Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wo vom »Neuen" die Rede ist, da ist unsere Aufmerksamkeit. Dem Neuen gilt unsere Zuneigung, gilt unsere Sehnsucht. Doch wie kommt das Neue in die Welt? Wie machen wir uns fähig, das Neue zu erkennen, zu entdecken, zu erfinden? Wolfgang Held beschreibt zwölf Bedingungen der Öffnung für das Neue und sieben Beispiele, wie das Neue gefunden wurde.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 115
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
WOLFGANG HELD
SO KOMMT DAS NEUE IN DIE WELT
Brücken zum schöpferischen Ort der Zukunft
VERLAG FREIES GEISTESLEBEN
Gedanken zu diesem Buch
Brücken ins Neuland
Die Sehnsucht nach dem Neuen
Dem Alten die Stirn bieten
Das Tor des Denkens
Das Tor des Gefühls
Das Tor des Willens
Vertrauen in die eigenen Stärken
Ein Lob der Fehlerkultur
Räume des Neuen
Worte des Neuen
Die drei Zeitdiebe
Geschichten vom Neuen
Das Neue – der Mensch
Der aufmerksame Blick − Wilhelm Conrad Röntgen
Die Freundin an der Seite − Bertha Benz
Der Idee treu − Johannes Kepler
Gegen den Strom − Hannah Arendt
Aus Verantwortung handeln − Emil Molt
Unermüdlichkeit – James Dyson
Das Gespräch
Literatur
Der Autor
Impressum
Leseprobe
Newsletter
Drei Gründe gibt es, warum es lohnenswert ist, sich dem Neuen zu widmen. Sich auf die Spur des Unbekannten und Fremden zu begeben heißt, den Weg zu sich selbst einzuschlagen, denn das Neue fragt nicht nach dem gewordenen Ich, vielmehr ist es ein Appell an das werdende, das schöpferische Ich. In der Begegnung mit dem Neuen zählen nicht Wissen und Routine, sondern vielmehr Fähigkeit und Flexibilität. Dieser Tätigkeitsquell dämmert in der Seele, solange das Leben in der gewohnten Umlaufbahn läuft, und beginnt zu sprudeln, wenn der Kompass auf Neuland zeigt. Eine neue Sprache, ein neues Musikinstrument oder ein neuer Autor, eine neue Sportart, ein neuer Freund, eine neue Gesprächspartnerin – all diesen Anfängen wohnt ein Zauber inne, ein Zauber, der die eigene Persönlichkeit größer und wacher werden lässt. Das ist der erste Grund.
Der zweite Grund liegt im Außen. Ob Arbeitswelt, Schule, Familie oder große Politik − es gibt wohl kein Lebensfeld, das sich gegenwärtig nicht grundlegend verändert, in dem es noch möglich ist, mit alten Begriffen und Vorstellungen zurechtzukommen. Sich in einer Welt im Wandel zu beheimaten, das gelingt am besten, wenn man selbst im Wandel ist. Dieser persönliche Wandel ist der Schlüssel, um nicht Opfer, sondern Gestalter der sich verändernden Umstände zu sein. So wie das Neue zu sich selbst führt, führt es auch in die Welt.
Der dritte Grund ist feiner und stiller. Er soll und kann am Anfang dieses Buches nicht als Gewissheit auftreten, sondern als eine Vermutung. Sich dem Neuen zu stellen oder engagiert auf es zuzugehen heißt, sich dem zu widmen, was noch nicht da ist, was noch unsichtbar ist. Es bedeutet, sich dem zuzuwenden, was nicht gewordene Form, sondern noch unbestimmte Kraft ist. Damit hat man es mit einem Medium zu tun, das noch nicht ganz von dieser Welt ist. Sosehr Gewohnheit und innere Treue wichtig sind, will man sich dem Höheren, dem Übersinnlichen zuwenden, gilt gleichermaßen, dass erst der mutige Schritt ins Offene, die Begegnung mit dem Neuen, die Seele empfänglich werden lässt für diese geistige Innenseite der Welt. Das Neue ist somit Schlüssel und Brücke, um sich selbst, die Welt und auch das Höhere zu finden. Vielleicht lautet deshalb im letzten Buch der Bibel das Versprechen: «Siehe, ich mache alles neu!»
Ich freue mich, wenn dieses kleine Buch helfen und dazu anregen kann, dass Sie, liebe Leserin und lieber Leser, Ihr ganz persönliches Neuland betreten.
Dornach, im Januar 2017
Wolfgang Held
Neu! Brandneu! Das Neueste vom Neuen! Dem Neuen gilt die Zuneigung, gilt die Sehnsucht, denn das Neue ist anders, zeigt die Welt von einer anderen Seite und lässt in der Seele eine andere Seite erklingen. Das Neue, das Noch-nicht-Dagewesene hat eine Anziehungskraft. Der neue Tag, das neue Jahr – unbelastet, jungfräulich liegen sie vor uns, wie das leere Heft am ersten Schultag, wie das unberührte Schneefeld, in das man den ersten Schritt setzt. Das Neue – es ist die Antithese zur gewordenen, organisierten Wirklichkeit. Plötzlich ist alles möglich, stehen Türen offen, lassen sich die Weichen neu stellen. Der Philosoph Martin Heidegger beschreibt es als die große Zumutung des Menschen, dass man in eine gewordene Welt hineingeworfen sei. Tausend Bedingungen und Umstände bestimmen das Leben, sind, wie sie sind. Es ist das Neue, das von diesem Verhängnis des Gewordenen befreit, das die Würfel noch einmal in den Becher legt. Das Neue verspricht, dass die Zukunft nicht nur die Gegenwart fortschreibt, sondern vielmehr ein eigener schöpferischer Ort ist.
Fragen wir hingegen «Was wird?», so haben wir eine Zukunft im Auge, die sich aus der Gegenwart entwickelt. Wir fragen nach dem Werdenden, dem Futurum der Zeit. Überall, wo sich die Welt durch Ursache und Wirkung beschreiben und verstehen lässt, ist diese Frage vernünftig. Auf den fliegenden Stein folgt der Knall, dann die splitternde Scheibe. Was hier geschieht, ist eigentlich nichts «Neues», vielmehr folgt auf eine Ursache deren Wirkung. Ganz anders jedoch verhält es sich beim Wachstum einer Blume: Form und Farbe einer Blüte lassen sich niemals allein aus den schon bestehenden Blättern erklären. Mit der Blüte «kommt» etwas völlig Neues in die Gegenwart, hier wird die Zukunft zur Antwort auf die Frage: Was kommt? Mit dieser anderen Zukunft ist adventus, die Ankunft, gemeint. Hier ist die Zukunft eine Wirklichkeit, die als Möglichkeitsraum in die Gegenwart mündet. Aus Gesetz wird Möglichkeit, aus Schicksal Fantasie und Spiel. Die beiden Seiten der Zukunft, das Werdende und das Kommende, sind häufig eng verschlungen: Jeder neue Gedanke fußt auf all dem, was man bereits weiß, hat seine Wurzeln in der Vergangenheit und ist zugleich eine Schöpfung, bei der die Zukunft gegenwärtig wird.
Vielleicht ist die Kindheit das großartigste Ereignis des Gewebes von werdender und kommender Zukunft. Zum einen findet sich im Heranwachsenden ein reicher, durch viele Generationen wirkender Strom aus körperlichen und seelischen Erbanlagen, aus Körperbau, Temperament, Charakterzügen und Fähigkeiten. Zum anderen ist da aber auch die nicht zu fassende einmalige Persönlichkeit, die sich aus nichts anderem als sich selbst erklären lässt. Sämtliche biografischen Knotenpunkte, all die Krisen und Verwandlungen des Lebens sind in diesem Sinne Ausdruck davon, wie sich beide Seiten – das Werdende und das Kommende – begegnen können. Das Neue «wird» also nicht, es «kommt». Wie aber kommt das Neue in die Welt, in die eigene, persönliche Wirklichkeit?
Hunderte, ja tausende Geschichten, Märchen und Erzählungen, ob auf Papier oder auf der Leinwand, erzählen immer wieder aufs Neue das «alte» Spiel: Ein Leben geht seinen Gang, ein Tag folgt dem anderen. Was heute ist, bestimmt das Morgen – die werdende Zukunft. Doch mit einem Mal ist alles anders. Sei es die plötzliche Liebe, die das Leben aus den Angeln hebt, sei es ein unstillbarer Wunsch, von dem die Hauptperson erfüllt und getrieben ist, sei es die Katastrophe, die hereinbricht − immer ist da ein inneres oder äußeres Ereignis, das die Hauptperson aus der gewohnten Bahn wirft und auf die Reise schickt. Dabei gilt die Geschichte als umso spannender und folgenswerter, je fremder, unbekannter und gefahrvoller dieser neue Weg ist. Darin zeigt sich die ganze Widersprüchlichkeit des «Neuen». Können dem Zuschauer oder Zuhörer der Geschichte die Herausforderungen für den Akteur nicht groß genug sein, gibt es kein Zuviel an Steinen, die dieser auf seiner Reise aus dem Weg zu räumen hat, ist alle Skepsis und Reserve dann zugegen, sobald es um die eigene Haut geht und man selbst ins Wasser geworfen wird. Sehnsucht nach dem Neuen und Scheu vor dem Neuen liegen somit eng beieinander. Wir lauschen andächtig, beobachten gebannt, wie der andere auf unbekanntes Terrain gerät, danken aber zugleich dem Schicksal, dass man selbst die Alte oder der Alte bleiben darf. Die Urlaubsreise ins fremde Land, auf der man gleichwohl die heimische Küche genießt, ist nachgerade das Klischee dieses zwiespältigen Verhältnisses zum Neuen.
In den biblischen Evangelien von Markus, Lukas und auch Matthäus kann man die Rede von Christus über den neuen Wein in alten Schläuchen lesen. Gemeint ist dabei, dass das Neue auch eine neue Gestalt braucht. Das alte Gesetz, die alte Routine kann das Neue nicht tragen und wird zerreißen. Die Schlange, die im Wachstum immer wieder ihre alte Haut abstreift, eignet sich als Bild für diesen inneren-äußeren Wandel. Im Sprachgebrauch aber hat sich die umgekehrte Redewendung eingebürgert, sodass heute von «altem Wein in neuen Schläuchen» die Rede ist. Nur die Oberfläche ist neu, im Inneren bleibt alles im alten Zustand, ist unverändert. So ist die Erneuerung nur ein Schein, nur Tünche.
Wie gelingt der Sprung ins Neue, ohne dass Formen dem Neuen die Luft nehmen? Was früher «Selbstvertrauen» genannt wurde, wird in der Pädagogik und Psychologie heute etwas umständlicher als «Selbstwirksamkeitserwartung» beschrieben. Der kanadische Psychologe Albert Bandura brachte in den 1970er Jahren diesen Begriff auf und meint damit die Gewissheit, neue und schwierige Anforderungen aus eigener Kraft und eigenem Können bewältigen zu können.
Der Glaube an die eigene Wirksamkeit ist zweifellos ein Kern menschlichen Handelns, und gerade wenn es um das Neue geht, ist diese Willensseite des Selbstvertrauens ein Schlüssel. Denn gerade dieser innere Glaube, mit dem noch Unbekannten umgehen zu können und unbekannte Fragen beantworten zu können, entscheidet darüber, ob man dem Neuen die Hand reicht oder ihm aus dem Weg geht. Niemand versucht, etwas zu erreichen, wenn er nicht davon überzeugt ist, Resultate erzielen zu können.
Da liegt es nahe, dass Pädagogen untersuchen, wie man im Heranwachsenden den Glauben an die Selbstwirksamkeit stärkt, wie man lernt, sich etwas zuzutrauen. Das ist umso wichtiger in einer Zeit wie heute, in der ein umfassender Wandel stattfindet. Mag auch jede Zeit für sich reklamieren, dass sich die Dinge ändern, so gilt doch für die Gegenwart, dass sich mit der Digitalisierung – mit 3-D-Drucker, selbstfahrendem Auto und miteinander kommunizierenden Maschinen – die Wirklichkeit in einem Maß und einer Geschwindigkeit ändert, die vielfach mit der ersten industriellen Revolution Anfang des 19. Jahrhunderts verglichen wird. Mit der Dampfmaschine begann die industrielle Fertigung, die das gesamte Leben umkrempelte. Es entstanden eine Arbeiterklasse und neue Handelsströme. Eine Stadt wie Berlin wuchs von 1800 bis 1880 von weniger als 100.000 Einwohnern zu einer Millionenstadt. Anfang des 20. Jahrhunderts folgte mit dem Fließband die zweite industrielle Revolution und im letzten Drittel des letzten Jahrhunderts mit der Erfindung des Computers die Automatisierung. Nach den Fabriken erobern die Rechner nun im 21. Jahrhundert die Büros. Die amerikanische Unternehmensberatung Boston Consulting rechnet damit, dass in den nächsten zehn Jahren mindestens ein Viertel aller Arbeitsplätze von Software und Robotern übernommen werden wird. Andere Analysten empfinden diese Prognose als zu konservativ und rechnen mit der Hälfte aller Arbeiten. Schon mauern in Australien erstmals Roboter ein komplettes Haus ganz allein, und bald wird es vor allem in Städten normal sein, Lebensmittel wie Milch, Brot und Käse automatisiert per Kühlschrankscan zu beziehen. Entsprechend nehmen die Stimmen zu, die in der gesellschaftlichen Bewältigung dieser Umwälzung die größte menschliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts sehen.
In einer derart komplexen und dynamischen Gegenwart ist es somit nur allzu verständlich, wenn man empfindet: «Ich kann doch nichts ändern – an meiner Lage und an der Welt.» Die Vorgaben, welche die Gesellschaft an uns stellt, scheinen heute immer schwerer erfüllbar – umso mehr wächst die Resignation.
Albert Bandura nennt nun vier Punkte, vier Erfahrungen, um die Selbstwirksamkeitserwartung zu steigern und welche – mit anderen Worten – die Liebe zum Neuen wecken:
1. Positive Erfahrung
Es beginnt schon ganz früh: Wer als Kind in der Wiege schreit und erlebt, dass daraufhin die Mutter kommt und einen in den Arm nimmt, der erlebt, selbst kaum einen Monat alt, sein eigenes Vermögen. Ich kann meine Lage verbessern, kann meine Mutter dazu bringen, mich in den Arm zu nehmen. Was erlebt demgegenüber das ungehörte Kind? Ich schreie, aber die Welt nimmt keine Notiz von mir, ich bin unwirksam. Es sind die Erlebnisse kleiner und größerer Erfolge, die das Vertrauen auf die eigene Wirksamkeit wachsen lassen. Hier braucht es keinen Zeugen, niemanden, der applaudiert, hier zählt nur die persönliche Erfahrung.
Mit meinen drei Töchtern ging ich einmal an einem Bachlauf spazieren. Da sprang die älteste über das Wasser, die zweite zögerte, schaute dann nach links und rechts und fand eine Stelle, an der sie zum Sprung ansetzte. Die kleinste presste die Lippen aufeinander, das andere Ufer schien unerreichbar. Dann sah sie den Stein im Wasser. Aus dem einen Sprung wurden zwei Schritte übers Nass. So hatten alle drei ihren Erfolg.
Auch ich selbst erinnere mich an einen ähnlichen «stillen» Erfolg: Von Rudolf Steiner gibt es die scheinbar so simple Übung, zu einer festgelegten Tageszeit irgendeine belanglose Handlung zu tun, um so den freien Willen zu schulen. Immer wieder dachte ich wenige Minuten vor der geplanten Zeit an den «Job», um ihn im entscheidenden Moment dann doch zu vergessen. Es dauerte eine ganze Reihe von Tagen, bis es mir zum ersten Mal gelang. Ein solch stiller Erfolg, die eigene Begrenzung ein klein wenig zu verschieben, lässt die Empathie für das Neue wachsen.
2. Die Beobachtung wirksamer Menschen,
denen man sich ähnlich fühlt
Unter dem Stichwort der «Spiegelneuronen» wurde dieses Phänomen durch die neurobiologische Forschung in den vergangenen Jahren bestätigt. Wenn wir beobachten, wie Menschen, die uns nahestehen oder uns zumindest ähnlich sind, erfolgreich handeln, dann lernen wir ebenfalls. Es ist, als würden wir selbst das Werkzeug in der Hand halten. Wir ahmen geistig die Tat nach und schöpfen deshalb auch etwas Selbstvertrauen vom Gewinn der Tat. Wer einem anderen zeigt, wie etwas geht, sieht häufig, wie es dem anderen in den Fingern juckt, es nun selbst zu versuchen. Indem uns etwas gelingt, indem wir auf einem Feld Könnerschaft entwickelt haben, öffnen wir nicht nur uns selbst, sondern auch anderen die Tür zum Neuen.
3. Die Ermutigung durch andere
Es war in der zweiten Klasse. In einem großen Gurkenglas hatten wir Schülerinnen und Schüler lauter Münzen gesammelt. Auf dem Etikett stand «Klassenkasse». Da knallte der Lehrer klirrend den Schatz auf mein Pult und sagte: «Du zählst das jetzt – und zwar auf einen Zehner genau, das kannst du!» Es ist über vierzig Jahre her, aber ich empfinde noch heute die Woge an Zutrauen, das plötzliche Engagement in den Gliedern, das mich durchströmte. Das Vertrauen der anderen stiftet in uns Selbstvertrauen. So ist es möglich, im Gegenüber das Neue zu entfachen.
4. Die positive Interpretation körperlicher Vorgänge