Wild und Wunderbar (2). Gegensätze halten zusammen (oder?) - Ilona Einwohlt - E-Book

Wild und Wunderbar (2). Gegensätze halten zusammen (oder?) E-Book

Ilona Einwohlt

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Beschreibung

Die schüchterne Linn und die quirlige Shark alias Sophie Hyazinth Amanda Ricarda Kornelius sind beste Freundinnen geworden. Jeden Tag hecken die beiden tolle Streiche aus. Wie praktisch, dass sie im selben Haus wohnen! Nichts auf der Welt kann sie jetzt noch trennen. Oder doch? Denn als der coole Phil neu in ihre Klasse kommt, dreht Shark völlig durch. Da bekommt Linn einen Liebesbrief, der endgültig alles durcheinander bringt …

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Ilona Einwohlt

Wild und Wunderbar

Gegensätze halten zusammen (oder?)

Weitere Bücher von Ilona Einwohlt im Arena Verlag:

Wild und Wunderbar – Zwei Freundinnen gegen den Rest der Welt

Erdbeersommer

Erdbeersommer – Unterm Sternenhimmel

Erdbeersommer – Galopp in die Freiheit

Ilona Einwohlt wollte eigentlich Ernährungswissenschaftlerin werden.

Aber dann las sie mitten in einer Chemievorlesung »Das andere Geschlecht« von Simone de Beauvoir – und widmete sich fortan der Literatur, insbesondere der für Mädchen und Frauen. Längst ist aus der Germanistikstudentin eine erfolgreiche Autorin geworden, die genau die Sprache der Mädchen trifft und Themen behandelt, die sie wirklich interessieren. Ilona Einwohlt, Jahrgang 1968, lebt mit ihrer Familie in Darmstadt.

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Ilona Einwohlt

 

 

 

Über dieses Buch

Die schüchterne Linn und die quirlige Shark alias Sophie Hyazinth Amanda Ricarda Kornelius sind beste Freundinnen geworden. Jeden Tag hecken die beiden tolle Streiche aus. Wie praktisch, dass sie im selben Haus wohnen! Nichts auf der Welt kann sie jetzt noch trennen. Oder doch? Denn als der coole Phil neu in ihre Klasse kommt, dreht Shark völlig durch. Da bekommt Linn einen Liebesbrief, der endgültig alles durcheinander bringt …

 

1. Auflage 2019

© 2019 Arena Verlag GmbH, Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Coverillustration und Vignetten: Inka Vigh

Gesamtherstellung: Westermann Druck Zwickau GmbH

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing GmbH, Dortmundwww.readbox.net

 

E-Book ISBN 978-3-401-80820-8

Trotz sorgfältiger Recherche konnten nicht alle Rechteinhaber der in dieser Ausgabe zitierten Fremdtexte ermittelt werden.

Sollte ein möglicher Rechteinhaber seine Rechte verletzt sehen, bitten wir darum, sich mit uns in Verbindung zu setzen.

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1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Interview mit Ilona Einwohlt

Shark und ich verliebten uns an dem Nachmittag, als wir splitterfasernackt über eine Pferdeweide liefen. Ich meine, nicht wirklich in uns, sondern jeweils in jemand anderes. Wir hatten gemeinsam mit den anderen auf der Klassenfahrt den Tag am Fluss verbracht und irgendein Idiot hatte uns die Klamotten geklaut, während wir schwimmen waren. Also blieb uns nichts anderes übrig, als im nahe gelegenen Unterstand nach Decken oder Ähnlichem zu suchen, damit wir nicht wie nackte Evas herumlaufen mussten.

Die anderen aus unserer Klasse waren natürlich längst verschwunden, keine Spur mehr von

Rucksäcken, Turnschuhen und Frisbeescheiben, von unseren Sachen ganz zu schweigen. Unsere Lehrer hätten später einiges zu erklären, wenn sie den Verlust zweier Schülerinnen zugeben mussten. Wie konnten sie uns nur einfach zurücklassen?

Es war ein sonniger Frühlingstag irgendwann im Mai und außerordentlich warm, locker über zwanzig Grad. Wir waren nach dem Frühstück losgelaufen und etliche Kilometer gewandert, bevor wir am Flussufer unser Lager aufgeschlagen hatten. Shark war die ganze Zeit über ungewöhnlich still gewesen. Sie träumte vor sich hin, war kaum ansprechbar und als wir Holz für das Lagerfeuer sammeln sollten, blieb sie einfach auf der Bank sitzen. Erst als ich ihr vorschlug, gemeinsam schwimmen zu gehen, blinzelten mich ihre Augen unternehmungslustig an. Sie wusste genau, dass die Lehrer es verboten hatten – zu kalt, zu gefährlich, zu viel Strömung – und dass wir kein Badezeug dabeihatten. Weil wir uns aber den Spaß nicht verderben lassen wollten, kletterten wir einige Hundert Meter weiter das Flussbett entlang, weiter und weiter, bis uns keiner mehr sehen konnte. Und vermissen. Die Kiesel kullerten unter unseren Füßen und die Felsen, über die wir klettern mussten, fühlten sich sonnenwarm an, als ich mich für einen Moment abstützen musste.

Eine schmale Hängebrücke führte über die Schlucht auf die andere Seite, dorthin, wo man geschützt und sicher baden konnte. Shark und ich wechselten einen kurzen Blick. Ihr war diese Kletterei nicht geheuer, das spürte ich genau, auch wenn sie sich große Mühe gab, ihre Unsicherheit vor mir zu verbergen. Aber wenn wir gleich Spaß haben wollten, mussten wir es tun. »Geh du voran«, wisperte sie mir zu und nur weil wir uns so gut kannten, hörte ich das Zittern in ihrer Stimme.

»Sicher?«, fragte ich zurück.

»Sicher.«

Also wagte ich den ersten Schritt über die Bretter. Unter uns rauschte das Wasser, gurgelte die Strömung durch die Felsen. Die Brücke schwankte unter meinem Gewicht und erst recht, als Shark ihren Fuß daraufsetzte. Für einen Moment sackte mir mein Magen in die Kniekehle, aber nur kurz, dann hatte ich mein Gleichgewicht wieder gefunden und setzte meinen Weg fort. Es war müßig, sich am Geländer festzuhalten, ein schmales Seil, das für nichts garantierte. Also versuchte ich es freihändig wie einst auf dem Schwebebalken und hätte Shark hinter mir nicht laut geschnauft und noch doller gewackelt, wäre alles gut gegangen. So hatte ich meine liebe Mühe, nicht abzustürzen, balancierte mal auf dem linken, mal auf dem rechten Bein und sah von Weitem sicherlich aus

wie jener berühmte Storch im Salat. Weil ich so mit mir beschäftigt war, hatte ich überhaupt keine Zeit, mich um meine Freundin, die sich hinter mir über die Brücke quälte, zu kümmern. Unter Garantie gab sie auch kein besseres Bild ab als ich. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir auf der anderen Seite an und, ohne lange nachzudenken, zogen wir uns unsere Klamotten vom Leib, Shark war immer noch ein bisschen blass um die Nase. Als wir aber kurz darauf durch das eiskalte Wasser tobten und uns gegenseitig nass spritzten, war alles vergessen.

Erst als lautes Klappern an meine Ohren drang, tauchte ich auf. Es waren Sharks Zähne, die

unter ihren blauen Lippen ständig aufeinanderschlugen, die Härchen auf ihren Unterarmen ragten senkrecht in die Höhe.

»Okay, okay, wir gehen schon!«, rief ich lachend und wollte sie noch mal untertauchen, aber sie entzog sich geschickt meinen Händen und kletterte ans Ufer.

»Hey, unsere Klamotten sind weg!«, rief sie und schüttelte sich dabei wie ein Hund. Wir waren nackt, nackter, am nacktesten.

»Das kann nicht sein!« Suchend liefen wir eine Weile umher, guckten hinter jeden Stein, aber von unseren Sachen fehlte jeder Zipfel. Fluchend liefen wir zurück, brachten die Hängebrücke unter diesen Umständen sogar im Laufschritt hinteruns. Mittlerweile hatte sich der Himmel zugezogen und ich fror erbärmlich, jetzt waren es meine Zähne, die klapperten. Vorsichtig schlichen wir an unseren Lagerplatz heran, aber von der Gruppe war niemand mehr zu sehen, das Feuer hatten sie sorgsam ausgelöscht. Keine Klamotten, keine Wärme, kein Mensch nirgends. War das Glück oder Unglück?

Da fiel unser Blick auf die benachbarte Weide, an deren Ende sich ein Unterstand befand. Bestimmt gab es dort wenigstens eine Plane oder mit viel Glück einen alten Kittel.

»Komm«, rief ich und fasste Shark an der Hand. Mit der anderen öffnete ich das Gatter, neugierig beäugt von acht Pferdeaugen. Sechzehn Pferdebeine setzten sich prompt in Bewegung.

»Müssen wir?« Ich spürte, wie sich Shark hinter mir verstecken wollte. So mutig sie sein konnte und es mit jedem aufnahm, der nicht bei drei auf dem Baum war: Pferde waren ihr nicht geheuer. Hängebrücken und Nacktschnecken auch nicht. »Denk an was Schönes, lenk dich ab«, rief ich ihr zu, während ich zielstrebig Richtung Unterstand lief, Shark im Schlepptau. »Am besten gleich an etwas, was dich wärmt. Von innen.«

»Da fällt mir nur einer ein«, meinte sie und jetzt klang ihre Stimme ganz weich.

»Mir auch«, musste ich zugeben. Ich drehte mich zu ihr um und erwischte einen verklärten Blickaus ihren Augen, der mir durch und durch ging. In diesem Augenblick spürte ich ein weiches Pferdemaul auf meiner Schulter, warmen Atem, der mir in den Nacken blies. Ich bekam eine Gänsehaut.

Shark hieß in Wirklichkeit Sophie Hyazinth Amanda Ricarda Kornelius. Und eigentlich ging es in unserer Freundschaft nie um Pferde, sondern immer nur um Fische. Warum, erzähle ich dir in dieser Geschichte.

1

So leise wie jetzt war es sonst nie in unserem Klassenraum. Normalerweise knisterte immer irgendwer mit einem Papier, ruckelte unruhig auf dem Stuhl oder schabte mit den Turnschuhen über das Linoleum. Aber heute hörte man noch nicht mal eine Fliege gegen die Fensterscheibe surren, so still war es.

Nicht, weil wir etwa von unserem Englischlehrer Herrn Egbert Nüsslein-Büchsenschütz eingeschüchtert gewesen wären.

Auch nicht, weil wir ein Schweigegelübde zum Gedenktag der Heiligen Lehrerinnen von Denkenstein abgelegt hatten.

Die Antwort war einfach: Wir arbeiteten deshalb so konzentriert, weil wir die beste Vergleichsarbeit der Schule schreiben und die Belohnung dafür kassieren wollten: ein Tag schulfrei, den wir frei wählen konnten. Auch wenn wir keinen Plan von nichts hatten, wir gaben alles. Schulfrei, wenn die anderen trotz Sommerhitze in der Ganztagsschule brüten würden, war unsere einzige Motivation, um uns durch Passive Voice, Reported Speech und If-Clauses zu schreiben.

Wir saßen also hoch konzentriert mitten in der Englischarbeit, hatten nicht die Spur einer Ahnung von irgendwas, als die Tür aufflog und ein dunkelhaariger Junge unseren Klassenraum betrat.

»Hello?«

Augenblicklich richteten sich sämtliche Augenpaare auf ihn. Es war ungewöhnlich, dass jemand einfach so hereinplatzte, ohne anzuklopfen. Noch ungewöhnlicher war sein Aufzug. Genauer gesagt: ungewöhnlich für unsere Schule. Nicht für Hochglanzprospekte, in denen ein Sunnyboy wie dieser seinen Auftritt hatte. Er war locker zwei Jahre älter als wir und sah einfach umwerfend aus. Das bemerkte selbst ich, die in Sachen Jungs im Gegensatz zu den anderen noch ganz schön hintendran war. Sofort bekam ich Herzklopfen.

»Yes, please?« Herr Nüsslein-Büchsenschütz guckte ihn erwartungsvoll an. Wir anderen guckten schnell auf das Blatt unseres Sitznachbarn, es ging um Reflexive Pronouns, die keiner von uns verstanden hatte. I can wash my clothes myself …

»Noch ein Neuer!« Mein Banknachbar Jonas stupste mich so dolle in die Seite, dass mein Stift einen unschönen Schlenker in meinem Heft hinterließ.

»Wieso noch?!«, wisperte ich zurück und nutzte die Gelegenheit, weiter bei ihm abzuschreiben, weil unser Englischlehrer jetzt aufstand, um den Jungen zu begrüßen, der unschlüssig im Türrahmen stehen geblieben war. Jonas war der schleimigste Klassenstreber und trotzdem der Einzige in der Klasse, der normal mit mir redete.

»Shark ist doch auch neu!« Jonas legte ganz zufällig seine Hand so auf den Tisch, dass ich nichts mehr lesen konnte. Das war typisch Schleimstreber-Jonas! Kein Wunder, dass mit ihm niemand befreundet sein wollte. Okay, mit mir auch nicht. Aber das hatte andere Gründe.

»Shark ist ein Mädchen, also eine Neue«, gab ich zurück.

»Sicher?« Jonas guckte mich süffisant lächelnd an und in diesem Moment konnte ich ihn wieder einmal nicht leiden. Wieso dachte er denn, dass Shark ein Junge war?!

Shark war seit genau vier Monaten und drei Tagen meine beste Freundin. Das stärkste Mädchen, das ich je getroffen habe. Und das geheimnisvollste noch dazu. Immer wieder nämlich tauchte sie ab wie Fische im Meer, verschwand für ein paar Tage oder gar Wochen von der Bildfläche, um dann, irgendwann, wieder auf den Händen herumzulaufen, als wäre nichts geschehen. Als wäre sie mit ihrer Wuschelmähne und den verrückten Leggings nicht auffallend genug.

Als hätte Shark Winterschlaf gemacht, waren von ihr seit unserem Weihnachtskonzert weder ihre karierte Strähne noch ihre klobigen Boots zu sehen gewesen. Niemand wusste, wo sie steckte und ich vermisste sie sehr. Da sie in der Wohnung unter uns alleine lebte und sich außer der Dame vom Jugendamt niemand für Shark interessierte, war ihre Abwesenheit auch keinem aufgefallen. Ich hatte mir schreckliche Sorgen um sie gemacht. Mein kleiner Bruder Oskar war es, der mich immer wieder beruhigte.

»Shark ist stark«, sagte er ein ums andere Mal, wenn ich mir mal wieder in den düstersten Farben ausmalte, was einem Mädchen in unserem Alter alles so passieren konnte, wenn es mutterseelenalleine unterwegs war. Diese sorgenvolle Art hatte ich leider von meiner Mutter geerbt. Die war zwar als Mathe- und Physiklehrerin äußerst tough unterwegs, konnte aber sehr kümmerig sein. Das wiederum lag an Oskar, der durch eine schwere Krankheit kleinwüchsig geworden war und regelmäßig von Gelenkschmerzen heimgesucht wurde. Weil Papa nicht mehr lebte, kümmerte sich Mama um uns alleine. Wir hatten auch keine Omas oder Opas oder sonstige Tanten und Verwandten, die uns hätten unterstützen können.

Gestern hatte sich Shark bei mir nach einer quälend langen Zeit wieder gemeldet. Wie, als wäre nichts gewesen, war sie wieder da, ging in die Schule, lebte in Tildas Wohnung, inklusive ihres Sammelsuriums verrückter Sachen von Hängematte bis Insektenlutscher – und Pepper, ihrer sprechenden Elster.

Ich kam nicht dazu, Jonas meine Meinung zu sagen, denn in diesem Moment rief Vanessa drei Reihen hinter uns ganz aufgeregt:

»Er kann sich neben Shark setzen, da ist ja noch ein Platz frei.«

»Nein!« Das kam von Shark. Laut. Deutlich. Klar.

Ruckartig drehte ich mich zu meiner Freundin um. Shark war ganz blass um die Nase und ihr Brustkorb bebte vor lauter Aufregung.

»Nein«, wiederholte sie, diesmal etwas leiser, aber nicht minder entschlossen. Ich runzelte die Stirn.

»Das ist auch keine besonders gute Idee von dir!«, meinte unser Englischlehrer an Vanessa gerichtet. »Dann säßen ja die beiden Neuen nebeneinander … das macht keinen Sinn.«

»Es hat keinen Sinn«, murmelte Jonas, bevor er triumphierend hinzufügte: »Siehste, zwei Neue, sag ich doch.«

Ich rollte die Augen und blickte fragend Richtung Shark, die wie versteinert auf ihrem Platz saß. Was hatte sie nur gegen dieses, äh, nun ja: Male-Model? Stillschweigend nahm sie zur Kenntnis, dass Egbert Nüsslein-Büchsenschütz mitten in der – unserer! wichtigen! – Englischarbeit begann, sämtliche Schüler umzusetzen, als ob er nur darauf gewartet hätte. Er machte und tat, schob und tauschte Paul neben Jonas und Pia neben Paul und Vanessa neben Suzu und mich neben Shark, Hurra!, dann wieder Paul neben Suzu und den Neuen neben Jonas, Yeah!, den war ich los, und mich dann neben Suzu und Shark neben Pia und so ging es eine Weile hin und her, bis ich schließlich neben Paul saß und Shark neben Jonas und der Neue neben Suzu. Bingo! (Das war das neue Yay!) Unser Lehrer strahlte zufrieden mit roten Wangen vor lauter Organisiererei und wir hatten schlechte Laune, weil unsere Gelegenheit futsch war, einen Tag schulfrei zu bekommen. Der Neue sagte unterdessen nicht einen Pieps, sondern schaute nur gelangweilt aus dem Fenster. Nur einmal schielte er zwischendurch zu Shark, die wiederum wie versteinert auf ihrem Stuhl sitzen geblieben war.

»Wieso bekommen wir eigentlich ständig neue Mitschüler, mitten im Schuljahr?«, fragte mich Jonas kurz darauf in der Pause, einen Hirse-Protein-Riegel in der Hand. Aus lauter Gewohnheit lungerten wir gemeinsam hinten an der Tischtennisplatte herum. Bevor Shark meine Freundin wurde, hatten Jonas und ich eine Art Zweckgemeinschaft gebildet, weil wir beide immer übrig geblieben waren, wenn es um Gruppenarbeiten oder Sportmannschaften ging.

Ich war Lehrerinnenkind, ausgerechnet von Frau Grüner, der strengsten Lehrerin der ganzen Schule. Weil Mama oft schlechte Laune hatte, wurde sie wahlweise auch Frau Sauertopf, Dracona oder Giftspritze genannt und die anderen ließen mich für ihre schlechte Laune büßen. Vor Weihnachten hatten mich Marie, Özge und Katharina aus der Parallelklasse bei jeder sich bietenden Gelegenheit deswegen wochenlang drangsaliert. Aber ich hatte es geschafft, mich gegen die drei ganz alleine zur Wehr zu setzen, und mittlerweile ließen sie mich in Ruhe. Genauer gesagt hatte Marie die Schule freiwillig verlassen. Weil sie nicht nur mich fies gemobbt hatte, stand sie kurz vor einem Schulverweis und war dem zuvorgekommen, nachdem sie mehrfach Einträge und schlechte Noten kassiert hatte. Katharina war hängen geblieben und hatte sich in ihrer neuen Klasse neue Freundinnen gesucht. Wenn sie nicht gerade Nachhilfe hatte, hatte sie Hausarrest oder musste lernen. Denn ihre Eltern hatten Wind – ich ahnte von wem! – von ihrem erpresserischen Verhalten bekommen und als angesehene Rechtsanwälte der Stadt einen Ruf zu verlieren. Deshalb hatten sie jetzt entsprechende Maßnahmen ergriffen. Katharina tat mir aber nur ein bisschen leid deswegen.

So war Özge übrig geblieben. Eigentlich war sie total nett und eher schüchtern. Das wusste ich, weil sie bei uns unten im Haus lebte und wir zu Grundschulzeiten miteinander befreundet gewesen waren. Seit einigen Wochen suchte sie immer wieder meine Nähe, sprach mich an und lächelte mir zu, aber zwischen uns war es noch lange nicht wieder so wie früher.

Zu meinem unfassbaren Glück war Mama seit Neustem verliebt und wie ausgewechselt. Deswegen gab sie zwar ihren Schülerinnen und Schülern keine besseren Noten, aber sie wirkte nicht mehr wie ein Giftpfeilfrosch, wenn sie vor ihnen stand.

Trotzdem konnte man nicht sagen, dass ich inzwischen sonderlich beliebter in der Klasse geworden war, aber ich hatte ja Shark – und die machte mich stark. Wenn sie denn da war. »Ich fühl mich nicht so«, hatte sie vorhin gesagt und sah auch wirklich so aus, »aber wir sehen uns später, okay?« Und hatte sich vom Nüsslein-Büchsenschütz nach Hause schicken lassen.

Mit gemischten Gefühlen beobachtete ich, wie sich die Mädchen aus meiner Klasse jetzt auf dem Pausenhof um den Neuen herumscharten. Ach, was: drängelten. Er hieß Phil, so viel hatte ich nebenbei aufgeschnappt, und wirkte unglaublich cool und souverän. Über seinem durchtrainierten Oberkörper spannte das Shirt, seine dunklen Haare hatte er leicht zurückgegelt und alles an ihm wirkte gepflegt und gestylt.

»Bestimmt ’ne Schwuchtel«, meinte Jonas und kaute auf seinem Hirseriegel herum.

»Und wenn?« Ich schüttelte den Kopf und traute meinen Augen kaum. Phil trug ein Rebel-Leaves-Shirt, das war eine meiner Lieblingsbands, ich hatte Mama neulich auch eins abgetrotzt. Ich bekam Schnappatmung. Wie cool war das denn! Diese Band kannte kaum einer außer Shark und mir. Und jetzt lief der Neue mit so einem Shirt herum.

War ja klar, dass Jonas so eine Bemerkung machen musste. Das war typisch! Voll mit Vorurteilen bis unter seine fettigen Haare. Sein Vater war ein bekannter Forscher im Max-Planck-Institut und hatte ein Auge auf Mama geworfen. Doch zum Glück fand sie ihn so langweilig wie Brokkoli, auch wenn er an so etwas Spektakulärem wie einem Gravitationswellensimulator arbeitete. Manchmal war auf meine Mutter eben doch Verlass.

Pia, Vanessa, Leonie und Michelle bestürmten Phil mit tausend Fragen: Woher er jetzt mitten im Schuljahr kam? Wo er wohnte? Wie seine Nummer war? Ob er Basketball spielte? Welche Musik er hörte? Oh Mann, hatten die denn sein cooles Shirt überhaupt nicht bemerkt?

Zu meiner Genugtuung bemerkte ich, wie Phil ihnen nur gelangweilt antwortete und sich nicht einen Funken von Vanessas Klimperwimpern beeindrucken ließ, nur ab und zu strich er sich durch seine Haare oder checkte sein Handy. Er wirkte auf besondere Weise abwesend, wie nicht von dieser Welt. Erst als ein paar Oberstufenschülerinnen an ihm vorbeiliefen, hob er interessiert den Kopf und schaute ihren Minirock-Beinen nach.

Na, super, dachte ich. Von wegen schwul. So ein Mädchenheld hatte uns in unserer Klasse gerade noch gefehlt! Ab sofort würden sich Pia, Vanessa, Leonie und Michelle in Schale schmeißen, bis die Lippenstifte glühten. Nachdenklich schaute ich ihn an und wusste noch nicht so recht, ob ich ihn mochte oder nicht. Auf alle Fälle sorgte seine Anwesenheit dafür, dass ich darüber nachdachte, dass ich Jungs eigentlich ganz süß fand …

Zu Hause im Möbiusweg blieb ich vor Sharks Wohnungstür stehen, unschlüssig, ob ich bei ihr jetzt klingeln sollte oder nicht. Da war sie endlich wieder aufgetaucht – und sofort wieder verschwunden. Bauchweh, dass ich nicht lachte! Shark war pumperlgesund, ihr fehlte nie etwas. Außer vielleicht ein Schräubchen im Oberstübchen, wie sich Oskar ausgedrückt hätte, weil er sie hoffnungslos verrückt fand. Aber insgeheim war er ihr größter Fan.

Ich legte mein Ohr an die Tür und horchte, aber es war nichts zu hören. Keine Musik, kein picpicpac von Pepper, kein Geklapper von irgendwas. Wo steckte sie bloß?

»Das junge Fräulein ist in ein Taxi gestiegen und weggefahren«, hörte ich da eine Stimme hinter mir sagen. Überrascht drehte ich mich um. Es war Oma Hilde, unsere Obendrüber-Nachbarin, für die ich regelmäßig Einkäufe erledigte. Vor Weihnachten hatte ich damit angefangen, um Geld für eine Konzertkarte zu verdienen, die ich meiner Mutter schenken wollte.

»Taxi?« Mir sackte das Herz in die Hose und mit einem Schlag wurde mir speiübel.

»Ja! Und sie hatte einen dicken Beutel dabei und schien es eilig zu haben.« Oma Hilde machte eine wichtige Miene und schnaufte neben mir die Treppe hoch. Sie hatte einige Überkilos, was vor allem an den hunderttausend Cognackirschen lag, die sie schachtelweise verputzte.

»Na dann …« Langsam drehte ich den Schlüssel in unserer Wohnungstür. Mein Magen drehte sich auch. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig ins Bad.

Ich will dir ganz nah sein, eng verbunden, dich spüren und berühren, Haut an Haut, Herz an Herz, Auge an Auge. Doch je näher du mir bist, desto freier will ich sein.

2

Abends ging es mir dann zum Glück wieder besser, was auch an einer Nachricht von Shark liegen konnte. Muss noch dringend etwas erledigen, bin morgen wieder da!, hatte sie geschrieben. Da war ich dann doch beruhigt gewesen, auch wenn mein Magen immer noch rebellierte. Ich mochte mir ein Leben ohne Shark nicht vorstellen!

Dass sie sich bei mir meldete, war erstens neu und zweitens ein gutes Zeichen, versuchte ich, mich zu trösten. Dabei machte mich ihr ständiges Ab- und Auftauchen ganz schön kirre. Ob ich es wollte oder nicht. Manchmal ging es mir echt mies damit, weil ich nicht wusste, ob ich ihr vertrauen konnte oder nicht. Und dann wieder machte mich der Gedanke an sie ganz dolle froh, denn ich hatte mir ja immer eine Freundin wie Shark gewünscht.

Ich wusste ja eigentlich fast gar nichts über sie! Shark war im letzten Sommer bei uns ins Haus eingezogen, als Tilda ausgezogen war, um ihren Gitarristenfreund auf einer romantischen Insel zu heiraten. Und ob man es glaubte oder nicht: Shark, meine superungewöhnliche, genial-verrückte, wild und wunderbare Freundin, schwärmte seitdem pausenlos von rosaroten Kitschmomenten. Einerseits hatte sie selbst eine ganze Wand voller Liebes-DVDs, andererseits hatte sie dafür gesorgt, dass meine Mutter ein Rendezvous mit unserem Nachbarn Ole Breitmoser hatte. Denn laut ihrer Theorie war meine Mutter nur einfach deswegen so schlecht gelaunt und unbeliebt in der Schule, weil sie unglücklich war und ihr der richtige Mann im Leben fehlte. Seit Papas Tod hatte sie sich nur noch um Oskar und mich gekümmert und nicht an sich gedacht.

Ehrlicherweise glaubte ich nicht so ganz an diese Romantiktheorie, auch wenn Mama sonntags abends immer zu roten Augen gerührt ihre Rosamunde-Pilcher-Filme schaute und sich tatsächlich mit Ole Breitmoser traf. Es war nämlich eher so, dass meine Mutter deswegen so schlecht gelaunt und einsam war, weil ihr ihre beste Freundin fehlte, das hatte ich im letzten Jahr durch einen Zufall herausgefunden.

Geraldine Harper und sie waren damals während ihres Studiums ziemlich dicke gewesen, bevor sich die beiden ordentlich verkracht hatten, warum genau, weiß ich bis heute nicht. Geraldine hatte mit ihren Chansons Karriere gemacht, war nachts durch Clubs getingelt und eine berühmte Sängerin geworden, während Mama heiratete und Kinder bekam. Und als Lehrerin keine Zeit mehr für wilde Partys hatte. Nach dem Tod von Papa hatte sie dann niemanden mehr. Nur den kranken Oskar und mich und ganz viel Kummer und Sorgen. Kein Wunder also, dass sie dauernd schlechte Laune und an unserer Schule eine Karriere als unbeliebteste Lehrerin des Universums hingelegt hatte. Die Schülerinnen und Schüler hatten ihr (Wen wundert’s?) die unglaublichsten Spitznamen verpasst: Miss Malfoy, Frau Giftgrün, Zitonella, um nur einige zu nennen. Und weil sie ständig schlechte Noten vergab, war ich als Lehrerinnenkind entsprechend unbeliebt bei allen. Vor allem Marie, Özge und Katharina machten mir das Leben zur Hölle: Coladusche, Matschklumpen im Kragen oder Handy im Klo, sie hatten wirklich die allergemeinsten Einfälle auf Lager gehabt.

Wunderbarerweise aber passierte dann eine Reihe von Ereignissen, die mein Leben und damit auch Mamas nachhaltig veränderten: Animiert von Shark, die die wildesten Einfälle hatte, hatte ich es gewagt und mich selbst gegen die MÖKs gewehrt.

Manchmal mochte ich selbst nicht glauben, dass ich es gewesen war, die Katharinas Geburtstagssüßigkeiten an die Flüchtlingskinder im Heim verschenkt hatte.

Dass ich es gewesen war, die Özge das Shrimps-Spray als Deo-Ersatz verpasst hatte.

Dass ich es gewesen war, die zwei Eimer Nacktschnecken in Maries Spind verteilt hatte.

Dass ich sie mir auf diese Weise tatsächlich vom Hals geschafft hatte.

Wochenlang hatten sie mich mit allen möglichen Gemeinheiten drangsaliert. Jeder Anti-Mobbing-Coach hätte seine helle Freude an meinem dramatischen Fall gehabt und mir tausendmal empfohlen, einen »Erwachsenen meines Vertrauens« zu Hilfe zu holen. Aber ich wollte als Lehrerinnenkind die Sache nicht noch schlimmer machen, als sie sowieso schon war. Und es alleine schaffen. Weil ich dann kapiert hatte, dass Mama genauso eine Freundin fehlte wie mir, hatte ich sie mit einer Konzertkarte für Geraldine überrascht. Mama war völlig aus dem Häuschen gewesen … die beiden Freundinnen hatten sich versöhnt. Und seitdem chattete sie bei jeder Gelegenheit mit Geraldine.

Zur Beruhigung kochte ich mir jetzt einen peruanischen Magentee und guckte Fernsehen. Mama hatte Elternabend und würde erst spät nach Hause kommen. Und Oskar brütete noch über seinen Hausaufgaben. Wobei ich mir nicht sicher war, um wessen und welche Art Hausaufgaben es sich tatsächlich handelte. Oskar besserte nämlich sein Taschengeld als Ghostwriter auf, egal, ob es sich um Liebesbriefe oder Referate handelte.

Ich zappte mich gelangweilt durch die Sender, weil es nur todlangweilige Folgen von verliebten Krankenschwestern und abenteuerlustigen Bergrettern zu gucken gab. Wieso hatten wir kein Netflix wie jeder andere normale Haushalt auch? Dann könnte ich jetzt eine Serie nach der nächsten schauen. Aber Mama war strikt dagegen und legte mir jedes Mal demonstrativ ein Buch auf den Tisch, wenn ich sie darauf ansprach. Sie war so ziemlich gegen alles, was modern war. Als ob für sie die Zeit in den analogen 80ern stehen geblieben war …

Okay, seit ich ein Mediencamp zum Thema »Soziale Medien« besucht hatte, hatte ich WhatsApp wegen der AGBs auch von meinem Smartphone verbannt. Was mich natürlich in meiner Klasse erst recht zur nerdigen Außenseiterin machte. Kein Klassenchat, keine Klassengemeinschaft. So einfach war das. Allerdings hatte sich spätestens seit dem neuen Halbjahr eine Kleinigkeit geändert: Ich hatte es nach langer Diskussion mit meiner Mutter endlich geschafft, Miniröcke und coole Shirts tragen zu dürfen. Zwar erntete ich täglich von ihr entweder einen Stirnrunzler oder einen Kommentar, aber ich fühlte mich seitdem viel selbstbewusster. Komischerweise. Denn eigentlich predigen dir ja alle, dass wahre Schönheit von innen kommt, es um die inneren Werte geht and so on. Hatte Mama bei mir ja auch jahrelang getan. Aber für mich war es so, als ob durch das Tragen der hippen Klamotten endlich sichtbar