Marie-Kristin - Helga Gurtner - E-Book

Marie-Kristin E-Book

Helga Gurtner

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Beschreibung

Das Buch handelt von einem Mädchen, das sich weigerte, erwachsen zu werden. Marie-Kristin wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Mutter trennte sich vom Vater, als das Mädchen knapp ein Jahr alt war. Ein paar Jahre lebte sie bei der geliebten, aber schwer kranken Großmutter. Danach heiratete ihre Mutter und da kein Platz für sie in der Wohnung der Eltern war, kam sie in ein Internat. Der Stiefvater begann zu trinken, als seine Mutter starb. Fast täglich stritten sich die Eltern. Marie-Kristin durchlebte die Hölle in ihrer Kindheit. Erst als sie einen Jungen kennenlernte, der wie sie eine schlimme Kinderstube hatte, gewann sie vertrauen in die Zukunft.

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Seitenzahl: 240

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Die Autorin: Helga Gurtner

In Wien unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, musste sie schon früh auf eigenen Beinen stehen und lebte oftmals in ihrer eigenen Phantasiewelt, die sie sich geschaffen hatte, um ihren Frust und ihre Einsamkeit besser ertragen zu können. Der Stiefvater Alkoholiker, die Mutter eine lebenslustige Frau, die nur allzu oft vergaß, dass sie eine Tochter hatte, die sehnsüchtig auf sie wartete.

Sie verließ ihr Elternhaus sehr früh und fand einen Partner, mit dem sie das gleiche Schicksal teilte. Auch sein Vater war Alkoholiker, starb mit 46 Jahren und seine Mutter kümmerte sich kaum um den Kleinen, der häufig weinte, weil er alleingelassen wurde.

Als 40-jährige zog sie mit ihrem Mann und dem behinderten Sohn aufs Land und erfüllte sich ihren größten Wunsch. Sie begann zu schreiben!

Außerdem engagierte sie sich als Ehrenamtliche für Behinderte und alte, bedürftige Menschen (Nachbarschaftshilfe)

Es gibt bereits zahlreiche Werke von ihr, die allesamt teilweise autobiografische Züge aufweisen, wie zum Beispiel:

Franz der Bauernbub

Adam Kowalsky

Wenn Liebe Hölle ist

Lena

Vera will leben

Der Zwischendurchmann

Paul und Carina

Die Wut im Bauch

Du packst das schon Sofie

I bin do net deppat

Helgas Weihnachtsgeschichten

Der Wolkenmann

Prolog:

Die Geschichte von dem Mädchen, das nicht erwachsen werden wollte, begann mit ihrer Geburt im August 1954. Damals gab es weder Computer noch Handys, keinen Fernseher und kein Telefon. Ihre Eltern hatten kein Auto und es gab auch nur Substandardwohnungen. Da im Krieg, der bis 1945 dauerte, viele Häuser zerbombt worden waren, befand sich die Stadt Wien gerade in der Wiederaufbauphase. Wohnungen, die eine Toilette und Wasser enthielten, waren schon ein Luxus. Eine Dusche gab es damals noch nicht. Daher gingen alle Familienmitglieder in das sogenannte Tröpferlbad, in dem man gegen ein kleines Entgelt seine Körperreinigung vollziehen konnte. Damals wohnte man noch sehr beengt. In der Wohnung des Mädchens, über das hier berichtet wird, wohnten zeitweise bis zu 9 Menschen. Die Geschichte von Marie-Christin ist eine wahre Geschichte. Lediglich die Namen der handelnden Personen wurden verändert!

Marie-Christin war ein junges Mädchen, das in ihrer Familie kaum wahrgenommen wurde und wenn doch, dann gab es nur Schelte. Sie fühlte sich nirgendwo wohl, weder in der Schule noch zu Hause. Daher hatte sie auch kaum Freunde. Sie fand sich hässlich und bewunderte ihre Mitschülerinnen, die mit 13 schon sehr hübsch waren und viele Freunde hatten.

Sie trugen schöne Kleider und Schuhe, waren geschminkt und hatten tolle Frisuren. Die meisten Eltern hatten genug Geld, um ihren Kindern alles zu kaufen, was deren Herz begehrte. Nur Marie-Kristin bekam keine neuen Sachen. Sie musste alte, abgetragene Kleider anziehen, hatte kurze braune Haare und sah ganz und gar nicht hübsch aus.

Immer mehr zog sie sich zurück und schuf sich ihre eigene Phantasiewelt, in der sie die Heldin war, von allen akzeptiert und geliebt wurde. In ihren Träumen war sie eine Prinzessin, zart und fein, mit langen, goldblonden Locken. Sie bestand viele Abenteuer mit ihrem Pferd und ihrer Hündin und träumte sich immer öfter weit weg von zu Hause, von dem ungeliebten Stiefvater und dessen Mutter und von der Schule, in der sie nur gehänselt wurde. Sie wollte nicht erwachsen werden, weil sie die Welt der Erwachsenen hasste. Zu verletzend war ihre Familie, ständig gab es Streit zwischen dem Stiefvater und der Mutter. Beide tranken viel und waren oft in Gasthäusern, die man locker auch als Spelunken bezeichnen konnten. Stundenlang wurde dort getrunken, Karten gespielt und was am widerwärtigsten war, dass die männlichen Gäste mit erbärmlich stinkenden Fahnen des billigen Fusels, den sie literweise in sich hineinschütteten, sie öfter fest an sich drückten, sie mit ihren eklig schmatzenden, sabbernden Küssen bedeckten und sie nicht loslassen wollten. So sehr sie sich auch dünn und klein machte, so gelang es ihr oftmals nicht, sich loszulösen.

Was war das bloß für ein Leben. Es lohnte sich nicht, erwachsen zu werden!

MARIE-KRISTIN

DAS MÄDCHEN, DAS NICHT ERWACHSEN WERDEN WOLLTE

Marie-Kristin war kein schönes Mädchen. Weder schlank noch zart und fein, so gar nicht prinzessinenhaft, wie so manche ihrer Mitschülerinnen. Ihr Haar war braun, kurz und dünn und wirkte matt und glanzlos. Sie war kleinwüchsig, stämmig und eher burschikos. Mit ihren 13 Jahren sah sie aus wie eine graue Maus. Sie trug stets abgetragene Sachen, deren Farben dereinst schön gewesen sein mochten, doch jetzt wirkten sie ausgewaschen und farblos. Das war nicht immer so gewesen. Einst war sie ein niedliches kleines Mädchen mit wehenden blonden Zöpfen, das sich gerne weite Röcke anzog und im Kreis drehte, bis sich der Rock hob und herumwirbelte, wie ein Karussell. Sie liebte ihren Zopf, den ihr die Großmutter morgens flocht und sie war zwar sehr reif für ihr Alter, doch im Herzen ein fröhliches Kind. Sie lebte damals bei ihrer über alles geliebten Oma, die sie unterstützen musste, weil sie schwer krank war, doch das machte ihr nichts aus.

Sie lebte zusammen mit einem Cousin bei ihr und war rundum zufrieden und glücklich. Der um fünf Jahre ältere Cousin Hans verstand sich mit ihr ausgezeichnet und die beiden Kinder hatten viel Spaß miteinander.

Seit kurzem wohnte sie bei ihren Eltern in einer kleinen Wohnung, in der es nur eine Küche, ein Wohn-/Schlafzimmer und ein Kabinett gab. Bis vor wenigen Wochen bewohnte die Mutter ihres Stiefvaters das Kabinett und Marie-Kristin war in einem Heim untergebracht gewesen, aus dem sie nur alle 4 Wochen nach Hause geholt wurde. Da die Wohnung sehr klein war, musste Marie-Kristin zwischen ihren Eltern schlafen, wenn sie zu Hause war. In der Wohnung gab es weder Wasser noch eine Toilette. Wasser wurde mit einer Kanne vom Gang hereingetragen und das WC befand sich ebenfalls auf dem Gang, wo es im Winter eisig kalt war, deshalb wurde in einer Ecke, gleich neben der Eingangstür, nachts ein Kübel aufgestellt, auf dem die Familie ihre Notdurft verrichtete. Morgens wurde dann der Eimer ausgeleert und gewaschen. Warmes Wasser wurde entweder auf dem Gasherd oder im Winter auf dem kleinen Kohlenofen (Piperlofen) gewärmt. Mit dem so erwärmten Wasser wurde das Geschirr abgewaschen. Der Tisch, der sich in der Küche befand, hatte eine Tischplatte, die man hochklappen konnte. Darunter befanden sich zwei emaillierte Behälter, in denen das Geschirr abgewaschen wurde.

Die Wohnung befand sich in einem Altbau, der noch vor dem 2. Weltkrieg errichtet worden war. Die Wände waren an die 3 Meter hoch und die Mauern waren dick, aber nicht gedämmt. Deshalb war es im Sommer angenehm kühl und im Winter eisig kalt darin.

Jede Wohnung hatte zum Gang hin ein großes Glasfenster, das mit schwarzen, schmiedeeisernen Gitterstäben geschützt war. So konnte man auf Anhieb erkennen, wer vor der Tür stand.

Der kleine Piperlofen stand in einer Ecke im Kabinett und wurde mit Koks beheizt, den der Stiefvater von seinem Arbeitgeber, der ÖBB billig kaufen konnte. Im Winter stand die Kabinetttür stets offen, damit die Wärme sich im angrenzenden Raum und in der Küche ausbreiten konnte. In dem kleinen Raum stand noch ein Klappbett, das ein großes Bord hatte, auf dem Marie-Kristin ihre Sachen aufbewahrte, wie etwa Matchboxautos, die sie von der Mutter geschenkt bekommen hatte. Die Mutter war Packerin in einem Spielwarengeschäft und brachte gelegentlich Spielsachen mit nach Hause, die sie günstig erstand.

Marie-Kristins Mutter, Johanna Mayerhofer, war 44 Jahre alt, eine kleine mollige Frau mit kurzem, blonden Haar. Sie hatte kaum eine Schulbildung, da sie den 2. Weltkrieg miterlebt hatte und aufgrund einer Herzschwäche das letzte Schuljahr nicht mehr absolvieren konnte.

Der Stiefvater, Franz Mayerhofer, war bis zu seinem 49. Lebensjahr Lokführer bei der Bundesbahn gewesen und als seine Mutter starb, wurde er krank und ging letztendlich mit 50 Jahren in Pension. Er hatte schon vorher viel getrunken, doch das steigerte sich enorm, sobald er zu Hause war. Er hing sehr an seiner Mutter und als sie krank wurde, litt er mit ihr.

Er hatte auch nette Phasen, die immer dann auftraten, wenn sein Alkoholspiegel ein gewisses Maß erreicht hatte. Trank er weiter, wurde er zum unberechenbaren Choleriker.

Eines Tages flog ein gusseisernes Gefäß knapp an Marie-Kristins Kopf vorbei, das er voll Wut nach ihr geworfen hatte, weil sie die Tomatensoße nicht essen wollte, die er gekocht hatte. Sie war jedoch so dick, dass der Löffel darin stecken blieb und schmeckte nur nach verbrannter Mehlschwitze (Einbrenn). Ein anderes Mal flog sein Hausschuh hinter ihr her, weil sie das Geschirr nicht heiß genug gewaschen hatte.

Einmal, als seine Mutter Katharina noch gelebt hatte, Marie-Kristin war gerade 8 Jahre alt, gab es einen ordentlichen Krach, weil das Mädchen eine Kanne Wasser vom Gang geholt hatte, ihr das Wasser aber versehentlich daneben schwappte und den Küchenboden damit überzog. Die Lache hatte sich in Windeseile auf dem alten schäbigen PVC-Belag ausgebreitet und die Kanne war halbleer.

Der Vater und die Mutter waren damals arbeiten und Marie-Kristin war mit Katharina Mayerhofer, ihrer „Stiefoma“, allein zu Hause. Als diese das Malheur sah, schalt sie das Mädchen und drohte ihm: „Das erzähle ich deinen Eltern, du ungeschicktes Ding. Jetzt hol schon den Ausreibfetzen und wasch die Küche ordentlich auf!“

„Aber ich kann doch nichts dafür. Die Kanne ist mir aus der Hand gerutscht!“ antwortete das Mädchen. „Halt den Mund und tu, was man dir sagt. Hat deine Mutter dir denn gar nichts beigebracht?“ Marie-Kristin unterdrückte ein Schluchzen, holte den Eimer, das Bodentuch und kniete sich nieder, um den Küchenboden aufzuwischen. Sie hörte die Alte hinter sich murmeln: „Ich werde meinem Sohn sagen, dass kein Platz für dich da ist. Du solltest im Heim bleiben und deine Mutter kann dich gelegentlich besuchen. Es ist nicht auszuhalten, wie du dich benimmst!“

Marie-Kristin war zutiefst gekränkt. Sie fühlte sich keiner Schuld bewusst und wünschte sich sehnlichst, wieder bei ihrer Oma Bertha Balek wohnen zu dürfen, die sie über alles liebte. 4 Jahre lang, es waren die ersten 4 Jahre ihres Lebens, hatte sie bei der Oma in einem Gemeindebau gelebt. Die Wohnung war etwas größer, heller und es befand sich ein WC darin. Die Oma war eine etwa 60-jährige Frau, mollig, mit grauweißem Haar, gütiger Miene und ebensolchem Wesen.

Sie hatte wenig Geld, weil sie aufgrund ihrer Erkrankung, sie litt an Diabetes, nicht arbeiten konnte. Trotzdem hatte sie stets ein offenes Ohr für ihre Enkelkinder und gab ihnen ihr letztes Geld, damit sie sich ein Eis oder Naschereien kaufen konnten.

Sie nähte für viele Leute aus dem Gemeindebau und verdiente sich ein paar Schillinge damit. Ansonsten lebte sie von den Zuwendungen ihrer vier erwachsenen Kinder, die allesamt Arbeit hatten und die Mutter unterstützen konnten.

Zuvor hatten auch ihre Tante und ihr Onkel dort gewohnt, doch als ihr erstes Kind zur Welt gekommen war, hatten sie einen Hauswartposten angenommen und waren ausgezogen.

Marie-Kristin liebte ihre Oma und half ihr ein wenig beim Haushalt, ging für sie einkaufen und sah ihr oft bei der Näherei zu. Die Großmutter kochte gerne die böhmische Küche und einfache, aber leckere Speisen. Wie oft hatte Marie-Kristin der Oma geholfen, einen Teig auf dem Küchentisch aufzurollen, auf dem die Äpfel und der Zimt, mit etwas Rum und Rosinen verfeinert, und angeröstete Brösel aufgelegt wurden. Der Teig wurde eingerollt, mit etwas zerlassener Butter bestrichen und in das Ofenrohr geschoben. Wie hatte das herrlich gerochen. Was gab es besseres als Omas Apfelstrudel.

Aber da gab es noch so viel mehr, an das sich Marie-Kristin gerne erinnerte. Da waren Omas Obstknödel, die Mohnnudeln oder so einfache Küche wie heiße Kartoffel mit Butter und saurer Milch.

Die Großmutter war schwere Diabetikerin und musste sich selbst Insulin spritzen. Marie-Kristin wusste bereits mit 4 Jahren, dass man der Oma ein Stück Würfelzucker in den Mund stecken musste, wenn es ihr schlecht ging, nämlich dann, wenn sie unterzuckert war.

Die Großmutter ging gerne mit ihrer Enkelin zu einem Eisgeschäft, das weithin berühmt für seine erlesenen Eissorten war und auch ein Diabetikereis verkaufte. Marie-Kristin liebte Heidelbeereis, Himbeereis, Erdbeereis und Haselnusseis am allermeisten. Wenn sie für die Omi einkaufen ging, durfte sie sich stets Karamellbonbons oder Schokolade mitnehmen.

Das alles gab es nun nicht mehr. Ihre Mutter hatte den Stiefvater kennengelernt und war schon sehr bald zu ihm gezogen. Dann hatte die „Stiefoma“ bestimmt, dass der uneheliche Balg ins Heim abgeschoben werden müsse. Es sei ohnehin nicht genug Platz in der kleinen Wohnung!

Was blieb der Mutter übrig, als das Mädchen in ein Internat zu bringen. Es war weit genug entfernt, um nicht andauernd hinfahren zu müssen, denn man kam nur mit dem Zug hin und musste dann eine lange Fußstrecke in Kauf nehmen.

Das Heim lag inmitten von Weingärten, war ein christlicher Orden mit Nonnen und wurde streng geführt. Hier würde Marie-Kristin etwas Ordentliches lernen und der Schlendrian, der eingerissen war, als sie bei ihrer Oma gewohnt hatte, würde ihr ausgetrieben werden. Sie verschwendete keinen einzigen Gedanken daran, wie es ihrer Tochter wohl ergehen mochte, wenn sie getrennt von ihrer über alles geliebten Großmutter plötzlich auf sich allein gestellt war. Eine Siebenjährige, die der Oma entrissen wurde, der es danach nicht viel besser ging als dem Kind. Sie verwand den Verlust des Kindes nur sehr schwer und weinte viele bittere Tränen. Doch waren ihr die Hände gebunden. Sie hatte zwar ihre Tochter angefleht, die Kleine bei ihr zu lassen, bekam aber eine Abfuhr, die sich gewaschen hatte. Johanna wollte den Mann heiraten, zu dem sie gezogen war. Die Bedingung der Schwiegermutter war jedoch gewesen, das Kind in ein Internat zu geben. Johanna sah eigentlich keinen Grund, es nicht zu tun. Dort würde es Marie-Kristin sicher besser gehen als bei ihrer schwerkranken Oma.

Johanna erinnerte sich dunkel an eine Szene in der Wohnung ihrer Mutter, als Marie-Kristin gerade 4 Jahre alt war. Johanna hatte ein Rendezvous mit einem Mann und machte sich für das Treffen zurecht. Ihre Tochter bettelte, mitgehen zu dürfen, doch Johanna konnte die Kleine dabei absolut nicht gebrauchen.

Marie-Kristin steigerte sich in ihrem Kummer und schluchzte so laut sie konnte. Sie zitterte am ganzen Körper, hockte sich in eine Ecke der Küche und schrie: „Du hast mich gar nicht lieb, Mutti. Ich hasse dich!“ Johanna wurde zornig. Sie packte das Kind beim Zopf, den sie täglich von der Oma geflochten bekam, holte eine Schere und schnitt ihn ab. Dabei schrie sie die Kleine ab: „Jetzt ist es aber genug. Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, dass ich es nicht dulde, wenn du so trotzig bist. Und ich habe dir angedroht, dass ich dir den Zopf abschneide, wenn du nicht gehorchst. Jetzt hast du es übertrieben, mein Fräulein.“ Die Mutter stand wutentbrannt vor dem Mädchen, den abgeschnittenen Zopf in der Hand. Sie wedelte damit vor den verweinten Augen des Kindes, das plötzlich die Luft anhielt und geschockt auf die Haarpracht in Mamas Hand sah. Marie-Kristin liebte ihren langen Zopf und genoss es, von der Großmutter gekämmt zu werden. Jetzt sah sie die Mutter ängstlich an und schrie: „Du hast mir meinen Zopf abgeschnitten, Mama. Ich hasse dich!“

Dann begannen ihre Augen zu flattern, sie zitterte und schüttelte ständig den Kopf hin und her. Die Mutter versuchte, sie hochzuziehen, doch die Kleine blieb am Boden gehockt, starrte mit glasigen Augen ins Leere und gab unartikulierte Laute von sich. Johanna wusste nicht, was sie tun sollte. Sie gab dem Mädchen eine Ohrfeige und schrie sie an. Nach einigen Minuten kam Marie-Kristin wieder zu sich. Johanna sagte mit besorgter Stimme: „Was war das denn, Marie-Kristin?“ Doch die Kleine gab keine Antwort, starrte nur auf die Hand mit dem Zopf. „Aber Kind, der wächst doch wieder“, sagte die Mutter nun und dann nahm sie die Kleine in den Arm, um sie zu trösten. „Du darfst halt nächstes Mal nicht so trotzig sein. Wenn Mama sagt, du sollst bei der Oma bleiben, dann bleibst du eben bei ihr. Sieh mal, ich packe deinen Zopf in ein Zeitungspapier und hebe ihn für dich auf. Du kannst ihn dann immer wieder ansehen.“ Sie löste sich von dem Mädchen, grüßte und ging. Erst in den Morgenstunden des nächsten Tages kam Johanna nach Hause. Marie-Kristin hatte kein Auge zugemacht. Sie dachte, dass sie schuld sei, wenn Mama nicht nach Hause kam, weil sie die Mutter geärgert hatte. Ihr schlechtes Gewissen und der Verlust ihres blonden Zopfes waren zu viel für das kleine Mädchen.

Als Johanna gegangen war, nahm die Großmutter Marie-Kristin auf ihren Schoß, strich ihr übers Haar und sagte: „Du musst nicht weinen, mein Liebling. Die Haare wachsen wieder. Mama hat es nicht so gemeint. Sie war nur von der Arbeit müde und gestresst und wollte ihre Ruhe haben.“ „Aber heute ist doch Sonntag, Omi“. „Ja, ich weiß, aber deine Mama hat letzte Woche immer viel arbeiten müssen und braucht am Wochenende ein bisschen Ruhe.“ Sie konnte dem Mädchen nicht die Wahrheit erzählen, dass ihre Mutter jemand kennengelernt hatte, mit dem sie sich jeden Tag nach der Arbeit getroffen hatte, um mit ihm auszugehen.

Eines Tages kam Johanna von der Arbeit nach Hause und sagte, dass Marie-Kristin am kommenden Sonntag den neuen Freund ihrer Mutter kennenlernen sollte. Ein Ausflug war geplant und sie sagte dem Mädchen, dass es sich ordentlich benehmen sollte, um die Mutter nicht zu blamieren.

Marie-Kristin freute sich auf den Ausflug. Sie ahnte nicht, was mit dem neuen Mann im Leben ihrer Mutter auf sie zukommen würde.

Das Mädchen zog sich ihren Glockenrock an, denn der schwang so schön, wenn man sich im Kreis drehte. Die Haare waren inzwischen nachgewachsen. Sie hatte dunkelblonde Löckchen und sah aus wie eine Puppe.

Sie trug eine weiße Strumpfhose und weiße Lackschuhe. Johanna nahm sie an der Hand und führte sie zur Straßenbahnstation. Sie fuhren zum Wiener Prater, wo sie sich mit Franz treffen wollte. Einmal waren sie umgestiegen, um mit einer anderen Straßenbahnlinie weiterzufahren. Beim Eingang zum Wurstelprater stand der Mann, der künftig das Leben ihrer Mutter und auch über ihre Zukunft bestimmen würde. Etwas größer als die Mutter, schlank, braunes Haar, markantes Gesicht mit wenig einladendem Mienenspiel. Er streckte ihr die Hand entgegen und gab der Mutter einen Kuss. Marie-Kristin machte artig einen Knicks, stellte sich vor und fragte ihn: „Und wie heißt du?“ Franz blickte auf Johanna herab, so als wollte er fragen: „wieso weiß die Kleine nicht, wer ich bin?“ Doch dann bequemte er sich, sich vorzustellen. Danach zog er aus seiner Sakkotasche eine Packung mit Karamellbonbons und gab sie dem Mädchen. „Jö, Frittzuckerl“, rief die Kleine entzückt. „Die mag ich so gerne.“ „Das hat mir deine Mutter verraten!“ Damit wandte er sich Johanna zu. Im Großen und Ganzen wurde es ein netter Nachmittag. Marie-Kristin durfte mit einigen Ringelspielen fahren, bekam Zuckerwatte und war überaus froh und glücklich, mitgehen zu dürfen. Ein Stück durfte sie auch mit dem Fritt-Onkel und der Mutter in der kleinen Liliputbahn durch die Praterau fahren. Das war toll.

Das erste Mal, dass ihre Mutter sie mitgenommen hatte, wenn sie sich mit einem Mann traf. Später sollte sie erfahren, dass es von Franz ausgegangen war. Er wollte das Kind kennenlernen.

Von nun an nahm die Mutter das Mädchen öfter mit. Einmal gingen sie in den Zoo, ein anderes Mal in den Böhmischen Prater, aber als sie zum ersten Mal ihre zukünftige „Stiefoma“ traf, die in ihrem Sessel im Kabinett saß, eingewickelt in eine Decke, das schlohweiße Haar in ein Haarnetz gesteckt, die Hände auf der Decke gefaltet, da kroch Unbehagen in die kleine Kinderseele. Diese eisgrauen Augen, die sie abschätzig musterten, der strenge Blick, als Marie-Kristin ihr die Hand reichen wollte. Sie fühlte sich unbehaglich und wollte sofort aus dem Kabinett verschwinden, doch die greise Stimme der alten Frau hielt sie zurück:

„Wie heißt du, Mädchen? Wie alt bist du und in welche Schule gehst du?“ Fragte die Alte mit strengem Blick. „Ich bin 6 Jahre alt, heiße Marie-Kristin und gehe in eine Klosterschule.“

„Aha“. Die Frau musterte sie streng und wandte sich dann an Marie-Kristins Mutter: „Dich kenne ich ja schon länger, Johanna. Was ist eigentlich mit ihrem Vater?“ Johanna wurde verlegen, doch dann sagte sie tapfer: „Ich habe ihn verlassen, als ich ihn mit einer anderen Frau erwischt habe!“ „Na, das sind mir ja schöne Verhältnisse. Dann ist die Kleine also ledig geboren? Ein Bastard?“ Johanna hatte schon eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, doch ein Blick in das Gesicht von Franz ließ sie verstummen. Sie würde das später mit ihm ausdiskutieren.

Beim Hinausgehen aus dem Kabinett hörte sie noch die Alte hinter sich: „Einen Bastard hat er mir ins Haus geholt!“ Draußen zupfte Marie-Kristin ihre Mutter am Rockzipfel und fragte: „Mama, was ist ein Basad?“ Johanna blickte ihre Tochter ernst an und antwortete: „Es heißt Bastard. Es ist ein Kind, das zur Welt kommt, ohne dass die Eltern verheiratet sind!“ Als Marie-Kristin ansetzte, eine weitere Frage zu stellen, wandte sie sich abrupt ihrem Verlobten zu und beachtete das Kind nicht mehr. Marie-Kristin hatte noch lange das Wort im Ohr und ihr dämmerte, dass ihr die alte Frau nicht wohlgesonnen war.

Später, als sie gerade die Wohnung verließen, begann das Mädchen erneut zu fragen: „Mama, wo ist denn die Hexi?“ Zunächst antwortete Johanna nicht. Doch als ihre Tochter sie am Rockzipfel zupfte und noch einmal nach Hexi fragte, antwortete sie: „Die ist leider schon gestorben. Sie war schon sehr alt.“ „Schade. Ich hab sie so lieb gehabt.“

Marie-Kristin wollte jedoch unbedingt wissen, warum der Hund gestorben war, den sie an einem sonnigen Septembertag in der Wiener Praterau kennengelernt hatte und den sie sehr mochte. Es war ein Ausflug, den sie gemeinsam mit ihrem Cousin Hansi, der Mutter und dem Frittonkel gemacht hatte.

Der Hund hatte Franz gehört. Es war eine englische Hirtenhündin gewesen, semmelbraun, mit Hängeohren und einem gutmütigen Charakter.

Etwas dicklich, weil sie zu Hause zu viel gutes Futter bekommen hatte, aber trotzdem hatte sie das von den Kindern geworfene Stöckchen artig apportiert. Der Name der Hündin war Hexi gewesen.

Ein paar Mal durfte Marie-Kristin in der Vergangenheit ihre Mutter begleiten, wenn auch Hexi dabei war. Der Hund wedelte freudig, sobald sie auftauchte. Mama erzählte ihr, dass die Hündin sehr clever sei. „Die findet ihr Herrchen überall. Einmal hat Franz sein Fahrrad vor einem Gasthaus abgestellt und ist dann in ein anderes gegangen, damit ich ihn nicht finde, aber Hexi konnte er nichts vormachen. Sie ist schnurstracks zum richtigen Wirtshaus gelaufen.“ Und ein anderes Mal hat er mit einem Freund lange getratscht und Hexi ist es langweilig geworden. Da ist sie einfach nach Hause gelaufen und hat vor der Tür gebellt, bis wir sie hineingelassen haben.

Und einmal hat ein Vertreter den Fuß zwischen die Tür gestellt, weil er wusste, dass die Mutter von Franz allein zu Hause war. Die hat nur Hexi gerufen und der Hund hat den Vertreter beim Hosenbein gepackt. Erst als Frau Mayerhofer ihr gesagt hat, dass sie loslassen soll, hat sie ihn knurrend losgelassen. Er ist dann sofort abgehauen.“

„Toll. Hexi ist großartig. Ich hätte auch gerne einen Hund!“ „Das geht leider nicht, Marie-Kristin. Du wohnst noch bei deiner Großmutter. Der kann ich keinen Hund zumuten. Mit dem muss man immer Gassi gehen, er braucht viel Zuwendung und das Futter ist auch nicht billig. Vielleicht kommst du ja bald zu Franz und mir und dann werden wir weitersehen!“

„Was hatte denn die Hexi? Warum ist sie jetzt tot?“ Fragte sie ihre Mutter. Johanna antwortete: „Sie war einfach nur alt und krank.

Johanna nahm ihre Tochter an der Hand und führte sie nach draußen. Franz wollte unbedingt ein paar gute Freunde treffen und mit ihnen Bauernschnapsen.

Deshalb gingen sie nun in das Gasthaus, das gegenüber dem Haus lag. Dort saßen einige seiner Freunde, denen er seine Johanna und Marie-Kristin vorstellte. An diesem Tag erlebte das Mädchen zum ersten Mal das Wirtshausleben. Es widerte sie an und sie wäre am liebsten sofort wieder gegangen, doch Franz spielte mit Freunden Karten und Mutter plauderte mit den Ehefrauen der Männer. Keiner kümmerte sich um Marie-Kristin, die müde war und nach Hause wollte. Später schlief sie auf der harten Holzbank ein, bis ihre Mutter sie unsanft wachrüttelte. Sie solle sich beeilen, sonst verpassten sie noch die letzte Straßenbahn.

Schlaftrunken stand sie auf und ging mit nach draußen, wo ihr der kalte Wind entgegenschlug. Es regnete leicht und sie fror schrecklich. Da es tagsüber sonnig und warm gewesen war, hatte sie nur einen dünnen Mantel angezogen, doch der April war launisch wie jedes Jahr und der Sturm trieb die Regentropfen vor sich her.

Nach diesem Erlebnis mochte sie die Mutter nicht mehr begleiten, wenn sie den „Frittonkel“ treffen wollte. Dem Wirtshausleben konnte sie so gar nichts abgewinnen. Da war es viel lustiger, mit ihrer Oma „Jolly“ zu spielen oder „Mensch ärgere dich nicht“, „Mühle“ oder „Dame“. Manchmal mogelte sie auch ein wenig. Dass ihre Oma das wusste, war ihr noch nicht aufgefallen.

Die Mutter drängte das Mädchen an einem Samstag nachmittags, mit ihr und Franz zu einem Speedway-Rennen zu gehen, denn Franz gehörte der Jury an. Er war selbst einmal Rennen gefahren und hatte nach einem schweren Unfall verletzungsbedingt vom Fahrer zum Juror gewechselt.

Im Wiener Prater war eine Aschen-Rennbahn, auf der die leichten und getunten Motorräder im Kreis fuhren. Dabei legten sich die Fahrer in die Kurve, sodass sie mit den Knien fast den Boden berührten. Die Fahrer trugen Helme, die wie Töpfe aussahen und Knieschutz. Ihre Maschinen machten einen Höllenlärm und Staub wirbelte auf, wenn sie vorbeifuhren. Marie-Kristin konnte dem Spektakel nichts abgewinnen und fadisierte sich. Nach dem Rennen stand wieder ein Gasthaus-Besuch auf dem Programm, wo der Sieg eines Freundes von Franz ausgiebig gefeiert wurde, während Marie-Kristin neben der Runde saß und nicht wusste, was sie tun sollte. Also baute sie mit den Bierdeckeln ein Kartenhaus und holte sich von dem Kellner einen Block und einen Bleistift. Sie malte und kritzelte lustlos herum, bis ihre Mutter sie endlich wieder nach Hause zu ihrer Oma brachte, wo sie sofort müde ins Bett fiel. Selbst Zähneputzen und Waschen vergaß sie an diesem Tag. Die Großmutter fragte ihre Tochter: „Hat sie schon Abendessen bekommen?“ „Ja, sie hat in dem Gasthaus ein Paar Frankfurter mit einer Semmel bekommen und einen Almdudler getrunken.“ Eine Weile unterhielten sich die beiden Frauen, dann verließ Johanna ihre Mutter und fuhr heim zu Franz!

An einem grauen Dezembertag bat die Großmutter ihre Enkelin, ihr aus einem Nähgeschäft einige Dinge zu kaufen, wie Nähgarn, Nähnadeln und Knöpfe. Marie-Kristin hatte so gar keine Lust dazu. Draußen war es bitterkalt, Schnee lag auf der Straße und auf den Gehwegen.

„Oma, ich weiß nicht, wo das Geschäft ist!“ Sagte sie und dachte, die Großmutter würde ihr den Weg ersparen, doch die dachte gar nicht daran. Sie benötigte die Sachen dringend und erklärte ihr noch einmal den Weg. Marie-Kristin stellte sich dumm. Da wurde die Oma zornig, ging einen Schritt zurück und fiel in die Glastüre, die mit einem klirrenden Geräusch zerbrach. Die Glastüre trennte die Küche von dem Vorzimmer. Nun lag sie in tausend Scherben auf dem alten PVC Belag in der Küche. Zunächst musste das Mädchen herzhaft lachen, doch als sie sah, dass die Großmutter überall Splitter stecken hatte und aus mehreren Wunden blutete, bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie half der Großmutter hoch, führte sie zu ihrem Stahlrohrbett und setzte sie auf die Matratze. Danach zog sie alle Splitter vorsichtig heraus und holte Desinfektionsmittel und Mullbinden, um ihre Oma zu verarzten. Nachdem sie die Glassplitter aufgehoben und mit dem Besen weggefegt hatte, nahm sie den Einkaufszettel, den die Großmutter geschrieben hatte und das daneben liegende Geld. Dann zog sie rasch ihre Stiefel an, die im Vorzimmer standen, holte ihren warmen Wintermantel vom Haken und schlüpfte hinein.

Sie lief schnell nach unten, kaufte die Sachen ein und brachte sie nach Hause. Die Großmutter lag in ihrem Bett und schlief. Marie-Kristin war froh, dass die Sache noch glimpflich ausgegangen war. Die ganze Strecke bis zum Geschäft und zurück hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt und war voller Angst, dass die Großmutter am Ende sterben musste, weil sie sich so dumm angestellt hatte.

Als die Oma wieder wach wurde, saß die Kleine an ihrem Bett und hielt ihre Hand. „Wie geht es dir Omi? Bist du sehr verletzt? Brauchst du einen Doktor? Ich wollte das nicht, Omi, wirklich nicht!“ „Ich weiß, Kleines, du wolltest nicht raus in die Kälte. Du musst keine Angst haben, es geht mir gut. Ich brauche auch keinen Doktor. Außerdem bin ich selbst schuld an dem Unfall.“ Sie tätschelte die Hand des Mädchens, zog die Bettdecke zurück und stand auf. „So, jetzt wollen wir einmal sehen, was du gebracht hast.“ Es war alles richtig und die Großmutter setzte sich an ihre Nähmaschine, fädelte den Zwirn ein und drückte mit den Füßen das Pedal, um die alte Maschine zum Laufen zu bringen. Das Mädchen holte sich einen Stuhl und setzte sich neben die Alte. Wie gerne sah sie ihr beim Nähen zu.

Es dauerte eine ganze Weile, bis die Wunden verheilt waren. Die Großmutter verriet ihre Enkelin nicht. Als ihre Söhne und die Tochter ihr das monatliche Geld brachten, erklärte sie ihnen nur, sie sei ausgerutscht und in die Scheibe gefallen. Einer ihrer Söhne war Glaser und reparierte ihr die Scheibe. Alles war wieder gut!