Mein Schutzengel und ich - Ilona Einwohlt - E-Book

Mein Schutzengel und ich E-Book

Ilona Einwohlt

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Beschreibung

Sina will leben. Und - GOTT SEI DANK - das wird sie auch, denn wie durch ein Wunder hat sie hat den Fahrradunfall überlebt. Eigentlich sollte sie jetzt froh sein und dankbar. Stattdessen kreist ein ganzes Bündel an Fragen durch ihren Kopf. Sina braucht Antworten! Wird sie diese in Julias Sekte finden? Bei Tante Irene im Meditationsraum? Oder vielleicht im Konfi-Unterricht bei dem coolen Pfarrer Moses?

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Seitenzahl: 255

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Mein Schutzengel und ich

ILONA EINWOHLT

Von Ilona Einwohlt sind als Arena-Taschenbuch erschienen: Mein Pickel und ich (1) (Band 50443) Die Schule und ich (2) (Band 50444) Diese beiden Titel sind auch als Hörbuch erhältlich.

Weitere Titel von Ilona Einwohlt findest du hinten im Buch.

Ilona Einwohltschreibt mit viel Liebe, Witz und Leidenschaft erfolgreiche Bücher für Mädchen. Dass sie sich gerade in „Mädchensachen“ bestens auskennt, hat sie unter anderem in ihren beliebten Ratgeberromanen bewiesen. Der Bestseller „Mein Pickel und ich“ sowie die Folgebände sind inzwischen zur unverzichtbaren Lebenshilfe für Fragen in der Pubertät geworden. Ilona Einwohlt, geboren 1968, lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Darmstadt. Mehr unter www.ilonaeinwohlt.de

FÜR C., AUCH EIN ENGEL.

Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Psalm 91,11

Mit vielem herzlichen Dank für ihre Unterstützung und die erhellenden Gespräche an Adalina, Asime, Aygen, Deborah, Pfarrerin Dagmar Unkelbach und Pfarrer i. R. Alfred Rose.

1. Auflage als Arena-Taschenbuch 2013 © 2011 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Innengestaltung und -illustration: designhoelle Einbandillustration: Constanze Guhr Einbandgestaltung und Umschlagtypografie: knaus. büro für konzeptionelle und visuelle identitäten, Würzburg ISSN 0518-4002 ISBN 978-3-401-80368-5

www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

Inhalt

Erstes Kapitel, in dem Sina über das Leben philosophiert

Auf Leben und Tod

Osterengel statt Osterhase

Bibelrunde, Konfistunde

Zweites Kapitel, in dem Sina über Gott und die Welt nachdenkt

Sichelmond in Sicht

Davids Stern

Alles in Buddha

Drittes Kapitel, in dem Sina sich zwischen Engel und Teufel entscheiden muss

Endstation Schuld

Wer mit dem Teufel tanzt

Mein Schutzengel und ich

Viertes Kapitel, in dem Sina Ja zum Glauben sagt

Willkommen im Club!

Einfach nur Ja sagen

Ein Tag auf dem Kirchentag

ERSTES KAPITEL, IN DEM SINA ÜBER DAS LEBEN PHILOSOPHIERT

Auf Leben und Tod

Ich liege auf einer Wiese und sehe lauter Schmetterlinge, gelbe, blaue, rote, getupfte, große, kleine – unzählig viele Schmetterlinge flattern um mich herum. Der Himmel über mir ist tiefblau, wolkenlos und klar, nur eine eckige dunkle Wolke hängt unübersehbar groß auf der rechten Seite. Ich bin ohne Schmerzen, glücklich, einfach nur hier zu liegen, leicht, schwebend, vielleicht für immer. Gleichzeitig weiß ich, dass ich einen Unfall hatte, einen schrecklichen Unfall sogar, und dass ich schwere Verletzungen davongetragen habe. Ich bin nicht tot, aber gleichzeitig lebe ich nicht mehr richtig, zumindest ist es nicht so, dass ich jetzt einfach aufstehen und losmarschieren könnte. Das spüre ich mit jeder Faser meines Körpers, der sich jedoch weigert, irgendeinen Befehl von mir auszuführen, irgendetwas zu tun, sondern der nur einfach liegen bleiben und sich nicht mehr bewegen will. Der den Anblick der Schmetterlinge genießen möchte, die Leichtigkeit des Seins einfach nur fühlen, der wunderschönen Musik um mich herum lauschen, die nur von Engeln stammen kann. Es ist, als träumte ich, als schliefe ich tief und fest wie das Dornröschen, das nur liebevoll wach geküsst werden muss.

Aber wie lange schlafe ich schon?

Hundert Jahre, ein Jahr? Eine Woche, einen Tag?

Wer bin ich, was ist passiert?

Ganz so easy wie im Märchen ist es leider nicht, ich höre gedämpfte Stimmen um mich herum, durch meine geschlossenen Augenlider dringt Licht, ich spüre eine Hand, die mich unablässig streichelt. Irgendwo piepst ein Gerät, ich vernehme das gleichmäßige Pumpen einer Maschine, gedämpft zwar, offensichtlich hat man mich verkabelt, weil mein geschundener Körper alleine nicht mehr überlebensfähig wäre. Oder dient es nur der Überwachung?

„Zwei Tage sind in solch einem Fall völlig normal“, vernehme ich von Ferne eine mir unbekannte, männliche Stimme. „Machen Sie sich mal keine Sorgen, Ihre Tochter schafft das schon!“ Die Stimme klingt monoton, als hätte sie das auswendig gelernt, nicht sehr vertrauenswürdig.

Ein Schluchzer nah an meinem Ohr verrät mir, dass es meine Mutter ist, die neben meinem Bett sitzt. Wie gerne würde ich ihr sagen, dass ich ihr liebevolles Streicheln durchaus bemerke und genieße und dass sie sich keine Sorgen um mich machen muss. Da, wo ich gerade bin, geht es mir doch gut! Auf meiner Wiese ist es sonnig und warm! Und all die wunderschönen Schmetterlinge … Doch mein Mund öffnet sich nicht, meine Arme gehorchen mir nicht, ich liege steif und starr, träume vor mich hin und versuche, mich daran zu erinnern, was überhaupt passiert ist …

„Hey, Sina, warte!“ Yannis kommt mit seinem Fahrrad neben mich gedüst. „Du hast es aber eilig heute!“ Weil Yannis und ich nebeneinander in der Reihenhaussiedlung wohnen, seit Urzeiten befreundet und seit knapp einem Jahr ein Paar sind, radeln wir, wenn das Wetter schön ist, mit dem Fahrrad gemeinsam den langen Schulweg durch die Stadt.

„Klar habe ich es eilig. Wer will schon zu spät kommen, wenn gleich Moses rockt?“, grinse ich. Moses ist der heimliche Spitzname unseres Pfarrers Franz Kramer, den wir total cool finden und den wir in diesem Halbjahr in Reli haben. Moses bringt selbst die Oberstufenschüler zum Rocken, wenn er in der Schulband des Goethe-Gymis am Schlagzeug sein Trommelsolo wirbelt.

Mit „Pfarrer“ (oder auch Pastor) wird in christlichen Kirchen derjenige bezeichnet, der den Gottesdienst leitet beziehungsweise seelsorgerische Aufgaben übernimmt. Das Wort „Pfarre“, abgeleitet von „Pferch“, kommt wahrscheinlich aus dem Mittelhochdeutschen, wo es so etwas wie „eingehegter Platz, begrenztes Gebiet“ bedeutet. Folglich ist ein Pfarrer für eine bestimmte Kirchengemeinde zuständig und diese Kirchengemeinde kann ein Dorf, ein Zusammenschluss von Dörfern oder ein Stadtviertel sein. Ein evangelischer Pfarrer wird von der Kirchengemeinde gewählt oder durch die Kirchenleitung ernannt, in der katholischen Kirche werden Diakone zu Priestern ernannt und vom Bischof als Pfarrer eingesetzt.

Erstens fährt er eine Harley Davidson FatBoy und kommt jeden Morgen in seiner Lederkluft angerauscht, seine Unterlagen stecken in einer ledernen Lenkradtasche. Zweitens ist er der netteste Lehrer, den wir jemals hatten (wenn das mal keine Auszeichnung ist!), und drittens macht er einen obergeilen Religionsunterricht. Nicht ständig mit Beten und Bibellesen, Bildchen vom alten Ägypten kleben oder Lieder auswendig lernen, sondern wir diskutieren über all das, was uns bewegt: Themen wie Ausländerfeindlichkeit oder Kinderarmut sind genauso darunter wie ethische Fragen: Sterbehilfe, ja oder nein? Abtreibung, ja oder nein? Künstliche Befruchtung, ja oder nein? Die Diskussionen mit Moses und meiner Klasse geben mir wirklich was, da ist der liebe Gott (sorry!) beinahe Nebensache. Moses organisiert auch mal mit uns Schülern Gottesdienste im Seniorenheim, lässt uns Geld für die Streetworker sammeln, alte jüdische Gräber pflegen – und uns später im Gemeindehaus Party machen. Und ich Glückspilz habe ihn auch noch als Konfirmationspfarrer abgekriegt, weil er in diesem Turnus an der Reihe ist. Seit etwa einem Dreivierteljahr gehe ich jetzt jede Woche einmal in den Konfiunterricht, hätte nie gedacht, dass mir das so viel Spaß machen würde.

„Muss ich eifersüchtig werden, hä?“, fragt Yannis und radelt dichter neben mich, damit er mir einen Kuss auf die Wange drücken kann. Für einen kurzen Moment verhaken sich unsere Lenker ineinander, wir wackeln und kichern dabei, schließlich aber haben wir das Gleichgewicht wiederhergestellt und fahren Hand in Hand weiter. Ein Auto fährt dicht an uns vorbei und hupt.

„Nur noch zwei Wochen, dann sind endlich Osterferien!“, jubele ich, mache mich von Yannis’ Hand los und fahre ein Stück vor, weil wir an die Kreuzung kommen und der Verkehr dichter wird. Und dann geht alles ganz schnell. Ich höre, wie Yannis hinter mir „Achtung, Sina!“ ruft, ich denke noch: Hä, wir haben doch Grün, da krache ich auch schon mit voller Wucht in ein Auto, das mit überhöhter Geschwindigkeit von links angeschossen kommt. Und dann kann ich mich an nichts mehr erinnern.

Jetzt liege ich also hier, im Krankenhaus, offensichtlich war ich zwei Tage ohne Bewusstsein. Ich habe etliche Prellungen, ein gebrochenes Bein, ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades und zwei gequetschte Rippen mit Verdacht auf Pneumothorax. Das weiß ich so genau, weil ich, Sina Rosenmüller, zwar völlig regungslos ans Bett gefesselt bin, aber zum Glück meinen Verstand nicht verloren habe. Folglich habe ich alles mitbekommen, als die beiden Krankenschwestern vorhin beim Bettzeugwechseln meinen Zustand diskutierten. Ich kann nur hoffen, dass Mama draußen war und sich nicht diesen Blödsinn anhören musste, den die beiden sonst noch abgelassen haben. Eigentlich wollte ich gar nicht wissen, dass Dr. Fresenius-Meyer Nachtdienst mit Schwester Klara gemacht hat und Pfleger Mischa und Pfleger Mika sich im Kühlraum zum Quickie treffen. Die denken wohl, Menschen im Koma kriegen nichts mit!

Bei meiner Liste an Verletzungen grenzt es an ein Wunder, dass ich keine Schmerzen spüre. Haben mich die Ärzte vielleicht mit Medikamenten vollgepumpt? Liege ich im Wachkoma? (Horror!) Oder bin ich vielleicht doch schon tot und denke nur, ich wäre es nicht …

Ich erinnere mich, kurz nach dem Unfall, da war ein dunkler Gang, an dessen Ende ein Licht schien, hell, gleißend, verheißend, jemand winkte mir zu, freundlich … eine Stimme sagte:

„Ist sie tot?“

Und eine andere antwortete:

„Nein, sie ist noch im Leben. Sie hatte einen Schutzengel.“

Wessen Stimmen waren das?

Mama sitzt wieder an meinem Bett, ich höre sie leise beten, sie bittet Gott um Beistand und Kraft in dieser schweren Zeit, dankt ihm für seinen guten Schutz, er soll mich behüten und ihre große, liebste, einzige Tochter vor dem Schlimmsten bewahren und seine guten Engel über mich wachen lassen.

Engel (lat. angelus, Bote, Botschafter) gelten sowohl im Christentum Judentum als auch im Islam als von Gott geschaffene Geisteswesen, die ihm untergeordnet sind. Gemäß zahlreicher Bibelstellen und religiöser Überlieferungen dienen sie als Mittler zwischen Himmel und Erde – wir kennen zum Beispiel den Verkündigungsengel aus der Weihnachtsgeschichte (Lukas-Evangelium). Engel werden aber auch zum Schutz angerufen, so bittet Martin Luther in seinem Morgen- bzw. Abendsegen explizit um den Beistand der Engel: „Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der Feind keine Macht an mir findet.“ Die römisch-katholische Kirche hat in ihrem Katechismus festgeschrieben, dass „Engel personale Gestalten des Schutzes und der Fürsorge Gottes“ sind. Der Islam kennt eine Reihe von Engeln, u. a. auch solche, die dem Menschen persönlich zugeordnet sind, asiatische und indianische Religionen dagegen kennen den Glauben an eine Reihe von Schutzwesen bzw. Schutzgeister.

Aus der Sehnsucht der Menschen nach einem persönlichen Schutz und aus dem vorchristlichen Glauben an magische Schutzgeister hat sich im Laufe der Jahrhunderte die religiöse Vorstellung des Schutzengels entwickelt, der als individueller Begleiter einem Menschen zugeordnet ist und ihm in der Not zur Seite steht.

Wenn sie wüsste, wie gut es mir auf meiner Blumenwiese geht! Und dass die fiese, eckige Wolke sich ein Stück nach rechts verschoben hat. Oder ist sie gar kleiner geworden?

Trotzdem erschrecke ich mich zu Tode, so arg steht es mit mir, dass meine Mutter beten muss? Ich wusste nicht, dass meine Mutter mit Gott auf Du und Du ist, schon gar nicht, dass sie an Schutzengel glaubt. Wir gehen ansonsten nur Weihnachten in die Kirche, vielleicht mal an Ostern oder zum Tauferinnerungsgottesdienst, aber beten? Ich habe sie noch nie beten hören. Auch nicht das tägliche Abend- oder Tischgebet wie in anderen Familien. Dass sie betet – das ist mir neu.

Dass ich ihre liebste Tochter bin, tut aber gut zu hören, nach all dem Pubertätszickentrouble, den ich in letzter Zeit mit ihr hatte!

„Jetzt hilft nur noch beten!“ – diesen Ausdruck hast du vielleicht schon einmal in Bezug auf scheinbar ausweglose Situationen und schreckliche Katastrophen gehört, wenn der Mensch seine Verletzlichkeit spürt und an seine irdischen Grenzen gestoßen ist. Tatsächlich wenden sich viele Menschen täglich, manche erst in solch ernsthaften Situationen an Gott, ganz gleich, welcher Religion sie angehören. Beten heißt, mit Gott sprechen, ihm vertrauen und daran glauben, dass er den richtigen Weg weiß. Ein Gebet ist wie ein innerer Dialog, Sorgen, Probleme oder Hoffnungen werden ausgesprochen, erörtert und reflektiert, allein das schafft oft schon Klarheit. Mehr noch: Wer betet, glaubt daran, dass er mit seinen Sorgen, Nöten und Ängsten nicht alleine ist, und vertraut auf die Unterstützung von Gott. Das Urgebet aller Christen ist übrigens das Vaterunser, wie es Jesus mit seinen Jüngern schon gebetet hat. Die Bestätigungsformel Amen (das ist hebräisch und heißt: „So sei es“, „So soll es geschehen“) wird von Juden, Christen und Muslimen am Schluss eines Gebetes verwendet.

Irgendwann kommt Papa dazu, redet sanft auf sie ein und übernimmt das Händchenhalten an meinem Bett, er betet nicht, dafür erzählt er mir, wie ich auf die Welt gekommen bin, wie er mich damals stolz als Erster gebadet und gewickelt hat… wie er mir später Brei gekocht und das Fahrradfahren beigebracht hat, mit mir einen Meerschweinchenkäfig gebaut und Wettschwimmen in der Nordsee gemacht hat … wie stolz er auf meine mathematische Begabung und meine tollen Ideen ist …

Hey, warum musste ich erst einen schweren Unfall haben, damit er damit rausrückt?

„Es wird alles wieder gut, Sina“, sagt er mit belegter Stimme, aber mit all seiner Überzeugung, „du musst es nur wollen und daran glauben. Ich weiß, dass du es schaffst.“ Ich höre ihn ins Taschentuch schnäuzen. „Wir alle wissen das, deine Familie, deine Freundinnen, Freunde … Yannis ist ganz durch den Wind, der arme Kerl, leider darf er nicht auf die Intensivstation, aber er fragt morgens, mittags, abends nach dir und ich weiß, er denkt jede Sekunde ganz fest an dich.“

Mein guter Papa! Eine warme Glückswelle durchflutet mich. Was war er eifersüchtig auf Yannis, als wir damals ein Paar wurden. Damals, nach dem Knutschfleck … und Yannis, mein lieber, lieber Yannis mit den schönen dunklen Augen und mit dem ich so intensive Gespräche führen kann wie mit keinem anderen. Interessiert höre ich zu, was mein lieber Papa mir sonst noch erzählt.

Doch dann muss ich eingeschlafen sein auf meiner warmen Wiese mit der dunklen Wolke am Himmel, die mir plötzlich viel kleiner und runder vorkommt, traumlos im Traum. Plötzlich dringen wieder andere, fremde Stimmen an mein Ohr, in mein Bewusstsein. Eine Männerstimme stellt kritische Fragen nach meinem Zustand, eine Hand fummelt an meinem Arm herum, in meiner Vene steckt garantiert eine Kanüle und darin wiederum ein Schlauch, der an einem Infusionsbeutel hängt.

Hoffentlich ist das nicht Dr. House!!!

„Sie hat sich bewegt!“ Das war Mamas Stimme. „Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen“, sagt die Männerstimme lapidar und ich stelle mir vor, dass es vielleicht dieser in die Krankenschwester verliebte Dr. Fresenius-Meyer ist. „Wir haben hier schon viel erlebt. Erst öffnen die Patienten die Augen, dann fallen sie wieder ins Koma und nach einem Jahr kostspieliger Intensivmedizin hat sich ihr Zustand immer noch nicht verbessert. Besser, Sie sehen der Wahrheit ins Auge.“

Woraufhin meine Mutter offensichtlich ohnmächtig umfällt, zumindest hört es sich so an, denn es gibt einen riesigen Rummms! im Raum. Abermals zucke ich innerlich zusammen. Wie kann einer nur so dämlich sein? Hat der denn nicht die geringste Ahnung von dem, was da gerade bei mir abgeht? Arme Mama, wie gerne würde ich ihr sagen, dass ich alles mitbekomme! Aber meine Zunge gehorcht mir einfach nicht, sosehr ich mich auch bemühe, ich bringe keinen Ton über die Lippen.

Dann dämmere ich wieder weg, ich spüre, wie etwas in meinem Bauch rumort, nach wie vor habe ich keine Schmerzen. Plötzlich dringt ein feiner Geruch an meine Nase. Die letzte Ölung, schießt es mir durch den Kopf, und gleichzeitig ein lautstarkes NEIN, SO WEIT SIND WIR NOCH NICHT!!! Aber es ist meine Lieblingstante Irene, deren feine Stimme ich nun leise vor sich hin murmeln höre, ihre Hände machen Bewegungen über meinem Kopf, ich spüre einen Lufthauch, wieder diesen minzigen Geruch … Dann ihre Hände, die jetzt langsam über meinen Körper tasten, ganz fein. Und dann ist es so, als ob dieser kleine dunkle Schatten, der da die ganze Zeit über noch so hartnäckig am Himmel hing, sich plötzlich komplett auflösen würde, plötzlich erstrahlt alles hell und klar und blau. Wieder wedelt Irene über mir und ich hätte gerne gewusst, was sie als Nächstes getan hätte, doch da geht die Tür auf und eine weibliche Stimme faucht: „Was machen Sie denn da für einen Hokuspokus?“

Hoc est corpus meum – „Dies ist mein Leib.“ Diese lateinischen Worte spricht der katholische Priester während des heiligen Abendmahls, und weil die Menschen früher kein Latein konnten und/oder sich auch darüber lustig gemacht haben, entstand das Wort Hokuspokus als Verballhornung für etwas, das man nicht wirklich versteht. Inzwischen bezeichnet man damit auch großes Getue und Tamtam um nichts.

Schritte kommen näher, jemand überprüft die Infusion. „Die Patientin braucht Ruhe, wenn ich Sie also höflichst bitten dürfte …“

„Ich bin hier, um ihr Ruhe zu spenden“, sagt Irene mit \ ihrer feinen Stimme, die keinen Widerspruch duldet.

„Und wenn ich all die Gerätschaften hier um Sina herum sehe, frage ich mich, wer hier wohl welchen Hokuspokus veranstaltet! Bei solch einem Gepiepse und Gepumpe kann doch die Seele nicht gesund werden.“

„Seele?“ Ich stelle mir vor, dass es Schwester Klara ist, die völlig frustriert ist, weil ihr geliebter Dr. Fresenius-Meyer verheiratet ist und sich von seiner reichen Frau nicht trennen will. Bestimmt ist Schwester Klara blond – und skeptisch gegenüber jeglicher Form von Naturheilkunde. Ihre Stimme klingt oberschwesternmäßig, als sie sagt: „Dieses Mädchen hatte einen schweren Unfall und im Gegensatz zu dem anderen eine winzige Chance zu überleben. Allerdings hat sie schwerste Verletzungen am KÖRPER und von daher ist die Seele jetzt erst mal Nebensache. Diese Maschinen hier sorgen dafür, dass sie am Leben bleibt! Aber Sie können beruhigt sein. Wenn die Patientin in drei Tagen nicht aufwacht, werden wir überlegen müssen, ob wir die Geräte nicht abstellen! Dann haben Sie Ihre Ruhe für die Seele.“

WAS? Welcher andere?

Bin ich schon gaga oder ist diese Krankenschwester einfach nur blöd? In was für ein Krankenhaus bin ich denn hier geraten!

Die können mich doch nicht einfach so hopsgehen lassen, das ist doch glatter Mord!

Hey, Hilfe, hört mich denn niemand?

„Gar nichts werden Sie!“ Irene klingt empört. „Sina ist stark genug, um diesen schrecklichen Unfall zu überleben!“ Sie atmet tief durch und versucht, sich zu beruhigen, der Puls ihrer Hand, die auf meinem Arm ruht, geht mindestens auf 180. Nach einer Weile sagt sie: „Ich glaube nun mal an die Kraft der guten Energien, die in unserem Universum und in unseren Körpern stecken. Und diese Lebenskraft, diese Lebensenergie, muss bei Sina wieder fließen. Sonst wird sie nicht gesund, egal, wie viele Medikamente Sie in sie hineinpumpen. Und jetzt lassen Sie mich bitte noch fünf Minuten bei meiner Nichte, danach sehen Sie mich hier nie wieder, versprochen.“

Lebenserhaltende medizinische Maßnahmen können nicht mal eben so abgeschaltet werden, es sei denn, der Patient ist de facto hirntot oder hat in einer Patientenverfügung hinterlassen, dass er dies explizit wünscht. Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland strafbar, erlaubt ist indirekte Hilfe wie Leidenslinderung durch Medikamente oder der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen, sofern der Patient oder dessen Bevollmächtigter damit einverstanden ist.

Solch lange Reden hört man selten von Irene, ich spüre jetzt die Wärme ihrer Hand auf meinem Arm, ihr Puls hat sich wieder beruhigt. Dafür flackert meiner, zumindest macht eins der Geräte einen fiesen Warnton.

„Sina, alles wird wieder gut, das weiß ich!“, redet Irene beschwichtigend auf mich ein, während die Krankenschwester mit einem „Sehen Sie, was Sie da anrichten!“ offenkundig aus dem Raum gestürmt ist, um Hilfe zu holen. „Lass dich nicht verrückt machen, Sina! Ich weiß, dass du das gerade alles mitbekommen hast, hörst du, nichts davon wird passieren, du hast eine Chance, im Gegensatz zu dem anderen, du wirst wieder unsere fröhliche gute, alte Sina sein, die mit ihrem Onkel Ösi meine Erdbeertörtchen um die Wette futtert … und jetzt nimm all die gute Kraft, die für dich da ist, spüre, was du brauchst … wir denken alle an dich, wir sind alle für dich da, deine Eltern, dein kleiner Bruder Leon, Oma Doris, dein Onkel Ösi, dein Yannis, deine Freundinnen Milli, Kleo, Julia …“ Ich hätte ihre warmen Hände gerne noch länger in meiner Beckengegend gespürt, die mir mit einem Mal vorkommt, als hätte jemand darin einen roten Eimer Farbe ausgeschüttet. Helle, warme grüne Wiese, bunte Schmetterlinge und feuerrote Gefühle im Bauch …

Mannomann, auf welche Drogen haben die mich denn hier gesetzt?

In diesem Moment stürmt der Lautstärke nach ein ganzer Schwarm Ärzte und Schwestern an mein Bett, jemand tippt auf einer Tastatur, die Infusion wird entfernt, eine neue installiert, Irene steht leise auf, niemand scheint sich um sie zu kümmern. Ich liege da, versuche herauszufinden, was da jetzt mit mir los ist. Aber das Gepiepse macht mich verrückt, mein Arm, in dem die Kanüle steckt, fängt plötzlich an zu brennen, ein stechender Schmerz schießt in meinen Kopf und titscht dort hin und her wie eine Flipperkugel. Ich höre mich stöhnen. Wieso bin ich nicht mehr auf meiner grünen Wiese mit dem strahlenden blauen Himmel über mir? Wie gerne würde ich aufspringen und vor dem Schmerz davonrennen, zumal sich jetzt auch mein Brustkorb anfühlt, als hätte mich jemand mit einer Mistgabel aufgespießt.

Bitte, bitte, das soll aufhören, das halte ich nicht aus!

Bitte, das soll vorbei sein, für immer!

Rufe ich es laut oder denke ich das nur?

„Sina, wach auf!“ Jemand schüttelt mich, das muss Papa sein. „Wach endlich, endlich auf!“ Seine Stimme hört sich verzweifelt an, da ist Mamas Hand, die sich in meinen Arm gekrallt hat. Aber ich spüre nur Schmerzen, im Kopf, im Bauch, im Bein, endlos viele, qualvolle Schmerzen … Ich will nicht mehr, ich will, dass es endlich vorbei ist. Ich will auf meine grüne, weiche Wiese, in Ruhe schlafen und träumen, wattig und weich, sonnig und warm, für immer. Wie sehr sehne ich mich nach Ruhe und Frieden! Wieder ist da dieses gleißende, alles verheißende Licht, das mich am Ende eines Tunnel erwartet. Erleichtert laufe ich ihm entgegen, gleich bin ich da, dann habe ich keine Schmerzen mehr, dann bin ich hoffentlich für immer erlöst und frei.

Aber was ist das? Jemand winkt mir zu – und wehrt mich gleichzeitig ab. „Da bist du ja schon!“, sagt eine mir unbekannte, tiefe Stimme. „Aber für dich haben wir gerade keinen Platz.“ Ich spüre einen festen Schubs gegen mein Brustbein, dann wird alles schwarz. Sehr schwarz.

 

Osterengel statt Osterhase

Ich liege warm eingepackt auf dem Liegestuhl in unserem Garten, beobachte die Kondensstreifen der Flugzeuge hoch oben am blauen Himmel und futtere Erdbeertörtchen. Nein, diesmal sind keine Schmetterlinge dabei, diesmal ist es kein Traum, diesmal ist es echt. Ich, Sina Rosenmüller mit den großen Füßen und dem Talent für Mathematik und Basketball, habe es geschafft, ich bin dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen, ich habe mich nicht unterkriegen lassen.

Ich lebe, und wie!!!

Am dritten Tag nach meinem schrecklichen Unfall bin ich tatsächlich aus dem Koma aufgewacht, mit vielen Schmerzen, aber ohne Folgeschäden an Gehirn und Körper. Alles wird wieder gut und ich werde richtig gesund – es grenze an ein Wunder, wie alle behandelnden Ärzte immer wieder betont haben. Seit ein paar Tagen bin ich nun endlich aus dem Krankenhaus draußen, weit weg von Schwester Klara, Pfleger Mischa und Doktor Fresenius-Meyer, die mich alle zum Schluss mit ihrer schlechten Laune beinahe angesteckt haben. Klar sind pubertierende Kranke und Bettpfannewechseln nicht lustig, aber, hey, kann ich etwas dafür, dass ich noch nicht aufstehen durfte? Und dann dieses grässliche Krankenhausessen! Erstens schmeckt es nicht, zweitens schmeckt es nicht und drittens schmeckt es nicht. Außerdem macht es Verstopfung (mit der Folge, dass du einen Einlauf bekommst, grrr!), Pickel und erst recht krank. Ich finde, von Krankenhauskost kann niemand gesund werden! Zum Glück kam Yannis auf die Idee mit dem Obstpicknick, sonst wäre ich garantiert an Skorbut gestorben: Jeden Tag, seitdem ich die Intensivstation mit den vielen Schläuchen und Geräten verlassen durfte, hat er mich besucht, beim ersten Mal nach meinem Aufwachen hatte er Erdbeeren dabei. „Ich wusste, du schaffst das“, hat er in meine Haare gemurmelt und mich mit seinen Armen so fest gehalten wie nie. Und weil ich ihn so gut kenne und liebe, wusste ich, er hatte Tränen in den Augen dabei und wollte nicht angeschaut werden.

Danach haben wir jedes Mal, wenn er kam, wie zu Kinderzeiten „Obstgarten“ gespielt, genauer gesagt: Ich habe mir etwas aus dem riesigen Obstkorb, den er mitgebracht hat, ausgesucht und Yannis hat geschnippelt und mich abwechselnd mit Apfelschnitzchen, kernlosen Trauben, Kiwi, Bananen oder Mango gefüttert, bis ich mich wie ein Multivitaminbonbon gefühlt habe. Sogar Ananas und Melone waren einmal dabei, aber da hat Schwester Klara gemeckert, weil später überall Melonenkerne herumflogen – kein Wunder, wir hatten ja auch kichernd versucht, sie durch das gekippte Fenster zu spucken … Überhaupt war Yannis mein Retter in dieser trostlosen und schmerzvollen Zeit. Nach dem Obstpicknick hat er sich dann immer neben mich gekuschelt und war einfach nur da. Manchmal hat er Neuigkeiten aus der Schule erzählt oder mir zum Musikhören einen Kopfhörer ins Ohr gestöpselt. Meistens bin ich dabei eingeschlafen – und davon wach geworden, weil seine Finger zärtlich über meine Wange streichelten und meine Lippen berührten.

Wir haben dabei nie über den Unfallhergang gesprochen und wie er das alles erlebt hat, aber seine Augen haben mir alles gesagt.

Jetzt bin ich also endlich wieder zu Hause, trage einen Gipsverband an meinem linken Bein, die gequetschten Rippen tun nur noch bei bestimmten Bewegungen weh, aber da ich sowieso die meiste Zeit liegen muss, halten sich die Schmerzen in Grenzen. Mama verwöhnt mich, wo sie nur kann, Oma Doris ruft zweimal täglich an, Leon schenkt mir seine Kinderschokolade und Irene backt Erdbeertörtchen in Serie. Keine Ahnung, wo sie die Früchte um diese Jahreszeit herbekommt, aber mir haben die Küchlein noch nie so gut geschmeckt wie jetzt. Und doch ist mir nach all der Zeit im Krankenhaus superlangweilig, trotz Onkel Ösis lieb gemeinter Sprüche, trotz diverser Hörbücher und Musik vom iPod. Yannis hat sogar extra für mich seinen alten Laptop neu bestückt, sodass ich jetzt bequem im Liegen wenigstens surfen, chatten und unter www.sinasblog.de mein Onlinetagebuch schreiben kann. Trotzdem: Ich will am liebsten einfach nur aufspringen, mich auf mein Rad schwingen und ab an den Main düsen. Aber damit muss ich mich noch ein wenig gedulden, vielleicht kann ich demnächst wenigstens zum Main humpeln, wenn ich meinen Gehgips bekomme. Von meinem Bike scheint ohnehin leider nicht mehr viel übrig zu sein, wann immer ich danach frage, schauen sich die Erwachsenen komisch an und wechseln so schnell wie möglich das Thema. Mich beschleicht das ungute Gefühl, sie verschweigen mir etwas. Irgendetwas muss passiert sein, was ich nicht wissen soll, aber ich fühle mich noch zu schwach, um nachzuforschen, und mein Hirn scheint die Erinnerung an den Unfall komplett ausgeblendet zu haben. Auch Yannis hat neulich so komisch geguckt, als ich von ihm wissen wollte, ob ich eigentlich vor oder hinter ihm geradelt bin, als das Unglück passierte. Ganz blass ist er geworden und hat etwas vor sich hin gemurmelt von wegen „dann hätte es wenigstens mich erwischt und nicht dich …“, aber so ganz genau habe ich ihn nicht verstanden und ich habe mich auch nicht getraut nachzuhaken.

Weil gerade Osterferien sind, leistet mir Leon vormittags Gesellschaft, versucht, lieb zu sein, und ist nur ab und zu mal nervig, liest mir wahlweise aus seinen Fußball- oder Dinobüchern vor oder zeigt mir seine neusten Lego-StarWars-Modelle. Noch fällt es mir schwer, mich lange zu konzentrieren, weswegen ich ihm lieber beim Zusammenbauen des Tantive IV zuschaue und ihm nur die großen Steine dafür heraussuche. Nach dem Ausschlafen und zum Mittagessen kommt dann Yannis einfach über den Gartenzaun herüber und wir verbringen gemeinsam den Nachmittag mit Kuscheln, Dösen oder DVD-Gucken.

Der Süße!

Heute aber haben außer Yannis meine Freundinnen Milli, Kleo und Julia ihren Besuch angekündigt und ich freue mir ein Loch in den Bauch, sie endlich einmal alle wiederzusehen. Ins Krankenhaus durften sie nämlich nicht, weil ich ja Ruhe brauchte. Zum Trost haben sie mir eine sehr aufregende, halbstündige Videonachricht geschickt, die mir Yannis auf dem iPod vorgespielt hat …

„Hey, Sina, altes Haus, wie geht’s?“ Milli steht plötzlich neben mir und drückt mir die Luft weg, ich habe hier im Garten gar nicht die Klingel läuten hören. Dann reicht sie mir einen großen Eisbecher. „Antonio lässt grüßen, er hat extragroße Kugeln für dich gemacht, damit du ja wieder schnell auf die Beine kommst!“ Sie lässt sich neben mir auf die Liege plumpsen.

„Gemütlich hast du es hier …“, grinst Julia, küsst mich ab und deutet auf mein Kissen- und-Fleecedecken-Lager. „Aber ist es drinnen nicht wärmer?“

„Noch nie vom Zauberberg gehört?“, grinse ich gequält und tätschele Ambra, Kleos Hovawart-Hündin, den Kopf, „nach all den Tagen grässlicher Krankenhausluft fühle ich mir hier wie im Luftkurort!“

„Kann ich gut verstehen“, meint Kleo und greift mitfühlend nach meiner Hand. „Hauptsache, dir geht es mit jedem Tag besser, Sina! Es ist wirklich ein Wunder, dass du lebst, nach all dem, was passiert ist!“

Dankbar nicke ich ihr zu. Kleo war mal meine allerbeste Freundin, doch in den letzten Wochen und Monaten haben wir uns nicht mehr allzu viel zu sagen, ich komme nicht mehr richtig an sie heran. Konnten wir früher einmal über alles reden, ist jetzt kaum ein längeres Gespräch möglich, sie ist immer kurz angebunden und erzählt nichts mehr von sich. Aber in Momenten wie diesem sind wir uns immer noch ganz nah, da ist es egal, dass sie sich ausschließlich von Äpfeln ernährt und ständig mit Ambra auf dem Hundeplatz unterwegs ist.

„Und? Hast du schon Ostereier angemalt?“, fragt Julia Leon, der mit seinem TIE-Fighter über den Rasen angedüst kommt.

„Nö, das macht doch der Osterhase, oder?“, antwortet mein kleiner Bruder schlau und Julia steht doof da und weiß nicht, was sie sagen soll. Sie hat eine große Schwester, Ashley – mit kleinen Brüdern kennt sie sich offensichtlich nicht besonders gut aus.

„Glaubt der etwa auch noch an den Weihnachtsmann?“, fragt sie augenrollend, als Leon außer Sichtweite ist.

„Was denkst du denn?“, sage ich lachend und freue mich insgeheim auf den heutigen Abend, den wir in unserer Familie traditionellerweise mit dem Färben und Bemalen von Ostereiern verbringen. Auch Leon. Ist zwar Gründonnerstag und nicht Ostersamstag, aber bei uns ist das nun mal so.

Rund um das Osterfest mischen sich verschiedene heidnische und christliche Bräuche: Früher durften in der Fastenzeit vor Ostern keine Eier verzehrt werden. Um sie für später haltbar zu machen, wurden sie gekocht, und um die jeweilige Haltbarkeit besser zu unterscheiden, mit Pflanzenfarbe bunt gefärbt. In früheren Zeiten opferte man die Eier der Frühlingsgöttin Ostara, seit dem Mittelalter werden Osterspeisen in der Osternacht gesegnet und zum Osterfest selbst verzehrt. Bunte Ostereier sind heute gang und gäbe, wobei in manchen Kirchen nach dem Ostergottesdienst dem Besucher ein rotes Osterei geschenkt wird: Es steht für Leben und Fruchtbarkeit.

Ich hatte mich auf einen gemütlichen Nachmittag mit viel Reden und den neusten Klatsch und Tratsch vom Goethe-Gymi gefreut – schließlich habe ich ja einiges nachzuholen, von den Hausaufgaben ganz zu schweigen –, doch meine Freundinnen überraschen mich mit einer ganz besonderen Idee: Osterkörbchen basteln.

„Du sollst deine Feinmotorik schulen“, klärt mich Milli grinsend auf, „damit dein Gehirn wieder auf Touren kommt.“ Dabei hat sie selbst ein Problem mit Ausschneiden, nicht weil sie plemplem wäre, sondern weil sie viel zu faul und ungeübt dazu ist.