Als uns die Welt zu Füßen lag - Ilona Einwohlt - E-Book

Als uns die Welt zu Füßen lag E-Book

Ilona Einwohlt

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Beschreibung

Norddeutschland, 1931. Hals über Kopf flüchtet Vicky vom elterlichen Rosenhof Willenbrock, um der Fremdbestimmung durch ihren Vater zu entgehen. Sie sucht ihr Glück in der Großstadt und freundet sich mit der gleichaltrigen Luise an, die mit ihrem Bruder zusammenlebt und ihr für die ersten Tage Unterschlupf gewährt. Arbeit findet Vicky im illustren Modesalon, nachts erkundet sie die Stadt und verliert ihr Herz an den Swing – und den Musiker Johnny. Doch das Leben in der Stadt zeigt sich nicht nur von seiner goldenen Seite. Bald steht Vicky nicht nur zwischen zwei Männern, sondern muss sich auch zwischen dem Leben in der Stadt und ihrer alten Heimat entscheiden, denn ihre Schwester braucht auf dem Rosenhof dringend ihre Hilfe …

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Seitenzahl: 456

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Das Zitat stammt aus:Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt Musik und Text: Friedrich Hollaender © Music Sales Corporation / Bosworth Music GmbH / Wise Music Group.

Originalausgabe © 2021 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie, Zürich Coverabbildung von ullstein bild - adoc-photos, Everett Collection / Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749951116www.harpercollins.de

ZITAT

Bald keimten und sprossen Zweiglein und Blättlein empor. Wilde Dornsträucher wuchsen rasch aus der Erde; nur hie und da erschloss sich eine farbige Blüte. Aber in des Gartens Mitte stand ein Blütenstängel, dessen zartem Kelch entfaltete sich eine herrliche Rose, eine Rosenkönigin. Glänzender Tau träufte auf sie nieder, und das grüne Laub schmiegte sich zärtlich an die Blüten.

(AUS: LUDWIG BECHSTEIN, DIE ROSENKÖNIGIN,1847)

WIDMUNG

Für Jill

HAMBURG, IM WINTER 2019

Ein Traum von Weiß und Rosarot empfing die Kundinnen und Kunden, wenn sie das Bellefleur betraten. In den spiegelblanken Glasvitrinen präsentierten sich auf Spitzendecken die leckersten Cupcakes, Tartes, Kuchen und auch mal eine mehrstöckige Torte. Von der Decke hing ein funkelnder Lüster, die Wände waren weinrot tapeziert, über allem hing ein Hauch von Schokolade und Karamell in der Luft. Manchmal roch man auch Pistazien und Haselnüsse.

Tildas Cafélädchen war nichts für Pragmatiker und Rationalisten – und schon gar nichts für Menschen, die Kalorien zählten. Veganer wurden hier kaum fündig, genauso wie hartgesottene Fitnessanhänger, die Zucker zum Staatsfeind Nummer eins erklärt hatten. Denn eins war so klar wie ihre Spiegelscheiben: Ohne Zucker und Sahne konnte Tilda nicht sein, die Süße war die Würze in ihrem Leben, und jeder, der jemals eins ihrer Törtchen probiert hatte, wusste: Sie hatte recht. Wer einmal bei Tilda kaufte, kam immer wieder, für Schoko-Minz-Muffins, Crispy-Hazelnut-Törtchen oder Creamy Cheesecake. Spätestens wenn die süße Schmelze den Gaumen kitzelte, die Geschmacksknospen auf der Zunge Genuss, Liebe und Sinnlichkeit verkündeten, war es egal, wie viele sündhafte Kalorien in den Leckereien steckten.

Ihre Backkünste verdankte Tilda einem Aufenthalt als Au-pair in New York, wo sie auf die Kinder einer Food-Influencerin aufpassen sollte. Selbstredend hatten sie gemeinsam gebacken und gekocht, und verbunden mit Tildas Leidenschaft für Naschwerk und Süßes war dann daraus ihr Beruf – ach was: ihre Berufung! – entstanden.

Noch etwas hatte Tilda in die Hände gespielt: Während sie so vor sich hin trudelte, die Eltern früh verloren, ohne Mann, Kinder und festes Einkommen, hatte ihr eine entfernte Tante vor einigen Jahren dieses Haus vermacht. Einen mehrstöckigen Gebäudekomplex, mitten auf dem Kiez, mit Saal und Zwischenbau. Zu früheren Zeiten, in den wilden Zwanzigern, gehörte das Bellefleur zu den schillerndsten Etablissements der Stadt, mit Varieté, Tanzsaal und Modesalon, während des Krieges war hier ein Lazarett untergebracht gewesen, später dann eine Tanzschule. Lange Zeit hatten die prächtigen Räume im Erdgeschoss und ersten Stock danach leer gestanden, die Wohnungen obendrüber teilten sich Hausbesetzer und Obdachlose. Doch das Haus schien nur auf Tildas Tatendrang gewartet zu haben. Kaum hatte sie das Erbe angetreten, ließ sie das Gebäude räumen und renovieren, verkaufte einen Teil des Anwesens. Krempelte selbst die Ärmel hoch und verwandelte die alte Villa in unzähligen Stunden Arbeit in ein Kleinod ganz nach ihrem Geschmack, renovierte und restaurierte mit Stuck, Original-Farben und – Materialien. Nun bewohnte sie die Räume über dem Café mit angrenzender Backstube, hielt sich dort aber nur selten auf und wenn überhaupt in ihrem Bett, in das sie nach einem erfüllten Tag erschöpft hineinfiel und auf der Stelle einschlief.

Längst hatte es sich herumgesprochen, dass hier in Hamburg eine exzellente Zuckerbäckerin am Werk war. Tilda konnte sich vor Aufträgen kaum retten. Was ihre Konkurrenz mit Neid erfüllte, betrachteten ihre Freundinnen mit Sorge. Denn die viele Arbeit machte Tilda in ihren Augen zu einer Einzelgängerin, die sich außer für die Zutaten ihrer köstlichen Backwerke nur für ihre Bilanzen interessierte. Wenn sich Hannah, Anni und Mone zum Tanzen mit den Disco Boys oder im Gym zum Yoga trafen, stand Tilda in ihrem Laden. Sortierte Preisschilder, erstellte mit ihren beiden Angestellten den Wochenplan oder putzte Vitrinen, Regale und Maschinen. Wenn Hannah von ihren Dates mit Dimetrios, Karsten oder Sergio träumte, Anni Stress mit ihrem Ex hatte und Mone von den Trotzanfällen ihrer Tochter berichtete, schwärmte Tilda von erlesenen Zutaten wie Vanille, Rosenzucker und Pistazien, wählte zwischen Schokoladen mit 75 %, 80 % oder 85 % Kakaoanteil und kaufte auf dem Markt Früchte der Saison. Und wenn sich Hannah, Anni und Mone zum Sonntagsbrunch verabredeten, widmete sie sich mit Hingabe dem Studium neuer Rezepte, probierte und studierte die Zusammensetzung ihrer Törtchen und Füllungen, bis sie abends todmüde, aber überglücklich die richtige Komposition der Zutaten ausgetüftelt hatte und das Wochenende vorbei war.

Hannah, Anni und Mone waren sich nicht ganz einig darüber, ob sie neidisch auf Tilda sein sollten oder nicht. Hannah war Tildas älteste Freundin und hatte sämtliche Phasen der Geschäftsentwicklung hautnah miterlebt. Wie es sich gehörte, hatte sie ihr beim Streichen und Renovieren geholfen, sie bei der Wahl der Farben und Ausstattung beraten. Sie war es auch, die in den Tiefen des Kellers das alte Ladenschild aufgetrieben und das Café »Bellefleur« getauft hatte.

Doch seit ihrem dreißigsten Geburtstag vor einigen Wochen schien Hannah ihr Leben plötzlich angezählt zu fühlen, als hätte diese Zahl eine magische Bedeutung; auf einmal war sie der Meinung, sie brauchte nun endlich einen Mann, den sie heiraten und mit dem sie eine Familie gründen könnte. Um ihrem Glück ein Stück näher zu kommen, suchte sie auf verschiedenen Internetplattformen nach Mr. Right und hatte schon den einen oder anderen vermeintlichen Treffer gelandet. Jedes Mal aufregend, jedes Mal nicht von Dauer. An ihrer Suche nach einem passenden Partner wollte sie wohl auch ihre beste Freundin teilhaben lassen, ermunterte sie ebenfalls, sich umzuschauen. Schließlich ging auch Tilda auf die dreißig zu und hatte bisher keine Beziehung mit einem Mann gehabt, die man als »fest« bezeichnen konnte. In Hannahs Augen wurde es also höchste Zeit.

»Mir fehlt nichts«, wehrte Tilda dann jedes Mal lachend ab. »Ich habe doch noch nicht einmal Zeit, mich um den Garten zu kümmern! Siehst du die vermooste Terrasse und diesen alten Rosenstock inmitten des Unkrauts im Garten? Sie grüßen mich jeden Tag mit einem schlechten Gewissen, weil ich sie total vernachlässige. Was glaubst du, wie es da einem Mann an meiner Seite erginge?«

Damit war das Thema für sie erledigt. Doch Hannah war nicht die Einzige, die sich Sorgen um Tilda machte. Anni, selbst erfolgreich in ihrem Job als Marketingexpertin, war der Meinung, dass Tilda mit ihren Törtchen expandieren und einen Versandhandel aufmachen sollte. Mehr als einmal hatte sie ihr ein entsprechendes Konzept vorgelegt, doch Tilda wollte von alldem nichts wissen. Sie war glücklich mit ihrem kleinen Laden, hatte ihr Auskommen und wenig Interesse daran, im Internet Karriere zu machen. Was dabei rauskam, hatte sie damals in New York aus nächster Nähe miterlebt: eine ausgebrannte Starköchin, am Ende ohne Ruhm und Anerkennung. Vergessen von der Netzgemeinde, die sich im Wahn der schnellen Likes und Dislikes einen Ersatz gesucht hatte, der neu, vielversprechend und fancy war.

»Am Ende hab ich auch einen Burn-out wie du, nein danke«, war Tildas Standardantwort, wenn Anni wieder einmal Pläne schmiedete und begeistert davon schwärmte, wie Tildas Petits Fours, Tartes und Cupcakes von Hamburg aus die Welt erobern könnten.

Mone dagegen boykottierte Tildas Törtchen ganz offen und sparte nicht an Kommentaren. Mit bissigen Bemerkungen hetzte sie bei jeder Gelegenheit gegen alles, was ihrer Ansicht nach zu viel Zucker, Fett und Kohlehydrate enthielt. Dabei aß sie für ihr Leben gerne und hatte sich während ihrer Schwangerschaft ihren Gelüsten hemmungslos hingegeben.

Tilda kannte den Grund für Mones widersprüchliches Verhalten: Bei einem gemeinsamen Wellnesswochenende hatte sie sie einmal mit der Zahnbürste in der Hand vorm Klo erwischt. Seitdem beobachtete sie die Gewichtsschwankungen der Freundin mit größter Sorge. Mone wirkte unglücklich, dabei hatte sie doch eigentlich alles: Mit ihrer kleinen Familie lebte sie in einem Reihenhäuschen am Stadtrand, um Geld mussten sie sich keine Sorgen machen. Wenn sie sich trafen, was in jüngster Zeit immer seltener vorkam, erzählte sie stolz von ihrem wunderbaren Mann und der großartigen Tochter. Dann war wiederum Hannah neidisch, die sich nach einem Kind sehnte, und Anni verdrehte die Augen, weil Kinder in ihren Augen nur Zeitverschwendung waren. Tilda hörte unterdessen geduldig zu und stellte insgeheim die Zutatenliste für die Pistazienkrokant-Schnecken mit Vanillemohnmus zusammen.

Sie hätte auch an diesem Nachmittag einfach mit einem Ohr zugehört und nebenbei im Kopf an Rezepten gefeilt, wäre nicht plötzlich immer öfter ihr Name gefallen. Denn so unterschiedlich sie ansonsten waren, in einer Sache waren sich ihre drei Freundinnen einig: Tilda brauchte endlich einen Freund! Angesteckt von Hannahs Partnersuche im Internet hatten sie sich einer Mission verschrieben und mit Begeisterung ein Profil ausgefüllt, auf originellste Weise betextet. Natürlich hatten sie Tilda nicht lange um Erlaubnis gefragt, die die Aktivitäten ihrer Freundinnen augenrollend akzeptiert hatte. Aus Erfahrung wusste sie: Wenn Hannah sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es so gut wie unmöglich, es ihr wieder auszureden. Und sie fand es süß, dass sich ihre Freundinnen so um sie sorgten.

»Willst du so etwa zu deinem Date?«, fragte Anni und zupfte an Tildas Haaren herum. Sie hingen ihr in losen Strähnen aus dem Zopf, den sie in der Backstube immer trug. Für heute hatte sie bereits Feierabend gemacht. Seit einigen Wochen beschäftigte sie eine neue Mitarbeiterin, die ein außerordentliches Gespür für das Verfeinern des Gebäcks besaß. Renate hatte einen ganzen Koffer voller Gewürze und Aromen aus ihrer Heimat Namibia mitgebracht, und seitdem experimentierten die beiden in jeder freien Minute gemeinsam. Renate war ein echter Glücksgriff, und Tilda konnte sich voll und ganz auf sie verlassen.

»Welches Date?« Tilda schaute Anni fragend an und ging im Geiste ihren Terminkalender durch. Die Aufträge hatte sie alle abgehakt, und die Lieferung für die Firmenfeier des Hafenkontors stand erst kommende Woche auf dem Plan.

»Jetzt sag nicht, du hast es vergessen!« Hannah seufzte theatralisch.

»Typisch Tilda! Nur Kuchen im Kopf!« Das kam natürlich von Mone. »Du bist echt ein hoffnungsloser Fall.«

»Timon, der Sportlehrer! Jetzt komm, beeil dich. Ab unter die Dusche. Renate schmeißt den Laden. Und du dich in Schale.« Kichernd über ihren eigenen schlechten Sprachwitz schob Anni die Freundin die Treppe hinauf in die Wohnung.

»Was willst du überhaupt anziehen?« Sie stand vor Tildas Kleiderschrank, während diese im Bad verschwand.

»Jeans und Bluse, was sonst …«

»Nicht dein Ernst.« Anni kramte in Tildas Schrank herum, schien aber nichts Brauchbares zu finden. »Etwas aufregender darf es schon sein …«

»Ich werde mich nicht verkleiden, wenn du das meinst«, gab Tilda selbstbewusst zur Antwort und knöpfte sich die Hose zu. Eine Jeans, deren Schnitt ihr bisher piepegal war, weil sie sowieso die Backschürze darüber trug.

»Ach, Tildi, du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall. Aber genau deswegen hab ich dich so lieb«, meinte Anni seufzend und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Dann ließ sie ihren Blick durch die Wohnung schweifen. »Es ist ein Jammer, dass du nicht mehr daraus machst! Der Stuck an der Decke, die Holztüren … solche Räume sind in ganz Hamburg heiß begehrt, und hier auf St. Pauli noch mal mehr. Und du lässt sie einfach verkommen!«

»Was heißt hier verkommen?« Tilda zuckte mit den Schultern. »Ich habe weder Zeit noch Geld für aufwendige Renovierungsarbeiten. Für mich reichen Schlafzimmer und Küche.«

»Meine süße, bescheidene Tildi«, meinte Anni liebevoll. Dann zog sie sie mit sich. »Komm, wir schauen nach, ob wir im alten Ankleidezimmer etwas für dich finden.« Sie öffnete eine der Türen, die vom Flur abgingen, und lief zu einem Kleiderschrank. »Timon würde Augen machen, wenn er dich in so einem Flapperkleid kennenlernen würde«, rief Anni begeistert aus und hielt eins der Kleider in die Höhe. »Das sind wahre Schätze, die sich hier verbergen! Sie müssen ein Vermögen wert sein …« Beinahe ehrfürchtig strich sie über den feinen dunkelgrünen Chiffonstoff mit den eingewirkten glitzernden Fäden. »Ich wette, das hier würde dir ausgezeichnet stehen. Das war so eine wilde Zeit! Hast du nicht Babylon Berlin gesehen?«

»Jaja. Wild und gefährlich«, winkte Tilda ab und nahm ihr das Kleid aus der Hand. »Komm, gehen wir wieder. Du musst mich doch sicher noch schminken, oder?« Grinsend hielt sie der Freundin den Lippenstift hin. Doch die hatte etwas in der hinteren Schrankecke entdeckt. Tilda rollte die Augen. Anni liebte es, im Ankleidezimmer herumzustöbern.

»Was ist das denn? Ein alter Koffer. Weißt du, was da drin ist?« Neugierig zog sie ihn heraus und ließ das Schloss aufschnappen.

»Noch mehr Kleider«, winkte Tilda ab. »Und ein kleines Buch mit Bleistiftzeichnungen. Komm, lass gut sein, sonst verpasse ich das Date mit diesem Timon wirklich noch.«

Sie mochte es nicht, wenn jemand ungefragt in ihren Sachen wühlte. Dass die Kleider Geschichten erzählten, hatte sie auf den ersten Blick bemerkt. Eine Gänsehaut war ihr über den Rücken gelaufen, obwohl sie mit all der Vergangenheit in diesem Haus nichts zu tun hatte. Sie wusste kaum etwas über diese Tante, die sie zur Alleinerbin auserkoren hatte, und wollte von Familienangelegenheiten auch lieber nichts mehr wissen. Es war nicht immer leicht für sie gewesen, schon gar nicht nach dem Tod der Eltern. Sie war froh über diese Chance, sich ein eigenes Leben aufzubauen, ihren Traum zu leben, und sie genoss jeden Tag. Schließlich lebte sie im Hier und Jetzt. Und nicht in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts!

Als sie dann kurz darauf vor dem Spiegel saß und sich von Anni die Lippen nachziehen ließ, ertappte sie sich dann aber doch bei der Frage, wie ihr wohl das grün durchwirkte Flapperkleid stehen würde. Und eine Wasserwelle.

***

Es war dieses Gefühl, versagt zu haben. Noch schlimmer: totale Machtlosigkeit. Worte drangen aus ihrem Inneren, formten sich in ihrer Kehle zu Lauten ohne Sinn. Die Buchstaben bildeten keine Wörter, blieben stecken irgendwo zwischen einem unverständlichen Oarg und Aaah. Je weiter sie den Mund öffnete, je lauter sie sprechen wollte, desto schmerzvoller wurde ihr bewusst, dass niemand sie hörte. Tildas Verstand arbeitete unterdessen auf Hochtouren, ihr war klar, dass sie träumte, und doch gelang es ihr nicht, sich aus dieser Ohnmacht zu befreien. Aufzuwachen und dem Spuk ein Ende zu bereiten, atmen, sprechen, endlich richtig sprechen. Worte für das Unsagbare finden. Die Wahrheit.

Dann endlich: Mit einem Ruck setzte sie sich auf und tastete nach dem Licht. Ein rascher Blick auf den Wecker, wie immer war es zehn nach drei in der Nacht. Längst hatte Tilda aufgehört, ihre Träume zu notieren. Der Traum war stets der gleiche. Zurück im Bett tastete sie nach ihrem Handy. Das machte sie sonst nie, normalerweise drehte sie sich einfach auf die andere Seite und schlief weiter.

Jetzt deaktivierte sie den Flugmodus, beantwortete die neugierigen Fragen ihrer Freundinnen in der WhatsApp-Gruppe mit einem »Nein« und löschte Timons Kontakt mit einem Wisch. Das Date war der komplette Reinfall gewesen. Wer von ihnen beiden enttäuschter war, konnte sie gar nicht sagen, er hatte sich zumindest nichts anmerken lassen und ihr Fragen wie aus einem Katalog gestellt: Welche Musik sie gerne hörte. Welches Buch sie gerade las. Was ihr Lieblingsreiseziel war. Um es kurz zu machen: Er war ein uninteressanter Gesprächspartner. Ein Lehrer. Tilda fragte sich ernsthaft, was sich ihre Freundinnen dabei gedacht hatten, sie mit diesem Langweiler zusammenzubringen. Aber sie sparte sich die Nachfrage, sie hatten es ja nur gut gemeint, und ein bisschen gerührt war sie auch über ihre Bemühungen.

»Ich bin gerne alleine, damit ihr es wisst«, tippte Tilda noch in die Gruppe, dann löschte sie das Licht. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Unruhig wälzte sie sich hin und her. Kein einziger Trick half, und so stand sie schließlich auf, um zu tun, was sowieso zu tun war: Hefeteig ansetzen, Zuckervorräte auffüllen, Einkaufsliste schreiben. Renate hatte gestern Abend noch süße Kringel gebacken, die verführerisch duftend auf dem Tablett lagen, und Tilda wusste, ohne sie auch nur probiert zu haben, wie großartig sie schmeckten.

»Beste Zutaten für beste Produkte«, lautete ihre Devise, selbstverständlich fair gehandelt und bio. Die Kunden honorierten die Auswahl ihres üppigen Törtchenangebots, die Freude am Gaumen, der Genuss und der Moment des süßen Glücks waren jeden Cent wert. Mühe und Aufwand sowieso.

Nachdem Tilda ihre Vorräte sortiert und zu ihrer Zufriedenheit festgestellt hatte, dass alles in bester Ordnung war, bereitete sie sich einen Espresso. Das war die zweite Morgenroutine und eine der wenigen Auszeiten, die sich Tilda gönnte. Für einen Moment innehalten, vom Sofa aus nach draußen in den Innenhof schauen, der, obwohl verwildert und verwuchert, auf seine Weise romantischen Charme versprühte. Zu jeder Jahreszeit, dachte Tilda, während sie einen von Renates Kringeln kostete.

Sie waren himmlisch, nichts anderes hatte Tilda erwartet, vielleicht hätte sie das Mehl einen Hauch sparsamer verwendet, es schmeckte leicht krümelig heraus. Schon spukten ihr allerlei Ideen durch den Kopf, wie sie in ihrem traditionellen Süßgebäck Renates afrikanische Backaromen verwenden könnte. In einer Hamburger Konditorei erwartete man vielleicht nicht unbedingt Benjies und Dattelkonfekt, aber genau deswegen war es höchste Zeit, ihr Angebot internationaler zu gestalten. Niemand wollte immer nur Franzbrötchen essen. Und war nicht allerorten von der großen Offenheit der Stadt die Rede, von ihrer Willkommenskultur, Hamburg als Tor zur Welt? Sollte man das dann nicht auch schmecken?

Eifrig füllte Tilda die Seiten ihrer Kladde, die sie für solche Zwecke führte, machte Skizzen, wie das Gebäck präsentiert werden könnte, entwarf neue Formen. Längst hatte draußen der Morgen begonnen, hektisches Treiben des Berufsverkehrs. Passanten hetzten vorbei, Autos hupten, und drinnen saß Tilda konzentriert über ihr Heft gebeugt und bekam von alldem nichts mit.

Kein Wunder, dass ihre Freundinnen sie für weltfremd hielten. In Wahrheit beneideten sie Tilda um ihre Gabe, ihre Umgebung auszublenden und sich in eine Aufgabe zu vertiefen. Tagsüber funktionierte das wunderbar. Nur nachts, wenn sie von ihren Albträumen heimgesucht wurde, gelang es ihr immer seltener, wieder einzuschlafen.

»Du hast ja noch gar nicht aufgemacht«, begrüßte Renate sie, die schwungvoll die Ladentür aufschloss.

Gut gelaunt lief sie in die Backstube, wo man sie alsbald mit dem Rührgerät hantieren hörte. Zwischendurch holte sie die Zutaten aus dem Kühlhaus und prüfte die Auslagen in der Vitrine.

Sobald die ersten Kunden den Laden betraten, legte Tilda ihre Kladde zur Seite und tat das, was sie an ihrem Beruf am meisten liebte: den Menschen ein süßes Stück Glück verkaufen! Dafür war das Bellefleur längst über Hamburgs Stadtgrenzen hinaus bekannt.

Da war der reizende ältere Herr, der sich bereits am Morgen ein Stück Kuchen für den Nachmittag aussuchte. Diesmal Mandarine-Kokos. Die Dame, die eine Torte für die große Familie auswählte, Käse-Sahne, ganz traditionell. Angestellte, Männer wie Frauen, die sich auf dem Weg zur Arbeit einen Cupcake oder eine Zimtschnecke für die Kaffeepause holten. Und natürlich viele Touristen, die auf der Suche nach einem Geheimtipp in ihrem Lädchen gelandet waren und sich vor lauter Ahs! und Ohs! nicht mehr einkriegten. Den meisten waren Tildas Backwerke dann allerdings zu teuer, weshalb sie speziell für diese Klientel allerliebste Windbeutelchen im Angebot hatte, die sie Hamburger nannte und wahlweise mit Mohn- oder Rosensahne füllte.

Umso überraschter war sie, als an diesem Morgen ein junger Mann den Laden betrat, der eine üppige Hochzeitstorte bestellen wollte. Das kam in jüngster Zeit immer seltener vor. Entweder wurde weniger geheiratet oder weniger in Hochzeitstorten investiert, so ihre Vermutung. Er trug eine Cargohose, darüber einen Wolljumper und wirkte nicht wie jemand, der täglich Torte aß. Schon gar nicht so feines Gebäck, wie sie es im Angebot hatte.

»Mehrstöckig muss sie sein«, sagte er. »Ein imposantes Bauwerk. Mindestens wie die Sagrada Familia!«

»Sind Sie Architekt?«, fragte Tilda lachend und scrollte durch die Fotogalerie auf ihrer Website auf der Suche nach Vorschlägen für seinen ausgefallenen Tortenwunsch.

»Nicht für Gebäude, wenn Sie das meinen«, antwortete er und lächelte Tilda an.

Die guckte verwundert und musste kurz nachdenken, bevor sie verstand. »Ein Landschaftsarchitekt, wie schön!«, lächelte sie zurück, direkt in seine Augen, so dunkel wie Kakaobohnen.

»Es ist der schönste Beruf, den man sich vorstellen kann«, schwärmte er, nur um sofort innezuhalten. »Oh, Entschuldigung, abgesehen von Ihrem natürlich! Ihr Bellefleur ist wirklich ein wunderbarer Ort!«

»Danke!« Tilda grinste. »Es ist ein altes Gebäude aus der Gründerzeit, das wundersamerweise beide Weltkriege überlebt hat. Ich komme mit dem Renovieren kaum hinterher …« Huch, was sagte sie denn da? Sonst kokettierte sie doch auch nicht mit ihrer vielen Arbeit.

»Das kann ich mir denken. Vielleicht kann meine zukünftige Frau Ihnen dabei helfen? Sie ist Partnerin in einem großen Büro, das sich auf die Instandsetzung alter Villenhäuser spezialisiert hat.«

»Eine wunderbare Idee! Ich fürchte nur, das kann ich nicht bezahlen … Törtchen machen glücklich, aber nicht reich …«

Wieder so ein Satz, der normalerweise nicht über Tildas Lippen käme. Was war nur mit ihr los? Als ob sie die Protagonistin eines Frauenromans wäre.

»Keine Sorge. Da lässt sich bestimmt etwas machen. Sie kann sich ja mal unverbindlich die Räume anschauen. Nach der Hochzeit, versteht sich, sonst würde ich mich ja verraten. Die Torte soll nämlich eine Überraschung sein!« Er grinste verschmitzt.

»Sehr gerne!« Tilda lächelte irritiert. Was er ihr da vorschlug, klang gut. Jetzt hieß es, sich besonders viel Mühe zu geben.

»Wie soll die Torte denn gefüllt sein? Buttercreme oder lieber etwas Leichtes, Fruchtiges? Gibt es Geschmacksvorlieben?«

Doch er schüttelte den Kopf. »Das überlasse ich ganz Ihnen! Bitte, ich habe überhaupt keine Ahnung. Zaubern Sie einfach eine Torte ganz nach Ihren Vorstellungen. Ich bin mir sicher, Sie werden mich nicht enttäuschen.« Wieder lächelte er sie an, und ihre Wangen wurden warm.

»Ich verspreche, es wird die schönste Torte der Welt!«, antwortete Tilda und notierte sich die Daten.

»Johannes Gärtner, welch treffender Name«, sagte sie. Noch so eine Bemerkung, die sie sich nicht verkneifen konnte. Tilda rollte insgeheim die Augen über sich selbst.

»Aber mit Tradition!«, behauptete er grinsend und wandte sich zum Gehen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. »Was ist das?«, fragte er und deutete mit dem Kopf Richtung Hinterhof.

»Mein Dschungel?!«, versuchte es Tilda mit einem Witz.

»Ein verwilderter Garten, das sehe ich!« Johannes grinste. »Den meine ich nicht. Dieser Rosenstock … Darf ich mal?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, durchschritt er das Café und öffnete die Tür. Kalte Luft wehte herein, es war noch empfindlich frisch, obwohl bereits die Forsythien blühten. In der Tat sah die Rose mickrig aus.

»Am Frost dürfte es nicht gelegen haben«, meinte Johannes, während er fachmännisch den Stock begutachtete. »Ich glaube, er gehört einmal ordentlich beschnitten. Und ein bisschen frische Erde täte ihm gut.«

»Sie glauben wirklich, der kommt wieder? Seit ich hier wohne, hat er nur ganz wenige Blüten angesetzt. Ich habe schon überlegt, ihn komplett zu entfernen.« Tilda beschlich ein schlechtes Gewissen. Vor lauter Arbeit hatte sie sich in den vergangenen Monaten überhaupt nicht mehr um die Pflanzen in ihrem Garten kümmern können.

»Was? Um Gottes willen, bloß nicht!« Johannes guckte entsetzt. »Dieser Rosenstock sitzt hier schon seit Jahrzehnten. Es gibt nur wenige Sorten, die so alt werden. Glauben Sie mir, ich kenne mich damit aus. In den Blankeneser Gärten gibt es viele Rosen …«

»Wenn Sie meinen … Ich wollte längst die Terrasse für den Sommer hergerichtet haben. Doch ich finde keine Zeit, mich darum zu kümmern. Und das nötige Kleingeld fehlt mir ehrlicherweise auch.«

»Verstehe.« Johannes sah sich nachdenklich auf dem verwilderten Grundstück um. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie zaubern mir die schönste Torte von ganz Hamburg. Und ich kümmere mich um dieses Kleinod hier. Wenn ich mich nicht täusche, war das dahinten sogar mal ein Gartenteich. Den könnten wir ausheben und neu anlegen, vielleicht mit ein paar Seerosen …«

Bei seinen Worten war Tilda blass geworden. »Wie bitte? Einen Gartenteich? Bloß nicht!«

»Vorsicht!« Johannes hatte sie im letzten Augenblick am Arm gehalten, sonst wäre Tilda gestrauchelt. »Was ist denn los? Geht es Ihnen nicht gut? Warten Sie, ich bringe Sie rein und hole ein Glas Wasser.«

Fürsorglich wollte er Tilda Richtung Sofa führen, doch die winkte ab.

»Danke. Besser Sie gehen jetzt. Ich komme schon klar.«

Hinterher bereute Tilda ihr unwirsches Verhalten. Da hätte sich endlich mal jemand um ihren Garten gekümmert, und dann hatte sie ihn einfach hochkant hinausgeworfen. Ihr blieb kaum Zeit, darüber nachzudenken. Im Laden herrschte mittlerweile Hochbetrieb, ganz Hamburg, ach was: die Welt schien heute Limettentörtchen und Erdbeerkanapees kaufen zu wollen. Irgendwo hatte wohl irgendwer vom Bellefleur geschwärmt und ihr Ladenschild in die Kamera gehalten, wahrscheinlich eine dieser followersüchtigen Instaqueens von der Großen Freiheit. Als Tilda abends endlich die Ladentür schloss, war bis auf den letzten Krümel alles ausverkauft. Da würden sie morgen ordentlich früh mit dem Backen beginnen müssen, wollten sie später genügend anzubieten haben. Aber für heute reichte es.

Tilda wollte gerade, todmüde wie sie sich fühlte, die Treppe hinauf, da klopfte es an der Scheibe. Sonst drehte sie sich nie nach irgendwelchen Nachzüglern und Zuspätkommern um. An diesem Abend tat sie es. Es war Johannes, der ihr mit der Rosenschere in der Hand zuwinkte.

»Es tut mir leid, wenn ich heute früh etwas Falsches gesagt habe«, entschuldigte er sich, als sie die Tür öffnete. »Deswegen bin ich noch einmal hergekommen. Und vielleicht um schnell noch den Rosenstock zu beschneiden …« Er lächelte Tilda abwartend an.

»Ähm. Ja. Danke«, stammelte sie. Irgendwie kam sie an diesem Tag mit dem Fühlen kaum hinterher. Erst diese aufwühlende Nacht, der arbeitsreiche Tag und dann Johannes’ Begeisterung für ihre Rose. Und die Bemerkung mit dem Gartenteich, an die sie die ganze Zeit denken musste. Jetzt lief er wie selbstverständlich nach draußen, zückte seine Rosenschere und schnitt dann fachmännisch etliche Triebe zurück.

»Und die kommt wieder?« Tilda schaute mit einer Mischung aus Entsetzen und Bewunderung auf den gestutzten Rosenstamm.

»Es muss eine Bourbonrose sein, wenn ich mich nicht täusche. Was denkst du, welche Farbe sie hat? Ich glaube Rosé. Leicht pudrig, mit einem vollen Bouquet.« Wie selbstverständlich war er zum Du übergangen. Beinahe liebevoll betrachtete er sein Werk, dann schob er mit den Schuhen die Zweige zu seinen Füßen zusammen.

»Das mache ich morgen«, winkte Tilda ab.

Einen Moment lang standen sie unschlüssig davor, beide in Gedanken versunken. Der Rosenstock wirkte nun seltsam korrekt inmitten dieser Wildnis. Es wurde wirklich höchste Zeit, den Garten neu anzulegen. Dann könnten die Gäste im Sommer draußen sitzen …

»Magst du noch einen Tee trinken?«, fragte Tilda unvermittelt. »Ich wollte mir gerade einen kochen.« Was nicht ganz stimmte. Aber Johannes’ Gesellschaft tat ihr gut, sie wollte jetzt noch nicht wieder alleine sein.

»Gerne!«, antwortete er, als hätte er auf die Einladung gewartet. Dann trat er einen Schritt zurück und begutachtete abermals die Rose. »Noch ein bisschen frische Erde und ich verspreche dir eine Blütenpracht sondergleichen! Die noch anstehenden Nachtfröste werden ihr nicht schaden.«

Obwohl sie alles aufgeräumt und geputzt hatte, hing im Café noch der typische Geruch nach warmen Speisen und Getränken, diese süße Schwere, mit der sich Tilda so gerne umgab. Der schönste Ort, den sich Tilda vorstellen konnte, abgesehen von ihrem Bett. Besonders heimelig war das Sofa vor dem Kamin, auf dem sie es sich jetzt gemütlich machten.

»Schön hast du es hier, beneidenswert«, meinte Johannes und legte wie selbstverständlich ein Holzscheit nach.

»Ich bin mir sicher, du hast ein todschickes Haus, das nicht an allen Ecken und Kanten renoviert werden müsste.« Tilda balancierte zwei Tassen Tee auf einem Tablett.

»Superschick. Überall Beton. Schotter. Bambus. Das neue Grün.« Er verzog das Gesicht und prostete Tilda mit dem dampfenden Becher zu.

Eine Weile unterhielten sie sich über dies und das, die bevorstehende Hochzeit, die schwierige Anzugswahl, den passenden Brautstrauß, den Stress, den so ein Hochzeitsplaner verbreitete, obwohl er das Brautpaar eigentlich entlasten sollte. Deswegen hatte Johannes die Sache mit der Torte selbst in die Hand genommen.

Johannes erzählte von den wundervollen Gärten am Elbufer, die er betreute, von der herrlichen Pflanzenvielfalt, die er dort erleben durfte, all den Stauden, die jetzt noch unter der Erde versteckt im Winterschlaf verharrten, alsbald ihre ersten Triebe herausbilden und im Sommer bis zu eineinhalb Meter hoch wachsen würden.

»Unvorstellbar«, schwärmte er. »Alles karg und nur Erde. Und dann beginnt es zu blühen … der Kreislauf des Lebens. Das ist wirklich immer wieder faszinierend, findest du nicht? Und mancher Lebenswille ist so stark, den kannst du einfach nicht zerstören. Wie bei deiner Rose. Mich würde interessieren, was sie schon alles erlebt hat. Wer sie gepflanzt hat … und wie es hier früher einmal aussah. Dieser Garten mit seinem kleinen Teich muss wunderschön gewesen sein, ein Kleinod, mitten in der Stadt … Oh, entschuldige …« Er biss sich auf die Lippe.

»Meine Schwester ist vor meinen Augen ertrunken«, sagte Tilda unvermittelt.

»Deswegen.« Johannes guckte sie mit seinen dunklen Augen mitfühlend an. »Wie furchtbar. Das tut mir leid.«

»Wir waren unzertrennlich, musst du wissen, wie beste Freundinnen. Wir sind nur ein Jahr auseinander.«

Tilda hielt kurz inne. Es war, als wäre es gestern gewesen, so lebhaft hatte sie die Zeit mit ihrer Schwester noch in Erinnerung. Wie sie der Mutter beim Plätzchenbacken halfen. Wie Tina so viel schneller laufen konnte und immer gewann, immer verrückte Ideen hatte, die ihr schließlich zum Verhängnis wurden.

»Wir haben auf der Wiese am Seerosenteich gespielt, gemeinsam mit unserem Freund Ole. Ich war fast neun und Tina zehn Jahre alt. Wie immer haben wir die großen Sommerferien bei Tante Frauke und Onkel Frieder auf dem Hof verbracht«, begann sie zögernd. »Am Ufer war ein Stück Wiese abgebrochen, in der Mulde schwammen Kaulquappen. Die wollten wir fangen, allen voran Tina. Aber sie schaffte es nicht. Also ist sie zu ihnen in den Teich gestiegen … dabei ist sie ausgerutscht.«

Tilda hielt inne. Es war Jahre her, und doch war die Erinnerung an jenen Moment ganz klar. »Ich wollte ihr helfen, doch der Untergrund war so glitschig, dass ich selbst beinahe hineingefallen wäre. Ole ist losgelaufen, um Hilfe zu holen … und ich musste mit ansehen, wie Tina vergeblich versuchte, sich zwischen den Seerosenblättern über Wasser zu halten. Ihre Kleider hatten sich vollgesogen und zogen sie nach unten … Ich habe ihr einen Ast zugeschoben, um sie daran rauszuziehen, doch er war zu klein, ich war zu klein. Obwohl ich schwimmen konnte und sie auch. Dann kam mein Onkel, er hatte sich bereits im Laufen die Kleider ausgezogen.«

Johannes hörte ihr aufmerksam zu, ganz ruhig saß er da und stellte keine Fragen, ließ sie einfach reden.

»Was dann geschah, daran erinnere ich mich nicht so genau, vieles weiß ich nur aus Erzählungen. Onkel Frieder hat sie nach etlichen Versuchen herausgefischt, immer wieder ist er auf der glitschigen Teichfolie ausgerutscht, bis er sie irgendwann zu fassen bekam und draußen reanimieren konnte. Im Krankenhaus hat man Tina dann ein paar Tage ins künstliche Koma versetzt. Als sie aufwachte, war sie gesund und konnte sich an alles erinnern.«

Tilda schüttelte unwillkürlich den Kopf, als könnte sie es selbst kaum fassen, dass ihre Schwester das Unglück überlebt hatte.

»Meine Eltern haben mich damals nicht zu ihr gelassen. Wahrscheinlich wollten sie mir den Anblick meiner Schwester auf der Intensivstation ersparen. Später habe ich erfahren, dass es ihr gut ging, sie konnte sogar mit ihren Freundinnen telefonieren. Nur mit mir nicht. Das beschäftigt mich bis heute …«

Tilda seufzte, dann beugte sie sich vor, die Tasse in ihrer Hand fest umklammert, und sagte wie zu sich selbst: »Alle haben gesagt: Zu deinem Geburtstag kommt sie wieder nach Hause. Doch einen Tag vor meinem Geburtstag ist sie an einer Hirnhautentzündung gestorben.«

Längst hatte sich die Dunkelheit über den Laden gesenkt, das Flackern im Kamin warf nur ein schwaches Licht in den Raum. Johannes hatte ihr aufmerksam zugehört, nun griff er nach ihrer Hand und drückte sie.

»Das … das muss sehr schwer für dich gewesen sein. Der Unfall, der Tod. Und alles, ohne Abschied nehmen zu können. Das tut mir aufrichtig leid.«

Wie lange sie an diesem Abend noch Hand in Hand vor dem Kamin saßen, vermochte Tilda im Nachhinein nicht zu sagen. Denn auch als das Feuer längst erloschen war, fühlte sie sich so warm und geborgen wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

***

»Das glaub ich jetzt einfach nicht!« Mit gespielter Empörung hielt Hannah ihr das Handy unter die Nase. »Du hast den Kontakt einfach gelöscht? Und was heißt hier: Ich bin gerne alleine?!«

»Typisch Tilda!«, grinste Anni. »Erzähl, woran lag’s? Hatte er Mundgeruch, schiefe Zähne? War er aufdringlich?«

Wie jeden Montagabend saßen sie im Café. Ein Stammtischritual, das sich die Freundinnen über all die Jahre, Partnerschaften und Schwangerschaften erhalten hatten. Am späten Nachmittag trafen sie sich bei Tilda, bekamen einen Kaffee und eine ihrer neuesten Kreationen serviert. Nach Feierabend gesellte sich dann Tilda dazu und öffnete einen Crémant.

»Er war langweilig. Mehr gibt es nicht zu sagen«, meinte Tilda und schenkte sich entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit noch mal nach. Sie trank selten Alkohol und vertrug ihn noch weniger. Aber heute war ihr danach.

»Was fandest du denn langweilig?«, hakte Mone nach, die immer alles genau wissen wollte.

»Du hast eben zu hohe Ansprüche«, kicherte Anni. »Nobody is perfect!«

»Du musst es ja wissen!« Tilda grinste. Sie wollte das Gespräch bloß nicht in ernste Bahnen abdriften lassen. »Er ist groß, schlank, sportlich, gut aussehend … und ich sehe aus wie ein Muffin mit Kirschsahnefrosting.«

»Passt doch!«

»… und er hat mir in einer Tour von seinen Erfolgen erzählt. Triathlet, müsst ihr wissen. Seine täglichen Trainingseinheiten, Schwimmtechnik, Lauf-ABC … der Typ hat sie doch nicht mehr alle. Außer Sport kennt der keine Themen.«

»Sagt eine, die jede Zuckerperle ihres Angebots persönlich aussucht.« Mone tockte sich spöttisch an die Stirn. »Komm schon, Tilda, das klingt doch mega interessant! Der ist Lehrer, hat ein sicheres Einkommen, mag Kinder …«

»… und hat sicher einiges auf dem Kasten!« Hannah machte eine anzügliche Bewegung, woraufhin sich betretenes Schweigen einstellte.

»Jetzt guckt nicht so prüde! Ohne Mann wird das nie was mit einer Familie! Wir werden nicht jünger. Mein Frauenarzt sagt immer …«

»… ab fünfunddreißig wird eine Schwangerschaft immer unwahrscheinlicher«, vollendeten die Freundinnen ihren Satz im Chor, und jetzt mussten sie doch alle lachen. Wie oft hatte Hannah davon erzählt, jedes Mal, wenn sie von einem Routinebesuch zurückkam. Auch wenn sie die toughe Karrierefrau gab, sehnte sie sich insgeheim nach einer Familie. Und nach einem Mann, der diese Sehnsucht mit ihr teilte.

»Und wenn ich das gar nicht will?« Tilda sagte es so dahin. Lieber über Kinderwunsch diskutieren als über einsame Stunden im Bett. Zumal es für sie außer Frage stand. Niemals wollte sie ein Kind haben. Die Verantwortung. Die Angst vor dem Verlust. Vor allem die Angst vor dem Verlust. Was, wenn es krank würde? Aus dem Haus ginge? Oder, noch viel schlimmer, vor ihr sterben würde?

Prompt sprang Mone darauf an. »Und warum willst du das nicht? Bewusst oder unbewusst sehnt sich doch jede Frau nach einem Kind. Es ist so etwas Wunderschönes, so ein kleines, zart duftendes Köpfchen an deiner Brust, das sich an dich schmiegt …«

»… und den letzten Tropfen Milch aus deinen Brüsten ausquetscht?« Anni schüttelte den Kopf. »Also sollte ich eines Tages doch einmal schwanger werden, gibt es erstens einen Kaiserschnitt und zweitens die Flasche.«

Woraufhin Mone die Augen rollte und ihr wortreich die Vorteile des Stillens und einer Spontangeburt auseinandersetzte.

Hannah war unterdessen immer stiller geworden. Angespannt drehte sie das Glas in ihrer Hand. Tilda fiel auf, dass sie bisher keinen einzigen Schluck getrunken hatte.

»Ich finde das unerträglich, diese ständige Fragerei. Bei jeder Familienfeier, beim Klassentreffen, immer diese Blicke. Und meine Mutter erst! Mich nervt das und setzt mich total unter Druck.« Jetzt prostete sie doch den anderen zu und trank das Glas in einem Zug leer.

»Das geht niemanden etwas an«, versuchte Anni, sie zu trösten, und schenkte allen nach. »Ich muss mich doch nicht dafür rechtfertigen, dass ich mir aus einer Herdprämie und Rotznasen nichts mache.«

»Und ich mich nicht dafür, dass ich bald zwei Kinder habe!« Mone schnaubte. Wie immer, wenn es um dieses Thema ging, fühlte sie sich angegriffen. Weil ihr Mann jobbedingt unter der Woche selten zu Hause war, kümmerte sie sich alleine um die Familienangelegenheiten, schmiss Küche, Kind und Haushalt. Alles blieb an ihr hängen, inklusive Eltern und Schwiegereltern, die mit zunehmendem Alter immer seltsamer und gebrechlicher wurden. Tilda wusste nicht, ob sie Mone bedauern oder bewundern sollte. In ihren Augen lebte sie ein Leben für die anderen und nicht für sich. Gleichzeitig war, was sie tat, so wichtig. Umsorgte mit Liebe und Hingabe ihre Angehörigen, tröstete, hörte zu, kochte und putzte. Und war unter ihren Freundinnen diejenige, die einen Topf Suppe samt einer Packung Aspirin vorbeibrachte, wenn eine von ihnen krank im Bett lag.

»Du bist wieder schwanger?« Hannah kapierte als Erste, was Mone so leichthin erwähnt hatte.

»Wie großartig, ich gratuliere!« Tilda fiel der Freundin um den Hals.

»Glückwunsch!« Das kam von Anni.

»Wann ist es denn so weit?«, fragte Tilda. »Damit ich rechtzeitig die Torte fertig habe«, fügte sie grinsend hinzu, weil Mone zögerte. Babytorten waren gerade groß in Mode.

»Komm mir bloß nicht mit so einer Gender Reveal Party!« Mone stand das blanke Entsetzen im Gesicht. »Es reicht, dass ich wieder schwanger bin.«

»Freust du dich denn gar nicht?« Hannah sah sie fragend an.

»Sehe ich so aus? Mir ist dauerübel, und müde bin ich auch. Meinst du, darauf nimmt irgendjemand Rücksicht?«

»Hättest ja verhüten können«, meinte Anni, wie immer direkt.

»Hätte, hätte. Passt schon, wie wir Franken sagen. Eigentlich wollte ich wieder arbeiten gehen, aber Luciano meint, ein Jobwechsel sei nicht in Sicht. Und wie soll das dann gehen? Er ist unter der Woche weg, ich mit zwei Kindern und dazu noch arbeiten?«

Die Freundinnen schwiegen. Nachdenklich schaute Tilda sie der Reihe nach an. Keine von ihnen wirkte heute besonders glücklich und entspannt. Vielleicht lag es an dem trüben Wetter da draußen. Auch wenn die Forsythien schon blühten, sah es noch lange nicht nach Frühling aus. Flüchtig spähte sie nach dem Rosenstock. Niemandem war bisher aufgefallen, dass er beschnitten worden war. Auch nicht, dass sie die Erde drum herum gelockert und erneuert hatte.

Tilda wollte gerade fragen, ob sie nicht alle mal wieder gemeinsam für ein langes Wochenende an die Nordsee fahren wollten, da fing Hannah wieder an.

»Wenn alle ständig von dir erwarten, dass du schwanger wirst, klappt es nicht. Kein Wunder.« Sie verzog ihr Gesicht.

»Jetzt sag bloß nicht, du lässt es jedes Mal darauf ankommen?« Anni stupste sie scherzhaft an die Schulter. »Mach mich nicht zur Tante! Dafür bin ich nicht gemacht. Im Ernst jetzt?«

Zur Antwort prostete ihr Hannah nur vielsagend zu.

»Als Alleinerziehende hast du keine Chance«, pflichtete Mone Anni bei. »Da fällst du durch alle Raster! Ich weiß das von einer Mutter aus dem Kindergarten. Immer im Stress. Immer alleine. Kein Geld. Und nie hat sie Zeit, Kuchen zu backen oder mitzubasteln.«

»Na und?« Hannah zuckte mit den Schultern. »Das werden wir dann ja sehen.«

»Ich finde das unverantwortlich! Jedes Kind hat ein Recht auf seinen Vater. Und jetzt erzähl mir nicht, du würdest Jan, Sergio oder wen auch immer dann in die Pflicht nehmen.« Anni schüttelte den Kopf und öffnete die nächste Flasche Crémant.

»Nur weil du deine Eizellen hast einfrieren lassen.« Plopp. Hannahs Bemerkung knallte mit dem Korken in die Luft.

»Wie bitte?« Mone schaute Anni fragend an, und Tilda wäre am liebsten unter dem Tisch verschwunden. Oder noch lieber in ihrem Bett, alleine, völlige Ruhe, ungestört … Schlafmaske auf, Augen zu und einfach nur schlafen, dem Irrsinn der Welt entfliehen.

»Was dagegen? Jetzt komm mir nicht mit moralischen Vorbehalten, die habe ich mit Hannah schon alle durchgekaut. Weil ich dachte, sie kann dieses Geheimnis für sich behalten.« Anni schaute die Freundin vorwurfsvoll an.

»Entspann dich. Mittlerweile bin ich ganz deiner Meinung. Wenn es beim nächsten Mal wieder nicht klappt, werde ich mich auch um einen Termin kümmern.« Hannah zuckte mit den Schultern. »Wir haben die Möglichkeit dazu. Feiern wir die beste Zeit unseres Lebens, machen wir Karriere! Und verschwenden wir unsere Zeit nicht mit Rotznasenputzen!« Sie prostete in die Runde, aber es wirkte nicht fröhlich.

»Du trinkst zu viel.« Mone nahm ihr das Glas aus der Hand, sie schien Hannahs Worte völlig falsch zu verstehen. »Du bist also der Meinung, ich verschwende meine Zeit? Hast du nicht gerade eben selbst gesagt, dass unsere biologische Uhr tickt? Ich sag dir mal was, Hannah, wenn der richtige Mann kommt, dann ist es egal, wie alt du bist, auf welchem Karriereleiterchen du gerade stehst oder ob du deine Nächte lieber im Club verbringen willst. Dann weißt du es nämlich: Er ist es, der eine, mit dem du alt werden möchtest, neben dem du einschlafen und aufwachen willst. Und der der Vater deiner Kinder werden soll. Mal abgesehen davon, dass ich auf den Elternabenden nicht für die Oma gehalten werden will.«

»Amen«, rief Tilda, um die Situation aufzulockern, und da mussten zum Glück alle lachen, selbst Mone. Und weil in diesem Moment ihr Handy eine Nachricht piepste und alle neugierig auf das Display starrten, war das Thema endlich vom Tisch. Zumindest fürs Erste.

»Ich dachte, Timon und du, das wird nichts?!« Hannah hatte als Erstes nach dem Handy gegriffen. »Hey, das war schön mit dir. Hoffe, wir sehen uns bald wieder, T.«, las sie vor. »Na, den hast du beeindruckt!«

»Nicht ich, sondern das Vanillepastetchen«, kicherte Tilda. Einen unvernünftigen Moment lang hatte sie gehofft, die Nachricht wäre von Johannes. Aber der war ja verlobt und würde sich erst melden, wenn der Hochzeitstermin näher rückte, um Details wie Füllung und Dekoration der Torte zu besprechen. Über die »Bauweise« konnte sie sich so lange schon Gedanken machen, schließlich galt es, seine Zukünftige zu beeindrucken – die Tochter eines der erfolgreichsten Architekten der Stadt.

»Gib das wieder her! Was hast du getippt?« Tilda nahm ihr rasch das Handy aus der Hand. »Nicht dein Ernst. Das hoffe ich auch, Smiley. Komm schon, Hannah, der Typ ist der Langweiler vor dem Herrn. Warum tust du mir das an?«

»Wahrscheinlich will sie ihn selber daten«, mutmaßte Anni und stupste Hannah in die Seite. »Dimetrios, Karsten und Sergio waren wohl nicht gut genug.«

»Vergessen wir’s«, meinte Hannah gespielt düster und prostete in die Runde. »Dann sterb ich wohl als alte Jungfer!«

»Wir haben doch uns!«, tröstete Tilda sie. »Wozu brauche ich denn unbedingt einen Mann? Ich habe doch alles! Ein florierendes Café, tolle Freundinnen …«

»… ein baufälliges Haus, einen verwucherten Garten …«, meinte Mone

»… keine Freizeit, keinen Spaß, keinen Sex … nur einen alten Koffer und alte Kleider.« Das kam natürlich von Anni.

»Ich weiß nicht, was ihr habt! Ich bin zufrieden! Und ihr solltet auch stolz sein auf das, was ihr leistet.« Tilda trank ihr Glas in einem Zug leer. Was war nur heute mit ihren Freundinnen los?

Nachdem sie gegangen waren, saß Tilda noch eine Weile da. Auf dem Sofa. Ganz still und ruhig war es, nur die brennenden Holzscheite knisterten. Wie am Tag zuvor. Sie fühlte sich nicht alleine. Eine wohlige Wärme erfüllte sie, ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen.

Beinahe hätte sie vergessen, wie das war: Die Vertrautheit mit einem anderen Menschen, Liebe, Hingabe, Zärtlichkeit. In all den Jahren war sie innerlich so leer gewesen, hatte diese Sehnsucht tief in ihrem Herzen vergraben, bloß nichts fühlen, nichts spüren, keine Verletzungen mehr. Ihre Freundinnen hatten recht, Tilda hatte verlernt zu lieben. Wollte sie es nicht mehr oder konnte sie es nicht mehr?

Unwillkürlich wanderte ihr Blick nach draußen zu dem Rosenstock, der einsam und verlassen der kalten Frühlingsluft trotzte. Wie schön wäre es, ihn wieder in voller Pracht zu erleben! Tilda stand auf und suchte nach einer Gießkanne.

NORDDEUTSCHLAND 1931

HALS ÜBER KOPF

Vickys Herz fühlte sich an wie ein Frosch. Auf und ab hüpfte es, ließ sich weder beruhigen noch festhalten. Der Puls rauschte in ihren Ohren, alles pochte. Völlig außer sich hatte sie ihren Koffer gepackt, Mieder, Blusen, Röcke, alles achtlos hineingeworfen und in der Eile die Zahnbürste vergessen. Während die Männer sich im Kaminzimmer bei einer Zigarre unterhielten, war sie durch den Dienstboteneingang geflohen. Martha hatte einen entsetzten Laut ausgestoßen und beinahe die Teller auf den Küchenboden fallen lassen, als Vicky an ihr vorbeigeeilt war, sie aber nicht daran gehindert, die Tür aufzustoßen und ins abendliche Dunkel zu entkommen. Es wäre ihr auch nicht gelungen, nichts und niemand hätte Vicky im elterlichen Haus halten können.

Freiheit. Endlich Freiheit. Für immer frei von Schuld und Vorwürfen sein. Niemand mehr würde über sie bestimmen.

Jetzt lief sie, ach, rannte sie durch den Willenbrock’schen Park, sah in der Dunkelheit kaum, wohin sie trat, rutschte beinahe in den Seerosenteich und stolperte durch eine Pfütze. Der Koffer polterte bei jedem Schritt an ihr Bein, Äste und Zweige schlugen ihr ins Gesicht und verfingen sich in ihren Haaren, doch Vicky spürte keinen Schmerz. Weiter, weiter, bloß nicht stehen bleiben, am Ende würde der Vater ihre Flucht doch noch bemerken und sie mit seinem Automobil einholen. Oder schlimmer, die Hunde auf sie jagen. Oder Johann mit dem Pferd. Ausgerechnet.

Beim Gedanken an den Gärtnerssohn hielt Vicky für einen Moment inne und schnappte nach Luft. Johann und sie waren aufgewachsen wie Geschwister, hatten zur gleichen Zeit die Windpocken durchlebt und zusammen die Schulbank gedrückt. Aber während sie als älteste Tochter des Hauses gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen musste, arbeitete er bei seinem Vater im Gewächshaus, kümmerte sich um seine Setzlinge und trällerte dabei die Schlager der Comedian Harmonists. Wenn sie auf langweiligen Tanzabenden noch langweiligeren Jünglingen, die es auf ihr Erbe abgesehen hatten, Migräne vorschwindelte, veredelte Johann mit dem Okuliermesser Wildrosen oder studierte die Vererbungslehre Mendels. In jüngster Zeit waren sie einander fremd geworden, zu unterschiedlich ihre Interessen.

Schnell wischte Vicky den Gedanken zur Seite. Nein, Johann würde ihr ganz bestimmt nicht nachreiten, der war mit seinen Rosen beschäftigt. Versessen strebte er danach, endlich eine wetterfeste Art zu züchten, die den stürmischen Winden des Nordseeklimas trotzte.

»Da hast du dir etwas Schönes eingebrockt, Vicky Willenbrock«, tadelte sie sich selbst, zog die Nase hoch und lief weiter. Das hatte ihre Mutter immer gesagt, wenn ihre Älteste mit zerrissenen Röcken nach Hause gekommen war und erklären sollte, was geschehen war. Unmöglich zuzugeben, dass sie auf den Klippen herumgeklettert oder ohne Sattel geritten war. Stattdessen hatte Vicky behauptet, sie sei an einer der Strauchrosen hängen geblieben, weil sie Johann geholfen habe. Was glatt gelogen war. Johann duldete keine Hilfe. Er war ein Eigenbrötler und würde es immer bleiben. Für ihn gab es nur Gloria, sonst keine. Und die war eine Rose. Aus alter Freundschaft jedoch ließ er Vicky niemals auffliegen.

Eilig rannte Vicky weiter, duckte sich rasch in den Schatten einer Pappel, als ihr jetzt auf der Allee ein Automobil entgegenkam, die Scheinwerfer blendeten grell. Vicky hielt den Atem an und versteckte sich hinter dem Stamm, als das Auto stoppte und der Fahrer ausstieg. Hatte er sie bemerkt? Er lief nur einmal um den Wagen herum, wackelte am rechten Vorderreifen, um sich dann eine Zigarette anzuzünden und wieder einzusteigen. Eine Weile saß er noch rauchend im Auto, dann fuhr er mit quietschenden Reifen weiter Richtung Herrenhaus.

Erleichtert setzte Vicky ihren Weg fort, der Mond leuchtete zwischen Wolkenfetzen. Ihr Herz hämmerte immer noch, nur langsam beruhigte sich ihr Puls. Trotzdem blieb sie stehen. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, sich auszumalen, wohin das alles nun führen sollte und wie die Geschichte ausgehen könnte. Sie wusste nur eins: Sie würde nicht zurückgehen, sie musste weg aus Willenbrock, und zwar so schnell wie möglich!

Vicky hastete weiter, während in ihr ein nie gekannter Gefühlssturm tobte – Wut, Enttäuschung, Liebe. Die Flucht war ihre einzige Chance. Ein besseres Leben in der Stadt. Sie würde studieren, arbeiten, frei sein. Endlich die Anerkennung erfahren, die ihr gebührte. Und das schreckliche Unglück vergessen.

Was hatte sie nicht alles getan, um es ihrem Vater recht zu machen. Selbst wenn er sich immer einen Sohn gewünscht hatte, musste er nach all den Jahren doch einsehen und bemerken, dass sie als Frau genauso hart arbeiten konnte! Vicky hatte es ihm in jeder freien Minute, die sie nicht in der Schulbank verbringen musste, zu beweisen versucht. Hatte immer auf dem Hof mit angepackt, die Pferde angespannt und sie mit dem Pflug über den Acker getrieben, gemeinsam mit den Arbeitern die Hecken gestutzt und unzählige Wildlinge in die lehmige Erde gesetzt. Wenn sich dann im Sommer rund um Willenbrock ein farbenprächtiges Blütenmeer erstreckte, die Rosen einen lieblichen Duft sondergleichen verströmten, ein Fest für Augen und Nase, entschädigte sie das für entbehrungsreiche Stunden, in denen sie nicht ihrer Leidenschaft nachgehen konnte.

Vicky zeichnete für ihr Leben gern und nutzte jede Gelegenheit, um ihr rotes Büchlein mit Rosenporträts zu füllen. Über die Zeit hatte sie sich ein kleines Rosarium zugelegt. In wunderschönen Skizzen porträtierte sie die unterschiedlichen Bourbonrosen von ihrer blütenreichsten Seite. Sie zeichnete Rosenbögen, wie sie die Willenbrock’sche Terrasse schmückten, oder detailgetreue Studien der herzförmigen Blätter. Vicky wurde ob der Vielfalt, die es inmitten der Blütenpracht zu entdecken gab, des Zeichnens niemals müde. Und selbst wenn ihr am Ende des Tages Rücken und Beine schmerzten, die Hände rissig und aufgesprungen waren, würde Vicky die Arbeit auf den Rosenfeldern um nichts in der Welt gegen die Arbeit in der Küche tauschen. Das war ein Ort für Frauen wie ihre Schwester Marlene, die schon mit der Schürze auf die Welt gekommen war und alle Welt mit ihren Kuchen und Desserts verzückte. Vor allem den Vater. Der hatte einen Narren an seiner Jüngsten gefressen, verwöhnte sie nach Strich und Faden und lobte sie in den höchsten Tönen.

In der Tat war Marlene zu gut, um wahr zu sein, das musste Vicky neidlos zugeben. Marlene war der Liebreiz in Person, hatte immer ein Lächeln auf den Lippen und konnte jeder noch so unangenehmen Situation etwas Gutes abgewinnen. Andere hätten vielleicht gesagt, sie sei naiv, doch Marlene wusste sich einfach anzupassen und ihre Ziele auf diese Weise zu erreichen. Im Rahmen der Möglichkeiten, die ihr als Frau zugestanden wurden. Für einen Moment verdüsterte sich Vickys Miene. Nie im Leben wäre Marlene einfach abgehauen, nur weil sie sich dem Willen des Vaters nicht beugen wollte.

Vicky war ganz anders. Sie war auf Widerspruch gebürstet und nahm niemals etwas klaglos hin, was ihr gegen den Strich ging – sie konnte nichts dafür! Es empörte sie zutiefst, dass der Vater über alle Frauen auf dem Rosenhof bestimmen durfte. Er meinte es gut und war ein Ehrenmann. Erhob niemals die Hand, sorgte Tag und Nacht für seine Familie, verwaltete die Bücher und sparte bei sich an neuen Beinkleidern, um seiner Frau einen Herzenswunsch zu erfüllen. Den Angestellten zahlte er stets pünktlich die Löhne und kümmerte sich auch mal um den Arzt, wenn eines ihrer Kinder erkrankte.

Aber egal ob Mägde, Arbeiterinnen, Ehefrau oder Töchter – sie alle hatten zu tun, was der alte Willenbrock sagte. Und wehe, man wagte es, sich seinem Willen zu widersetzen. Dann wurde er furchtbar streng und bedachte einen mit eiskaltem Schweigen, was schlimmer war als jede andere nur erdenkliche Strafe.

Wer gab ihm das Recht dazu? Vicky stieß einen empörten Laut aus, ihr Atem hinterließ Kringel in der kalten Nachtluft. Schon sah sie sein Gesicht vor sich, wenn er die Nachricht von ihrem Verschwinden erhalten würde. Keine Regung, nur ein leichtes Beben der Nasenflügel würde verraten, wie sehr ihn das Verhalten seiner Ältesten verärgerte. Ein Willenbrock duldete keinen Widerspruch, das war seine Devise, und dass sich Vicky mit ihrer Flucht seinen Zukunftsplänen entzog, würde ihn persönlich tiefer verletzen und kränken, als er zugeben mochte. Aber sie musste fort. Ihren eigenen Weg gehen. Endlich frei sein, in der Stadt.

Der Gedanke an den Vater machte, dass Vicky ihre Schritte noch mal beschleunigte, auch wenn ihr die Arme vom Koffertragen längst wehtaten, inzwischen spürte sie sie kaum noch. Sie musste den letzten Zug nach Hamburg erwischen, auf dem Weg in den Süden hielt er in ihrer Stadt. In Hamburg lebte ihre Tante Carla, dort wäre sie in Sicherheit, weit genug weg von hier. Niemand würde sie finden.

Die Wolken am Himmel gaben nun den Weg frei, das Mondlicht glitzerte in den Pfützen, sodass Vicky doch fast trockenen Fußes den Bahnhof erreichte. Keine Minute zu spät, ihr blieb gerade noch Zeit, eine Fahrkarte zu lösen, dann kletterte sie in den Waggon und ließ sich erleichtert auf den nächstbesten Sitz fallen. Müde und erschöpft lehnte sie den Kopf an die Fensterscheibe. Zum Glück war sie allein in dem Abteil und lief nicht Gefahr, unliebsame Fragen beantworten zu müssen. Der Beamte am Schalter hatte sie schon befremdet gemustert, eine junge Frau, um diese Uhrzeit. Ohne Begleitung und mit einem schweren Koffer. Vicky konnte nur hoffen, dass er sie nicht erkannt hatte. Willenbrocks Rosenzucht war im ganzen Land bekannt, wie ihr Vater zu sagen pflegte – weit über die Grenzen Schleswig-Holsteins hinaus –, hier im Ort war ihre Familie hoch angesehen.

Draußen vor dem Fenster sprach eine blonde Dame in einem Pelzmantel mit dem Schaffner und gestikulierte wild, augenscheinlich suchte sie den Schlafwagen. Der Gepäckträger wartete im Hintergrund geduldig mit seinem Kofferkarren auf ihre Anweisungen, um schließlich bis ans Zugende zu traben. Die Dame schritt würdevoll hinterher.

Mit ihrer hochgewachsenen Statur erinnerte sie Vicky an Carla, Mutters Schwester, die bald nach Kriegsende nach Hamburg gezogen war, wo das Leben pulsierte und alles im Umbruch war. In die Stadt der großen Freiheit, wo Frauen selbstständig denken durften und nicht durch eine Hochzeit in die althergebrachten Formen einer Lebensgemeinschaft gezwungen wurden. Wo Frauen einem Beruf nachgingen und für ihre Rechte demonstrierten.

Carla hatte es von jeher zu den feinen Pinkeln hingezogen, wie die Mutter es einmal ausgedrückt hatte, und ihre Schwester wiederum hatte nie verstanden, warum sie den Rosenzüchter Willenbrock geheiratet hatte, einen handfesten Gärtner, der sich nur sonntags im Anzug zeigte.

Die Schwestern waren von Teggerns, sie kamen aus einer reichen Unternehmerfamilie. Man besaß eine große Wollfabrik, unzählige Webstühle und beschäftigte zahlreiche Arbeiterinnen und Arbeiter. Während die Mutter zufrieden auf dem Land lebte, reiste Carla durch Europa, trug luftige Hosen statt einschnürender Kleider und interessierte sich sehr für Mode und die Geschäfte des Familienunternehmens. Sie hatte Vicky noch im Kindesalter den Umgang mit der Nähmaschine beigebracht. Nur zu gerne erinnerte sich Vicky an die Zeit, als sie unter Carlas strengem Blick und wohlwollender Anleitung das erste Nachthemd genäht hatte. Sie hatte von ihr gelernt, wie eine saubere Naht gelang, die Spitzenvolants und die Lochsaumstickerei hatte die Tante dann in mühsamer Kleinarbeit abends am Kamin selbst erledigt. Vicky hatte sich beim Zubettgehen jedes Mal gefühlt wie eine Prinzessin, der Duft des Stoffes blieb unvergessen, das Surren der Nähmaschine klang noch in ihren Ohren.

Leider war das Nachthemd irgendwann zu klein geworden, Vicky eine junge Frau – da hatte die Mutter den Kontakt zu Carla längst abgebrochen. Der Vater hatte es so gewollt. Warum genau, wusste Vicky nicht, sie konnte nur ahnen, dass es etwas mit dem ausgefallenen Lebensstil zu tun haben musste, den Carla in Hamburg pflegte und der dem Vater ein Dorn im Auge war. Schließlich trug Carla ihre dunklen Locken zu einem feschen Bubikopf, was auf dem protestantischen Land einer Sünde gleichkam, und hielt sich auch sonst nicht mit spießbürgerlichen Regeln und Gewohnheiten auf. Ihr missfiel der autoritäre Erziehungsstil ihres Schwagers, und sie ermunterte ihre Nichten bei jeder Gelegenheit zur Selbstständigkeit.