Meine total wahren und überhaupt nicht peinlichen Memoiren mit genau elfeinhalb - Friedrich Ani - E-Book

Meine total wahren und überhaupt nicht peinlichen Memoiren mit genau elfeinhalb E-Book

Friedrich Ani

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Beschreibung

In diesem spannenden Kinderroman schreibt der preisgekrönte Krimi-Autor Friedrich Ani über die erste Liebe des elfeinhalbjährigen Simon Kesselbeck. Seitdem er Annalena gesehen hat, ist nichts mehr wie vorher: Simon fällt ins Schwimmbecken und rennt gegen eine Glastür. Seine Stimme ist weg, sein Presslufthammerherz wummert bis zum Kopf ... Vielleicht weiß die Nymphe Echo Rat, was Jungs tun können, wenn sie verliebt sind? Simon selbst weiß nur eines: dass ein Herzkasperl im Kopf das Schönste ist, was einem passieren kann.

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Friedrich AniMeine total wahren undüberhaupt nicht peinlichenMemoiren mit genauelfeinhalb

Friedrich Ani

Meine total wahren und

überhaupt nicht peinlichen

Memoiren mit genau

elfeinhalb

Carl Hanser Verlag

Die Schreibweise in diesem Buch entspricht den Regelnder neuen Rechtschreibung.

eBook ISBN 978-3-446-23363-8Alle Rechte vorbehalten© Carl Hanser Verlag 2006Satz im VerlagDatenkonvertierung eBook:Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburgwww.hanser.de

Vorwort

(hinterher geschrieben)

Mein Name ist Simon Kesselbeck, ich bin elfeinhalb und gehe seit einem Monat in die sechste Klasse der Helen-Keller-Realschule.

Und das sind meine Memoiren.

Meine Lehrerin sagt, ich habe alles erfunden, weil angeblich kein Elfeinhalbjähriger weiß, was Memoiren sind. Außerdem, sagt sie, kann das, was ich geschrieben habe, gar nicht wahr sein. Und das Thema der Deutschhausaufgabe lautete: »Mein aufregendstes Erlebnis«.

Wahrscheinlich hat Frau Doktor Leubl nie was Aufregendes erlebt. Wenn sie das, was hier gleich kommt, nicht glaubt, ist das ihr Problem, nicht meins. Das sagt meine Ma auch immer, wenn mein Vater zu ihr sagt, dass das, was sie liest, bloß erfunden ist, damit die Leute drauf reinfallen und diese Zeitschriften kaufen und denken: Was für ein Supertyp, der Typ, der da abgebildet ist und der das alles erlebt hat! Meistens ein Filmstar oder ein Superstar. Um das klarzustellen: Ich bin kein Filmstar, und ich bin minusprominent. Aber was ich erlebt habe, ist wahr, und ich will, dass die Leute mir glauben. Auch Frau Doktor Leubl, die behauptet, man darf keine Sätze mit Und anfangen.

Ich schon.

Und meine Ma denkt, ich bin ein Aufschneider. Weil ich vielleicht nicht genug Aufmerksamkeit kriege und vor meinem Vater angeben will. Der liest seit ungefähr drei Jahren dieselben Sachen aus seinem neuen Roman vor und wird irgendwie nie fertig mit dem Schreiben.

Mein Vater ist Schriftsteller, ich kann nichts dafür. Alles, was er bis jetzt geschrieben hat, ist totale Erfindung. Aber jeder glaubt es.

Mir glaubt niemand. Obwohl auf meinem Manuskript fett Memoiren draufsteht. Also: ERINNERUNGEN, auf Deutsch. Und Erinnerungen sind wahr, sonst könnte man sich ja nicht dran erinnern.

Frau Doktor Leubl sagt, kein Elfeinhalbjähriger weiß, was ein Manuskript ist.

Aber ich sage: Wenn sie keine Erinnerungen hat, ist das nicht meine Schuld, dass sie eigentlich gar nicht existiert.

Eins

Freitag

Ich habe gleich gespürt, da stimmt was nicht. Das ging schon im Traum los. Ich war in einem Haus unterwegs, das genauso aussah wie das Hotel, in dem meine Ma arbeitet, aber es war viel größer. Überall rannten Leute rum. Ich habe kein Wort verstanden von dem, was sie die ganze Zeit geredet haben. Und mittendrin war ich.

Ich war mit Vitali verabredet, und der kam nicht.

Ich lief runter zum Schwimmbad. Ich dachte: Vielleicht ist er bei seiner Ma, die im selben Hotel arbeitet wie meine, bloß unten in den Hofbräustuben. Da war er nicht. Ich wurde langsam sauer. Genau wie das Hotel war das Lokal viel größer als in echt. An den Tischen saßen lauter Leute, die sich in einer müsteriösen Sprache unterhalten haben. Totales Gedränge, und nirgends Vitali.

Ich lief wieder rauf in die Lobby. Und da war niemand mehr. Und weil ich das nicht verstanden habe, bin ich zum Lift gegangen und nach oben gefahren. Eigentlich wollte ich in den achten Stock. Aber der Lift fuhr weiter, immer weiter und höher und höher. Und ich dachte: So ein Mist, Vitali wartet bestimmt in seiner Wohnung, und die ist im achten Stock, das war ganz klar. Obwohl ich doch wusste, dass er in der Davidstraße wohnt.

Ohne dass was gekracht hätte, ist der Lift aus dem Dach rausgefahren und über das Hotel geflogen und hat sich in einen Zug verwandelt, in eine Eisenbahn.

Ich saß in einem Waggon und schaute zum Fenster raus. Leute stiegen ein und aus. Ich drückte mich in die Ecke. Draußen sauste die Landschaft vorbei, Wiesen, Häuser, Straßen, alles durcheinander. Der Zug fuhr ziemlich schnell. Ich habe überlegt, ob ich wieder zurückfinde. An der nächsten Haltestelle wollte ich aussteigen. Dann bin ich aufgewacht.

Und ich habe sofort gewusst: Da stimmt was nicht. Weil ich was sagen wollte und das nicht ging. Meine Ma behauptet, ich hätte schon als Kleinkind immer sofort nach dem Aufwachen geredet oder gemurmelt oder irgendwas. Jedenfalls hätte ich immer einen Laut von mir gegeben, kaum dass ich die Augen aufgekriegt habe.

Jetzt passierte nichts. Ich klappte den Mund auf und zu. Nur Sabber tropfte raus.

Verdammt, habe ich gedacht, vielleicht träume ich immer noch.

Da kam meine Ma rein und riss die Vorhänge auf. Sieben Uhr, echte Wirklichkeit.

»Guten Morgen«, sagte sie, ohne »mein Schatz« wie sonst. »Jetzt ist Schluss mit Schule schwänzen.«

Ich zog die Decke über den Kopf. Das tu ich immer. Manchmal zieht meine Ma sie wieder weg und gibt mir einen Kuss. Diesmal nicht.

»Ich muss gleich los«, sagte sie. »Dein Vater macht dir das Frühstück.«

Noch was, was nicht stimmte. Mein Vater macht nie das Frühstück. Er sitzt höchstens dabei. Oder er steht in der Küche rum. Gemacht hat er noch nie irgendwas in der Früh.

Ich wollte meine Ma fragen, ob sie immer noch sauer war wegen gestern. Ich streckte meinen Kopf unter der Decke vor. Da schloss sie die Tür und flüsterte mit meinem Vater. Ich kriegte mit, dass der kranke Opa Ferdi in dem Flüstern vorkam.

Ich hätte auch gern geflüstert. Aber das ging nicht.

Zwei

Immer noch Freitag

»Schweig-schweig.«

Wenn mein Vater beim Frühstück was rausbringt, dann ist es unverstehbar. Genauso gut könnte er sagen: Schweig-schweig.

Ich saß am Tisch, er stand an der Spüle und hielt eine Tasse Kaffee in der Hand. Meine Ma war schon weggegangen, und ich hatte keine Ahnung, wohin. Normalerweise fängt ihr Dienst erst um neun an.

Während ich mein Müsli löffelte, dachte ich über meinen Traum nach. Wieso hatte ich Vitali nirgends gefunden? Wieso hatte alles so anders ausgesehen? Und was bedeutet ein fliegender Aufzug, der sich in einen Zug verwandelt, und zwar in keinen ICE, sondern in einen mit Abteilen und Ledersitzen wie in alten Filmen?

»Schweig-schweig«, sagte mein Vater.

Ich sah ihn an und nickte. Wenn meine Ma dabei ist, schüttelt sie den Kopf oder fragt, was mein Vater in seinen Bart nuschelt. Er hat keinen Bart, und er nuschelt auch nicht. Wahrscheinlich murmelt er einfach in sich hinein.

Keine Ahnung, warum meine Ma immer will, dass man schon am Morgen MITEINANDER SPRICHT.

An diesem Morgen wirkte mein Vater so, als wollte er was Wichtiges sagen. Er holte Luft, öfter hintereinander, er öffnete den Mund, das konnte ich genau erkennen. Aber dann trank er noch einen Schluck Kaffee und schaute zum Boden.

Ich trank mein Wasserglas aus. Mehr als die Hälfte des Müslis schaffe ich nie. Wenn meine Ma jetzt hiergewesen wäre, hätte sie mich ermahnt weiterzuessen. Mit dem Papier von der Küchenrolle, das mir meine Ma als Serviette hingelegt hatte, wischte ich mir über den Mund und stand auf. Als ich an meinem Vater vorbeiging, sagte er:

»Schweig-schweig.« Oder so was Ähnliches. Ausnahmsweise hätte ich ihm echt gern eine Antwort gegeben. Aber das klappte nicht. Als hätte ich meine Stimme im Traum vergessen, und die flackte jetzt in der Lobby, und alle trampelten drauf rum.

Drei

Immer noch Freitag

»Jetzt mal ehrlich«, sagte Vitali auf dem Schulhof. »Wieso redest du nichts? Das nervt, Alter. Was ist?« Er schlug mir gegen die Schulter.

Dieser Vormittag war ziemlich schlimm. Bis zur ersten Stunde lief alles normal. Niemand fragte mich was. Der Lehrer schaute an mir vorbei und ich an ihm. Ich saß da und dachte an irgendwas. Das stimmt nicht. Ich dachte nicht an irgendwas, ich dachte an was GANZ BESTIMMTES.

Ich dachte und dachte, und das ging bis zum Ende der zweiten Stunde gut. Dann kam Frau Doktor Leubl und diktierte uns einen Aufsatz. Einen Aufsatz! An einem Freitag!

Schon beim Schreiben hatte ich vergessen, worum es ging. Und danach passierte genau das, was nicht passieren durfte und dauernd passiert: Ich musste vor der Klasse meinen Aufsatz vorlesen. Erst ich, dann Ole. Das war schon im letzten Jahr so. Meistens müssen wir beide vorgehen, Schoppenhammer und ich. So konnte Frau Doktor Leubl beweisen, was eine flüssige, ansprechende, bunte Sprache ist und was nicht.

Flüssig, ansprechend, bunt.

Wenn ich meinen Vater frage, ob in seinen Büchern eine flüssige, ansprechende und bunte Sprache vorkommt, fragt er mich, was eine bunte Sprache ist.

Unflüssig, unansprechend und unbunt stand ich an diesem Freitag vor der Klasse und brachte keinen Ton raus. Nicht einen. In meinem Heft stand was, das stand fest. Aber ich konnte es nicht ablesen. Lesen ja, aber nicht ablesen.

»Was ist denn, Simon?«, fragte Frau Doktor Leubl. Meine Hand zitterte, erst die linke, dann die rechte, dann alle beide.

»Was ist denn, Simon?«

Note 5. Dann kam Ole und kriegte eine 2. Und in der Pause nervte mich Vitali.

»Was hast du? Das ist ja peinlich. Red doch was! Spinnst du? Hast du einen Alptraum gehabt, der dich so geschockt hat, dass du stumm geworden bist?«

Er kaute auf seiner Butterbreze rum, schlug mir wieder gegen die Schulter und schüttelte den Kopf wie meine Ma beim Frühstück.

Plötzlich ertönte eine Stimme hinter mir.

»Simon. Ich muss dringend mit dir reden.«

Versteh ich, dachte ich und rannte los.

Ich rannte die Straße runter und rannte über alle Kreuzungen und über den Mittleren Ring und bis in den Englischen Garten. Der Schweiß lief mir in Strömen übers Gesicht. Luft kriegte ich auch keine mehr.

Ich durfte nicht stehen bleiben. Wenn ich stehen bleibe, versinke ich im Boden und tauche nie wieder auf. Ich wollte nicht verschwinden, ich wollte was sagen. Ich schwör’s. Ich spreche eigentlich gern, wenn mir was einfällt.

Zwischendurch fiel mir ein, dass mein Schulranzen noch in der Schule war. Das war nicht wichtig, das war total unwichtig.

Ich wollte in den Englischen Garten und zu meinem Lieblingsort: weil ich da immer bin, wenn die Welt um mich rum wieder mal zu groß ist. Und zu laut. Oder zu leise. Wenn ich so verwirrt bin wie in dem Traum mit dem fliegenden Lift.

So verwirrt wie an diesem Freitag im Juli war ich noch nie.

Und so viel Angst hatte ich auch noch nie gehabt. Eigentlich hatte ich gar keine Angst. Das war keine richtige Angst, das war was total anderes.

Weil das, was wirklich mit mir los war, total anders war als alles, was bis jetzt mit mir los gewesen war.

Unter der Angst war was versteckt. So wie ich in der Früh unter der Decke versteckt bin. Vielleicht wäre es schön gewesen, wenn jetzt meine Ma gekommen wäre und meine Angst einfach weggezogen hätte.

Drunter lag was total Aufregendes versteckt. Deswegen hatte ich doch so rennen müssen: weil ich sonst vor Aufregung geplatzt wäre.

Vielleicht war meine Stimme geplatzt. Die war nämlich nicht mehr da. Seit heut Morgen.

Ich war stumm.

Und ich wusste, dass ich meine Stimme NICHT im Traum vergessen hatte. Niemand vergisst seine Stimme im Traum, kein Mensch und kein Hund.

Ich riss meinen Mund so weit auf wie ich konnte. Ich keuchte und röchelte und stöhnte, und mir wurde schwindlig vor lauter Schnaufen.

Wegen dem, was unter der Angst war, hatte ich keine Stimme mehr, keinen einzigen Buchstaben.

Ich wusste genau, was unter der Angst war. Aber ich wollte es nicht wissen. Das stimmt nicht. Ich wollte es schon wissen. Aber nicht so.

Vier

Immer noch Freitag

Als ich mich ein wenig erholt hatte, lief ich weiter, quer über die Wiese. Jeder Hund, der mir entgegenkam, bellte mich an. Die hielten mich garantiert für einen Verbrecher, der auf der Flucht war. Und ich war ja auch auf der Flucht.