Meer und Traum - Wolf E. Matzker - E-Book

Meer und Traum E-Book

Wolf E. Matzker

0,0

Beschreibung

Der Autor untersucht in seinem Buch die Frage, ob es eine Spiritualität des Meeres geben und wie diese aussehen könnte. In einem visionären Text geht es um die Sehnsucht nach einem reinen und sauberen Meer. In 20 Einzelkapiteln thematisiert er unterschiedliche Aspekte des Meeres, von der Vermüllung durch Plastik bis zu spirituellen, rituellen Themen. Seine Kritik am Verhalten des Menschen ist scharf und deutlich, aber hauptsächlich geht es dem Autor um eine ganz neue Achtung und Verehrung des Meeres. Ein längeres Kapitel setzt sich kritisch mit dem patriarchalischen Weltbild von Odysseus auseinander. Das positive Modell des Autors ist eine neue Naturreligion von der MUTTER DES MEERES. Die ganzheitlichen Bücher von Wolf E. Matzker enthalten Poesie und Philosophie, Zivilisationskritik und Spiritualität, Kunst und Rituale.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 157

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis:

Der Traum vom Meer Visionärer Text zwischen den Kapiteln, kann auch in einem Stück gelesen werden.

Anfang und Ende

Kunst am Meer

Gemälde vom Meer

Wilhelmshaven und das Meer

Das Meer und die jenseitige Welt

Meer und Müll – Romantik und Realität

Lektüren über das Meer

Die Odyssee

Thor Heyerdahl

Hokulea – eine moderne Geschichte

Helgoland

Meditationen am Meer

Tanzen am Meer

Phantasiereisen ins Meer

Das Meer von oben

Der Zustand der Meere, Gedichte

Container in der Nordsee

Das Meer und die Berge

Magische Muscheln

Rituale am Meer

Der Traum vom Meer

Schon seit seiner Kindheit träumte er vom Meer.

Von einem anderen Meer, einem warmen und lichten, einem reinen und schönen Meer.

Das Meer, das er kannte, war nicht schön. Es war grau und grün und kalt. Er kannte den Schlick und die grünen Algen auf den Steinen. Wenn er übers Meer blickte, dann sah er einen rot-weißen Leuchtturm, das war ein Versprechen. Er sah eine Erhöhung, irgendeinen Hügel am Horizont. Ob es dort anders war?

Das Wasser in den Kanälen seiner Heinmatstadt war dunkel und braun. Er verstand das nicht politisch, doch er wusste, dass man das auch politisch verstehen konnte. Vergangenheit war für ihn dunkel und braun. Zukunft war licht und blau. Er dachte in Farben. Farben waren Gedanken. In den Kanälen war irgendwie nichts. Wie schwarze, wässrige Löcher, in denen alles Schwere versank. Man konnte Steine oder altes Eisen hineinwerfen. Es ging schnell unter und man sah nichts mehr.

Er träumte von einem Meer, wo man alles sehen konnte. Den Meeresgrund. Er träumte von einem durchscheinenden Meer. Manche nennen es „transparent“. So richtig gut fand er das fremde Wort nicht. Er hatte Transparentpapier. Fürs Durchpausen von Figuren, Zeichen und Symbolen brauchte er das. Aber es war nur halb durchscheinend, nicht durchsichtig wie Glas.

Durchscheinend. Man sieht hindurch in eine andere Welt.

Er träumte von Türkis und Wärme. Das Meer seiner Heimat war grau und kalt. Es war immer kalt, für ihn war es immer kalt. Er war kein guter Schwimmer, denn für ihn war es immer zu kalt. Er fror meistens. Im Marinebad war es durchscheinend, auch türkis, aber eben kalt, zu kalt für ihn. Man sollte in der Schule auf Geschwindigkeit schwimmen. Wozu eigentlich? Er fand es idiotisch, machte nur halb mit oder auch gar nicht, denn ihm war kalt. Er träumte von einem warmen und trockenen Meer. Gibt es ein trockenes Meer?

Er träumte auch von einem lieblichen Meer, das nicht bedrohlich war, keine Sturmflut brachte und die Deiche brechen ließ wie 1962. Er hatte es erlebt, gesehen und später Zeitungsartikel gesammelt, Fotos von gebrochenen Deichen und Menschen, die auf den Dächern saßen. Wo ist seine Sammlung geblieben? Verschwunden, wie so vieles im Leben verschwindet. Alles verschwindet im Meer des Vergessens. Gibt es ein Meer der Erinnerung, das alles bewahrt und behütet?

Im Radio hörte er das Lied LA MER, gesungen von Charles Trenet. Und manchmal hörte er Lale Andersens Version, DAS MEER. Dieselbe Melodie, aber ein anderer Text, ein anderer Traum.

Das Meer!

Nichts lieb ich so wie dich,

endloses Meer.

Es kann so zärtlich sein

das Meer,

und so voll Kraft, voll Begehren.

Das Meer,

lockt es im Sommerblau dich zu sich her,

singt dir ein Liebeslied

das Meer.

Versuche nicht, dich zu wehren.

Schau her!

So weit das Auge reicht grüßt dich

das Meer.

Schau her!

Flüssigem Golde gleich fließt es daher.

Das Meer,

es singt sein Abendlied, bist du dann müd',

singt deine Welt in Schlaf

das Meer.

Es wacht allein in Ewigkeiten.

Aber wichtiger als Melodie und Text sind die Stimme, der Traum. Der französische Sänger und die deutsche Sängerin. Zwei unterschiedliche Träume. Vielleicht ist Lale Andersens Lied inniger und romantischer, aber wer will die Gefühle in Worte fassen? Charles Trenet hat seine Beobachtungen besungen, Lale Andersen eher ihre romantischen Träume.

Seit wann träumte er vom Mittelmeer? Er wusste es nicht.

Seine Eltern waren mit ihm und seinem Bruder ans Mittelmeer gefahren. Damals, als die Deutschen ihre ersten langen Autoreisen unternahmen. Heute fliegen sie überall hin, und finden am Ende doch nichts, weil sie schon alles im Fernsehen gesehen haben. Damals gab es noch ganz andere Welten. Frankreich war noch Frankreich. Das Meer war nicht überfischt und die Küsten nicht überbesiedelt.

Das Mittelmeer war und ist anders als die Nordsee. Der Gegensatz kann kaum größer sein. Er hatte eine große Herzmuschel. Selbst gefunden oder geschenkt? Später fand er im Süden eine Reihe von großen Herzmuscheln am blauen Meer. Er behielt sie, für immer. In der linken Brusttasche seiner Jacke trug er immer eine.

Die Muscheln der Nordsee taugten nicht viel. Die Herzmuscheln, die er fand, waren alle klein und leicht zerbrechlich. Die in seiner Brusttasche konnte man nicht zerbrechen. Er würde sie mit ins Grab nehmen. Bei ganz besonderen Ritualen hinterließ er eine seiner Herzmuscheln von denen, die er vor Jahrzehnten gesammelt hatte, für magische Rituale, und von denen er noch einige besaß.

Träume und Magie sind stärker als die Realität. Deshalb liebte er die Träume und die Magie.

Ostseestrand, nördlich von Ahrenshoop

1. Anfang und Ende

Wie die große Leere, so ist auch das Meer der Anfang und das Ende. Wir kommen aus der Leere, und eines Tages werden wir wieder in der Leere verschwinden.

Der unendliche Raum enthält alles, was existieren kann, egal auf welcher Ebene. Der unendliche Raum des Bewusstseins enthält von Anfang an alle Ideen, Konzepte, Ziele, Gedanken, einfach alles, was man jemals denken, fühlen, ahnen und meinen könnte.

Alles entsteht und verschwindet, gleichzeitig.

Das Entstehen und das Verschwinden sind nur zwei Seiten der Existenz, des Daseins, so wie Leere und Fülle. Das eine gibt es nie ohne das andere, so wie es Leben nie ohne den Tod geben kann.

Wenn man, wie ich, am Meer aufgewachsen ist, dann weiß man das bereits mit vier Jahren. Man beobachtet die Ebbe und die Flut, im ewigen Wechsel.

Die große Weisheit ist keine Weisheit.

Die große Weisheit ist einfach vorhanden, sie steht jedem offen.

Ebbe und Flut, das sind elementare Erfahrungen, die man am Meer machen kann und einfach macht.

Pyramide aus Holz, oben die fünf Farben der Dhyani-Buddhas

Kunst war für ihn Magie.

Die Gemälde von großen Meistern zeigten für ihn eine magische Welt der Landschaften, der Farben. Magische Schönheit, schöne Magie. Sowohl das eine als auch das andere. Die Schönheit mag äußerer Schein sein, für ihn war sie das nie. Die Magie ist die innere Kraft, die innere, verborgene Energie, die sichtbar gemacht wird durch die Kunst. So sah er es schon immer.

Am Anfang fand er die Impressionisten und die Expressionisten gut. Beide Richtungen zeigten ihm die Schönheit der Magie. Die magischen Gemälde von Monet oder die von Marc, Macke, Nolde. Der Franzose und die Deutschen. So unterschiedlich wie die Künstler und ihre Werke sein mögen, für ihn war es die Magie der Natur. Die Magie des Meeres.

Als er einmal an einem weiten Strand am Atlantik war, war er zutiefst erschrocken über das viele Plastik. Das ist Jahrzehnte her! Was für eine Entweihung der Magie des Meeres, was für ein Frevel an der Natur. Die böse Seite, die dunkle Seite der Menschenkultur.

Symbolisch reinigte er einen Teil des Strandes.

Aus Holzstämmen und Teerplatten und anderem Zeug schuf er archaische Kunstwerke. Spontan und ohne Plan. Magischer Zauber gegen den Wahnsinn des Menschen, gegen seine Kultur der Vermüllung der Welt.

Am Anfang des Sommers hatten sie wohl den Strand für die Touristen gesäubert. Aber die Welt war keine reine, nach der er sich jedoch sehnte. Er träumte von einem absolut reinen Strand.

Seine magischen Installationen am Atlantik waren ein Spiel gegen das Böse. Sie hatten keinen Bestand und sollten keinen haben. Nicht mal die paar Fotos, die sie von ihm gemacht hatte, waren wichtig.

2. Kunst am Meer

Die Holzpyramide ist ein Beispiel für elementare Kunst am Meer. Sie ist vergänglich, steht nur einen Sommer, oder nur einige Tage. Wind und Wasser, Sturm und Wellen werden sie wieder zerstören, und das ist auch gut so, denn es sollen hier keine Denkmäler errichtet werden.

Es gibt auch keine großen Ansprüche. Es soll keine individuelle Performance sein. Es ist Ausdruck von Kreativität, einfach so. Ein anderer kann weiterbauen – oder auch zerstören. Beides ist in Ordnung.

Am Ende muss der Strand wieder so aussehen, als würde es den Menschen gar nicht geben. Am Ende wird der Strand auch so aussehen. Das Verschwinden des Menschen ist kein Verlust. Auf der Erde hat er sich ohnehin als zu gewalttätig, zu aggressiv und zu gigantomanisch erwiesen. Sein Verschwinden wird eine Befreiung der Erde sein.

Feuersteine verbindet man mit der Steinzeit, der Urzeit unseres Daseins als Gattung. Werkzeuge wurden aus ihnen gemacht, die man heute im Museum betrachten kann. Viele tausend Jahre sind seitdem vergangen. Unendliche viele Kulturgüter haben wir seitdem produziert. Eigentlich sind es zu viele. Sie belasten uns. Was braucht nicht jeder alles für seinen Alltag! Tausend Dinge!

Ein paar Feuersteine am Strand.

Wir sind wieder ein Kind.

Wir sind wieder ein Urmensch, der einen einfachen Kreis legt.

Ist das nur ein Spiel?

Ja – aber auch mehr, viel mehr.

Feuersteine, zu einem Kreis gelegt, 5.6.2015

Am Meer gibt es unendlich viel Sand, unendlich viele Steine.

Diese unendliche Menge wird einem an solchem Ort erst richtig bewusst. Jedes Zählen wäre sinnlos. Jedes Sammeln eigentlich auch, obgleich man immer wieder beim Strandlaufen zum Suchen und Sammeln verführt wird. Das ist unser archaisches Erbe als Jäger und Sammler. Am Strand fallen wir in der Evolution zurück. Wir sind wieder das laufende Tier, das die Küste abläuft, auf der Suche nach etwas, das man gebrauchen könnte.

Wir finden vielleicht einen besonderen Stein, legen ihn auf einen größeren. Es hat eine Bedeutung, eine Botschaft. Aber es ist auch nur eine Geste, eine Art Zeichen der Dankbarkeit für das Hiersein, denn morgen sind wir schon wieder fort. Unser bewusstes Dasein und Leben ist nur ein kurzer Moment in der unendlichen Zeit, die keine Uhr erfassen kann.

Kleiner Stein auf großem Stein, 5.6.2015

Viele Gebetsstäbe habe ich im Laufe der Jahre am Meer hinterlassen.

Mit Federn, mit Stofffäden, mal im Sand, mal in den Dünen.

Eine spirituelle Geste für die Elemente des Meeres.

Vielleicht ist es nur ein Spiel, denn am Ende wird nichts davon bleiben. Das wäre auch ein falscher Anspruch. Es soll ja gar nichts bleiben. Es soll ja alles verschwinden. Der Sinn des Daseins besteht darin, dass es wieder verschwindet, so wie jeder Mensch wieder verschwindet. Denkmäler sind so lächerlich wie die Paläste der Herrscher seit Jahrtausenden. Die tibetischen Mönche mit ihren Mandalas oder die Navaho-Indianer mit ihren Sandmalereien haben es verstanden. Am Ende wird alles zusammengefegt und ins Wasser geworfen.

Darßer Weststrand, 6.6.2015

aufgestelltes Holz, 5.6.15

Am Strand findet man immer angeschwemmtes Holz. Manchmal ist es ein merkwürdig geformtes Stück. Dieses habe ich einfach aufgestellt. Es ist ein krummer Ur-Baum, der in den Himmel wächst. Ein natürliches Symbol zwischen der Steilküste bei Ahrenshoop und dem Meer, zwischen Findlingen und dem Wasser.

Der Wal (Buckelwal) ist ein Ur-Wesen des Meeres. Vielleicht müssen wir nur dem nachspüren und gar nicht nach vielen Erklärungen suchen. Dem UR nachspüren, uns in das UR versenken. Das Ur-Wesen, die Ur-Kraft, das Ur-Sprüngliche, die Ur-Sprache, der Ur-Klang, das Ur-Meer. Die Gesänge der Wale drücken das UR sehr intensiv aus. Bei dem Wal ist es vielleicht inspirierender, die Gesänge zu hören als sich Bilder anzusehen. Eine Pinselzeichnung, wie meine oben, ist auch etwas sehr Elementares, Einfaches, Ur-Sprüngliches.

3. Gemälde vom Meer

Eine Frau (Ausschnitt, ganzes Gemälde: 70x140cm) sitzt am Meer. Sie denkt, sie träumt, sie sinnt nach. Sie schaut zum hellen Horizont, aber hinter ihrem Rücken naht das Unwetter, der Sturm. Eine Möwe fliegt im Wind. Sie lebt mit den Elementen. Eine Lachmöwe steht auf dem Sand. Sie ist ein kleines Krafttier.

Fotos werden heutzutage endlos geknipst. Man schaut sie kurz an, legt sie fort, möchte das nächste, das nächste und wieder das nächste.

Gemälde sind wie eine angehaltene Zeit. „Halte auch Du die Zeit an!“ Das ist ihre Botschaft für den Betrachter. Bleibe stehen, setze Dich hin! Bleibe sitzen und schaue auf das Bild, lange, als würdest Du selbst auf dem Stein am Meer sitzen und die Wellen betrachten und die Atmosphäre einatmen.

Wenn man gleich weiter will, dann ist man nervös. Dann erfasst und versteht man nichts. Das Herz öffnet sich langsam, wie die Blüte einer Blume. Man muss ihr Zeit geben. Wer keine Zeit hat, soll in der Stadt bleiben. Das Meer hat viel Zeit. Sehr viel Zeit. Wenn Du sitzen bleibst und nichts mehr willst, hast Du sofort die Ewigkeit. Mehr brauchst Du nicht.

Das Meer ist die Ewigkeit!

Dieses Gemälde (89x100cm) ist von Patrick von Kalckreuth, das ich 2014 bei einem Antiquitätenhändler erworben habe. Es zeigt eine naturalistische Szene am Meer. Die untergehende Sonne reflektiert auf den heranrollenden Wellen, auf dem Wasser im Uferbereich. Das Gemälde wurde 1951 gemalt. Schon damals war die Zeit der naturalistischen Malerei längst vorbei, heute mehr denn je. Aber warum eigentlich? Und wer bestimmt das, und warum? Welches Interesse will bestimmte Arten von Malerei auf eine Zeit festlegen? Und warum sollen die nachfolgenden Generationen nicht auch so malen „dürfen“? Ich denke, dass man so malen kann und sollte, wie man es für richtig hält.

Meeresbrandung, Patrick von Kalckreuth, 1951

4. Wilhelmshaven und das Meer

Aufgewachsen bin ich in Wilhelmshaven. Geboren allerdings in Jever, neben dem Schloss, und meine ersten Jahre habe ich in Heidmühle verbracht. 1956 zogen meine Eltern nach Wilhelmshaven, der Stadt am Jadebusen.

Die Stadt hat ein gestörtes Verhältnis zum Meer. Sie liegt am Meer, aber irgendwie auch wieder nicht. Freie Zugänge zum Meer gibt es nur bedingt. Früher gab es den Geniusstrand, der frei zugänglich war, aber der wurde zerstört. Früher gab es am Südstrand eine kleine Sandbucht, aber die wurde auch zerstört. Heute gibt es nur einen Strand in Hooksiel, der aber weit außerhalb von Wilhelmshaven liegt. Und dort muss man Eintritt zahlen. Es gibt Bestrebungen, das zu ändern. Es wäre sicher wünschenswert, wenn man einfach das Meer erreichen könnte, ohne Eintritt zahlen zu müssen. Was ist das für ein Verständnis von Natur?

Die Atmosphäre des Meeres kann man überall in der Stadt spüren, riechen und hören. Man hört die Schreie der Möwen, selbst in der zentralen Einkaufszone. Man riecht die salzige Luft. Das Klima ist natürlich nicht so anregend wie auf den Nordseeinseln, aber doch ganz anders als im Binnenland. Wer den Unterschied kennt, weiß, wovon ich spreche.

Es gibt alle möglichen Hafenanlagen. Im Vergleich mit Bremen oder Hamburg ist das nicht viel. So hat die Stadt gegenüber großen, wichtigen Häfen auch immer eine Art von Minderwertigkeitskomplex gehabt. Daran wird sich, aus meiner Sicht, nichts ändern. Der große Jade-Weser-Port ist bisher nur ein Versuch. Die Stadt hat keine lange, historische Tradition wie z.B. Hamburg. Auch als Kriegshafen war die Stadt immer weniger bedeutend als Kiel.

Nach dem Krieg war alles zerbombt. Ich bin in einem neuen Haus neben einem riesigen Trümmerfeld aufgewachsen. Ich hatte gefragt, warum alles kaputt sei. Das war der Krieg, sagte man mir. Aber warum ist alles kaputt, wollte ich wissen. Das ist so, im Krieg. Im Krieg ist das so. Die Engländer haben alles zerbombt. Wer sind die Engländer? Eine andere Nation jenseits des Meeres.

Wir Kinder spielten in Trümmern und Bunkern. Das war ganz normal für uns. Ab und an hielt ein Kriegsschiff in der Nähe an einem der Kais. Wir konnten es besuchen. Alles war eng, muffig, roch nach Öl, Teer und Schweiß. Für uns war es ein großes Schiff. Ein Kreuzer aus England. Wir hatten den Krieg, den Kampf und den Tod nicht kennengelernt. Kriegsschiffe waren aufregend. Man konnte kleine Kriegsschiffe aus Plastik basteln, mit ihnen spielen und sie versenken. Schiffe versenken, ein magisches Spiel der Kindheit.

Wenn ich ins dunkle, braune Kanalwasser schaute, dann stellte ich mir vor, wie man absoff. Eine aufregende Sache! Den Ernst und das Grauen habe ich erst später verstanden – oder besser: geahnt, als ich auf die Namen der toten Seeleute in der Christuskirche schaute. Ja, die sind alle untergegangen mit ihren Schiffen und gestorben. Ersoffen im Meer. Sie sind alle erbärmlich ersoffen, all die jungen Männer!

Am schlimmsten waren die Vorstellungen, in einem U-Boot zu ersaufen. Aber es war aufregend, ein U-Boot zu besichtigen. Das da, das sind die Torpedos! Damit werden die feindlichen Schiffe versenkt. Ich hätte gerne viele feindliche Schiffe versenkt.

Und ein schönes Meer, ein wildes, magisches Meer, gab es das?

Nein, das gibt es auf Wangerooge, auf Spiekeroog und den anderen Nordseeinseln. Dort gibt es die schöne Natur, den endlosen Sandstrand und die Dünen. In Wilhelmshaven gibt es Hafenanlagen, ein ganzes Arsenal davon. Ob fürs Militär oder für die zivile Schifffahrt.

Ich träumte von einem anderen Meer.

Von der Südsee.

Dort muss es wunderschön sein. Das Paradies. Ich wusste noch nicht, dass man dort die Atombomben getestet hatte. Neue Superbomben für einen neuen Krieg. Als ich das erfuhr, habe ich die Menschen zu hassen begonnen. Ich hasse sie immer noch! Wer das Paradies der Natur zerstört, den kann man nur hassen. Ich hasse sie von ganzem Herzen.

Wilhelmshaven könnte eine schöne Stadt sein, wenn sie ein liebendes Verhältnis zum Meer (gehabt) hätte. Aber das hat sie nicht. Was will sie, diese Stadt? Ich weiß es nicht. Jedenfalls hat sie die Verbindung zum Meer zugebaut und abgesperrt. Sie hat ein gestörtes Verhältnis zur Natur, zur Natur des Meeres.

Den schönen Geniusstrand haben sie zerstört. Und ich bin bestimmt nicht der einzige Sentimentale, der das bedauert. Und wofür das alles? Für nichts. Für das Phantom ökonomischer Prosperität.

Die Stadt wurde mal von einem Kaiser als Kriegshafen gegründet. Ein Kaiser, der auch eine Seemacht haben wollte. Schlachtschiffe. Kreuzer. Minensuchboote. Alles, was man so für einen anständigen Seekrieg braucht.

Aber alle Schiffe sind untergegangen. Oder wurden selbst versenkt. Und das nicht erst im Zweiten Weltkrieg. Nein, der ganze Wahnsinn fand schon im Ersten Weltkrieg statt.

Wer Lust auf Kriegsschiffe hat, der kann sich ja bei youtube umschauen.

https://www.youtube.com/watch?v=cBJWIzoasns

Da der Mensch den Krieg als Beschäftigungspiel noch nicht überwunden hat, wird das Spiel weitergehen. Heute haben wir keinen wahnsinnigen Kaiser, sondern eine vernünftige Kanzlerin, wobei man sich natürlich fragen kann, wer alles wahnsinnig war und ist, oder wer wirklich vernünftig ist.

Ein vernünftiges Verhältnis zum Meer würde für mich bedeuten, dass man es nicht als Kriegsschauplatz missbraucht. Oder als gigantische Müllkippe, für Atommüll, Granaten, Plastik und was weiß ich nicht alles. Oder nur als Verkehrsweg sieht, auf dem man Mega-Schiffe mit Tausenden von Containern um die Erde jagen kann, für die Profite der Superreichen.

Was ist das, der Wahnsinn?, könnte der Philosoph Heidegger fragen.

Was ist das, die Vernunft?

Ich denke, dass wir uns das viel mehr als bisher fragen müssen, jetzt, wo wir am Abgrund, am Ende einer overcivilized world