...auch ohne Gold und Lorbeerkranz - Wolfgang Held - E-Book

...auch ohne Gold und Lorbeerkranz E-Book

Wolfgang Held

5,0

Beschreibung

"Siegen, mein Junge, das können auch Großmäuler und Schweinehunde", sagt der Vater von Sebastian. "Was einer wirklich wert ist, das zeigt er erst als Verlierer. Niederlagen machen den Menschen durchsichtig." Nach einem Verkehrsunfall ist dem Zwölfjährigen ein Teil seines linken Fußes amputiert worden. Wie der körperlich behinderte Junge, trotz allem ein begeisterter Sportler, nun Kränkungen und Hemmnisse überwindet, wie dabei Freundschaft in eine Bewährungsprobe gerät, das wird hier spannend und mit viel Einfühlungsvermögen erzählt. INHALT: BITTERE WAHRHEIT FROSCH IM SCHNEE 5 : 0 GEGEN PAPS GEWISSENSBISSE EIN GOLDHAMSTER, DER EIER LEGT? HEIMLICHE WEGE ENDE ODER ANFANG? WIEDER AM START LESEPROBE: "Ist dir das Wasser drüben im Freibad zu kalt?" Sebastian schüttelt den Kopf. Verlegen wedelt er mit seinem Beutel. "Ich... Ich will mich hier anmelden." Seine Stimme klingt schroff, als habe ihm sein Gegenüber an der Nase gezupft. "Aha." Der Mann schmunzelt weiter. "Sicher bist du schon geschwommen, oder?" "Oft!" Sebastian nickt eifrig. "In den Ferien manchmal jeden Tag. Und dann nach meinem Unfall beim Behindertenschwimmen." "Körperbehindert?" Der Graukopf wird nachdenklich. "Mir fehlt ein halber Fuß." "Und Wettkämpfe? Ich meine, beim Behindertensport?" "Nein, eigentlich nicht. Ich bin... war Turner." "Aha." Das Lächeln des Mannes erlischt. Er zieht einen Schlüssel aus der Tasche und öffnet die Glastür. Erst nachdem er den Mädchen und Jungen am Becken ein paar Anweisungen zugerufen hat, widmet er sich wieder dem jungen Besucher. "Ich glaube, hier bist du nicht am richtigen Platz, mein Junge." "Wegen meines Fußes? Weil ich damit beim Sprung vom Startblock Schwierigkeiten habe?" "Zum Beispiel." "Und Rückenschwimmen? Da wird doch im Wasser gestartet. Kein Sprung. Ich strenge mich bestimmt an, echt!" "Trotzdem." Das kleine Wort des Graukopfes ist welk wie ein gestorbenes Blatt. Es fällt ihm sichtlich schwer, auszusprechen, was seiner Meinung nach jetzt gesagt werden muss. "Und dann bist du für den Wettkampfsport im Schwimmen auch schon ziemlich alt." "Alt? In zwei Monaten werde ich dreizehn." Er schaut hinüber in die Halle. "Dort sind ein paar dabei, die gehen schon in die neunte oder zehnte Klasse." "Stimmt." Der Graukopf nickt. "Die haben gemeinsam sechs Landesmeistertitel und zweimal Bronze bei der Europameisterschaft. Keiner, der nicht schon mindestens fünf Jahre hart trainiert hat."

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Impressum

Wolfgang Held

...auch ohne Gold und LORBEERKRANZ

ISBN 978-3-86394-821-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1983 beim Kinderbuchverlag Berlin.

.

Gestaltung des Titelbildes: Sabine Beck

© 2012 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Godern

Tel.: 03860-505 788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.ddrautoren.de

BITTERE WAHRHEIT

Sebastian kauert auf einem Inselchen, nicht viel größer als eine aufgeblasene Luftmatratze. Er ist allein. Weit und breit findet sein Blick kein Ufer. Kein Vogel zieht über den grauen Himmel. Nicht der leiseste Laut berührt die Stille. Nirgendwo ein Segel, eine Spur von Rauch, ein menschliches Zeichen. Das Einzige, was sich in der Nähe bewegt, ist der schreckliche, lauernde Koloss.

Wenn ich mich wenigstens wehren könnte, denkt Sebastian. Eine Keule müsste ich haben. Ein Schwert oder - besser noch - eine Kanone. He, Freunde, wo steckt ihr denn? Was ist das für eine Freundschaft, wenn keiner zur Stelle ist in der Not! Hört ihr mich nicht? Ich brauche Hilfe! Ihr dürft mich jetzt nicht allein lassen mit diesem Teufelsvieh!

Immer enger zieht das Ungeheuer seine Kreise. Es besteht ganz und gar aus blinkendem Metall, hat zwei riesige Scheinwerferaugen und einen Rachen, größer als die Einfahrt eines Eisenbahntunnels. Manchmal verharrt es und äugt durch glitzernde Gläser herüber. In diesen Augenblicken wagt Sebastian kaum zu atmen. Er klammert sich fest, denn jede Bewegung des Untiers bringt das Inselchen ins Schaukeln.

Der Koloss steuert nun schnurgerade auf den Jungen zu. Kurze, quietschende Töne zersägen die Stille. Zwei chromblitzende Hörner zielen auf die kleine Insel - ein Angriff!

Sebastian presst die Lippen aufeinander. Mit dunklem, anschwellendem Brummen rollt die Bestie heran. Gebannt starrt der Junge auf die drohend gefletschten Stahlzähne. Seine Fäuste werden steinhart. Zehn Meter noch... fünf... drei... Und dann ist alles plötzlich kein quälender Traum mehr, sondern Erinnerung. Bittere, schmerzhafte Wirklichkeit, die ihm widerfahren ist: Aus dem heranjagenden Traumungeheuer wird ein schwerer Lastwagen mit silbern glänzendem Kühlergrill, großen Scheinwerfern und einer breiten Stoßstange.

Knapp zehn Stunden ist das her. Es war schon später Abend, als es passierte. Auf den Dächern schmolzen die letzten Sonnenstrahlen. Fünf Jungen kamen aus der Turnhalle. Paps, der Turn-Übungsleiter, nannte sie seine "Musketiere". Die beste Zwölfjährigen-Riege des Sportvereins. Den langen Steffen übertraf am Reck nicht mal einer von den hochnäsigen Sechzehnjährigen aus der Jugendklasse I, die mit ihrem Kreismeistertitel umherstolzierten, als sei ihnen nun der Olympiadesieg sicher. Der stille Heinz zählte dazu, außerdem Koni, der sein abstehendes, rechtes Ohr bei jeder Gelegenheit wie einen Schmetterlingsflügel flattern lassen konnte, und Eule, von dem kaum einer den richtigen Vornamen wusste. Mit Sebastian Kreuz gehörten die fünf zusammen wie Finger einer Hand.

Das kleine thüringische Städtchen, in dem die fünf Jungen wohnen, heißt Tannenthal. Es gibt ein Wohngebiet mit weißen, vielstöckigen Häusern, ein altes Fürstenschlösschen, in dem ein Museum untergebracht ist, drei Kirchen und sieben Turnhallen, ein Kino, ein Spaßbad, ein McDonalds-Restaurant und mehr Parkplätze für Autos als Spielflächen für Kinder. Und, zum Verdruss vieler Tierfreunde, keine Hundewiese.

Dienstags trainieren die Musketiere bei Übungsleiter Willi Papenbold. Sie nennen ihn nicht nur Paps, weil das kürzer ist. Für seine Schützlinge nimmt er tatsächlich eine Art Vaterrolle ein. Es gibt Eltern, die deswegen heimlich richtig eifersüchtig auf ihn sind. Auch an diesem Abend muss er sich gemeinsam mit dem zweiten Übungsleiter nach dem Training um die Heimwege der Acht- bis Zehnjährigen aus den Kinderriegen kümmern. Die "Großen" lässt er, wie immer, allein ziehen. Sie wohnen in ganz verschiedenen Stadtteilen, aber bis zum Marktplatz gehen sie stets gemeinsam, obwohl das für Eule und Sebastian eigentlich ein Umweg ist. Zudem gibt es heute einen besonderen Anlass, noch eine Weile beisammen zu bleiben: Das Rollbrett, oder auch Skateboard genannt.

"Lass mich zuerst, Steffen!", fordert Eule, als die Turnhalle außer Sichtweite ist. "Ich habe das schon mal im Fernsehen gesehen."

"Doch nicht Eule mit seiner Brille!", protestiert Koni heftig. "Der knallt aufs Pflaster, und wir müssen ihm die Glassplitter aus den Knien popeln. Ich bin erster!"

"So nicht!", widerspricht auch Sebastian. "Du kannst ja noch nicht mal auf Rollschuhen stehen, Mensch. Und ich hab zu Hause welche."

"Dann kleb sie dir doch an die Socken und mach hier keinen Zeck!" Koni lässt erregt sein rechtes Ohr flattern. Eule nickt beifällig. Steffen grinst geschmeichelt, denn er ist der Besitzer des Gegenstandes, um den seine Freunde streiten. Ein Geschenk seiner Tante.

"Den Anfang macht immer der Meister", erklärt er überlegen. "Nun passt mal gut auf, Leute!"

Die Straße ist leicht abschüssig und begünstigt das Rollen. Die vier Freunde von Steffen erkennen sofort, dass der Lange schon einige Übung im Fahren hat. Mit wedelnden Armen hält er auf dem dahinsausenden Skateboard das Gleichgewicht. Er schwankt wie vom Sturm geschüttelt und bietet dabei einen ziemlich ulkigen Anblick, aber er stürzt nicht. Von den Fassaden widerhallt das Gelächter seiner Freunde. Irgendwo beginnt ein Hund zu kläffen. Aus einem offenen Fenster wettert ein Graukopf etwas von "Lausebande" und "Keine Zucht, keine Zucht!"

Steffen kommt mit seinem Brett wieder zu der Gruppe. Sofort bricht erneut Streit los. Nun öffnet auch Heinz den Mund. Er spricht nie sehr laut, und alle müssen still sein, um zu verstehen, was er sagt.

"Knobeln", schlägt er vor. "Schere, Stein, Papier! Sebastian gegen Eule und Koni gegen mich, dann die beiden Sieger gegeneinander. Großes K.- o. - System."

Kein Widerspruch. Auf einer Seite von Steffen stehen Sebastian und Eule, auf der anderen Seite Koni und Heinz einander gegenüber. Sie schwingen die Fäuste.

Eins, zwei, drei - Schere schneidet Papier.

Ein, zwei, drei - Papier wickelt Stein ein.

Eins, zwei, drei - Stein macht Schere stumpf.

Sebastian ist Sieger!

Der Bürgersteig ist mit Platten belegt. Sebastian setzt den rechten Fuß auf das ovale Brett und stößt sich mit dem linken ein paar Mal kräftig ab. Die Geschwindigkeit wächst schnell. Geschickt balanciert er mit weit ausgestreckten Armen. Ein Adler, denkt er. Ein Adler im Sturzflug!

"Echt Spitze!", schreit Eule hinter Sebastian her.

"Cool, Junge, supergeil!", lobt Koni. "Und nach dir komme ich an die Reihe, klar?"

Der lange Steffen erkennt als erster die Gefahr. "Bremsen!", warnt er. "Du musst hinten runtertreten, Sebastian. He, hör doch!"

Am Straßenrand parken Autos. Es ist wunderbar, denkt Sebastian. Er achtet nicht auf die Warnung. Schaufenster fliegen vorbei. Der Bürgersteig ist menschenleer. Die kleinen Räder schnurren auf den glatten Steinen. Sebastian entdeckt, dass vor einer Toreinfahrt die Bordkante abgeflacht ist. Er verlagert vorsichtig das Körpergewicht.

Es klappt, jubelt er im Stillen. Das Rollbrett verändert folgsam die Richtung. Er verlässt den Bürgersteig. Auf dem glatten Asphalt der Straße klingt das Geräusch der Räder wie das Summen eines Bienenschwarmes.

Ich segele, denkt Sebastian glücklich. Ich schwebe wie eine Wolke ganz hoch am Himmel.

"Nicht auf die Straße, Mensch! Bist du verrückt geworden?", schreit der lange Steffen. Doch Sebastian ist zu weit entfernt, um ihn zu hören.

Und dann geschieht es.

Ein Lastwagen biegt um die Ecke.

Oben am Straßenanfang verstummen jäh die Stimmen der vier Jungen.

Nein, schießt es Sebastian durch den Kopf. Nein!

Der Schreck macht den dahinjagenden Jungen starr. Er sieht die mächtige Kühlerfront des Fahrzeugs auf sich zu kommen und kann nichts tun. Bremsen kreischen schrill. Ein gewaltiger Stoß schleudert Sebastian zur Seite. Er fühlt, wie sein linker Fuß von glühenden Zangen gepackt wird, dann reißt ihn bohrender Schmerz in eine tiefe, schwarze Stille.

Wie lange mag das her sein? rätselt Sebastian. Sein Alptraum ist vorüber. Er wagt noch nicht, die Augen zu öffnen. Die Sache mit dem Skateboard und dem Lastwagen, ist das vor einer Stunde passiert, vor zwei Stunden? Vor drei Tagen vielleicht schon? Wo bin ich jetzt?

Zögernd hebt Sebastian erst das linke, dann das rechte Augenlid. Eine weiße Zimmerdecke. Helle Wände. Und was ist das? Sein Blick fängt eine mit der Öffnung nach unten an einem Gestell hängende Flasche ein. Wässerige Flüssigkeit tropft in einen kleinen, gläsernen Zylinder. Ein bleistiftdünner, durchsichtiger Schlauch führt von diesem Glasbehälter zum Bett.

Das Ding steckt in meinem Arm, erkennt Sebastian gleich darauf erschrocken. Und den Arm haben sie festgeschnallt. Das Zeug aus der Flasche soll durch den Schlauch in meine Ader fließen. Ein Medikament. So ein Zaubermittel, das mich wieder auf die Beine bringt... Also immer rein damit, wenn es nur hilft! Es tut ja auch nicht weh. Kein bisschen, ehrlich.

Sebastian mustert scheu seine Umgebung. Ein Krankenzimmer, soviel steht für ihn fest. Zum ersten Mal in seinem Leben liegt er in einem Krankenhaus. Dieser graue Häuserhaufen am Stadtrand war ihm unheimlich, seitdem man vor zwei Jahren seine Großmutter hierher gebracht hatte. An den Besuchstagen musste er damals noch draußen auf der Straße warten, bis seine Eltern wieder herauskamen. Einmal hatte ihm seine Oma aus dem Fenster zugewinkt. Eine Woche später war sie gestorben. Vielleicht sogar hier in diesem Zimmer?

Sebastian schließt die Augen. Ich will nicht hier bleiben, denkt er. Ich bin ja auch schon wieder ganz in Ordnung. Nur der Fuß tut noch ein bisschen weh, aber das heilt bestimmt zu Hause in meinem eigenen Bett genauso schnell wie hier. Warum kommt denn nicht endlich jemand und schaut nach mir?

Ein leises Geräusch veranlasst Sebastian, seinen Blick erneut durch das weiße Zimmer zu schicken.

Es gibt noch ein zweites Bett. Ein blonder Haarbüschel lugt unter der Decke hervor.

"He!", ruft Sebastian leise, aber er bekommt keine Antwort. Draußen vor dem Fenster glänzt blauer, blanker Himmel. Schwacher Wind spielt mit dem Laub einer Buche. Als der Lastwagen mich erwischt hat, war es Abend, rechnet Sebastian. Und ich habe Hunger, als wenn Zeit zum Mittagessen wäre. Schwabbelpudding würde jetzt schmecken. Mit Vanillesoße! Roter Schwabbelpudding...

Sebastian Kreuz schwebt wieder auf einer weißen Wolke. Er träumt von einem mächtigen Berg aus süßer, kirschfarbener Götterspeise, aber die Strecke dorthin ist weit, und seinen Fuß fesselt eine schwere, angekettete Eisenkugel. Er zieht und zerrt, bis ihn eine freundliche Stimme aus dem Traum erlöst.

"Na, wie fühlt sich unser junger Sportler?" Der Doktor ist jung. Er hat helle Augen und einen rötlichen Vollbart, breit und prall wie ein kleines Sofakissen. "Schmerzen?"

Sebastian schüttelt, noch ein wenig verschlafen, den Kopf. Er blickt auf seinen angeschnallten Arm und die Schlauchnadel.

"Das können wir jetzt wegnehmen", sagt der Doktor.

Eine grauhaarige Schwester befreit den Jungen von der Tropfvorrichtung. Ihre Hände sind weich und flink. Er spürt die Berührung kaum. Ihm fällt auf, dass die Frau seinen Blick meidet.

"Was ist mit meinem Fuß?", fragt Sebastian den Arzt. "Darf ich bald nach Hause?"

Im Dickicht des Bartes werden weiße Zahnreihen sichtbar. Der Doktor lächelt. "Erst wollen wir beide doch mal Freunde werden." Seine Miene wird von einem Augenblick zum anderen ernst. "Es tut also doch weh?"

"So, als würde ein großer Nagel in der Sohle stecken", gibt Sebastian zu. "Aber nur, wenn ich die Zehen bewege."

Der Doktor nickt. Er setzt sich auf den Bettrand und greift nach der Hand seines jungen Patienten. "Das kannst du nicht", erklärt er ihm behutsam. "Du musst jetzt sehr, sehr tapfer sein, mein Junge."

Sebastian blickt verständnislos. Der Arzt liest die stumme Frage aus den Augen des Jungen. Das Sprechen macht ihm einige Mühe.

"Deine Zehen." Seine Stimme ist leise. "Du kannst sie gar nicht bewegen. Wir mussten die Hälfte deines Fußes abnehmen. Es gab keine andere Möglichkeit, das schwöre ich dir."

Nein, denkt Sebastian. Das ist nicht wahr!

"Du hast in allem Unglück noch eine kleine Portion Glück gehabt", sagt der Arzt. "Du lebst und du wirst wieder laufen können, das kann ich dir versprechen."

Sebastian unterbricht den Doktor. "Aber ich..." Er schluckt, bevor er die Worte stockend über die Lippen bringt. "Ich fühle meine Zehen doch noch. Ganz deutlich, ehrlich! Den großen Zeh, den kleinen..."

Der Doktor nickt. "So ist das oft. Wir nennen es Phantomschmerz. Das bleibt noch eine ganze Weile so."

Sebastian schaut ihn mit großen Augen an. Er schüttelt den Kopf, krallt die Finger in das weiße Leinen. "Nein", murmelt er. "Nein... bitte!"

Der Arzt schweigt. Ernst schaut er den Jungen an.

Aber ich will nicht, dass es wahr ist, denkt Sebastian. Warum ich? Der Doktor irrt sich. Eine Verwechslung! Nein, nein, nein!

Während der folgenden drei Tage spricht Sebastian Kreuz kaum mehr als ein Dutzend Wörter. Seine Zunge ist vom Leid gelähmt. Ein paar Mal versucht der Blondschopf drüben im anderen Bett, der am Blindarm operiert wurde, ein Gespräch in Gang zu bringen. Sebastians hartnäckiges Schweigen macht ihn ärgerlich.

"Weißt du, was du bist?", ruft er schließlich herüber. "Eine sture, taube Nuss, das bist du. Und nun spiel meinetwegen weiter den toten Fisch, ich störe dich ab sofort nicht mehr!"

Am nächsten Vormittag, beim Arztbesuch im Zimmer, macht der Blondschopf einen langen Hals. Er ist neugierig, was dem stummen Zimmergenossen eigentlich fehlt. Er hat geschlafen, als der Doktor mit Sebastian sprach. Nun sieht er, wie der Arzt drüben die Bettdecke zurückschlägt und vorsichtig den Verband vom Stumpf des zur Hälfte amputierten Fußes entfernt. Seine Augen werden groß.

Und ich blöder Kerl rede mit ihm, als läge er hier wegen eines Splitters im Finger, wirft er sich vor. Für nichts auf dieser Welt möchte ich mit dir tauschen, du armer Kerl.

Nachmittags durften Sebastians Eltern ihren Jungen besuchen. Er fühlte die weichen Lippen seiner Mutter auf seinem Gesicht. Ihre Tränen mischten sich mit der Nässe aus seinen Augen. Der Vater hielt die Hände seines Sohnes, als müsse er ihn vor einem Sturz bewahren.

"Manchmal schlägt das Leben zu wie mit einem Beil." Seine Stimme klang rau. Ab und zu räusperte er sich. "Mutti und ich, wir wollen dir helfen, so gut wir können, aber das Schwerste musst du selber tragen."

"Du bist nicht allein, Basti." Die Mutter spricht sehr leise. "Du hast uns, daran musst du immer denken."

Sebastian schaut seine Eltern an. Seine Lippen zittern kaum merklich. Er wollte so gern stark sein und so tun, als könne er die bittere Wahrheit hinnehmen wie ein paar harmlose Kratzer auf der Haut, aber das gelang ihm nicht. Die Angst vor dem Morgen und Übermorgen blieb mächtiger als sein Wille. Er weinte.

"Mein Fuß", schluchzt er. "Er ist weg. Wie soll ich laufen, turnen, Rad fahren? Ich kann doch nicht mit nur einem Fuß leben!"

Der Vater beugte sich nah zu ihm herab. "Du schaffst das, mein Junge."

Zum ersten Mal, solange er sich erinnern konnte, sah Sebastian in dieser Stunde Tränen auf den Wangen seines Vaters.

Am sechsten Tag nach der Operation wurden an Sebastians Fußstumpf die Fäden gezogen, mit denen der Arzt die Wunde vernäht hatte. Der Blondschopf war am Tag zuvor entlassen worden. Nur der bärtige Doktor und die grauhaarige Schwester erlebten Sebastians ersten, unsicheren Gehversuch. Der Arzt hatte ihm zwei genau angemessene Gehhilfen mit Armstützen gebracht. Er wollte dem Jungen behilflich sein, aber Sebastian wehrte ab. Es gelang ihm, sein Körpergewicht mit den Armen auszubalancieren. Er bewegte sich mit einem Bein und den beiden Stöcken so, als habe er das schon viele Stunden geübt. Die Krankenschwester, die in mehr als fünfundzwanzig Berufsjahren nicht nur eine Menge Leid, sondern auch manche wunderbare Wendung zum Guten beobachtet hatte, konnte nur staunen. Der Doktor rieb vergnügt seinen Bart.

"Ein Sportler!", erklärt er anerkennend. "Durch und durch ein Turner! Wetten, Schwester, dass unser junger Freund in ein paar Monaten ohne die Gehhilfen, ganz allein mit seiner Prothese, durch die Stadt marschiert?"

Die Schwester wehrt ab. "Ich wette nur, wenn ich dabei gewinnen kann."

Viermal wanderte Sebastian Kreuz auf dem langen, lichthellen Korridor von einem Ende zum anderen, dann befolgte er die Mahnung der Schwester und kletterte wieder in sein Bett. Die Gehhilfen lehnten griffbereit am Nachttisch. Im Zimmer wurde es so still, dass er seinen eigenen Atem hören konnte. Er lag auf der Seite und starrte die Metallstöcke an. Das glückliche Gefühl, das ihn vorhin begleitet hatte, zerschmolz in diesen Minuten wieder, wich dumpfer, quälender Mutlosigkeit.

Ich bin ein Krüppel, denkt Sebastian. Und wenn ich auf diesen Dingern wie eine Springmaus durch die Gegend tanze, wischt das die Wahrheit nicht fort: Mir fehlt ein Fuß, und so was wächst nicht nach. Wenn Steffen, Koni und Eule hinaus zur Plantage gehen und Äpfel klauen, muss ich zu Hause bleiben, weil sie mit mir nicht vor dem Wächter türmen können und deshalb todsicher geschnappt würden. Und beim Wettlauf für ein Sportabzeichen bin ich noch langsamer als die dicke Liesbeth aus meiner Klasse. Eine Vier in Sport, das bügeln doch die Einser in Geographie, Geschichte und Deutsch nicht aus. Selbst wenn ich auch in Mathe und Englisch besser würde, könnte ich damit nur ein paar Erwachsene beeindrucken, aber niemanden aus meiner Klasse. Lahme Enten zählen nicht. Da ist es egal, ob eine was mit den Drüsen hat wie die dicke Liesbeth oder ob jemandem ein halber Fuß fehlt... Weshalb hat mich dieser verdammte, elende Lastwagen nicht gleich auf dem Friedhof geschleudert, verdammt noch mal!

Sebastian weinte nicht. Er hatte keine Tränen mehr für sein Unglück. Ein langer, zorniger Schrei steckte in seiner Kehle, doch er presste die Lippen zusammen und blieb still. Die weiße Decke bis ans Kinn gezogen, zusammengerollt wie ein Igel, so streckte er, böse mit der ganzen Welt, hundert unsichtbare Stacheln aus. Was wollt ihr hier, wenn ihr mir meinen Fuß nicht wieder geben könnt? Ich will mit niemandem reden. Ich will keinen Menschen sehen. Ich will kein Wort hören.

Draußen auf dem Parkplatz des Krankenhauses hält in diesen Minuten ein gelber, sichtlich altersschwacher Trabant. Zuerst steigt der lange Steffen aus, dann krabbeln Heinz, Eule und Koni heraus. Zusammengezwängt, haben sie auf der hinteren Sitzbank gehockt. Als letzter verlässt der Fahrer seinen Wagen. Es ist Willi Papenbold, genannt Paps. Er geht mit seinen vier Schützlingen zum Pförtnerhaus. Hinter der Glastür thront ein kahlköpfiger, älterer Mann. Er zieht ein Gesicht, als quälten ihn vom Magen her grüne Äpfel, gemischt mit Himbeerbrause. Seine Stimme ist wie Gebell. Keine Besuchszeit! Erst morgen wieder! Und Kinder neuerdings nur sonntags oder mit besonderer Genehmigung vom Chefarzt. Wir haben da jüngst ein paar böse Erfahrungen an Tagen gemacht, an denen operiert wird. Also, jetzt nicht, basta!

Die Jungen stehen mit zwei Blumensträußen, einem Abenteuerbuch und einem Pralinenkasten dabei.

"Ein Kommandierknochen", hat Heinz schon nach den ersten, barschen Sätzen gemurmelt. "Da läuft nichts. Das ist einer von den verbissenen Typen, die bei Rot nicht über die Straße gehen, selbst wenn auf der anderen Seite jemand mit gebrochenem Bein auf dem Pflaster liegt oder irgendein erwachsener Schweinekerl einen Knirps verprügelt. Wir müssen uns was einfallen lassen."

Während Paps mit dem Pförtner streitet, beobachten die Jungen interessiert ein paar Maurer, die an einem der Krankenhausgebäude auf einem Gerüst mit Fassadenarbeiten beschäftigt sind.

"Tut mir leid, Jungs", sagt Paps wenig später. "Blumen und Geschenke können wir hier bei dem Steinkopf lassen. Besuch klappt erst am Sonntag."

Paps stößt bei den Musketieren auf Ablehnung. Nur seinen eigenen Strauß kann er dem Pförtner übergeben. Steffen, Heinz, Koni und Eule verweigern die Herausgabe ihrer Mitbringsel. Sie haben es nun merkwürdig eilig, wieder in die Stadt zu kommen. Paps ahnt nicht, dass die Jungen knapp zwei Stunden später erneut beim Krankenhaus sind. Sie haben ihre Fahrräder bei sich, den Blumenstrauß, die Geschenke und einen prallen Campingbeutel. Diesmal halten sie sich keine einzige Sekunde in der Nähe des Haupteinganges auf. Sie radeln zur Rückseite des Geländes. Heinz und Eule bleiben bei den Rädern, während Steffen und Koni über die Mauer steigen. Erst auf der anderen Seite öffnen sie den Beutel. Sie holen zwei nicht mehr ganz saubere Malerkittel und zwei dazugehörende Kappen hervor. Die Sachen stammen von Konis Bruder, der Malerlehrling ist. Koni hat Kittel und Kappen heimlich aus der Schmutzwäsche gefischt. Dem langen Steffen passen die Sachen. Koni ist kleiner als sein Bruder. Er muss die Ärmel umschlagen. Der Kittel reicht ihm bis zu den Knöcheln.

"Wie ein Wiesenzwerg nach einer Mülleimer-Partie!", witzelt Steffen.

Koni faucht gekränkt. "Dann geht doch alleine, Mensch!" Er will die Tarnung wieder abstreifen, doch der Lange besänftigt ihn sofort.

"Mach jetzt keinen Quatsch, Koni. Wir kriegen das schon hin, pass mal auf!" Er zieht seinen Gürtel aus den Schlaufen der Jeans. Koni schnallt den Riemen um und zieht das Gewand blusenartig darüber. Nun stimmt die Länge. Sie können sich auf den Weg machen. Koni trägt den Beutel, in dem nun, neben Buch und Pralinen, auch der Blumenstrauß steckt.