Naturverehrung - Wolf E. Matzker - E-Book

Naturverehrung E-Book

Wolf E. Matzker

4,8

Beschreibung

Bei Goethe und anderen deutschen Dichtern gibt es keine richtige Naturreligion, aber es gibt Ansätze dazu. Das vorliegende Buch untersucht die naturspirituellen Aspekte bei Goethe, Hölderlin, Eichendorff, Rilke und einigen anderen Dichtern. "Wie sehn ich mich, Natur, nach dir, dich treu und lieb zu fühlen! Ein lust'ger Springbrunn wirst du mir aus tausend Röhren spielen. Wirst alle meine Kräfte mir in meinem Sinn erheitern, und dieses enge Dasein hier zur Ewigkeit erweitern." Künstlers Abendlied, Goethe

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Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

Naturverehrung in Goethes Lyrik

Naturverehrung in Hölderlins Lyrik

Naturverehrung in Eichendorffs Lyrik

Naturverehrung in Rilkes Lyrik

Naturverehrung bei verschiedenen Dichtern

Naturverehrung und Naturreligion

War Goethe ein Vertreter des „Hexenkults“?

1. Vorwort

Zur Zeit von Johann Wolfgang von Goethe gab es keine Naturreligion. Das wurde als „heidnisch“ abgelehnt, und auch Goethe wurde als „Heide“, mehr oder weniger, abgelehnt.

„Ach, die schöne Natur!“

„Der wunderbare Frühling!“

Das sagt jeder, das ist trivial. Damals und auch heute. Das ist nur Gefühl. Wer Lyrik nur als Gefühl, nur als subjektive Stimmung versteht, der versteht sie nicht. Lyrik wollte – und will – damals wie heute – immer mehr sein. Bei Goethe, bei Hölderlin, bei Eichendorff und vielen anderen.

Um 1800 hatte man praktisch kein Wissen von Naturreligionen. Viel besser ist es heute im Allgemeinen nicht. Viel zu viele Menschen haben auch immer noch den Schematismus: christlich – heidnisch im Kopf. Das eine ist gut, das andere ist „böse“ oder falsch. Und immer noch wird das an den Schulen gelehrt. Das eine ist rational, ist vernünftig, das andere soll irrational und gefährlich sein.

Heute gibt es viele Formen der Naturverehrung. Vieles ist rein privat. Man weiß nicht, was die Menschen davon leben, wie sie es leben, ob sie beten, singen, im Wald meditieren oder auf einem Berg ein Ritual machen. Oft haben Menschen Bedenken, darüber zu sprechen, weil sie die höhnischen Ablehnungsreaktionen fürchten oder das christliche Verdikt des „Heidentums“. Jeder, der Wicca, Schamanismus oder was auch immer lebt und praktiziert, kennt das.

Goethe, Schiller, Hölderlin und viele andere haben sich an der griechischen Mythologie orientiert. Schöne Geschichten von menschlichen Göttern, von Musen und Nymphen. Im Gewand der antiken Mythologie konnte man manches sagen. Dem Bildungsbürgertum gefiel das, denn da konnte man zeigen, dass man doch gebildet ist. Aber richtig daran glauben? Nein, das denn doch bitte nicht.

Ein offenes Bekenntnis zum Heidentum war damals nicht möglich. Und heute? In vielen Fällen auch nicht.

Mir geht es darum, anhand von Gedichten die Naturreligion der Autoren aufzuspüren, oder sagen wir besser: die Ansätze. Weil Religion zu sehr als dogmatisches System begriffen wird, spreche ich einfach nur von Naturverehrung. Das lässt dem Individuellen auch mehr Spielraum.

2. Naturverehrung in Goethes Lyrik

Mailied

Wie herrlich leuchtet

Mir die Natur!

Wie glänzt die Sonne!

Wie lacht die Flur!

Es dringen Blüten

Aus jedem Zweig

Und tausend Stimmen

Aus dem Gesträuch

Und Freud' und Wonne

Aus jeder Brust.

O Erd', o Sonne!

O Glück, o Lust!

O Lieb', o Liebe!

So golden schön,

Wie Morgenwolken

Auf jenen Höhn!

Du segnest herrlich

Das frische Feld,

Im Blütendampfe

Die volle Welt.

O Mädchen, Mädchen,

Wie lieb' ich dich!

Wie blickt dein Auge!

Wie liebst du mich!

So liebt die Lerche

Gesang und Luft,

Und Morgenblumen

Den Himmelsduft,

Wie ich dich liebe

Mit warmem Blut,

Die du mir Jugend

Und Freud' und Mut

Zu neuen Liedern

Und Tänzen gibst.

Sei ewig glücklich,

Wie du mich liebst!

Dieses Gedicht kann man als eine Hymne an die Göttin des Frühlings verstehen. Beim Aspekt der jungen Göttin geht es um den Neubeginn, um die Lebens- und Daseinsfreude. Das will gefeiert werden! Das will Begeisterung wecken!

Begeisterung, Euphorie. Es geht hier um diesen Geisteszustand. Da viele Religion zu sehr mit Schuldbewusstsein, Nachdenklichkeit, Denken an den Tod, Melancholie, Trauer, Unterwerfung, Gesetzen, Dogmen etc. in Verbindung bringen, tun sie sich vermutlich sehr schwer, Euphorie überhaupt als „religiös“ zu sehen. Man schiebt sie gerne in die Ecke der Gefühle. Dabei möchte das Individuum ja gerade über die bloßen Gefühle hinaus.

Sicher, auch im Christentum heißt es so schön: „Freuet euch!“. Aber wer freut sich da schon? Und die Orgelmusik ist nun alles andere als erfreulich für heutige Ohren! Man geht lieber ins Konzert als in die Kirche.

Draußen in der schönen Natur des Frühlings ist es leicht sich zu freuen, über das Dasein, die Schönheit, die Liebe. Alles erfüllt und erweitert das Individuum, das Herz.

An den Mond

Füllest wieder Busch und Tal

Still mit Nebelglanz,

Lösest endlich auch einmal

Meine Seele ganz;

Breitest über mein Gefild

Lindernd deinen Blick,

Wie des Freundes Auge mild

Über mein Geschick.

Jeden Nachklang fühlt mein Herz

Froh- und trüber Zeit,

Wandle zwischen Freud' und Schmerz

In der Einsamkeit.

Fließe, fließe, lieber Fluß!

Nimmer werd' ich froh;

So verrauschte Scherz und Kuß

Und die Treue so.

Ich besaß es doch einmal,

was so köstlich ist!

Daß man doch zu seiner Qual

Nimmer es vergißt!

Rausche, Fluß, das Tal entlang,

Ohne Rast und Ruh,

Rausche, flüstre meinem Sang

Melodien zu!

Wenn du in der Winternacht

Wütend überschwillst

Oder um die Frühlingspracht

Junger Knospen quillst.

Selig, wer sich vor der Welt

Ohne Haß verschließt,

Einen Freund am Busen hält

Und mit dem genießt,

Was, von Menschen nicht gewußt

Oder nicht bedacht,

Durch das Labyrinth der Brust

Wandelt in der Nacht.

Man kann sich heutzutage kaum noch vorstellen, dass sich jemand dem Mond widmet, dass ein Dichter den Mond besingt. Wer sieht auch noch den Mond? Alles ist zu hell, zu grell geworden, zu laut und zu hektisch. Man sieht andere Lichter als den Mond.

Die Verbindung zwischen dem Mond und der Seele, wer sieht sie, wer spürt sie?

Das Licht des Mondes ist sanfter und zarter, es kann etwas in der Seele lösen und erlösen. Emotionales und seelisches Leid kennt jeder Mensch, aber es sucht wohl kaum einer Trost beim Mond, eher macht er den Fernseher an.

Goethe kommuniziert hier mit dem Mond. Der Mond ist sein Gesprächspartner und sein Seelentröster. Das ist typisch für sensible Menschen.

Nicht zu vergessen ist auch die Tageszeit: Nacht. Man muss es sich innerlich vorstellen: nachts im Mondlicht am Fluss entlang laufen, an der Ilm in Weimar, allein, man spricht mit der Natur und die Natur spricht zu einem.

Gefunden

Ich ging im Walde

So vor mich hin,

Und nichts zu suchen,

Das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich

Ein Blümlein stehn,

Wie Sterne blinkend,

Wie Äuglein schön.

Ich wollt es brechen,

Da sagt' es fein:

Soll ich zum Welken

Gebrochen sein?

Mit allen Wurzeln

Hob ich es aus,

Und trugs zum Garten

Am hübschen Haus.

Ich pflanzt es wieder

Am kühlen Ort;

Nun zweigt und blüht es

Mir immer fort.

Ein einfaches Gedicht. Eine einfache Situation. Jemand macht einen meditativen Spaziergang im Walde, er befindet sich in einer Art Märchenwelt. Nichts treibt ihn, nichts zwingt ihn, nichts muss er unbedingt haben oder erreichen.

Da entdeckt er eine kleine Blume, die ihn bezaubert. Wir erfahren nicht den Namen der Blume (Buschwindröschen?), aber sie muss zart sein. Die Blüten sind wie kleine Sterne und er sieht in ihnen sogar Augen, genauer „Äuglein“ - bei Goethe ein erotischer Ausdruck.

Nur kurz wird er von dem Impuls erfüllt, die Blume abzubrechen. Der typische Zwang, etwas besitzen zu wollen.

Wie im Märchen spricht aber die Blume und erinnert ihn an das Falsche seines Impulses, denn wenn man Blumen nur abbricht, dann verwelken sie meist relativ schnell.

Er hat dann eine andere Idee. Er gräbt die Blume aus und nimmt sie mit zu seinem Haus. Vermutlich handelt es sich um Goethes Gartenhaus. Dort pflanzt er die Blume dann ein und kann sich am ihrem weiteren Gedeihen erfreuen. Einerseits hat er so am Ende doch seinen Besitzwunsch befriedigt, aber er hat der Natur ihren Raum gelassen, und der Blume offensichtlich auch den richtigen Platz (kühlen Ort) gegeben.

Was ist hier nun bemerkenswert?

Die Blume spricht zum lyrischen Ich, oder sagen wir ruhig zu Goethe, und er handelt entsprechend. Er hört auf die Stimme der Natur, hier stellvertretend die zarte Blume.

Wer das Gedicht biografisch und beziehungsmäßig deutet, der wird vielleicht das Verhältnis zur Natur nicht mehr so sehen, sondern allein die zwischenmenschliche Dimension. Es geht aber, in meinen Augen, um die Beziehung von Mensch und schöner, zarter Natur.

Zum Vergleich ein Haiku von Basho:

Wenn ich aufmerksam schaue,

dann seh' ich die Nazuna

an der Hecke blühen.

Vermächtnis

Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen!

Das Ew'ge regt sich fort in allen,

Am Sein erhalte dich beglückt!

Das Sein ist ewig: denn Gesetze

Bewahren die lebend'gen Schätze,

Aus welchen sich das All geschmückt.

Das Wahre war schon längst gefunden,

Hat edle Geisterschaft verbunden;

Das alte Wahre, faß' es an!

Verdank' es, Erdensohn, dem Weisen,

Der ihr, die Sonne zu umkreisen,

Und dem Geschwister wies die Bahn.

Sofort nun wende dich nach innen,

Das Zentrum findest du dadrinnen,

Woran kein Edler zweifeln mag.

Wirst keine Regel da vermissen:

Denn das selbständige Gewissen

Ist Sonne deinem Sittentag.

Den Sinnen hast du dann zu trauen,

Kein Falsches lassen sie dich schauen,

Wenn dein Verstand dich wach erhält.

Mit frischem Blick bemerke freudig,

Und wandle sicher wie geschmeidig

Durch Auen reichbegabter Welt.

Genieße mäßig Füll und Segen,

Vernunft sei überall zugegen,

Wo Leben sich des Lebens freut.

Dann ist Vergangenheit beständig,

Das Künftige voraus lebendig,

Der Augenblick ist Ewigkeit.

Und war es endlich dir gelungen,

Und bist du vom Gefühl durchdrungen:

Was fruchtbar ist, allein ist wahr;

Du prüfst das allgemeine Walten,

Es wird nach seiner Weise schalten,

Geselle dich zur kleinsten Schar.

Und wie von alters her im stillen

Ein Liebewerk nach eignem Willen

Der Philosoph, der Dichter schuf,

So wirst du schönste Gunst erzielen:

Denn edlen Seelen vorzufühlen

Ist wünschenswertester Beruf.

Am Anfang und im ganzen Gedicht fällt die durchweg positive Lebenshaltung auf. Das Sein wird als gut und positiv verstanden, es ist immer kreativ, schöpferisch, wandelbar.

Kein Wesen kann völlig verschwinden. Es ist eingebunden in den Kreislauf des Lebens. Was dem Menschen als Verfall und Zerstörung erscheint, ist nur Wandel der Form.

Die christliche Vorstellung geht eher von einer vom Sein abgetrennten Identität aus. Zwischen dem Menschen und der Natur gibt es eine Trennungslinie. Goethe würde also nicht sagen, dass er an die Auferstehung glaube, sondern an den Wandel.

Zur Wahrheit gehören nicht nur mentale Erkenntnisse, sondern auch die tiefe Verbundenheit mit der Erde, den uralten, elementaren Kräften. Das gilt es umfassend zu verstehen.

Das Reich des Geistes ist die eine Seite. Die kosmischen Gesetze sind die andere.

Die innere Welt ist von Echtheit, Ehrlichkeit und Authentizität geprägt. Selbstständig und echt, so wollte Goethe leben, und so hat er auch, bei allen Widersprüchen, gelebt. Die innere Stimme und Autorität des eigenen Wesens, das war sein Maßstab. Das ist der Maßstab für gelingendes Leben.

Gewissen bezieht sich auf das eigene Ich, nicht auf mehr oder weniger aufgezwungen Gebote, denn die sind am Ende eher äußerlich. Die innere Wahrheit ist höher anzusetzen. Die Selbständigkeit, die Autonomie des Künstlers ist ein zentraler Wert.

Die Welt der Sinne war und ist wichtig. Mit klarem Geist kann einen nichts vom Weg abbringen. Ausgrenzung oder Abgrenzung von der Welt der Sinne und der Sinnlichkeit waren Goethe fremd, lehnte er ab. Die Schönheit der Welt will erfahren und genossen werden.

Die traditionellen Religionen basieren zu einem großen Teil auf dem Dogma der Abwertung des Sinnlichen. Goethe hingegen stellt es mehr ins Zentrum seiner Weltanschauung. Die Sinne zu gebrauchen und zu erleben ist sinn-voll.

Aber immer muss das Maß eingehalten werden. Extreme Haltungen sind schädlich, zerstören das Leben und die Harmonie. Nur so gelingt ein richtiges Verhältnis zur Vergangenheit, zur Gegenwart und zur Zukunft.