5,99 €
Die Pubertät geht in ihre heißeste Phase! Während Sina hundertpro sagen kann, dass sie nie-nie-niemals so werden will wie ihre Eltern, zermartert sie sich gleichzeitig das Hirn darüber, wer sie ist und wo sie hin will ... Des Weiteren drängt sich ihr eine nicht minder wichtige - megadringende - Frage auf: Flirten und Küssen - wie geht das überhaupt? Neue, witzige und hormonverwirbelte Katastrophen von Sina. Mit starken Tipps und wertvollen Infos.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 228
Mein Knutschfleck und ich
ILONA EINWOHLT
5. Auflage 2011 © 2008 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten knaus. büro für konzeptionelle und visuelle identitäten Würzburg Einbandillustration: Constanze Guhr Sachillustrationen: Birthe Kipker ISBN 978-3-401-80044-8
www.arena-verlag.de Mitreden unter forum.arena-verlag.de
Inhalt
Erstes Kapitel, in dem Sina über die wahre Schönheit nachdenkt
Wahrheit oder Pflicht …
Wer schön sein will, muss leiden?!
Bunte Schmetterlinge im Bauch
Zweites Kapitel, in dem Sinas Gefühle hoffnungslos durch die Achterbahn rauschen
Auf dem Weihnachtsmarkt der Gefühle
Ich leide, also bin ich
Ein Date ist ein Date ist ein Date
Drittes Kapitel, in dem Sina Schmetterlingsflügel wachsen
Neues Jahr, neues Glück?!
Ich bin ich – bin ich ich?
Praktikum ist gar nicht dumm
Viertes Kapitel, in dem Sina vom Knutschen nicht nur einen Knutschfleck bekommt
Ein Himmel voller Küsse
39,5° Partyfieber
Und zum Schluss: DER Kuss
ERSTES KAPITEL,IN DEM SINA ÜBER DIE WAHRE SCHÖNHEIT NACHDENKT
Wahrheit oder Pflicht …
Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Und das liegt an diesem verflixten Knutschfleck. Blau-rötlich schimmernd, mit einem Touch Grün am Rand, prangt er deutlich an meinem Hals, auf der rechten Seite, an der Stelle, wo man sonst den Puls fühlt. Alle finden das lustig und lachen sich halb tot darüber, vor allem Julia, die blöde Kuh.
Knutschflecke sind für alle lustig, nur nicht für die Geknutschte! Julia kann sie ja gerne als Trophäen sammeln, ich finde meinen Knutschfleck nur peinlich, peinlich, peinlich. Mal abgesehen davon, dass er mir signalisiert: Küssen ist nicht ohne. Dabei habe ich noch nicht einmal richtig geküsst ich weiß ja gar nicht, wie das geht!
Alles hatte ganz harmlos angefangen: Wir feierten meinen dreizehnten Geburtstag bei uns im Partykeller. Zugegeben, diese olle Holztäfelung und der geschnitzte Tresen sind nicht gerade ultramodern, aber dafür hatten wir unsere Ruhe. Keine neugierigen Mama-Blicke, kein Stress mit Krümeln auf dem Teppich, keine Panik bei umgekippten Gläsern, im Partykeller gelten eben andere Gesetze. Ich hatte den ganzen Samstagvormittag damit verbracht, mit Tüchern und Alufolie ein bisschen Atmosphäre zu zaubern. Sonst hat mir ja immer meine Ex-Beste-Freundin Kleo bei den Geburtstagsvorbereitungen geholfen, aber in letzter Zeit ist sie so komisch drauf und hängt lieber mit ihrer Hovawart-Hündin Ambra auf dem Hundeplatz ab. Also war meine aktuelle beste Freundin Milli da und die hat unzählige Teelichter aufgestellt, damit wenigstens die große Neonröhre an der Decke ausbleiben konnte. Ganz ohne Licht hatten meine Eltern nicht erlaubt, weshalb die alte Fransen-Lampe in der Ecke vor sich hin funzelte. Mama hatte uns mit Blümchen-Muffins, Knabberzeug, Bionade und Cola eingedeckt und Papa hatte mir geholfen, meinen nigelnagelneuen iPod an die tragbaren Lautsprecher zu stöpseln. Wie immer waren einige Freundinnen eingeladen und ein paar Jungs aus meiner Klasse, mit denen wir sonst in der Pause oder im Schwimmbad rumhingen. Genauer gesagt: in die wir der Reihe nach alle ein bisschen verknallt waren.
Yannis ist mein bester Freund, seit ich denken kann aber verknallt bin ich nicht in ihn, um das gleich mal klarzustellen. Ich meine er ist nicht mein Freund, sondern einfach ein toller Kumpel, einer, mit dem man so richtig über alles reden kann und der mich blind versteht. Außerdem findet er Julia megatoll und in letzter Zeit sehen wir uns nur noch in der Schule, obwohl wir eigentlich Nachbarn sind. Es gibt sogar Tage, an denen ignoriert er mich vollkommen. Dann ist da Sebastian, der ist ziemlich schüchtern, hat aber viel Kohle und trägt ständig neue Markenklamotten. Marco ist eher der Typ Draufgänger, aber einer der lieben Art, und ich glaube, Milli hat ein Auge auf ihn geworfen. Und ich finde aktuell Juri total süß und lieb und cool , obwohl er eher der Typ Spargeltarzan ist. Aber seine witzigen Sprüche und seine lässige Art haben es mir in letzter Zeit voll angetan. Die anderen Jungs habe ich nur eingeladen, damit Juri kommt und mir vielleicht einen Geburtstagskuss gibt.
Doch irgendwie war die Stimmung nicht so gut, alle hingen gelangweilt in den Ecken rum. Wenn es nach Mama gegangen wäre, würden wir jetzt eine Stadtrallye machen, die ich natürlich abgelehnt hatte – ich wollte schließlich eine Fete feiern und keinen Kindergeburtstag. Vielleicht wäre es nicht die blödeste Idee gewesen … So wartete ich die ganze Zeit darauf, dass Juri sich endlich mal neben mich setzte, während Milli ständig Marco anblinzelte.
„Hey Sina, hast du keine andere Music?“, maulte Sebastian bei jedem neuen Song, der nicht Hip Hop war, und Marco fragte: „Gibt es hier eigentlich nichts Richtiges zu trinken?“ Er deutete zum Feuerlöscher, der als Zapfhahn auf dem Tresen stand.
„Kannst es ja mal versuchen“, meinte ich betont fröhlich. „Da kommt nur Staub raus!“ Keine Ahnung, wann meine Eltern das letzte Mal hier unten Party gefeiert haben. Seit mein Bruder Leon auf der Welt ist, glaube ich, nicht mehr. Und das ist immerhin mehr als sechs Jahre her.
„Wollen wir was spielen?“, hatte meine zweitbeste Freundin Julia dann vorgeschlagen und in diesem Moment war ich ihr sehr dankbar dafür.
„Au ja, ‚Was bin ich‘!“, rief Milli und Kleo klatschte ausnahmsweise begeistert in die Hände. Vor Aufregung war sie so rosa im Gesicht wie die puschelige iPod-Hülle von Hello Kitty, die sie mir zum Geburtstag geschenkt hat.
„Oh no“, stöhnte Jolina entnervt. „Das ist ja wohl Babykram. Warum hast du auch keine Motto-Party gemacht? ‚Schwarz-Weiß‘ oder so.“
Danke, Jolina, das wollte ich hören, ich wusste, dass du eine fiese Kuh bist, aber so deutlich hast du es mir noch nicht gesagt, dass du mich für einfallslos hältst. Wieso hatte ich eigentlich die größte Ätz-Tussi aus unserer Klasse zu meiner Geburtstagsparty eingeladen?!
„Wie wäre es dann mit ‚Wer wird Millionär?‘“, fragte Yannis und guckte mich mit seinen dunklen Augen fragend an. „Du hast doch diese Jubiläums-Ausgabe, oder?“
„Klar, ich hole es!“ Sofort war ich auf den Beinen und machte Anstalten, nach oben zu flitzen.
„Nein, doch nicht so was!“ Julia winkte lässig ab. „Ich meine … kennt ihr ‚Wahrheit oder Pflicht‘?“
„Das, wo man sich küssen muss?“ Juri hatte plötzlich eine knallrote Birne. Dann kicherte er plötzlich los. „Meine Eltern haben das neulich auf so einer Party gespielt.“
„Da mache ich nicht mit, niemals!“ Kleo schüttelte so entrüstet den Kopf, dass ihre kurzen blonden Locken wippten. „Das ist doch total unhygienisch. Wenn Mama das wüsste, die hätte mich nie auf so eine Sex-Party gelassen …“
Küssen hat nichts mit Sex zu tun und schwanger wird man davon auch nicht. Allerdings werden beim Küssen bis zu 270 verschiedene Bakterien ausgetauscht – das stärkt das Immunsystem! Küssen macht fit, weil rund 50 Gesichtsmuskeln aktiviert und 12 Kalorien pro Minute verbrannt werden …
„Jetzt mach mal langsam, Babyface“, mischte sich Jolina ein. „Kein Mensch spricht hier von Küssen, Sex und Ausziehen. Wir spielen ‚Flaschendrehen‘, sonst nix. Und wer dran ist, muss die Wahrheit sagen – oder seine Pflicht tun.“ Sie kicherte albern und Kleo rollte genervt mit den Augen.
„Ashley spielt das auf ihren Partys auch immer“, erklärte Julia. Deswegen! Julias Schwester ist das große Vorbild für sie. „Also los, wer spielt mit?“
Yannis und die anderen Jungs machten erst gar keine Anstalten, sich zu Julia und Jolina in den Kreis auf den Boden zu setzen. Sebastian starrte Löcher in die Luft und Juri hielt sich mit knallrotem Kopf an seiner leeren Cola-Flasche fest. Friederike setzte sich zögernd neben Julia, Kleo stand noch unschlüssig in der Ecke.
„Also gut“, seufzte ich. Ich konnte ja schlecht auf meiner eigenen Party die Spielverderberin sein, schlimmer konnte es ja eigentlich auch nicht mehr werden. „Komm, Yannis, mach auch mit!“ Ich sah ihn bittend an. Irgendwie wollte ich verhindern, dass mein dreizehnter Geburtstag der Total-Reinfall wurde. Vielleicht kam bei diesem albernen ‚Flaschendrehen‘ doch noch so etwas wie Stimmung auf.
Nach vielem Hin und Her und dank stundenlanger Überredungskünste saßen wir schließlich alle im Kreis: Jolina, Julia, Kleo, Friederike, Juri, Sebastian, Marco, Yannis und ich. „Okay“, rief Julia, „ich fange an.“ Sie gab der Flasche einen Schwung. Wuuuup!, der Flaschenhals zeigte auf Jolina. „Wahrheit oder Pflicht?“, fragte sie.
„Wahrheit!“, antwortete Jolina prompt.
„Okay … welche Farbe hat deine Unterhose?“, fragte Julia, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Iiiiiiiiiiii! Spinnst du? Das interessiert mich doch gar nicht!!!“ Kleo sprang empört auf, doch Friederike hielt sie zurück. „Komm, ist doch witzig“, meinte sie und kratzte sich dabei in der Armbeuge rum.
„Lila“, gab Jolina knapp zur Antwort und Juri kicherte sich halb blöd. Dann drehte Jolina die Flasche. Wuuuup!, Sebastian war dran. „Wahrheit oder Pflicht?“, fragte sie.
„Pflicht“, antwortete Sebastian wie aus der Pistole geschossen. „Geh hoch und hole aus dem Badezimmer Frau Rosenmüllers Gesichtscreme “, grinste Jolina. „Und dann cremst du deinen Bauch damit ein.“
„Tages- oder Nachtpflege?“, fragte Sebastian cool zurück.
„Das geht nicht, ich bekomme Stress mit meiner Mutter“, rief ich entsetzt. Nicht auszudenken, wenn meine Eltern was mitbekamen!
„Ach was, ich passe auf, dass sie nichts merkt.“ Yannis hielt beflissen die Tür auf und ging gemeinsam mit Sebastian nach oben, während ihnen die anderen hinterhergrölten. Keine Minute später waren beide wieder zurück – mit Mamas teurer Luxus-Nachtcreme.
„Genial!“ Julia klatschte begeistert in die Hände. Und so spielten wir eine Weile weiter, Kleo musste ein Kinderlied singen, Marco drei superscharfe Popsängerinnen nennen, Milli ihre Füße in unserem Gäste-WC waschen … Die Stimmung war im Nu völlig ausgelassen und genial. Bis Julia mit dem Drehen an der Reihe war und der Flaschenhals auf Yannis zeigte. „Pflicht“, sagte er mutig grinsend in die Runde und Jolina kicherte albern. Ich hielt den Atem an, denn alle im Raum wussten, dass Julia in Yannis verknallt ist und er in sie. Aber was dann kam, war der absolute Megahammer.
„Zwei-Minuten-Dauerküssen mit Sina!“, sagte Julia und lächelte mich dabei an. Nur ich sah das zickig-fiese Blitzen in ihren Augen. „Was?“ Vor Schreck fiel ich fast in Ohmacht. Ich habe in meinem Leben noch nicht richtig geküsst. Und jetzt sollte ich mit Yannis Dauerküssen?
Jeder weiß, dass Yannis und ich nur Kumpels sind.
Und dass er auf Julia steht. Und Julia weiß, dass ich ein bisschen in Juri verknallt bin. Warum macht sie das nur?
„Nein!“, sagte Yannis mit fester Stimme. „Das mache ich nicht.“ „Feigling, Feigling“, tönte Jolina und die anderen stimmten mit ein. „Feigling, Feigling!“
„Magst du Sina nicht, oder was?“, höhnte Julia. Sie sah mich schlitzig an und ich wusste sofort: Das hier war die Rache dafür, dass Yannis und ich sie damals in der Hollywoodschaukel ignoriert hatten. Milli griff erschrocken nach meiner Hand.
„Hey, es gibt Schlimmeres“, meinte Juri und klopfte Yannis kumpelhaft auf die Schulter. „Hätte ja auch die sein können.“
Er nickte Richtung Friederike, die bei den Jungs wegen ihrer Juck-Ekzeme nicht gerade beliebt war.
Und Marco meinte: „Komm schon, Sina hat garantiert keinen Zungenherpes!“
Ich habe weder Herpes noch Mundgeruch noch Aphten noch Karies noch raue Lippen noch Zahnbelag.
„Ich kann doch nicht …“ Yannis guckte mich an und ich guckte Yannis an. Wir hätten uns beinahe schon mal geküsst, damals, auf dieser Grillparty seiner Eltern, aber dann haben wir nur den ganzen Abend über schweigend Arm in Arm in der Hollywoodschaukel gesessen, mehr nicht. Das ist schon eine Weile her und irgendwie hatten wir das beide komplett vergessen. Oder auch nicht.
Küssen ist ein Ausdruck von Liebe und Zärtlichkeit zwischen zwei Menschen, die sich sehr nahestehen: Ein Kuss zwischen Frau und Mann schmeckt anders als zwischen Eltern und Kind, Oma und Enkel. In unserer Kultur begrüßen sich Freunde und Freundinnen mit einem Kuss oder zwei Wangenküsschen. Küsse auf den Mund sind etwas sehr Intimes.
„Also gut, es muss ja nicht auf den Mund sein!“ Danke Julia, ich wusste, du bist eine echte Freundin.
Und so kam es, dass mein allerbester Kumpel und lieber Nachbar Yannis und ich unter Gekicher und Gegacker in der Mitte vom Partyraum standen, er mir umständlich seine Lippen an den Hals legte und bei „Los“ anfing, mich zu küssen, während die anderen um uns herum lautstark die Sekunden mitzählten. Zwei Minuten lang.
Der längste Kuss laut Guiness-Buch der Rekorde dauerte 30 Stunden, 59 Minuten und 27 Sekunden.
Draußen wird es gerade hell und wie immer sonntags ist noch alles still im Haus. Selbst Leon hat inzwischen gerafft, dass man als Schulkind nur noch das Wochenende zum Ausschlafen hat, und meine Eltern stehen vor neun Uhr sowieso nicht auf. Ich liege in meinem Bett, ich glaube, ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Nachdem Yannis mich geküsst hatte, wollte niemand mehr weiterspielen, selbst Julia nicht. Wahrscheinlich hatte sie Schiss, dass sie als Nächste hätte küssen müssen. Ich habe mich so schnell wie möglich wieder neben Milli auf den Boden gesetzt, aber alle haben nur schweigend auf meinen Hals gestarrt. Dann hat Julia plötzlich angefangen, hysterisch zu kreischen: „Die hat voll ’nen Knutschfleck!“ Vor Kichern hat sie sich gar nicht mehr eingekriegt. „Knutschfleck, Knutschfleck“, haben alle gegrölt und mit ihren Fingern auf mich gezeigt.
Seufzend krame ich mein Tagebuch hervor. Seit Neustem schreibe ich zwar auch online, aber wenn ich jetzt ins Arbeitszimmer an den Computer gehe, stellt mir Mama gleich wieder doofe Fragen.
Wie konnte Julia mir das nur antun! Und ich hatte gedacht wir hätten unser Zickenbeil begraben und wären wieder, richtig gute Freundinnen! Reicht doch, wenn Kleo sich aus unserem Kleeblatt ausgeklinkt hat. Aber mit Julia rede ich nie wieder auch nur ein einziges Wort, das schwöre ich bei meiner datiert-nummerierten Gummibärensammlung.
Irgendwie war es nur konsequent, dass Yannis kurz darauf zur Tür ging, sich räusperte und sagte: „Ich geh dann mal.“ Kaum war er draußen, machten sich auch Juri, Sebastian und Marco vom Acker. Kleo murmelte was von wegen mit Ambra spazieren gehen und Friederike ist einfach mit ihr los. Jolina und Julia versuchten, ein paar blöde Witzchen zu reißen, aber mir war nicht zum Lachen. Irgendwann sind sie dann doch noch gegangen und ich saß mit Milli alleine im Partykeller …
„Happy Birthday“, flüsterte ich leise, Tränen steigen mir in die Augen. Immerhin bin ich jetzt dreizehn – und geküsst. Voll geküsst, sozusagen. Dabei habe ich mir meinen ersten Kuss ganz anders vorgestellt und gehofft, ihn an meinem Geburtstag von Juri zu bekommen.
Forscher haben herausgefunden, dass sich der erste Kuss aus der Mund-zu-Mund-Fütterung von Mutter zu Kind entwickelt hat, als es noch keine Löffelchen für Babybrei gab. Etwas in den Mund zu nehmen, lustvoll daran zu saugen, ist eine instinktive Handlung des Menschen, weil es sich so schön anfühlt und glücklich macht. Da hat sich irgendwann einer unserer Vorfahren gedacht: Warum immer nur die Babys?! Und dann hat er zum ersten Mal seine Frau auf den Mund geküsst …
Vorsichtig taste ich mit der rechten Hand an die Stelle, wo Yannis gestern mit seinem Mund war. Ich habe mir ja schon öfters mal vorgestellt, wie es wäre, geküsst zu werden, und heimlich mit meinem Mund an meinem Arm geübt. Aber dabei habe ich nie an Yannis gedacht, ich bin doch nicht plemplem!
Mein erster Kuss war ein Knutschfleck! Das werde ich nie im Leben vergessen. Aber warum wollte mich Yannis nicht richtig auf den Mund küssen? Vielleicht war er ja froh, dass er nur meinen Hals küssen brauchte, obwohl ich definitiv nicht aus dem Mund rieche, das weiß ich ganz genau.
Und ganz bestimmt hätte er tausendmal lieber Julia geküsst. Andererseits, warum hat Yannis so hingebungsvoll an meinem Hals rumgeschlabbert?! Wieso ist er so schnell abgehauen? Und wie erkläre ich das alles Juri?
Aber das, was Yannis da gestern gemacht hat, fühlte sich völlig anders an, es hat mich völlig überrumpelt. Ich schließe die Augen und erinnere mich an seine weichen Lippen, die an meiner Halsbeuge gekitzelt haben. Zwei Minuten können sooo lang sein! Denn was sich am Anfang noch ganz gut anfühlte und sogar bis in meine Fußzehen kitzelte, wurde zum Schluss immer unangenehmer, weil er mit seinen Lippen so heftig an meinem Hals herumgesaugt hat wie Dracula persönlich.
Seufzend schlurfe ich ins Bad, um mir den Frust vom Körper zu duschen. Wie soll ich Yannis nur jemals wieder unter die Augen treten? Julia werde ich selbige auf alle Fälle auskratzen, und zwar jedes einzeln, mit Genuss und sehr sorgfältig, nachdem ich meine Fingernägel extraspitz gefeilt und rot lackiert habe … Als ich dann im Spiegel prüfend meine vier neuen Pickel begutachten will, leuchtet mir die Katastrophe unübersehbar entgegen: Mein Knutschfleck ist mindestens so groß wie ein Joghurtdeckel und schillert in allen Farben des Regenbogens. Ich kneife entsetzt die Augen zu. Das darf nicht wahr sein, bitte, bitte, das darf nicht wahr sein!!! Doch alles Bitten hilft nichts, als ich die Augen öffne, ist der Knutschfleck immer noch da. Ich glaube, mir wird schwindelig … Wie erkläre ich das nachher bloß meinen Eltern? Die haben gestern schon so komisch geschaut, nachdem meine Geburtstagsgäste so schnell verschwunden waren und niemand mehr Mamas Hackbällchen wollte. Verzweifelt greife ich zur Seife, schäume das Dings großzügig ein, spüle mit viel Wasser nach – Fehlanzeige. Ich betupfe ihn mit Papas Rasierwasser – nichts. Da fällt mein Blick auf Mamas Bimsstein für die Füße, ob ich damit …? Angeekelt greife ich nach dem abgeschabten lila Teil, rieche lieber nicht dran und halte es unters Wasser. Dann schubbere ich mit aller Kraft an meinem Hals, aber das macht alles nur noch schlimmer: Meine Haut ist jetzt so feuerrot wie die von Friederike zu ihren besten Ekzem-Zeiten. Na super, das hat mir gerade noch gefehlt! Vor lauter Verzweiflung schlüpfe ich unter die Dusche und probiere Mamas Duschgelsammlung durch. Seit Neustem hat sie nämlich so einen Anti-Stress-Tick und alle Düfte von Lavendel bis Zimt in Plastikflaschen herumstehen. Da wird sie zwar nachher wieder meckern, aber wenn hier einer Stress hat, dann ja wohl ich, Sina Rosenmüller mit den großen Füßen und dem riesigen Knutschfleck am Hals.
Als ich nach einer halben Stunde endlich aus der Duschkabine steige, fühle ich mich deutlich entspannter. Ich gönne mir noch einen großen Klacks von Mamas Relaxing-Bodylotion und sprühe mich von Kopf bis Fuß mit ihrem Balance-Paradise-Spray ein. Dummerweise fällt dabei mein Blick auf den Spiegel, der, zwar leicht beschlagen, deutlich meinen nackten Oberkörper samt Giga-Knutschfleck spiegelt. Schlagartig fällt alle Entspannung von mir ab. Dieses Mistding ist immer noch da! Wie lange will der denn noch bleiben? Heulend breche ich auf dem Badewannenrand zusammen.
Ein Knutschfleck ist wie ein blauer Fleck: Durch zärtliches Saugen oder Beißen platzen kleine Blutgefäße unter der Haut, das Blut verteilt sich im umliegenden Gewebe und verfärbt sich im Laufe der Zeit von Rot über Blau und Grün hin zu Gelb. Je nach Größe und Intensität braucht so ein Knutschfleck ein bis vier Wochen, bis er wieder verschwindet.
So langsam kapiere ich, dass dieser Knutschfleck von der besonders üblen Sorte ist. Keiner meiner Pickel war je so schlimm wie dieses Mistteil.
„Sina! Mach auf!“ Mein Vater rüttelt an der verschlossenen Badezimmertür und reißt mich aus meinen verzweifelten Gedanken. „Wie lange willst du denn noch dadrin bleiben?“
Statt einer Antwort ziehe ich die Klospülung ab. Zeit gewinnen, ich muss Zeit gewinnen …
„Ich weiß nicht“, antworte ich leise. „Irgendwie ist mir heute Morgen nicht so gut.“ Was ja noch nicht einmal gelogen ist.
„Okay, aber wenn du Hilfe brauchst …“ Die Stimme von meinem Vater klingt ganz sanft. Am Ende hat er Mama heute Nacht auch dauergeküsst – wobei … Mit seinem Schnurrbart stelle ich mir das auch nicht so angenehm vor.
„Schon gut. Ich habe nur meine Tage bekommen.“ Und da war sie doch, diese Ausrede. Dabei hatte ich mir eigentlich geschworen, nie so dämlich wie Julia eins auf Weibchen zu machen und mit meiner Verletzlichkeit zu kokettieren.
„Na, dann …“ Ich höre, wie mein Vater sich umdreht und wieder ins Schlafzimmer schlurft. Hektisch durchsuche ich die Schublade nach meinem Pickel-Abdeckstift. Was für Pickel gut ist, kann einem Knutschfleck auch nicht schaden. Aber die Abdeckcreme hält nicht! Liegt wohl an meiner supereingeölten Haut … Nerv! Also noch mal alles von vorne, Creme abwaschen, trocken tupfen, Abdeckstift auftragen … Sieht zwar komisch aus, aber wenn man die Augen zukneift, ist der Knutschfleck fast nicht mehr zu sehen. Nachher noch einen Schal drübergeschlungen und er fällt niemandem auf, lalala. Fast schon wieder gut gelaunt, raffe ich meine Klamotten zusammen und mache, dass ich aus dem Badezimmer verschwinde. Wenn Papa sowieso noch duscht, kann er auch mit dem Wischer die Duschkabine blank ziehen und Mama muss sich nicht wieder aufregen.
Vor meinem Kleiderschrank bekomme ich dann die nächste Krise: Der geringelte Kunstfellschal, den mir Tante Irene und Onkel Ösi aus Wien mitgebracht haben, ist unauffindbar. Wo steckt der nur? Ob Leon sich den wieder zum Polarexpeditionsspielen ausgeliehen hat? Ohne Schal bin ich aufgeschmissen, ohne Schal kann ich unmöglich meinen Eltern unter die Augen treten! Also beginne ich, systematisch, wie es nun mal meine Art ist, meinen Kleiderschrank aufzuräumen. Ich sortiere die Wintersachen nach vorne und packe meine Sommer-Shirts in die hintere Ecke, finde dabei meine Bratz Passion-4-Fashion wieder, die roten Schnürsenkel von dieser verrückten Emily und in einem alten Strumpf lauter rosa Zopfgummis, die wohl mal von Kleo waren. Schließlich entdecke ich den Schal, fein säuberlich über einen Bügel gehängt, unter meiner Winterjacke. Na also, wer sagt’s denn, alles da! Sorgfältig wickele ich mir das gestreifte Fell um den Hals, ein bisschen heiß und eng, aber immer noch besser als tausend Fragen und neugierige Blicke! Dazu wähle ich ein enges schwarzes Shirt und meine neue Black Binky, die ich von meinen Eltern zu meinem Geburtstag bekommen habe. Perfekt. Doch als ich fünf Minuten später beim Frühstück sitze, bleiben mir die blöden Fragen leider doch nicht erspart. Mama will natürlich wissen, warum alle so früh gegangen sind und keiner von ihren Hackbällchen gegessen hat. Dabei hatte ich ihr gestern schon etwa tausendmal versichert, dass alle ihr Essen superlecker fanden.
„Haben die etwa nicht geschmeckt?“, ist ihre erste Frage, während sie Leon einen liebevollen Gutenmorgenkuss auf die Wange schmatzt.
„Wir haben uns gestritten“, antworte ich und ducke mich vor ihrem Schmatzer. Schnell angele ich mir ein aufgebackenes Brötchen aus dem Korb. „Julia hatte schlechte Laune und hat alle damit angesteckt.“
„Dafür habt ihr aber ganz schön laut rumgelacht“, meint mein Vater grinsend und schlürft seinen Kaffee.
„Also, für meinen Geschmack wart ihr viel zu leise“, sagt meine Mutter. „Ich dachte schon, ihr knutscht da unten alle rum …“ Skeptisch begutachtet sie mein Outfit.
„Kann ich bitte mal den Honig haben“, unterbreche ich sie schnell.
„Was ist Knutschen, Mama?“, fragt Leon mit interessierter Miene. Oberschlaumeier! Nur weil er jetzt in der Schule ist, muss er doch nicht alles wissen.
„Fühlst du dich eigentlich besser?“ Mein Vater guckt mich verschwörerisch an. Huch, Papa gibt den Frauenversteher, das sollte er lieber mal bei meiner Mutter tun, dann hätte sie nicht so viel Stress und würde mich mit ihrer ewig schlechten Laune nicht so nerven.
„Ja … nee … ich habe ein bisschen Halsschmerzen“, schwindele ich. Dass sie rein äußerlich sind, muss ich meinen Eltern ja nicht auf die Nase binden. „Ich glaube, ich werde krank.“ Das wäre es überhaupt, dann könnte ich so lange zu Hause bleiben, bis dieser Knutschfleck endlich wieder verschwunden ist …
„Deswegen.“ Meine Mutter deutet mit ihrem Buttermesser auf meinen Fellkragen. „Und ich dachte schon, du hättest was zu verbergen.“ Sie kichert plötzlich albern los. „Weißt du noch, Matthias, damals, als du mir auf der Fete vom Martin diesen Knutschfleck verpasst hast? Ich habe wochenlang dieses blöde Halstuch tragen müssen, damit keiner was merkt.“
„Aber dafür ist Sina ja noch viel zu jung!“ Empört guckt mein Vater sie an. „Stimmt’s Sina, von Jungs willst du doch noch gar nichts wissen?“
Hat Papa ’ne Ahnung!
Ich wünschte, ich wüsste mehr über Jungs, dann wüsste ich auch, worüber ich mehr heulen sollte:
Darüber, dass ich diesen Knutschfleck von Yannis habe und er damit unsere Freundschaft zerstört hat?
Oder darüber, dass Juri einfach abgehauen ist,
ohne mir die Gelegenheit zu geben, mich bei ihm noch mal für sein Geschenk zu bedanken? Er hat mir eine selbst gebrannte CD mit seinen Lieblingssongs geschenkt.
Total süß! Das macht der doch bestimmt nicht einfach so.
Das mit dem Frauenversteher habe ich sofort gestrichen und den restlichen Sonntag mit meinem Vater kein Wort mehr geredet. Mit meiner Mutter übrigens auch nicht. Und am nächsten Tag war ich wirklich krank.
Wer schön sein will, muss leiden?!
Als ich eine Woche später in die Schule komme, ist alles anders. Keine Ahnung, was die anderen von meiner Party erzählt haben, Fakt ist: Egal, wo ich hinkomme, überall tuscheln sie hinter vorgehaltener Hand. Über mich. Julia blinzelt mir verschwörerisch grinsend zu, ich weiß nicht, was die überhaupt noch zu grinsen hat. Juri tut so, als sei ich faktisch nicht anwesend und ignoriert mich beim Arbeitsblätterverteilen total. Yannis läuft knallrot an und wendet sich abrupt ab, als er mich sieht.
Danke, Yannis, du feiger Blödmann-Arsch-Depp-Idiot, mit dir rede ich kein Wort mehr. Mir erst einen fetten Stempel verpassen und mich dann einfach sitzen lassen. Hiermit kündige ich dir sofort und ohne Umschweife unsere Freundschaft.
Und Melanie aus meiner Klasse fragt mich sogar, ob’s schön war. Diese Geierwally mit ihrer entwickelten Oberweite! Die hat garantiert schon tausend Jungs geküsst und sich dabei nicht so dämlich angestellt wie ich doofe Nuss, die nur einen Knutschfleck abbekommen hat. Instinktiv ziehe ich meinen Zebra-Fellschal fester um meinen Hals und danke dem lieben Gott für das nasskalte Herbstwetter. Zum Glück hat Mama immer noch nichts gemerkt, wie auch, ich hatte fast 40 Grad Fieber und sie war halb tot vor Angst. Sogar zu Doktor Gottstein hat sie mich geschleppt, der bei der Untersuchung jedoch so getan hat, als würde er den Knutschfleck nicht bemerken. Dabei handelte es sich nur um eine fiebrige Halsentzündung, die ich mir wohl eingefangen habe, weil ich meinen Knutschfleck mit Eiswürfeln dauergekühlt habe. Nachdem ich im Internet gelesen hatte, dass das Dings nichts anderes als ein blauer Fleck ist, dachte ich, ich mach’s wie bei meinen Basketballverletzungen: kühlen, kühlen, kühlen. Leider prangt der Knutschfleck immer noch unübersehbar groß auf meinem Hals. Immerhin ist er ein bisschen blasser geworden – was auch an Mamas genialem Camouflage-Make-up liegen kann. Das habe ich mir heute Morgen heimlich bei ihr ausgeliehen. Hoffentlich bemerkt sie es nicht, wenn sie das nächste Mal ihre Augenringe überschminken will, das Zeug ist nämlich schlecht dosierbar und mir ist leider die halbe Tube herausgeflutscht …
DAS Wundermittel gegen einen Knutschfleck gibt es nicht. Außer Halstuch und Abdeckstift helfen am besten Salben gegen blaue Flecken, schließlich handelt es sich – medizinisch gesehen – um ein Hämatom. Deswegen helfen auch Arnica Globuli, D 6, 3x 5 Kügelchen. Manche schwören auch auf Zwiebelwickel, Zahnpastamaske oder Essigpackung, die sie über Nacht einwirken lassen.
Aber der eigentliche Grund, warum ab heute alles anders ist, sitzt auf meinem Platz: Nicolas Legrand, seit drei Tagen neu in unserer Klasse, superhöflich, supernett – und supersüß.
„Ah, pardon, war das deine Platz?“, begrüßt er mich freundlich und haucht mir zur Begrüßung zwei Küsschen links und rechts an die Wange. „Ça va? Je suis Nicolas.“ Der Typ vor mir hat noch dunklere Augen als Yannis, fährt es mir durch den Kopf, sticht es in mein Herz. „Madame Tuszynski hat mich ier, äh, wie sagt man?... iiingesetzt. Isch offe, du bist mir nischt böse.“
„Sie hat dich hierhingesetzt? Na, dann.“ Ich lache albern los und betaste verdattert meine Wange. Hoffentlich sieht das keiner! Was hat sich unsere Klassenlehrerin wohl dabei gedacht, ihn einfach auf meinen Platz neben Milli zu setzen? Und was denkt der sich dabei, mich vor versammelter Mannschaft einfach so abzuschmatzen?
Franzosen begrüßen sich mit Wangenküssen, Eskimos schnüffeln beim Küssen an der Wange, während man in Burma die Wangen aneinanderreibt. In Neuseeland und Malaysia küssen die Leute mit der Nase, in Japan werden Küsse als sexuelles Vorspiel aufgefasst und daher nicht in der Öffentlichkeit ausgetauscht.