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Das Buch besteht aus zwei Teilen, einem analytischen und einem dichterischen. Im ersten Teil geht es um einige bedeutsame Dichter, Denker und Maler der Deutschen und ihrem Verhältnis zu ihrem Land. Dabei konzentriert sich der Autor auf geistig-spirituelle Aspekte der deutschen Seele. Ein Sonderkapitel behandelt den deutschen Buddhismus- und Tibetforscher Lama Anagarika Govinda (1898-1985). Der Autor sieht in ihm einen deutschen Buddha. Der zweite Teil handelt von Wanderungen, auf denen sich ein Ich-Erzähler psychologische, existenzialistische und spirituelle Gedanken über das Deutsche macht. Dabei befindet er sich auf dem Weg zu einer neuen, erdverbundenen Kultur und Spiritualität.
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Seitenzahl: 194
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Teil 1
Vorwort
Albrecht Dürer, Maler und Mystiker
Goethe – der „deutsche“ Universalist
Schiller, Genie des freien Geistes
Hölderlin und sein Traum vom Vaterland
Novalis – ein universeller Träumer
Gebrüder Grimms Märchenwelt
Eichendorff und das Zauberland
Heinrich Heine und das gespaltene Verhältnis zu Deutschland
Theodor Storm, die norddeutsche Schwermut
Nietzsche und der Übermensch
Hermann Hesse, der Geistesmensch
Agnes Miegel – „Mutter Ostpreußen“
Ernst Wiechert, Opfer der Nazis
Georg Trakl und die melancholische Seele
Martin Heidegger und das Wesentliche
Siegfried Lenz, Deutschstunde und die Pflicht
Lama Anagarika Govinda,
ein deutscher Buddha?
Die Realisation und Vollendung des romanischen Traums.
Teil 2
Wanderungen – auf der Suche nach der deutschen Seele
Vor mehr als 40 oder 50 Jahren hat mich die Frage nach dem Deutschen oder genauer der deutschen Seele nicht beschäftigt. Meine Generation hat sich eher an Amerika, den Beatles etc. orientiert. Später dann Erkenntnisse und Inspirationen in fernen Kulturen gesucht, bei den indianischen Völkern oder in Tibet, in China oder in Japan, und natürlich in Indien.
Heute haben wir eine andere historische Situation. Seit es in unserem Land immer mehr Migranten bzw. Menschen mit Migrationshintergrund gibt, stellt sich die Frage ganz neu, ganz anders. Nämlich so:
Gibt es ein deutsches Wesen?
Gibt es eine deutsche Seele?
Was ist der Wesenskern der deutschen Sprache, der deutschen Denker wie Böhme, Kant und Hegel und vielen anderen?
Was ist das Wesen deutscher Mystik und Theologie?
Was ist das Wesen deutscher Dichtkunst?
Was sollen wir bewahren?
Was sollten wir aufgreifen und weiterentwickeln?
Deutsch – was ist das?
Das Adjektiv „deutsch“ bezieht sich zunächst einmal auf die Sprache. Wir nennen unsere Sprache so. Darüber müssen wir nicht diskutieren.
Was jedoch andere Bereiche betrifft, können wir es nicht eindeutig sagen. Was macht die „deutsche“ Mentalität aus? Gibt es diese noch? Worin besteht sie heute?
Disziplin, Ordnungsliebe, Klarheit, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und vieles mehr scheint mir eher eine Sache der Vergangenheit zu sein.
„Deutsche“ Spiritualität – gibt es diese, und wenn ja, was macht sie aus?
Tatsache ist, wir tun uns als „Deutsche“ mit der Frage sehr schwer.
„Ein Volk, ein Reich, ein Führer“
Jeder kennt diese Formel. Sie wird in Deutschland heute allgemein als faschistisch abgelehnt. Es geht mir hier nicht um die NS-Zeit, sondern um das Grundprinzip.
Beim Volk Gottes, beim Volk Israel wird das Prinzip nicht in Frage gestellt. Mose, der große Führer, hatte sein Volk aus Ägypten in ein neues gelobtes Land geführt, wo allerdings schon Menschen mit einer anderen Religion lebten, die man dann, was ja ganz natürlich war, vertreiben musste. Seine Gebote werden immer noch hochgehalten, obgleich er außer den zehn Geboten fürchterliche Gesetze erlassen hatte. Man sieht in ihm den „Gottesführer“, obgleich er die Andersdenkenden gleich hat umbringen lassen. Später kam dann König David, ein Machtkönig, Jahrhunderte später sein angeblicher „Sohn“, Jesus, den sie heute als „Herrn“ bezeichnen. Das Prinzip hat sich bis heute erhalten.
Die Andersdenkenden wurden im Laufe der Geschichte nicht nur ausgegrenzt, sondern auf vielfältige Weise ermordet. Meine Generation, also die um 1950, war auf der Seite der Andersdenkenden (die ganze Subkultur) und damit gegen alle Faschisten, egal welcher Richtung.
Christen und Moslems denken das auch. Immer noch. Wenn alle eine Religion haben und alle dem gleichen Führer, Jesus oder Mohammed, nachfolgen, dann wird alles gut.
An der Oberfläche ist man heutzutage multikulturell, aber ist man es auch in einer tieferen Schicht? Heilige Orte, heilige Bäume haben nur für wenige Bedeutung. Die meisten schütteln eher den Kopf oder halten einen für „verrückt“. Will man sich völlig von dem genannten Prinzip befreien und es durch ein neues Paradigma ersetzen?
Seele – psychisch oder spirituell?
Ist die Seele mehr ein psychisches oder mehr ein spirituelles Phänomen, oder beides? Für mich ist die Seele eher ein spirituelles Phänomen. Vom „Wunder der Seele“ lautet eine Textsammlung von Meister Eckhart. Es hat vielleicht keiner so tiefgründig über die Seele geschrieben wie er und auch andere deutsche Mystiker.
Aus meiner Sicht ist die deutsche Mystik das Beste, was im deutschen Sprachraum auf Grundlage des Christentums entwickelt worden ist und weit über die Bibel, auf die sich die Amtskirchen im Wesentlichen berufen, hinausgeht. Man sollte das eigentlich viel mehr würdigen und wertschätzen. Von Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Heinrich Seuse, Jacob Böhme bis in die Gegenwart könnte man sehr viele Autoren behandeln.
Sprache und Klang
Jede Sprache hat ihren Klang. Viele würden heute das Wort „sound“ verwenden. Ich ziehe jedoch ein deutsches Wort vor. Damit bin ich vielleicht bei einigen Leuten bereits ausgegrenzt oder sogar in eine Ecke gestellt.
Warum, so frage ich mich schon seit vielen Jahren, übernehmen die Deutschen so bereitwillig Wörter aus anderen Kulturen, vor allem aus der amerikanischen Kultur? Übrigens ist das britische Englisch ein anderes als das amerikanische. Der Klang ist ein ganz anderer. Man hört das sofort. Man erkennt ebenfalls sofort den französischen oder den italienischen Klang, auch wenn man dafür keinen Begriff haben sollte. Muss man auch nicht. Klänge lassen sich nicht so einfach verbalisieren, in eine begriffliche Schublade packen. Man muss die Klänge spüren.
Wer einmal längere Zeit eine andere Sprache gesprochen oder gehört hat, und dann wieder seine Muttersprache hört, also die Sprache seiner Mutter (den Aspekt der Mutter sollte man sich einmal ganz bewusst machen), der spürt sofort einen vertrauten Klang. Einen vertrauten Klang und einen heimatlichen Klang.
Eine Gegend hat ebenfalls einen spezifischen Klang, so wie sie ein spezifisches Bioklima hat. Sensible Menschen spüren das. Der Klang meiner „Heimat“ an der Nordsee ist ein anderer als der hier in Uehrde oder im Harz. Ich wohne hier nur, es ist nicht meine Heimat geworden. Ich wohne hier seit 26 Jahren, aber es ist nicht meine Heimat.
Der Satz, dass die Heimat dort sei, wo die Freunde seien, ist dumm und oberflächlich. Heimat ist dort, wo man herkommt, wo die Mutter lebte, wo man die Muttersprache gehört und gelernt hat. Der ursprüngliche Klang ist der wichtigste und stärkste.
Man kann sich wie ich ein halbes Leben mit dem Englischen befassen, wird aber nie ein „native speaker“ werden. Man kann wie ich jahrelang tibetische Texte in den Pujas singen, wird aber nicht den eigentlichen Klang des Tibetischen leben können.
Christen singen „Halleluja“ und „Zebaoth“, beides jüdische Begriffe, oder sie singen „kyrie eleison“, das ist Griechisch, oder sie singen „Tatum ergo sacramentum veneremur cernui ...“, das ist Latein, oder sie singen „bless the Lord, my soul, and bless his holy name!“. Das schöne Lied „Geh aus mein Herz und suche Freud“, von Paul Gerhard ist Deutsch und entspricht unserem Wesen.
Was geschieht mit der Seele, wenn sie Lieder aus ganz verschiedenen Kulturen singt?
Vielleicht zeigt sich der Klang des Deutschen besonders in den Gedichten und Liedern. Dem Klang des Deutschen sind die einzelnen Dichter – und auch Denker – unterschiedlich gerecht geworden. Das ist schwer zu erfassen und schwer zu beschreiben.
Ist die Seele des Deutschen krank?
Schon seit mehr als zehn Jahren beschäftigt mich die Frage, ob die deutsche Seele, die Seele des deutschen Volkes krank ist (Zerrissenheit, Selbsthass, Minderwertigkeitskomplex, Helfersyndrom, Größenwahnsinn etc.), nicht erst seit 2015, dem Jahr der Masseninvasion.
Die Frage nach der deutschen Identität hat sich sporadisch sogar schon während meiner Zeit als Lehrer gestellt, in den achtziger Jahren, in den neunziger Jahren und danach.
Die Frage stellt sich immer, wenn man mit anderen Kulturen konfrontiert wird, sei es nun gewollt oder ungewollt. Viele Jahre habe ich mich geistig und spirituell mit Tibet beschäftigt. Da stellt sich die Frage ganz automatisch. Westliches Denken, östliches Denken – das war einmal ein großes Thema. Manche haben versucht, eine Brücke, eine Synthese zu bauen.
Andererseits habe ich oft erlebt, dass man östliches Denken, also China, Japan, Indien, pauschal abgelehnt hat, ohne es zu kennen. Ebenso das indianische Denken, mit dem ich mich ebenfalls sehr viel befasst habe.
Gegenwärtig wird aus meiner Sicht zu wenig über die unterschiedlichen Kulturen des vorderen Orients und Europa gesprochen, vor allem zu wenig wirklich offen und ehrlich. Differenzen und Unvereinbarkeiten sollten klar genannt werden. Und die eigene deutsche Identität, wie steht es damit? Kennt man die überhaupt? Kann man sie klar und präzise beschreiben?
Man will lieber offene Auseinandersetzungen mit Begriffen wie „multikulturell“ oder „weltoffen“ a priori abwürgen. Vermutlich deshalb, weil man Angst hat. Fragt sich nur, wovor man Angst hat.
Was hatten die Leute einmal eine Heiden-Angst vor der „Meditation“. Damals, vor über 30 Jahren, dachten sie, durch Meditation würde die Jugend verführt werden, die Leistungsgesellschaft würde untergehen. Absurd!
Und heute?
Wovor haben die Menschen Angst? Ist sie real, z.B. die Angst vor islamistischem Terror? Sieht man die Gefahr einer islamisch geprägten Mehrheit der Bevölkerung, oder macht man lieber die Augen zu und schläft weiter?
Wie auch immer, man ist seelisch gestört, wenn man die Realitäten nicht sehen will, sie verharmlost oder verdrängt.
Deutschland am Ende?
Hat Deutschland noch eine Zukunft? Hat das deutsche Volk, eine „deutsche Identität“ noch eine Zukunft? Ist dieses Land nicht längst ein mitteleuropäisches Buntland geworden?
Der Diskurs über diese Frage ist gegenwärtig (2020) vergiftet und unerfreulich geworden. Es macht keinen Spaß daran teilzunehmen.
Vielleicht ist es tatsächlich nur noch eine Sache der Vergangenheit? Heutige Dichter und Denker haben andere Themen. Sie schreiben vielleicht noch in der deutschen Sprache, auch wenn sie aus Serbien, Rumänien, Syrien, Griechenland, der Türkei oder einem anderen Land kommen, mit dessen Seele sie sich vielleicht im Inneren mehr verbunden fühlen als mit diesem Land, das offiziell noch „Deutschland“ heißt.
Deutsche Seele – freier Genius
Nachdem ich lange über das Kranke der deutschen Seele nachgeforscht und nachgedacht habe, bin ich über das Studium von Schiller, dem großen deutschen Dichter der Klassik, neben Goethe natürlich, zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht doch eher der freie Genius ist, der das Wesen der deutsche Seele ausmacht. Auf jeden Fall klingt „Genius“ positiver als „kranke Seele“.
Es ist ja klar, dass vieles an der deutschen Seele bzw. dem deutschen Wesen krank ist. Richten wir jedoch den Fokus zu sehr darauf, dann entgeht uns das Starke und Positive. Notgedrungen gibt es die Krankheiten. Keiner ist dagegen absolut gefeit.
Genie – das war einmal ein wichtige Kategorie für deutsche Dichter. Sie wollten ein Genie sein. Was ist damit gemeint?
Sie wollten kreativ sein, schöpferisch, eigenständig, autonom, selbstbestimmt, Neues schaffen, Ungewöhnliches, absolut Neuartiges, Innovatives. Dafür wollten sie von einem höheren Geist (=Genius) inspiriert werden, oder anders gesagt: von den Musen (=den Göttinnen der Poesie) geküsst werden.
Die Freiheit steht im Gegensatz zur Unterdrückung. Im politischen Bereich spricht man auch heute gerne immer noch von der Freiheit, wobei für die Anhänger des Neoliberalismus vor allem ihre egoistische, ökonomische Freiheit gemeint ist, die die Schattenseite impliziert, dass die meisten Menschen unfrei sind, dass sie froh sind, wenn sie einen Job haben und halbwegs ihre Miete bezahlten können.
Schon Martin Luther verfasste seine Schrift: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Bis heute sieht es mit der spirituellen Freiheit nicht gut aus. Kirchen wollen, mehr oder weniger, unterdrücken. Sie haben ihre Dogmen, ihre Katechismen – und die widersprechen nun einmal der Freiheit.
Dichter und Denker wollen das nicht, sondern eben ihre uneingeschränkte kreative Freiheit. Die Spur des Genius, des Genialischen zieht sich wie ein roter Faden durch die deutsche Geistesgeschichte. Und wenn es ein Bestes der deutschen Seele gibt, dann wohl am ehesten das.
Deutschland – ein Reich der romantischen Träumer?
Viele deutsche Dichter und Denker scheinen mir ausgesprochene Träumer gewesen zu sein. Sie träumten von einem universellen, poetischen Reich. Ihr „Reich Gottes“ war ein poetisches und philosophisches Reich. Dieser Traum zieht sich durch die deutsche Geschichte.
Sogar im Bereich der Politik lässt sich dieser Traum erkennen. Ein großes, deutsch-germanisches Reich, oder ein multikulturelles Wunderland, in welchem alle Völker in schöner Harmonie miteinander leben. Politische Träumereien sind aber nicht mein Thema hier.
Auf der einen Seite gibt es die Träumer von einem geistigen Reich der Schönheit und Poesie, auf der anderen Seite diejenigen, die vom einfachen und bescheidenen Leben im Refugium geträumt haben. Einerseits die Träume von fernen, exotischen Welten, wie z.B. Karl May, andererseits die Träumer von geistigen Anderswelten wie z.B. Hermann Hesse.
*
In einem kleinen Buch wie diesem kann man nicht alles ansprechen, nicht alles ausführen, man kann nur ein paar wichtige Themen herausgreifen. Genauer, Themen, die mir aufgefallen oder mir wichtig sind.
Bekannt und berühmt ist das Selbstbildnis von Albrecht Dürer aus dem Jahre 1500. Ein Bildnis des Selbstbewusstseins, als Mensch und als Maler. Der Maler zeigt sein großes Können, der Mensch möchte sein „höheres Selbst“ zum Ausdruck bringen, indem er sich so darstellt, als wäre er Christus. Das ist keine Selbstüberschätzung und keine Anmaßung, wie man es vielleicht heute sehen würde, sondern nimmt Bezug auf das höhere Menschenbild, das durch Christus repräsentiert wird, dem man nacheifern, nachstreben sollte, um das im Menschen vorhandene göttliche Potential zur Entfaltung zu bringen.
Wir lesen heute immer noch die Briefe von Paulus, in denen er davon spricht, dass man zu einem Sohn Gottes werden müsse, aber ich bezweifle, ob das viele wollen. Atheisten sowieso nicht, aber viele von denjenigen, die sich (noch) Christen nennen, vermutlich auch nicht. Sie wollen nur ihre kleine menschliche Individualität sein, streben aber weniger ein höheres Sein als eine Form des Christus-Seins an.
Das war einmal ganz anders.
Albrecht Dürer war nicht nur Maler, Ab-Maler, sondern ein denkender Maler, ein tief nach-denklicher Maler, ein Mystiker, der z.B. das „Buch von der Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen kannte. Nachfolge heißt, ein spirituelles Leben im Sinne und auf dem Wege von Christus zu führen.
Dietrich Bonhoeffer hat Jahrhunderte später aufgezeigt, dass damit nicht ein bürgerliches, angepasstes, politisch korrektes würde man gegenwärtig sagen, Verhalten und Leben gemeint ist, sondern eines, dass eine geistige Kraft der Eigenständigkeit und Höhe der Erleuchtung anstrebt.
In dieser Tradition, die man als deutsche spirituelle Tradition bezeichnen könnte, stehen neben Dürer eine Reihe von weiteren Personen. Martin Luther, Jacob Böhme, Albert Schweitzer könnte man nennen. Das Selbstbildnis von Dürer zeigt uns das höhere, spirituelle Selbstbild des Deutschen. Jeder Leser kann darüber nachsinnen, bei wem er dieses auch erkennt.
„Entscheidend ist: Der Künstler erlebt seine Schaffenskraft als göttlich und den Menschen als – im Prinzip – „gottebenbildlich“. An diesem Meisterwerk erfährt der Betrachter: Das „Erkenne dich selbst“ ist Wirklichkeit geworden. Auch dieses Werk gehört zu den „unausweichlichen“.
Das „Erkenne dich selbst“ meinte in alten Zeiten: Erkenne deine Nichtigkeit, nur Gott ist. Mit der Menschwerdung Gottes bekam der Satz einen ganz anderen Sinn. Der vergängliche Leib wurde auf Golgatha ins Unvergängliche gehoben. Gott wird nun nicht mehr in der Sonne, sondern in seinem Abbild, im Menschen gefunden, und weil Gott Mensch wurde, kann der Mensch wie Gott werden.
Willst Du Gott erkennen, dann blicke in dein Inneres: Wo früher der Tod ins Erdenleben trat, kann jetzt Christus als Sieger über den Tod erfahren werden. Der Betrachter spürt die Kraft des Auferstandenen. So kann nur jemand malen, der eine wirkliche Christuserfahrung hatte.“ (Krüger, S.62; m.U.)
„Es gibt kein weiteres autonomes Selbstporträt von Dürer auf dem Gebiet der Malerei. Der Maler spürte, dass er mit diesem Selbstbildnis mit den Zügen des Auferstandenen das Innerste und zugleich Höchste erreicht hatte, das nicht übertroffen werden kann. Es ist aus der inneren Erfahrung des Paulus gemalt: Ich lebe, aber nun nicht ich, der Christus in mir lebt.“ (Krüger, S.64, m.U.; kursiv von mir)
Wir leben heute in extrem materialistischen Zeiten, die, aus meiner Sicht, von einer Sucht geprägt sind, denn so viel Materialistisches, wie z.Z. vorhanden, braucht im Grunde kein Mensch. Von daher mag uns die Aufforderung, in uns ein göttliches Sein zu erkennen, fremd geworden sein.
Erkenne deine göttliche Bestimmung, so müsste es heute lauten.
Man erreicht es jedoch nicht auf dem Wege reiner Denktätigkeit, sondern durch Gebet, Versenkung, Kontemplation, Verehrung und Hingabe. Die gegenwärtige Selfie-Manie bleibt meistens egozentriert, zielt nichts Höheres an oder sieht sich in einer Nachfolge Christi. Wie Krüger über Dürer schreibt, die Basis ist eine Christus-Erfahrung, also eine tiefe, spirituelle Erfahrung höheren Mensch-Seins.
Maria mit Kind und Zeisig, 1506
Neben der Verehrung von Christus gibt es die Verehrung von Maria. Dürer hat uns ein bemerkenswertes Marienbild hinterlassen, dessen leuchtende Farbigkeit (Rot, Blau, Grün und gelbliche Orangetöne) und Natürlichkeit uns heute noch ansprechen kann. Manfred Krüger bezeichnet die Maria mit Nelke als eine deutsche. In der Tat können wir sagen, wenn wir die „Maria mit Kind und Zeisig“ mit den Darstellungen der Italiener vergleichen, dass wir hier eine deutsche Maria vor uns haben.
Das höhere Selbst des Mannes ist Christus (die Christusschaft), das höhere Selbst der Frau, deren Bestimmung die Mutterschaft ist, ist Maria. Das darf man nicht als rückwärtsgewandtes Rollenverständnis missverstehen, sondern als Ausdruck der höheren und eigentlichen Bestimmung und Vollendung menschlichen Daseins. Christus und Maria gehören zusammen, sind gleichwertig und bilden eine Einheit. Neben der allgemein bekannten Trinität gibt es die Vierheit, also: Vater, Sohn, Heiliger Geist und Maria.
Auch dieses Gemälde von Dürer strahlt Stolz und Selbstbewusstsein auf das eigene Sein als Mensch und Volk aus. Das ist völlig normal und in keiner Weise einseitig. Die Italiener waren damals in der Malerei weiter entwickelt als die Deutschen, die aber gerade durch den Maler Albrecht Dürer und den Bildhauer Tilman Riemenschneider (1460 – 1531) ihr Eigenes, ihre Identität als Deutscher herausstellen konnten.
Die Darstellungen der Natur links und rechts vom Thron, auf dem Maria sitzt, würde ich als Verbundenheit mit der Natur deuten wollen. Ebenso den Strauß Maiglöckchen, den das Johanneskind dem Jesuskind überreicht und den Zeisig, der auf dem linken Arm des Jesuskindes sitzt.
Das Maiglöckchen steht wohl für Heilkraft im Allgemeinen, für Heilung des Herzens im Besonderen, als Marienblume auch für Keuschheit, Reinheit und Demut, Tugenden, die Jesus von seiner Mutter hat. Der Zeisig repräsentiert die erwachte Seele, die Seele des mitfühlenden, universellen Geistes.
Anders als Manfred Krüger würde ich das Buch nicht als Altes Testament deuten, sondern als Buch der Weisheit und des Wissens, der eigenen deutschen Weisheit, der man sich damals bewusst wurde und die man zum Ausdruck bringen konnte.
Der Deutsche gilt allgemein als der nachdenkliche Mensch, der über alles in der Welt nachsinnt, grübelt, wie man oft sagt. Warum auch nicht? Das Leben, das Dasein ist zum Grübeln.
In einer Spaß- und Freizeitgesellschaft gilt das logischerweise als Krankheit, die therapiert werden muss. Alles soll und muss Spaß machen. Man schaue oder höre in die Medien, permanent wird einem die Botschaft vom Spaß eingehämmert. Und wehe, wenn man nicht mit tanzt und singt und lacht und springt.
Das tiefe, gründliche Nachdenken ist nun einmal ein Wesenszug des Deutschen. Das ist gut und richtig. Es hat viele große Dichter, Denker, Künstler und Wissenschaftler hervorgebracht. Hätten sie nicht so viel nachgedacht, so viel „gegrübelt“, dann hätten sie nicht so viele Weisheiten herausgefunden. „Grübeln“ nennen es nur diejenigen, die nichts in der Birne haben, die vielleicht nur trinken und tanzen wollen.
Dürers Holzschnitt der Melancholie bringt diese Seite zum Ausdruck. Wenn man sich mit dem Sinn und Ziel von allem, von allen Aktivitäten befasst, wenn man in die Tiefe, in den Abgrund, ins Untergründige vorstoßen will, dann muss man grübeln, in die Tiefe hintergraben und dabei nicht nachlassen, wenn man auf Widerstände stößt, und man stößt immer auf Widerstände, und seien es die anderen Leute, die einem sagen, man solle doch nicht so viel herumgrübeln, sondern das lustige Leben genießen.
Man kann die vielen Objekte auf dem Kupferstich als Symbole sehen und deuten. Es stellt sich allerdings die Frage, was damit gewonnen ist. Verstehen wir dann die Melancholie besser? Können wir sie dann achten und würdigen?
Der melancholische Mensch sucht nach dem Sinn, dem tiefen Sinn, dem geheimen Zusammenhang, der alles verknüpfenden Verbundenheit, aber er hat immer nur einzelne Dinge, Teile, die das Mysterium doch nicht entschlüsseln. Das Mysterium bleibt eben das, ein Mysterium. Aber auch wenn die Welt nicht vollständig zu decodieren ist, so bleibt es doch die Aufgabe des nachdenklichen Menschen nach den verborgenen Verbindungen und Erklärungen zu suchen, immer wieder, immer neu, immer von Anfang an, immer wieder anders.
Dürer, Holzschnitt, Melancholie, 1514
Die Melancholie stellt Dürer hier als Engel dar. Warum als Engel? Dazu noch als einen weiblichen.
Vielleicht weil die Seele (anima) weiblich ist? Weil sie befreit werden möchte, weil sie befreit sein will, um in eine höhere Geistesdimension aufsteigen zu können, die sich links oben zeigt? Ein magisches Zahlenquadrat, wie man es an der Wand sehen kann, ist kein höheres Ziel. Höchstens ein Instrument, wie alles andere auch. Ein Instrument ist kein Ziel, nur ein Werkzeug.
Ein Ziel (telos) ist der Sinn, der tiefe, universelle Sinn. Der melancholische Mensch sucht immer nach dem absoluten Sinn, auch wenn für viele Forscher und Wissenschaftler dieser nicht zu erkennen oder gar nicht vorhanden ist.
Der Sinn ist ein ferner Stern, sozusagen das Herz des Kosmos, den man anstrebt, obgleich er unerreichbar sein mag.
Manfred Krüger schreibt als Zusammenfassung folgendes:
„Der Engel ist das Bild spiritualisierten Denkens. Dem Meditierenden wird bewusst: Wissen ist begrenzt – Weisheit ist auch jenseits des Todes. Das Denken erreicht die Bewusstseinsebene des Engels. Im Denken des Engels erscheint auf einer ersten Stufe – Melencholia I – das irdische, auf das Vergängliche gerichtete Streben in seiner Erfolgslosigkeit: die Instrumente liegen sinnlos herum. Den Aufstieg zur verwandelnden Kraft des Denkens symbolisiert die Himmelsleiter.“ (Krüger, S.259)
Was ist daran nun deutsch, so könnte man fragen?
Die nachdenkliche, lebenslange Suche nach der Entschlüsselung des Absoluten, die aber keiner Selbst-Überschätzung verfällt.
Wie oben erwähnt gab und gibt es im deutschsprachigen Raum viele Menschen, die das ihr Leben lang verfolgt haben. Sie haben uns großartige Werke hinterlassen. Ein wichtiger Repräsentant des universellen Geistes ist sicher Goethe.
Ein Universalist ist jemand, der in Hinblick auf Kreativität und Wissen das Menschenmögliche anstrebt und erreicht, verbunden mit der Selbsterkenntnis, dass er niemals alles wissen und alles gestalten kann.
Goethe, 1749 – 1832
Goethe kann mit Recht als der große, unabhängige, deutsche Universalist bezeichnet werden. Sein Gedicht „Prometheus“ ist vermutlich vielen bekannt. Es ist ein emanzipatorisches Gedicht, das die Kraft und Selbstständigkeit des Individuums feiert, in selbstbewusster Abgrenzung von Autoritäten. Es richtet sich nicht nur gegen den griechischen Gott Zeus, sondern gegen jedes weltferne, diktatorische Gotteskonzept, und betont die eigene Kraft und Kreativität.
Prometheus
Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn!
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte,
Die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn als euch Götter.
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
Da ich ein Kind war,
Nicht wußte, wo aus, wo ein,
Kehrte mein verirrtes Aug
Zur Sonne, als wenn drüber wär
Ein Ohr zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
Wer half mir wider
Der Titanen Übermut?