Der Tod zahlt mit Dukaten - Wolfgang Held - E-Book

Der Tod zahlt mit Dukaten E-Book

Wolfgang Held

4,0

Beschreibung

Ein grausiger Fund schreckt die Einwohner eines kleinen thüringischen Ortes aus ihrer beschaulichen Ruhe auf. Der Leiter des Dorfkonsums entdeckt im Lehmboden seines Lagerkellers zwei vermoderte Leichen. Wenig später stößt man in einem abgelegenen Wald auf einen weiteren Toten. In allen drei Fällen wird Mord festgestellt. Kostbare Goldmünzen, bei den Opfern gefunden, lenken die Kriminalpolizei auf eine Fährte, die sich jedoch im Unbekannten zu verlieren droht. Auch in der Nervenheilanstalt Fichtenhain wird nach der Herkunft seltener Münzen geforscht. Sie sind seit Jahren im Besitz eines Mannes, der sich an nichts erinnern kann, der nicht einmal seinen Namen weiß. — Wo enden diese seltsamen Spuren? Der spannende Kriminalroman von 1964 wurde 1966 von der DEFA verfilmt ("Flucht ins Schweigen" bzw. "Schatten von damals: Mord verjährt nicht").

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Impressum

Wolfgang Held

Der Tod zahlt mit Dukaten

Kriminalroman

ISBN 978-3-86394-927-3 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1966 im Verlag Das Neue Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Godern

Tel.: 03860-505 788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Die Boeing 720 B der Southamerican Airlines flog in großer Höhe. Ihr schlanker Rumpf glänzte im Sonnenlicht. Im Cockpit streifte der Kopilot mit einem Blick die Borduhr. 10 Uhr 32. Er lächelte. Start Buenos Aires Freitag Mittag 12 Uhr, Zwischenlandung in Montevideo, São Paulo, Rio de Janeiro, Dakar, Zürich. Landezeit in Frankfurt am Main Sonnabend 10 Uhr 45 Standard time ... Es hat wieder mal geschnurpst. Keine Zwischenfälle, jedenfalls bis jetzt nicht, und in Frankfurt sind keine zu erwarten.

Ein schweigsamer Firstclass-passenger blickte unentwegt durch das dickglasige Fenster neben seinem Sitz. Nur noch Minuten, dachte er und fühlte seinen Herzschlag schneller werden. Wir sind schon über Deutschland. Über Deutschland!

Eine freundlich lächelnde Stewardess im engen, blendend weißen Uniformkostüm bat die Fluggäste, sich für die bevorstehende Landung anzuschnallen. Als sie den Platz des Mannes am Fenster erreichte, wurde ihr Berufslächeln für Sekunden wärmer, herzlicher. Ihr gefiel dieser Passagier mit dem gebräunten Gesicht und den grauen Augen. Er mochte etwa fünfundvierzig Jahre alt sein.

Ein sanfter, kaum spürbarer Ruck presste die Passagiere für Bruchteile von Sekunden in die weichen Sitze. Die Überseemaschine der Southamerican Airlines war glatt und zur vorgesehenen Zeit gelandet.

Joachim Günter war nicht so ruhig und gelassen, wie er sich gab. Jeder Muskel an seinem Körper war gespannt, als müsse er sich gegen eine unbekannte, lauernde Gefahr wappnen. Forschend blickte der Mann in die Gesichter der Menschen. Er misstraute der Gleichgültigkeit, mit der sie seine Ankunft hinnahmen. Als er vor dem Flughafengebäude in ein Taxi stieg, war er nass von kaltem Schweiß.

Das „Rheintal-Hotel", in dem Doktor Joachim Günter telegrafisch ein Zimmer bestellt hatte, bot jenes Maß angenehmer Behaglichkeit, das den luxuriösen Etablissements der sogenannten besten Gesellschaft abgeht.

Doktor Joachim Günter packte seinen Koffer aus, während nebenan das Wasser in die gekachelte Wanne lief. Eine Viertelstunde später stand er im Badezimmer vor dem rechteckigen Spiegel. Die Luft war heiß und feucht, am Spiegelglas klebte eine Haut aus unzähligen winzigen Nässeperlen. Seine Hand riss ein kopfgroßes Loch in diesen Tropfenschleier. Er schaute in sein Gesicht, das vom schneehellen Schaum der Rasiercreme wie maskiert war. Er fixierte sich im Spiegel wie einen unangenehmen Fremden.

Du hast Angst! Aber was soll das? Hier in Frankfurt! Die Stadt hat ein neues Gesicht. Auch die Menschen haben neue Gesichter. Sie sehen satt aus und zufrieden. Wovor fürchtest du dich? Alles, was du jetzt begreifen musst, ist das: Doktor Joachim Günter kann kein vorgestriges Seelengepäck gebrauchen. Nimm also die Falten von der Stirn, Amigo. Du hast Freunde, die wissen, wie einem Mann zumute ist, der beim Anblick eines auf irgendeine Hazienda verschlagenen Volkswagens plötzlich die Melodie von „Am Brunnen vor dem Tore ..." in den Ohren hat, den eine ungeheure Sehnsucht nach dem Geruch von Tannenwald überfällt. Da ist es wie ein kleines Fest, wenn man jemandem begegnet, der die deutsche Sprache nicht erst in der Schule gelernt hat. Einer teuren Flasche hast du den Hals gebrochen, als der Brief kam, in dem sie schrieben, dass es Zeit für die Heimreise sei. Nun bist du da!

Der Doktor tupfte Rasierwasser auf seine glatte braune Haut, band eine taubengraue Krawatte um und zog die Anzugjacke wieder über. Er musterte sich im Schrankspiegel, nickte zufrieden und griff dann nach Hut und Mantel.

Vor dem Hoteleingang zog der Doktor den Hut ein wenig tiefer ins Gesicht und schlug den Mantelkragen hoch. Der Strom eiliger Passanten nahm ihn auf. Ungewollt glich er seinen Schritt der Hast an, die um diese frühe Nachmittagsstunde Straßen und Gehsteige beherrschte. Dennoch fand er genug Zeit, die auf der breiten Fahrbahn dahinkriechenden endlosen Fahrzeugschlangen, die glänzenden Glasfronten der Schaufenster und die hohen, bleistiftdünnen Absätze an den Schuhen einer persianerumhüllten Blondine zu betrachten. Der Himmel über der Stadt war stumpf und herbstgrau.

Joachim Günter fühlte keine Angst mehr. Von Minute zu Minute spürbarer, bekam für ihn alles, was ihn umgab, einen unsichtbaren, Freude weckenden Schimmer. Die Wunden sind geheilt, dachte er und lächelte. Narbenlos! Saubere Arbeit!

Als er das Gebäude der Defaga erreicht hatte, blieb er überrascht stehen, legte den Kopf in den Nacken und schaute an der blinkenden Fensterfassade empor.

Langsam ging er auf den Eingang zu, dessen Tür fast zwei Meter breit und ganz aus Glas war. Er betrat die weiträumige Halle. Ob Hille sich sehr verändert hat, fragte sich Doktor Günter und hielt Ausschau nach einem Menschen. Auf der rechten Seite entdeckte er das Fenster eines Portierzimmers.

„Zu Herrn Doktor Hille? Jetzt um diese Zeit noch?" Das verknitterte Männlein hinter der Scheibe begegnete dem ungewöhnlichen Besucher mit deutlicher Ablehnung. „Sonnabends haben wir keine Bürozeit! Um diese Stunde überhaupt ..."

„Befindet sich Herr Doktor Hille im Hause oder nicht?", schnitt Joachim Günter dem Alten das Wort ab. Sein Blick verriet Unwillen, und der Ton seiner Frage verfehlte nicht die beabsichtigte Wirkung. Augenblicklich verwandelte sich der kleine Zerberus in einen unterwürfigen Diener.

„Jawohl, ist im Hause, mein Herr! Entschuldigen Sie, ich konnte ja nicht wissen ... Ich werde sofort ... Wen darf ich melden?"

Der Alte hatte den Telefonhörer schon in der Hand. Doktor Günter wollte seinen Namen nennen, doch dann besann er sich: „Sagen Sie Doktor Hille, der Engel Gabriel wolle ihn sprechen!"

„Bitte sehr, der Eng ... Wie bitte?"

„Sie haben richtig gehört: der Engel Gabriel!" Der Mann schwankte eine Sekunde zwischen Zorn und Demut. Aussehen und Auftreten des seltsamen Besuchers entschieden den Widerstreit der Gefühle. Die Wählerscheibe schnurrte. „Ein Herr möchte zu Ihnen. Verzeihung, aber er sagt, ich soll ihn als — als Engel Gabriel melden. Ja? Jawohl!" Sichtlich erleichtert legte er den Hörer auf die Gabel und setzte sein ergebenstes Lächeln auf. „Der Herr Doktor erwartet den Herrn Doktor! Zweiter Stock, Zimmer zweihundertneunundzwanzig, bitte sehr, Herr Eng ... Herr Doktor!"

Auf den kunststoffbelegten Treppenstufen blieben die Schritte lautlos. Doktor Günter beeilte sich nicht, obwohl seine Neugier bei jeder Stufe stärker wurde. Hille erwartet mich, ging es ihm durch den Kopf. Hans-Helmut Hille, Justiziar der Defaga. „Willkommen und Salut!" Hille — er war seinem Besucher bis zum Treppenabsatz entgegengekommen. Die Arme halb ausgebreitet, ein joviales Lachen in seinem feisten Gesicht, empfing er Joachim Günter. „Origineller Einfall, das mit dem Engel Gabriel! Hast du einen guten Flug gehabt? Was sagst du zu unserem Wolkenkitzler? Warum hast du nicht telegrafiert? Du siehst prächtig aus, alter Junge!"

Geduldig ertrug Doktor Günter die Redeflut, die auf dem Weg zu Hilles Zimmer über ihn hereinbrach. Seine Antworten waren kurz. Das ist ein anderer Hille, stellte er verwirrt fest. Das ist nicht mehr der hochmütige, anmaßende und glasharte Mann von damals. Und einen Bauch hat er sich auch zugelegt. Kann man mit ihm offen sprechen? Vielleicht sind die Briefe eine Falle?

Hilles Arbeitszimmer war weiträumig. Durch ein wandbreites Fenster flutete Tageslicht auf die Schaumgummisessel, auf einen ovalen Rauchtisch, auf den sichelförmigen Schreibtisch und die dünnbeinigen Aktenschränke. Ein dunkler Spannteppich machte auch hier jeden Schritt geräuschlos. Hille trat an einen der Aktenschränke und kam mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück. „Scotch? Nimmst du Soda?"

Doktor Günter schüttelte den Kopf und beobachtete, wie Hille einschenkte. Er sah, dass die Hand des Justiziars leicht zitterte. Er sah auch den Ring an Hilles kleinem Finger.

„Nun erzähl doch mal, du Medizinmann. Waren es die braunhäutigen Schönen oder die Pesos, die dich so lange drüben festgehalten haben? Wenn ich mir das so vorstelle: Du, umringt von nackten Urwaldkäferchen ... Kein übles Bild!" Bequem zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen und das Whiskyglas leicht vor der Brust schwenkend, saß er da und schaute den Doktor an. Die Eiswürfel im Glas klirrten leise. „Cheerio erst mal!"

Der Doktor spürte das Getränk kühl und herb in der Kehle Auch hierin hat sich Hilles Geschmack offenbar verändert, dachte er. Früher war „Martell" seine Hausmarke. „Weder die Frauen noch die Pesos!", antwortete er und setzte das Glas langsam auf den Tisch. Er schaute Hille an. Es war ein eigenartiger Blick, der den Justiziar traf, ernst, fragend, fast vorwurfsvoll. Für Sekundenbruchteile wurde Hille unsicher.

„Aber was war es dann?", fragte er den Doktor.

„Ganz einfach: Angst!"

Hille war sprachlos. Ungläubig starrte er seinen Besucher an, dann zuckte es in seinem Gesicht, verhalten zuerst und stoßweise, gleich darauf aber brach unbändig und laut das Lachen aus ihm heraus. „Schiss! Er hat Angst gehabt, der liebe Kleine! Angst! Das ist ... Das ist kolossal!", keuchte er. „Menschenskind, hast du denn auf dem Mond gelebt?"

Und Hille redete. Eine halbe Stunde, eine Stunde und mehr. Er ließ seinem Besucher kaum Zeit für Zwischenfragen. Joachim Günter trank ein zweites und ein drittes Glas leer und hörte zu. Hilles Lachen wurde ihm von Minute zu Minute verständlicher. Seine Miene veränderte sich auffallend. Er sah aus, als hätte er gallebittere Tabletten auf der Zunge.

„Am Anfang, na ja, da sind wohl ein paar unter die Rachewalze der Alliierten geraten." Hille achtete nicht auf die stumme Reaktion seines Besuchers. „Aber das hat sich bald gelegt. Die Westmächte haben schnell gemerkt, dass sie damit nur den Roten eine Freude machen. Warte ab, vielleicht werden wir bald den gefallenen Kameraden Denkmäler setzen können. Jedenfalls marschieren wir wieder. Und wie! Cheerio!"

Der Doktor schwieg noch immer, beeindruckt von dem Bericht des Justiziars, obwohl in Hilles Brief schon einiges über die neuen Verhältnisse in der Bundesrepublik gestanden hatte. Zuerst wollte er noch glauben, dass Hille übertrieb, aber im Verlauf der Stunde zeigte sich, dass jedes Wort belegbar war. Dem Rechtsvertreter der Defaga bereitete es sichtlich Vergnügen, seinen Gast über die Situation zu unterrichten. Es hielt ihn nicht auf dem Sessel. Mit verschiedenen Zeitschriften und Büchern tänzelte er vom Schreibtisch heran.

„Hier, das ist der ,Wiking-Ruf'. Musst du sofort abonnieren! Und dann dieses Buch. Weißt du, ich schenke es dir. Sozusagen als Willkommensgabe. Von unserem Generaloberst Hausser, musst du wissen!" — „Waffen-SS im Einsatz" stand auf dem Einband. Hille blätterte im Vorwort und zitierte: „Wir wollen dabei nicht vergessen, dass der europäische Gedanke in dieser Truppe erstmals Verwirklichung fand und dass Bande zwischen den Nationen Europas geknüpft wurden, die besser nicht zerrissen worden wären." Er sah den Doktor an und wartete auf eine Antwort. „Du schweigst? Überrascht? Wir haben wieder Gleichschritt, wir sind da. Ganz dicke sogar! Und weil wir dich brauchen, haben wir dein Versteck ausbaldowert."

„Ihr braucht mich?''

„Um präzise zu sein: den Mann, als den wir dich kennen!"

Es traf den Doktor wie eine Ohrfeige. Sie haben nichts vergessen, durchzuckte es ihn. Aber ich will nicht. Der Mann, den ihr wollt, ist schon fünfzehn Jahre gestrichen, verstehst du, Hille. Irgendwo in der Pampa vermodert — ex est! Der jetzt vor dir sitzt, das ist der Psychiater Doktor Joachim Günter, zurückgekehrt aus Argentinien mit der Absicht, neu anzufangen. Dieser Mann hat einen Strich unter das Gestern gezogen und will nun einen sauberen Weg gehen durch die nächsten, was weiß ich, zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre, wenn kein Verkehrsunfall dazwischenkommt. Und er ist zu dir gekommen, damit du ihm dabei hilfst!

Hille überging den abweisenden Zug, der jetzt in den Mundwinkeln des Doktors nistete. Zufrieden ließ er sich wieder in den Sessel fallen, hielt seinem Gast das Zigarrenetui hin und griff nach einem silbernen Abschneider. „Kann mir vorstellen, dass dich das alles leicht durcheinanderbringt. Muss ja eine öde Gegend gewesen sein, dein Domizil. War auch eine Mordsarbeit, dich zu finden. Warte ab, in ein paar Tagen hast du dich akklimatisiert." Hille paffte ein paar graublaue Rauchwölkchen. „Wir haben auch schon für dich gesorgt. Junkers wird das mit dir besprechen. Kennst du ihn noch?"

Der Doktor überlegte. „Ich kann mich nicht erinnern", sagte er dann. „Typisch!", meinte Hille und hatte einen leicht spöttischen Unterton in seiner Stimme. „Ihr seid eben ein ganz exklusiver Haufen gewesen, der nicht viel Wert auf Tuchfühlung gelegt hat. Aber lassen wir das. Hauptsache, Junkers hat dich nicht vergessen. Er ist Referent im Landesgesundheitsamt. Was er mit dir vorhat, weiß ich nicht genau. Jedenfalls muss es ein ziemlich großes Ei sein, sonst ..." Hille stockte. Was ging es den anderen eigentlich an, dass Junkers nicht einmal ihn eingeweiht hatte. „Nun, das erklärt dir Junkers selbst Ich verständige ihn nachher von deinem Eintreffen. Jetzt etwas anderes. Wir haben noch ein paar Leute an der Hand, die dafür sorgen werden, dass du deine Heimkehrerhilfe bekommst."

Der Doktor fühlte sich mit einem Male müde und elend. Ich habe zu viel getrunken, dachte er.

„Du siehst also, wie die Karre rollt. Nun steig ein, alter Junge. Und lass dir gesagt sein, mit südamerikanischer Schläfrigkeit kommst du hier nicht hoch! — Stimmt was nicht?"

„Eigentlich bin ich mit klaren Vorstellungen über meine Zukunft hierhergekommen."

„Na und?"

„Ein Job als Psychiater, anfangs vielleicht in einer Klinik, später eine eigene Praxis, das schwebt mir vor."

„So. Schwebt dir vor." Tief aufatmend lehnte sich Hille in den Sessel zurück und lächelte gezwungen. „Verständlich, verständlich ...", knurrte er. „Heute noch verständlich. Aber morgen, mein Lieber, morgen nicht mehr!"

Joachim Günter merkte, wie seine Hände feucht wurden. Da war sie plötzlich wieder, die Angst, aber anders als auf dem Flugplatz. Ich bin ein Narr, dachte er. Ich habe geglaubt, das wäre alles längst vorbei. Zusammenhalten — natürlich! Gegenseitig helfen — natürlich: Schließlich haben wir ungefähr das gleiche Gepäck zu schleppen, und es gibt Sachen, für die manche Leute ein unangenehm gutes Gedächtnis haben. Aber die hier machen ja weiter, wie es aussieht! Nicht aus alter Kameradschaft haben sie mich zurückgeholt. Sie haben etwas vor mit mir. Irgendeine Schweinerei wahrscheinlich. Ich Narr. Ich Narr. Ich Narr!

Doktor Günter beeilte sich, den Besuch zu beenden. Hille begleitete ihn zur Tür und reichte ihm die Hand. Da fiel der Blick des Doktors wieder auf den Ring an Hilles kleinem Finger. „Ist Geisler tot?", fragte Joachim Günter.

Hille verstand nicht gleich, worauf Günter hinauswollte. Dann folgte er dem Blick des Doktors, hob den Diamanten in Brusthöhe und ließ ihn durch ein paar Handgelenkdrehungen aufblitzen. „Den Geisler hat es damals noch kurz vorm großen Zapfenstreich erwischt, wie ich gehört habe. Irgendwo bei Breslau, glaube ich."

Der Justiziar schien sich nicht gern an diesen Mann zu erinnern. Trotzdem fragte der Doktor weiter. „War er nicht nur schwer verwundet?"

„Man sagt, dass Geisler ... Aber wie kommst du eigentlich darauf? Lebt er vielleicht noch?" Hilles Haltung ließ Unruhe erkennen. „Was weißt du von ihm?"

„Es hätte möglich sein können, dass er noch lebt", antwortete der Doktor ruhig. Er betrachtete intensiv das Innenfutter seines Hutes. „Ich saß in dem Kübelwagen, mit dem Geisler damals gen Westen brauste. Die Sowjets waren uns dicht auf den Fersen."

„Du warst dabei? Da musst du doch auch wissen, was aus dem Gold geworden ist."

„Gold?"

„Na, die Münzensammlung, um die er irgendeinen krummnasigen Gaskammeraspiranten .beerbt hat! Eine runde Million sollen die Taler wert gewesen sein, den Schmuck und die Steine gar nicht mitgerechnet."

„Ach, du meinst die Truhe? Ich habe sie im Gepäckraum des Wagens gesehen."

„Und der Wagen?"

Der Doktor nahm sich Zeit. Als handle es sich um eine Belanglosigkeit, erzählte er, wie Geisler, ein Untersturmführer, und er selbst westlich von Breslau von der Frontlinie eingeholt worden waren. Die Maschinengewehrsalve eines Tieffliegers war wie eine Sichel über den Kübelwagen gegangen und hatte alle Insassen getroffen. Er, Doktor Günter, war mit einem Schultersteckschuss davongekommen. Männer einer ebenfalls flüchtenden SS-Einheit hatten ihn mitgenommen.

„Du hast Schwein gehabt. Aber die Truhe, was ist aus dem Wagen geworden? Alles zum Teufel?"

„Hinter uns waren noch zwei Kompanien Landser, und dann kamen die Roten mit ihren Panzern."

„Also futsch. Mist verfluchter!" Hille zog ein Gesicht, als wollte er im nächsten Moment Galle spucken.

„Wieso?" Der Doktor tat verwundert.

„Menschenskind, dir fehlt wohl ein Nerv? Bei den Goldtalern waren ein paar Stücke, für die gibt dir jeder Münzensammler eine Woche lang seine unmündige Tochter!"

Der Abschied war kurz. Doktor Günter ging vom Hochhaus der Defaga direkt zu seinem Hotel. Hille setzte sich an den Schreibtisch und arbeitete lustlos an einem Artikel für die „Nation Europa".

Der Konsumverkaufsstellerleiter Rudi Schröter war an diesem feuchtkalten und regenschweren Sonntagmorgen zu ungewöhnlich früher Stunde aufgestanden. Voller Groll stieg er in den geräumigen Keller, der für die Verkaufsstelle als Lagerraum diente. Die Luft hier unten war frostig. Es roch ein wenig nach Backobst, ein bisschen nach Salzheringen und intensiv nach Seife! Eben diese Mischung hatte Tage vorher das Missfallen eines Kollegen der Hygieneinspektion erregt.

Nun war aber Rudi Schröter nicht einer von denen, die warten, bis den Steinen Beine wachsen. Die Lösung fand er in einer Unterteilung des Kellers. Der LPG-Vorsitzende hatte ihm zu Holz verholfen, hatte Nägel besorgt und sogar den alten Dükopp überredet, der etwas von Holzwänden und Türen verstand, auf seine Sonntagsruhe zu verzichten.

Nachdem Rudi Schröter im Lagerkeller Platz für die Trennwand geschaffen hatte, ging er auf den Hof, wo die Bretter bereitlagen. Da kam auch schon Dükopp mit seinem Werkzeug.

„Wird kein schöner Sonntag!", begrüßte der krumm-schultrige Alte den Verkaufsstellenleiter und blinzelte hinauf zum verhangenen Herbsthimmel.

„Hm", brummte Rudi Schröter. Ob Wolken oder Sonne, was war ihm schon ein Sonntag wert, an dem man nicht einmal ausschlafen konnte. Der Teufel sollte alle Hygienemänner holen!

Unten im Keller interessierte sich der alte Zimmermann zuerst für die Flaschen in den Regalen. Sachverständig studierte er die Etiketten.

„Die Luft ist trocken hier, finde ich, sehr trocken!" Der Verkaufsstellenleiter wollte Gläser holen, doch der Alte winkte ab. Nach einem zünftigen Zimmermannsschluck machte sich Dükopp schließlich ans Ausmessen.

„Und die Tür? Wo willst du die Tür hinhaben?"

Rudi Schröter zeigte die Stelle. Wieder maß der Alte ab und kratzte dann mit dem Schuhabsatz zwei Kreuze in den festgestampften Lehmboden. „Für die Pfosten", erklärte er. „Gesellenarbeit, das Ausgraben. Fang man schon damit an. So etwa einen halben Meter tief."

Während der alte Dükopp im Hof mit Beil und Säge hantierte, trieb Rudi Schröter im Keller den Spaten in den steinharten Lehm.

Endlich stieß er auf körnigen Sand. Er schaufelte schneller. Knirschend drang der Spaten immer tiefer. Genug, dachte Rudi Schröter und kniete nieder. Mit den Händen holte er den Rest loser Erde aus dem Loch. Da hielt er jäh inne. Sekundenlang starrte er in das Erdloch. Vorsichtig fasste er schließlich wieder zu. Etwas Hartes, Metallisches war ihm zwischen die Finger geraten. Er wollte es herausziehen, doch es ging nicht.

Irgendein größerer Gegenstand musste da im Boden verborgen sein. Rudi Schröter beugte sich tiefer. War das nicht ein ... Ja, ein Metallknopf! Kräftig zog er daran. Er hielt einen Patentknopf in der Hand. Ein paar vermoderte Stofffasern hingen daran. Ein Uniformknopf? Hatte der Ortsnazi, ehe er hier alles im Stich ließ, in diesem Keller vielleicht seine Paradekleidung verbuddelt? Oder hatte der frühere Geschäftsinhaber ein geheimes Warenlager angelegt?

Schröter kniete sich flach auf den Boden und starrte angestrengt auf den Grund. Ein eisiger Hauch kroch über seine Haut. Für Sekunden vermochte er sich nicht zu rühren. Wie gebannt hing sein Blick an dem grausigen Fund. Dann nahm er seine ganze Kraft zusammen, sprang auf, warf angeekelt den Metallknopf in das Loch zurück und hastete zur Kellertür. „Eva! Dükopp! Schnell doch!" Keuchend hetzte er die Treppe hinauf. Oben in der Wohnung klapperten Pantoletten über die Dielen. Eva Schröter erschien am Treppenabsatz. In der Tür zum Hof stand der alte Dükopp, das Beil noch in der Hand, und schaute verwundert in das schreckensbleiche Gesicht des Verkaufsstellenleiters.

„Dort ..." Rudi Schröter zeigte durch die Kellertür. „Dort unten liegt ein Toter!", stammelte er.

Draußen auf der Straße brannten schon die Laternen. Hauptmann Heinz Richter sah auf die Uhr. Ich muss Inge anrufen und ihr sagen, dass es noch eine Weile dauern wird, dachte er. Horst König könnte sich auch beeilen. Hoffentlich hat er den alten Herrn angetroffen.

Mit dem alten Herrn war Doktor Heimann gemeint, der frühere Arzt der Heinersholzer. Er wohnte jetzt in einem kleinen Häuschen am Rande der Kreisstadt. Unterleutnant König war hinausgefahren, um ihn zum Sektionssaal des Krankenhauses zu bringen.

Zwei Leichen auf einmal in einem Keller, das hat es im Kreis bestimmt noch nicht gegeben, sinnierte Hauptmann Richter und holte seine Tabakschachtel hervor. Während sich der Hauptmann in Tabaknebel einhüllte und wartete, ließ er die Geschehnisse des Tages noch einmal an sich vorüberziehen. Schon eine knappe halbe Stunde nach dem Anruf des Abschnittsbevollmächtigten war er mit Unterleutnant König, dem Arzt Doktor Krautner und dem Kriminaltechniker in Heinersholz eingetroffen. Mit Schröters und Dükopps Hilfe hatten sie die Fundstelle im Keller freigelegt. Dabei waren sie auf die Leichen zweier männlicher Personen gestoßen.

Nachdenklich betrachtete Hauptmann Richter jetzt die wenigen Habseligkeiten, die sie bei den Toten gefunden hatten. Aufgefallen war ihm, dass einer der beiden Toten weder Uhr noch Ehering noch Brieftasche, ja nicht einmal eine Erkennungsmarke bei sich getragen hatte, obwohl die Bekleidungsreste den Schluss zuließen, dass er Angehöriger der Hitlerwehrmacht gewesen war. Die Möglichkeit eines Raubmordes durfte also nicht ausgeschlossen werden. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass in der kleinen Uhrtasche am Hosenbund eine alte Goldmünze steckte. Andererseits sprach es gegen die Annahme eines Raubmordes, dass bei der zweiten Leiche alle Wertgegenstände, ja sogar die Überbleibsel einer Brieftasche mit zwar erheblich verrotteten, aber vom Kriminaltechniker durchaus noch identifizierbaren Ausweispapieren und alten Geldscheinen vorhanden waren. Bereits vor dem Obduktionsbefund stand fest, dass die beiden Männer durch Schüsse in den Hinterkopf — wahrscheinlich beide aus der gleichen Waffe — getötet worden waren.

Der achtunddreißigjährige mittelgroße Offizier mit den grauen Augen und dem braunen, vorzeitig schütter werdenden Haar war der Lösung des Rätsels noch keinen Schritt nähergekommen, als Unterleutnant König das Zimmer betrat. Gespannt schaute der Hauptmann seinem jüngeren Mitarbeiter entgegen. „Na?", fragte er ungeduldig.

Der Unterleutnant warf einen Blick zu dem Tisch hin, wo in Zellophanbeuteln die Sachen lagen, die bei den Leichen gefunden worden waren. König nickte leicht. Die braune Sportmütze ins Genick schiebend, meldete er mehr burschikos als militärisch: „Sie werden staunen, aber wir wissen schon, wer die beiden sind, Meister! Der alte Doktor Heimann hat keine halbe Stunde dazu gebraucht ... Und die Feststellung Doktor Krautners hat sich inzwischen auch bestätigt. In beiden Fällen Kopfschuss von hinten, Entfernung höchstens ein Meter, offenbar mit einer Pistole vom Kaliber 7,65. Doktor Krautner schickt morgen den genauen Befund. Hier sind die Kugeln. Wir haben sie in der Kellerwand entdeckt, eine Armlänge voneinander entfernt." Der Unterleutnant wickelte die beiden erbsengroßen Geschosse aus einem Stück Verbandstoff und legte sie auf die Schreibtischplatte.

Heinz Richter schaute kaum hin. „Wer ist es?", drängte er.

„Dieser alte Dürrkopf, oder wie er heißt, hatte recht. Der mit dem Ring und der Uhr und den Papieren war Katzmann, der ehemalige Ortsbauernführer. Fünfzehn Jahre müssen die Leichen im Keller gelegen haben. Doktor Krautner meint, dass die Bodenbeschaffenheit einen schnelleren Verwesungsprozess verhindert hat."

„Und der andere?"

„Da wurde es schon schwieriger. Aber Doktor Heimann nimmt mit ziemlicher Sicherheit an, dass es sich um einen gewissen Otto Specht handelt."

„Auch ein Heinersholzer?"

„Nein, Doktor Heimann hatte früher seine Praxis nicht in Heinersholz, sondern im benachbarten Uckerbach, wo dieser Specht bis neunzehnhunderteinundvierzig Lehrer war. Er gehörte zu Doktor Heimanns Patienten."

„Wusste der Doktor etwas von den Familienverhältnissen?"

König nickte. Er schlug sein Notizbuch auf. „Specht müsste heute etwa sechsundfünfzig Jahre alt sein. Seine Frau war bedeutend jünger als er. Doktor Heimann erinnert sich sehr genau, weil sich die Leute in Uckerbach lange ihre Mäuler über den Altersunterschied zerrissen haben. Die Frau des Specht hat neunzehnhundertsechsundvierzig wieder geheiratet, einen kriegsbeschädigten Rechtsanwalt aus Zittau."

„Wieder geheiratet? Also war der Tod ihres Mannes amtlich bestätigt worden?" Der Hauptmann runzelte die Brauen.

„Ja. Otto Specht gilt als im Krieg gefallen. Allerdings, so sagt der Doktor, soll es einige Schwierigkeiten mit der Todeserklärung gegeben haben. Angeblich hat sich der Rechtsanwalt wegen der Sache ziemlich ins Zeug gelegt."

„Ein informierter Mann, dieser alte Doktor, nicht wahr?"

„Auf dem Land wissen die Ärzte und die Pfarrer eben oft mehr über die Leute als die Abschnittsbevollmächtigten, Genosse Hauptmann!"

„Donnerwetter!" Heinz Richter betrachtete seinen Mitarbeiter belustigt. „Du bist heute gut!"

„Sonntagabend habe ich immer meine stärksten Stunden." König lachte und rückte selbstgefällig seine Krawatte gerade. „Das sagen sie auch in der Sektion, und meine Kleine weiß es genauso zu schätzen!"

„Das ist beruhigend. Ich glaubte schon, es gäbe nur noch Mädchen mit hohen geistigen Ansprüchen und du müsstest Junggeselle bleiben", meinte Heinz Richter trocken. „Doch nun lass deine Kleine nicht länger warten. Und morgen schaue ich mir diesen Rechtsanwalt an. Seine Adresse hast du?"

„Habe ich!" König suchte in seinem Notizbuch, riss dann ein Blatt heraus und reichte es seinem Vorgesetzten. „Womit ich mich abmelden darf?" Er zog seine Mütze in die Stirn, tippte unternehmungslustig an den Schirm und ging.

Der Hauptmann trat an den Tisch, auf dem die Sachen lagen. Nachdenklich nahm er die Goldmünze und wog sie prüfend in der Hand. Er schätzte ihr Gewicht auf fünfzig bis hundert Gramm. Heinz Richter legte die Münze auf seinen Schreibtisch, holte eine Lupe aus dem Schubfach und betrachtete interessiert die Prägung. Auf einer Seite des Goldstückes befand sich die Büste eines schnurrbärtigen Mannes mit einer hohen orientalischen Mütze, die andere Seite zeigte einen gekrönten Löwen und Schriftzeichen, die offenbar aus der arabischen Sprache stammten. Er ließ die Lupe sinken. Es kam ihm sehr merkwürdig vor, dass jemand etwas so Wertvolles in der Uhrtasche mit sich herumtrug. Sollte dieser Specht Sammler gewesen sein? Dann musste es seine Frau wissen.

Die Sache mit diesem Rechtsanwalt gefällt mir übrigens auch nicht, dachte der Hauptmann. Wie mag er zu der Todeserklärung für Specht gekommen sein?

Eine Flut von Licht stieg aus den Straßenschluchten hinauf in die Dunkelheit, die wie eine schwarze, mächtige Glocke über den geraden Dächern hing. Weit über die breite Fahrbahn gebogene Ampeln, hell erleuchtete Schaufenster, bunter, zuckender Wirrwarr der Neonreklamen gaben der Straße prickelnden Flitterglanz, in dem die Gesichter der eleganten Passanten fahl und maskenhaft wirkten. Wie ein grauäugiges, dunkles Untier kroch die Autokette fast lautlos über die Fahrbahn. Plötzlich scherte ein Taxi zum Rand des breiten Bürgersteiges aus und hielt.

Von der Hauswand strahlte in kaltem Grün das Wort „Lagune". Der Doktor schaute hinauf. Sehr seriös für eine Bar, dachte er, auffallend seriös!

Joachim Günters Verwunderung wuchs, als er die prunklose Eingangstür verschlossen fand. Er sah sich um. Nirgends ein Schaukasten mit Ankündigungen irgendwelcher Barattraktionen, kein Werbeslogan, kein „Geöffnet bis vier Uhr". Nur einen Klingelknopf entdeckte er, und daneben ein daumenbreites Messingschildchen, in dem „Lagune" eingraviert war. Er klingelte. Einige Sekunden blieb es still. Schon hob er die Hand zu einem zweiten Versuch, da ertönte ein schwaches Summgeräusch, und die Tür öffnete sich. Er stand einem breitschultrigen, livrierten Mann gegenüber, der ihn eingehend musterte. Dann glitt ein zuvorkommendes Lächeln über das Boxergesicht. Höflich gab der Mann den Eingang frei.

„Guten Abend. Herr Doktor Günter, nicht wahr? Herr Junkers erwartet Sie schon oben. Bitte, dort befindet sich der Lift. Zweiter Stock, bitte sehr!"

Ein sanfter Ruck, und das Schnurren brach ab. Der Doktor trat aus dem Lift. Neugierig wanderte sein Bück durch den Vorraum, der sich eigentlich in nichts von denen anderer Bars unterschied. Ein dicker, dunkelroter Teppich, zwei mannshohe Spiegel, eine Garderobe, aus der ihm eine rundliche, silberhaarige Frau durch Brillengläser gleichgültig entgegensah. Wortlos nahm sie ihm Hut und Mantel ab und nickte gelassen, als er ein Markstück auf die Glasplatte legte. Man merkte ihr an, dass die „Lagune" freigebigere Besucher hatte.

Langsam durchschritt der Doktor einen schmalen Gang. Leise Tanzmusik klang ihm entgegen. Er betrat den Barraum und blieb überrascht stehen. Nein, das hier war gar kein verschwiegenes Spielkasino, das war eine moderne, wohlgepflegte Bar, wie sie die high society bevorzugt

Ich werde der einzige sein, der keinen Smoking trägt, dachte er betroffen und war froh darüber, dass ihn niemand beachtete. Zögernd ging er auf die chromblitzende Bar zu, hinter der neben einem jungen, dunkelhaarigen Mixer zwei industrieblonde Damen bedienten, deren Aufmachung auf den Kundenkreis abgestimmt war. Gerade wollte sich der Doktor auf einem Hocker niederlassen, als ein schlanker, hochgewachsener Mann auf ihn zukam.

„Doktor Günter, wenn ich nicht irre? Willkommen in der alten Heimat! Mein Name ist Junkers!"

„Angenehm", murmelte Joachim Günter und betrachtete den Mann aufmerksam. Vergeblich suchte er in seinem Gedächtnis; nein, er war ihm noch nicht begegnet

„Ich habe uns dort drüben einen Tisch reservieren lassen, Doktor. Es freut mich sehr, dass meine Einladung Sie noch erreicht hat."

„Der Hotelportier gab sie mir vor zwei Stunden." Junkers führte seinen Gast in eine der Nischen, die sich längs des großen Saales hinzogen. Auf dem Tisch standen bereits eine Flasche Wein und zwei geschliffene Gläser. Junkers bat den Doktor, Platz zu nehmen. „Ein dreiundfünfziger ,Grauer Mönch'! Ungarns Sonne hat auch hier am Main ihre Reize." Er schenkte ein, lächelte seinem Gegenüber zu und hob das Glas. „Auf Ihren neuen Start!"

Es entwickelte sich ein Gespräch über Weine, das Junkers schließlich geschickt auf Südamerika und Argentinien lenkte. Je länger sie sich unterhielten, um so angenehmer wurde der Mann dem Doktor. Kein Wort über die „alten Zeiten" kam dem Referenten über die Lippen. Und der Doktor fand gerade diesen Unterschied zu Hille besonders wohltuend. Der Doktor fand seinen Gesprächspartner von Minute zu Minute sympathischer und brachte endlich selbst die Rede auf seine Zukunft. „Hille machte mir nur sehr vage Andeutungen. Selbstverständlich bin ich Ihnen für jede Unterstützung dankbar. Ich bin nicht ganz ohne Pläne zurückgekommen."

Junkers lächelte höflich. „Darf man etwas darüber erfahren?"

„Natürlich. Eigentlich dachte ich an die Eröffnung einer eigenen Praxis. Aber das ist schließlich auch eine finanzielle Frage. Ich muss also wohl oder übel erst für eine gewisse Zeit in einem Angestelltenverhältnis arbeiten, vielleicht in einer Heilanstalt oder in einem Krankenhaus."

„Sehr vernünftig geplant", sagte Junkers ruhig. Er warf einen Blick zu der verhangenen Tür auf der anderen Seite des Saales hinüber und blinzelte dem Doktor zu. „Aber nun werden Sie gleich staunen, was für hübsche kleine Fische sich in unserer ,Lagune' tummeln. Wir bleiben doch bei dieser Sorte?" Er winkte einen Ober heran und bestellte eine neue Flasche.

„Sie müssen verstehen, dass ich nicht als Onassis heimgekehrt bin. Und eine Praxis ist, wie gesagt, nicht billig", meinte der Doktor, darauf bedacht, das Thema nicht zu wechseln. „Herr Hille sagte mir, dass Sie im Landesgesundheitsamt tätig sind. Sicher sind Sie dann auch über die Situation in den Heilanstalten recht gut informiert?"

„Allerdings", bestätigte Junkers und schmunzelte nicht mehr. „Aber von Wohlwollen in finanzieller Hinsicht kann dort nicht die Rede sein. Das trifft, nebenbei gesagt, nicht nur auf die Nervenheilanstalten zu. Ich kenne keinen Mediziner, der nicht irgendetwas gegen die Regierung hat wegen der ausgeprägten Sparsamkeit im Gesundheitswesen. Aber lassen wir das. Jedenfalls freue ich mich, dass Sie nicht an Illusionen leiden", fuhr Junkers fort „Das erleichtert es mir, Ihnen zu helfen. Ich habe für Sie eine Stationsarztstelle in einer staatlichen Nervenheilanstalt. Natürlich gibt es für einen Mann Ihres Formats bessere Möglichkeiten, aber schließlich soll es ja keine Dauerstellung sein."

„Aber ich bitte Sie, es gibt mir Sicherheit ..."

„Ja, ja, Doktor, Ihre Bescheidenheit in allen Ehren. Sicherlich gibt es noch andere Ärzte; es gibt sogar viele, die sich über ein solches Angebot freuen würden. Aber warum sollen wir Ihnen nicht helfen, in der Heimat wieder Fuß zu fassen? Die anderen finden sich hier leichter zurecht als jemand, der lange weg gewesen ist. Sie sind schon der richtige Mann."

„Ich habe den Eindruck, dass Sie meine Eignung überschätzen. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass ich in Córdoba nicht auf meinem Fachgebiet praktiziert habe? Ich bin also durchaus nicht mehr auf dem laufenden und brauche mindestens ..."

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken." Junkers prostete ihm zu und nahm genussvoll einen kleinen Schluck, den er einen Augenblick auf der Zunge behielt. Jede seiner Bewegungen und auch seine Stimme besaßen die gemessene, ruhige Selbstsicherheit eines erfahrenen Diplomaten. „Ihre uns bekannten und in den Jahren doch sicherlich nicht verkümmerten Fähigkeiten genügen vollauf."

„Herr Junkers, ich hätte gern Näheres über die Art meiner neuen Tätigkeit gewusst."

Junkers zuckte leicht mit den Brauen. „Sie sind beunruhigt?" Er lächelte amüsiert. „Ich sagte Ihnen doch: Wir haben für Sie eine Stationsarztstelle. Fichtenhain heißt die Anstalt. Sie liegt zwischen Frankfurt und Kassel.

„Und was soll ich dort tun?"

„Arbeiten und sich umschauen", antwortete Junkers ganz selbstverständlich. „Sie werden eine Menge sehr interessanter Fälle vorfinden und mich über Ihre Arbeit informieren."

„Das ist alles?"

„Das ist alles! Über Einzelheiten können wir uns später unterhalten. — Ah, da haben wir ja den ersten Lagunenfisch. Was sagen Sie dazu?"

Der Doktor folgte dem Blick des Referenten zu einem Mädchen in orientalischer Tanzkleidung. Die Paare hatten die Glasfläche verlassen. Das kleine Orchester spielte jetzt eine jener eigentümlich pendelnden arabischen Melodien, bei denen die Märchen aus „Tausend und einer Nacht" lebendig werden. Langsam hob die Tänzerin ihre Hände über den Kopf und bewegte sich in den Hüften, verhalten, graziös, erregend.

„Beinahe echt, nicht wahr? Eine Medizinstudentin", sagte Junkers väterlich. „Aber der kleinste Fisch hier, wie Sie noch sehen werden. — Worüber haben Sie sich eigentlich mit Herrn Hille unterhalten? Ich hoffe, er hat Ihnen ein paar Tipps gegeben?"

„Tipps? Wenn Sie die Sache mit der Heimkehrerhilfe meinen." Der Doktor ließ die Tänzerin nicht aus den Augen. Zwanzig, dachte er, höchstens einundzwanzig. Und an den Hüften kein Gramm zu viel oder zu wenig.

„Wie ich unseren Hille kenne, hat er Sie auch nicht mit alten Geschichten verschont. Sie dürfen den Dicken nicht zu ernst nehmen. Ein guter Marschierer, der nicht begriffen hat, dass Stiefel aus der Mode gekommen sind."

„Zum Glück hat er die Toten ruhen lassen", erwiderte der Doktor abwesend. Seine Gedanken wirbelten im schneller werdenden Tempo der Musik. In den letzten Trommelwirbel hinein sagte Günter: „Nur Geisler musste zum Schluss noch herhalten."

„Geisler?" Der Referent hatte sich jäh nach vorn gebeugt.

„Sie kannten ihn auch?", fragte der Doktor. Er konnte Junkers unvermittelte Erregung nicht deuten.

„Flüchtig. Worum ging es in dem Gespräch? Und wer kam darauf zu sprechen?"

„Der Ring, den Hille trägt, hat mich darauf gebracht. Er stammt aus Geislers Sammlung."

Junkers ließ sich das Gespräch schildern. Seine Miene war wieder beherrscht, doch die Hände verrieten seine Unruhe. „Und das war alles?", fragte er, als der Doktor geendet hatte. Joachim Günter nickte. Junkers senkte jetzt seine Stimme, dass selbst ein Lauscher bis an den Tisch hätte herantreten müssen, um etwas zu verstehen. „Dann glauben Sie also, dass Geislers Truhe den Russen in die Hände gefallen ist?"

„Anzunehmen", erwiderte der Doktor nicht sonderlich interessiert. Er blickte zur Tanzfläche hin. Dezenter Beifall hatte das schlanke Mädchen zu einem da capo veranlasst.

„Geisler besaß, wie ich hörte, in seiner Sammlung allein sieben wertvolle Münzen." Junkers drehte versonnen den zarten Stiel des geschliffenen Glases zwischen den Fingern. „Nach Ansicht der Experten gibt es davon auf der ganzen Erde nicht mehr als ein oder zwei Dutzend. Auf einer Auktion in München bot ein Sammler Anfang des Jahres sechstausend Mark für so ein Stück!"

Der Doktor hatte seinem Gegenüber gar nicht zugehört. Sein Blick hing an der nackten Mädchengestalt, bis sie hinter dem Türvorhang verschwand. „Nun begreife ich, warum die ,Lagune' keine Reklame macht", meinte er, dabei in den Saal deutend, wo jetzt nur noch wenige Tische unbesetzt waren. „Beste Gesellschaft, wie es scheint."

„Gutes Geld für gute Ware", sagte Junkers. Und nur wer ihn sehr genau kannte, hätte aus seiner Miene abzulesen vermocht, dass Doktor Günters Verhalten ihm missfiel. „Können Sie sich eigentlich noch an den Namen des Ortes erinnern, in dem damals die Sache mit dem Tiefflieger geschah?"

„Keine Ahnung. Darf ich Sie jetzt zu einer Flasche einladen?"