigen Tag ohne sie fehlt mir Monika. Meine Reportagen haben mich zu den Pyramiden geführt, zu den Ruinen von Palmyra und zu dem schwarzen Löwen von Babylon, ich habe die Trümmer von Karthago besucht und die Mönche im Troiza-Sergej-Kloster in Sagorsk bei Moskau, ich saß in Madrid bei einer Corrida auf Hemingways Platz in der Plaza de Toros und fror mit den Obdachlosen unter einer der Themsebrücken in London. Und immer, neben all den erstaunlichen, bewegenden oder bestürzenden Eindrücken, war da die Sehnsucht nach Monika und das Vorhaben, all diese Schauplätze noch einmal mit ihr aufzusuchen, später, wenn uns keine Gesetze und Grenzen gemeinsames Reisen dorthin verwehren. Jetzt ist diese Zeit. Endlich. Und im nächsten Jahr haben wir auch das nötige Geld dafür beisammen. Mit den Plänen für unser Rentenalter haben wir uns manche schöne Stunde bereitet. Nur gesund müssen wir bleiben.

Monikas Anruf holte mich in aller Frühe unter der Dusche hervor. Ich soll zum Krankenhaus kommen und sie abholen. Ganz schnell, sagte sie. Entlassung auf eigenen Wunsch. Ich ließ das Rasieren bleiben und fuhr ein paar Minuten später los. Heute Abend brennen wir Kerzen an und trinken Monikas Lieblingssekt, dachte ich unterwegs, aber auch: Entlassen auf eigenen Wunsch? Das ist doch sehr riskant. Und wenn sie wieder ins Krankenhaus muss? Manche Ärzte sind wie Elefanten, sie nehmen übel und vergessen nie. Auf jeden Fall müssen wir so bald wie möglich zu Monikas Hausarzt gehen.

Herrgott, sie wartet tatsächlich schon vor dem Hauseingang auf mich, im Morgenmantel und in Hausschuhen, das Waschzeug unterm Arm. Mit einer Miene wie auf der Flucht. Erst unterwegs im Auto findet sie Worte und schimpft auf die Oberärztin. Das Herz sei organisch gesund, aber man habe noch eine Menge vor mit ihr, hat die Frau gesagt. Eine Menge vor, klang das nicht nach Versuchskaninchen? Jedenfalls stand damit für Monika fest: Nichts wie weg hier!

Zu Hause küssen wir uns. Wir beide, sagt sie und kann wieder lachen. Wir beide!

Monika: Mittwoch, am 29. März

Besuch kann uns viel Freude ins Haus bringen, und wir haben viele Freunde. Seit der Wende sind es allerdings auch ein paar weniger geworden. Einigen waren wir zu sehr „staatsnah", wie das jetzt heißt. Einer, mit dem ich gemeinsam im Tennismix sicher hundert Matchs gespielt habe, tut jetzt so, als sei ich eine gerade erst Zugereiste, freilich hier aus dem Osten. Sachsen oder so. Die Neuen aus den alten Bundesländern umschwänzelt er dagegen wie ein Dackel die Bockwurstesser. Der Sportsfreund ist jetzt Schuldirektor und meint wohl, der Umgang mit „Linken" könne den eingereisten Vorgesetzten missfallen. Dafür ist die Freundschaft mit denen, die nach wie vor kommen, umso herzlicher. Trotzdem macht es mich seltsam unruhig, wenn einer von ihnen vor der Tür steht. Beim Kaffee oder beim Wein lachen wir nicht mehr so oft wie früher. Manchmal gar nicht. Heinz aus Erfurt, Liesel, Gerhard und auch Werner aus Kleinmachnow, Rosemarie aus Berlin und Manfred aus Gotha, sie alle müssen vielleicht bald raus aus ihren Häuschen oder Wohnungen. Rückgabe an die Besitzer, die nach dem Westen gegangen sind, oder an deren Erben. Gestern hat Manfred erzählt, man könne bei Bezahlung des halben Verkehrswertes womöglich doch bleiben. Markus verspricht mir immer wieder, dass es uns nicht betrifft, dass wir im Grundbuch stehen, dass es keine Ansprüche gibt, aber das alles macht mir doch Angst; genauso wie der Bettler auf dem Pflaster vorm Schillerhaus, wie die betrunkenen Arbeitslosen auf den Bänken am Theaterplatz, wie die am Abend und in der Nacht dermaßen unsicher gewordenen Straßen, dass man sich im Dunklen nicht mehr aus dem Haus traut, ins Theater, Kino oder so. Und wie schwer es jetzt für Markus geworden ist, Geld zu verdienen. Vor der Wende war er oft tagelang mit mir auf Reportagefahrt oder saß vom Morgen bis zum Abend an seinem Schreibtisch. Doch ja, die Welt da draußen ist mir fremd geworden. Bei uns, wenn einer gesungen hat, wollte er jemandem eine Freude machen oder hatte selbst Freude dabei. Wenn jetzt einer singt, wissen alle, dass er Geld dafür will. Ich habe zum zweiten Mal meine Heimat verloren, so kommt es mir vor. Das schmerzt tief in der Brust und im Kopf. Besonders im Kopf. Es ist wie ein kleiner Stein oder so. Das drückt und stört, nicht zum Schreien, aber doch schmerzhaft. Manchmal nehme ich eine Tablette, aber es kommt auch vor, dass ich stundenlang nicht daran denke. Beim Tennisspielen zum Beispiel. Da bin ich besser als Markus, wenn ich ihn auch hin und wieder gewinnen lasse. Er ist ja ein guter Verlierer, aber seine Augen verraten, dass er dabei leidet, und das will ich nicht. Bald kommt unsere Tochter Elke mit ihrem Andreas und Christine. Fast ein Jahr haben wir uns nicht gesehen. Ich freue mich. Zusammensitzen mit der Familie, das ist für mich immer ein kleines Fest. Wir müssen einkaufen ... Wo ist meine Geldbörse?

Ich hatte das Geld doch in meiner Handtasche. Oder? Gestohlen vielleicht? Da war einer, der den Gaszähler abgelesen hat! Gestohlen, was sonst!

Markus: Freitag, am 31. März

Urlaubsreif, das wird es sein. Und verspätete Frühjahrsmüdigkeit kommt noch dazu. Nach dem Mittagessen schlafe ich beinah schon am Tisch ein, und Monika ist zerstreut. Vorgestern haben wir einen halben Tag lang ihr Portemonnaie gesucht. Es wollte mir nicht in den Kopf, dass der Mann von der Energieversorgung ein Dieb sein könnte. Auf dem Weg zum Gaszähler im Keller hatte er die Wohnräume gar nicht betreten. Wir fanden die kleine Börse schließlich im Schlafzimmer, versteckt zwischen den Handtüchern im Wäscheschrank. Monika hob die Hände an den Kopf und erinnerte sich, aber weshalb und wann sie das getan hatte, fiel ihr bei allem Nachdenken nicht ein. Eben reif für ein paar Urlaubstage.

Markus: Freitag, am 26. Mai

Endlich kommen heute gegen Abend erst einmal Elke, unsere Honigmaus mit Ehemann Andi und Tini, unserer Enkelin. Monika und ich warten seit Wochen auf diese Tage. Unsere Berliner haben die Reise zu uns immer wieder hinausgeschoben. Termine, Schaden am Auto, Tinis Klassenfahrt nach England, irgendetwas kam stets dazwischen, aber nun ist es doch so weit. Hoffentlich bleibt das Wetter schön, dann können wir morgen am Nachmittag Tennis spielen. Andi und ich gegen unsere Frauen. Endlich Revanche nach unserer Niederlage vor einem Jahr. 6 :4, 6 : 3 für die Damen damals. So nicht noch mal, mein lieber Schwiegersohn. Anstrengen, sonst wird am Abend nichts mit Bratwurst und Rotkäppchen! ... Aber erst müssen sie ja mal hier sein.

Und nun ist es so weit. Sie haben eine gute Fahrt gehabt von Berlin hierher. Kein Stau, nur die vielen Baustellen. Viereinhalb Stunden. Wir umarmen uns und etwas erscheint mir merkwürdig. Es kommt mir so vor, als ließe sich Elke von mir wie auch von Monika nur scheu in die Arme nehmen, widerstrebend sogar. Irgendetwas stimmt nicht, oder bilde ich mir das bloß ein? Monika jedenfalls spürt offenbar nichts dergleichen. Wir lassen uns von Andreas Urlaubsbilder zeigen. Ungarn. Balaton. Die Fotos sind fast ein Jahr alt. Monika erkennt sofort ein paar Motive wieder. Wir waren 1989 mit unserem Zelt dort unten. Im Juli, als die Landsleute auf dem Campingplatz in Aufregung gerieten. Offene Grenze nach Österreich. Wir wussten aus dem Westfernsehen und von den Verwandten zu viel über das Bananen-Land und sind am letzten Urlaubstag nach Hause gefahren.

Elke möchte etwas zum Lesen. Ich soll ihr beim Aussuchen helfen. Oben, in meinem Arbeitszimmer. Ich will fragen, ob das nicht Zeit bis nach dem Mittagessen hat, doch ihr Blick zwingt und lässt ahnen, dass es nicht um ein Buch geht. Mein beklemmendes Gefühl wird bestätigt. Die Wahrheit macht mich für Minuten stumm. Das Atmen fällt schwer. Wir schauen uns an, und die Augen werden feucht, bei mir wie bei ihr. Ich will, dass es nicht wahr ist. Gibt es keinen Fluchtweg aus bitterer Wirklichkeit? Elke wurde vor drei Monaten operiert.

Krebs ... Mammakarzinom!

Lymphknoten in der Achselhöhle und das Schlüsselbein von Geschwulstzellen befallen. Radikaloperation rechts. Ich kenne diese Empfindung von Leid, vor dem es kein Ausweichen gibt, habe es schon gespürt. Es ist lange her. Februar 1945. Ich kam, knapp fünfzehnjährig damals, aus einem Winterlager der Hitlerjugend. Nach Hause geschickt wegen eines Luftangriffes auf die Heimatstadt. Vor den Trümmern des Hauses, in dem meine Mutter, meine Schwester und ich gewohnt hatten, vermochte ich mich minutenlang nicht zu rühren. Ganz oben zwischen Balken, Möbelresten, Lehm und Steinen hing der leblose Körper unseres Hauswirts. Endlich kam einer, der sagte, meine Leute seien am Stadtrand bei Verwandten. Auf dem halbstündigen Weg dorthin habe ich gesungen. Ja, gesungen. Immer wieder den gleichen Text dieses blödsinnigen Liedes, das schon bei den Pimpfen zum Heimabend gehörte. Wenn der Puls der Frau Schulz nicht mehr schlägt, und Frau Schulz sich im Bett nicht mehr bewegt, hat der Puls der Frau Schulz keinen Zweck, denn der Puls der Frau Schulz ist dann weg. Immer wieder und wieder. Und dabei tief in der Brust das gleiche Gefühl wie jetzt. Verdrängen, das ist der Weg. Die Flucht vor der Last unerträglicher Verzweiflung. Und wie bringen wir Monika die schlimme Neuigkeit bei? Nun, wo hoffentlich erst einmal alles überstanden ist, wird es freilich weniger schmerzhaft werden als das vor der Operation der Fall gewesen wäre. Deshalb hat uns Elke ja nicht zeitiger eingeweiht. Ein kluges, feinfühliges und tapferes Mädchen, unsere Tochter. Sie schlägt vor, dass wir morgen Tennis spielen. Seit einer Woche trainiert sie schon wieder. Ganz vorsichtig natürlich. Wenn Mutti mich spielen sieht, meint Elke, dann wird sie mir glauben, dass es kein Grund mehr zur Sorge gibt ... Elke vergisst, dass Monika ein paar Semester Medizin studiert hat.

Monika: Sonntag, am 28. Mai

Gestern haben sie es mir gesagt, noch am Frühstückstisch, Elke und Markus. Auch Andi saß dabei. Sie sahen mich an, als sei mein Leben bedroht. Krebs - früher, vor einem Jahr oder länger, hätte mich vermutlich so eine Nachricht ganz und gar aus der Fassung gebracht wie damals, als meine Schwester gestorben war. Ich weiß, dass ich vor Schmerz gegen die Wahrheit geschrien und geweint habe, nicht denken konnte, nicht reden, nicht essen, nicht schlafen. Und nun bin ich völlig ruhig geblieben. Da war tief in meiner Brust bloß ein kurzes, schmerzhaftes Stechen, nicht mehr. Ich habe Elke gefragt, ob es denn nun trotzdem bei unserem Tennismatch bleiben könne. Sie hat, gerade erst Anfang der Vierziger, eine Brust verloren und ich kann tatsächlich an Tennis denken. Bin ich kälter geworden, härter, liebloser womöglich? Nein, das kann nicht sein. Es kommt davon, dass sie mit mir reden, als sei ich aus dünnem Glas. Ich liebe sie doch, meine Tochter, meinen Mann, meine Enkelin ... Jedenfalls spielen wir heute Tennis! Und ich werde aufpassen, damit sich Elke dabei nicht übernimmt. Aber gewinnen müssen wir unbedingt gegen die Männer. Ich freue mich so sehr auf heute Nachmittag.

Markus: Freitag, am 7. Juli

Vier Tage Regen haben mir die Arbeit an meinem Büchlein rund um die Thüringer Kuchentafel leicht gemacht. Monika steckte unterdessen tief im Hausputz. Jetzt ist es genug. Die Sonne scheint und der Tennisplatz lockt. Lotte und Herbert warten. Mit Lotte hat Monika schon dreimal die Klubmeisterschaft im Doppel gewonnen, aber noch nie gegen Herbert und mich. Der Sieg vor Wochen im Mai, gemeinsam mit Elke gegen Andreas und mich, lässt Monika nun auf ein Erfolgserlebnis besonderer Art hoffen: Mit der bewährten Partnerin endlich mal ein Matchgewinn gegen die vereinigten Ehemänner!

Und wir haben diesmal allen Ernstes den ersten Satz gegen unsere Frauen verloren, zwar erst im Tiebreak, aber immerhin: Es kratzt an unserer Eitelkeit. Mehr als zwei Sätze wollen wir uns, wie vereinbart, nicht zumuten, also muss der Zweite gewonnen werden. Da passiert gleich zu Beginn sehr Ungewöhnliches. Monika, die mit dem Aufschlag an der Reihe ist, verharrt an der Grundlinie und schaut sich ratlos um. Lotte ruft ihr zu, dass sie aufschlagen soll, aber sie scheint nicht zu begreifen, was gemeint ist. Ein Jux? Will sie uns veralbern? Dreißig Jahre aktiv im Tennis! Wir lachen. Falls du das Tor suchst - hier ist Tennis, nicht Fußball, ruft Herbert hinüber. Jetzt lächelt auch Monika, rührt sich aber immer noch nicht von der Stelle. Lotte drängt sie sanft zur rechten Seite. Gleich Monikas erster Aufschlag kommt. Herbert und ich gewinnen den zweiten Satz. Wir lassen es, wie verabredet, beim Unentschieden. Zu Hause frage ich Monika, was denn plötzlich auf dem Platz mit ihr los gewesen ist. Sie schaut mich groß an, ernst und befangen. Ich weiß es nicht, sagt sie vor einem etwas gezwungenen Schmunzeln und fügt hinzu: Man wird eben langsam alt, so ist das. Ich muss sie in die Arme nehmen. Sie hält sich ganz eng an mir fest.

Am Abend sind wir im Theater. Ich musste Monika dazu überreden, obwohl sie in Zeiten vor der Wende die nächste Premiere kaum erwarten konnte. Die neuen, so genannten marktwirtschaftlich orientierten Preise für gute Plätze machen ihr weniger Gedanken. Jetzt fürchtet sie sich vor dem Weg zurück zum Parkplatz. Tatsächlich kann man in der Zeitung fast jeden Tag von nächtlichen Überfällen auf Passanten lesen. Das Argument, wir seien nach der Vorstellung schließlich nicht allein unterwegs zum Auto, überzeugte dann wohl doch.

Ein herrlicher Abend. Monika hat mit ihrer leidenschaftlichen Anteilnahme am Geschehen auf der Bühne nicht nur die Zuschauer im großen Saal, sondern auch die Akteure erheitert. Im Stück auf der Bühne drängte eine Ehefrau ihren Gatten, sich unter dem Tisch im Salon zu verstecken, um so heimlicher Zeuge der Aufdringlichkeit eines vermeintlichen Freundes ihr gegenüber zu werden. Der Dialog um das Für und Wider solchen verstohlenen Belauerns dauerte und machte meine liebe Monika so ungeduldig, dass sie endlich - mit Geist und Seele in der Szene - nicht mehr länger stumm zu bleiben vermochte und schallend laut, bis zu den Rängen hinauf vernehmbar, forderte: Nun kriech doch endlich drunter, Mann! Das Lachen ringsum machte sie keineswegs verlegen, eher ein wenig geltungsbewusst. Noch am nächsten Morgen, beim Frühstück, haben wir beide uns über den kleinen Zwischenfall amüsiert.

Monika: Mittwoch, am 9. August

Für Markus gehören zu einem schönen Frühstück kräftiger, heißer Kaffee, frische Brötchen, Orangenmarmelade und die Zeitung. Und ich natürlich. Den Kaffee koche ich, die Brötchen holt er vom Bäcker und bringt gleich die Zeitung mit. Dann sitzen wir beieinander, reden über den Tag vor uns, machen Pläne, essen und trinken, teilen uns die Zeitung, lesen und schwatzen über das Neueste. Gemütlich ist unsere Stunde am Frühstückstisch immer gewesen, also nun schon über vierzig Jahre. Und jetzt, schon seit ein paar Tagen und an jedem Morgen mehr, stört mich die Zeitung. Es macht mich nervös, wenn Markus liest. Ich will auch nicht über irgendetwas von dem, was er da entdeckt, reden. Das sind für mich neuerdings alles Geschichten in einer fremden Sprache. Kein Interesse. Vielleicht liegt es am Älterwerden. Noch zwei Monate, und ich bin Siebzig. Und Markus ist erst in fünf Jahren so weit. Was gehen uns die Kriege, der Hunger, die Katastrophen, die Not ringsum in der Welt noch an nach all dem Elend, in das wir geraten sind? Ich will nichts hören, was mir Angst macht. Und Zeitungen tun das. Da gibt es keine Nachrichten, wonach niemand mehr im Land arbeitslos ist, dass keiner mehr betteln muss oder Geld für Krankenhaus und Medizin braucht, keine Meldung von einer Gegend, in der Freundlichkeit herrscht und jeder, der einen anderen Menschen übervorteilt, täuscht oder Schmerzen an Leib und Seele zufügt, so bestraft wird, als habe er des Betroffenen Blut vergossen. Bitte, leg' die Zeitung weg, Markus. Lass uns die Fenster putzen und die Gardinen waschen. Wenn wir fertig sind, fahren wir zur Kaufhalle. Ich lade dich zum Essen ein, ja? Einverstanden? Wunderbar, du, mein Liebling!

Zusammensein ist das Schönste. Mit Markus muss ich mich nicht fürchten. Er nimmt mir die Angst. Und ich bin glücklich, wenn ich ihm helfen kann, beim Vorlesen für seine Schreibarbeit am Computer zum Beispiel, oder beim Abnehmen der Stores. Er steht auf der Leiter, ich halte ihn an den Knöcheln fest und kann sein schwaches Zittern spüren. Meinem Schatz wird schon beim Stand auf einem Stuhl schwindelig. Damals, im Urlaub in der Hohen Tatra, als uns auf dem nur fußbreiten Pfad entlang der Steilwand die schnelle Dämmerung erschreckte und Markus von Unsicherheit gelähmt wurde, wären wir beide gewiss ohne meine Hilfe kaum unbeschadet aus der Gefahr gekommen. Mit unserer Liebe sind wir gemeinsam sicher, er und ich, deshalb müssen wir einander ganz nah sein. Jeden Tag, jede Stunde ... Immer!

Markus: Sonnabend, am 23. September

Aus Berlin ist ein Brief gekommen. Vom Rundfunk. Ich bin neugierig und suche meine Brille. Heute Morgen beim Zeitunglesen habe ich sie doch noch gehabt. Jetzt ganz ruhig: Der Begabte hält Ordnung, ein Genie überblickt das Chaos! Monika hilft mir beim Suchen. Im Arbeitszimmer? Da war ich heute noch gar nicht, aber bitte! Keine Brille, aber ein voller Papierkorb. Ich bringe ihn hinaus zum Mülleimer, und - das kann doch nicht wahr sein: Meine Brille! Im Mülleimer! Noch ehe ich frage, protestiert Monika. Sie habe die Brille nach dem Frühstück weder berührt noch irgendwo in der Wohnung gesehen. Das behauptet sie und ich merke, wie ihre Augen dabei feucht werden. Nein, ich will keinen Streit. Die Brille ist wieder da, basta. Der Brief enthält die Einladung zu einem Podiumgespräch in Berlin. Augenblicklich ist für Monika die Sache mit der Brille vergessen. Fahrt nach Berlin, das bedeutet ein unverhofftes Wiedersehen mit unserer Elke, ihrem Andreas und unserer Enkelin Christine. Noch vor dem Mittagessen ist meine telefonische Zusage beim Sender.

Schon seit wir über die Fünfzig sind, halten wir eine Menge vom Mittagsschlaf. Eine halbe Stunde, nicht mehr, aber konsequent. Wir liegen nebeneinander und halten uns an der Hand wie beim Spaziergang. Bald und sanft löst sich der Griff dann beim Hinüberdämmern. Heute lassen meine Gedanken die Müdigkeit nicht so schnell heran. Wieder die Sache mit der Brille! Weshalb tut Monika das? Weil sie selbst nicht mehr liest? Früher hielt sie in jeder dafür günstigen Stunde ein Buch in den Händen. Erst jetzt, wo ich darüber nachdenke, wird mir bewusst, dass sie ja schon seit Wochen alles Gedruckte meidet. Wo ist eigentlich ihre Brille, die habe ich auch schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Eine Neurose vielleicht, wie das bei psychischer Belastung passieren kann? Womöglich ist Elkes Operation die Ursache? Wir müssen reden, ganz in Ruhe, am Abend bei einem Glas Sekt. Nein, nicht heute. Zuerst fahren wir mal nach Berlin. Freude kann Wunden der Seele heilen und das Herz jung bleiben lassen, hat Monikas Mutter gesagt, da war sie schon Achtundneunzig.

Monika: Mittwoch, am 4. Oktober

Alles hat so schön angefangen. Ein gemütliches Hotelzimmer, ein wundervoller Abend bei Elke, Andreas und Christine in Hellersdorf, heute am Vormittag Markus' Stimme im Radio, und nun dieses Unglück. Gerade eben ist der Arzt gegangen. Markus kam mit Fieber vom Sender zurück. Nun liegt er hier im Hotelbett, glüht und hustet Blut. Grippe, sagt der Doktor und hat ein Rezept hier gelassen. Die Apotheke sei ganz in der Nähe. Wenn ich aus dem Hotel trete, rechts bis zur Ecke, dann links bis zur Kreuzung, wo ein Zeitungskiosk steht. Genau gegenüber soll es sein. Ich will Markus nicht allein lassen, aber es ist niemand da, der die Medizin holen könnte. Bei Elke in Hellersdorf geht keiner ans Telefon. Sie arbeiten, und Christine ist sicher wieder beim Reitunterricht. Ich muss gehen. Schnell.

Vorher lege ich Markus noch den feuchten, kühlen Waschlappen auf die heiße Stirn. Er macht einen dummen Witz, will mich zum Lachen bringen, dabei ist mir zum Heulen zumute. Ich sage, dass es nicht lange dauern wird und gehe.

Vom Hotel um die Ecke ist keine Kreuzung. Nirgendwo ein Zeitungskiosk. Keine Apotheke. Also nach links. Oder hätte ich geradeaus gehen sollen? Vielleicht dort vorn nach rechts? Mein Gott, mein Gott, wo ist bloß diese Apotheke? Autos, Menschen, Lärm - ich suche und suche. Wie lange bin ich schon unterwegs? Eine halbe Stunde, eine Stunde? Ich kann den Laden nicht finden, also zurück zu Markus. Und wo ist das Hotel?

Weshalb habe ich mir den Namen nicht gemerkt?