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Warum ist es überhaupt wichtig zu wissen, in welcher Zeit man lebt, wenn man weiß, dass sich im Rückblick alles als Irrtum erweisen wird? Konrad Paul Liessmann begibt sich - inspiriert durch seinen Kursbuchbeitrag von 1995 - auf die Suche nach Kontinuität und Diskontinuität in unserem Leben.
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Seitenzahl: 14
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Konrad Paul Liessmann
MENSCH 2.0
Die Kritik gehört zu einer Welt von gestern
In einer neuen und sehr schicken Kunstzeitschrift findet sich unter der Rubrik »Modestadt Berlin« und der Überschrift »Ästhetische Rivalität zwischen Punk und Techno« das Bild einer selbstbewußt-lasziven jungen Frau, im gestylten Straßencafé in einem Korbstuhl lehnend, malerisch mit Tuchresten und Fetzen drapiert, die Brüste kaum verhüllt, ein Weinglas vor sich. Es handelt sich, so erfährt der Leser, um die Jungdesignerin Darja Richter, eine Meisterschülerin von Wolfgang Joop, die mit einem selbstentworfenen Oberteil solcherart posiert; für ihr fahles Make-up zeichnet übrigens Odile Agée verantwortlich. Darja Richter, so erläutert der Kommentar, »versteht Mode als Diskurs über das Geschlecht« und verknüpft »die Formensprache des Punk mit Fragen nach der weiblichen Selbstdarstellung«, sie verwendet »überwiegend Filz, markiert mit aufgenähten Dreiecken und Kreisen Geschlechtsmerkmale oder entblößt sie«. Und auf der MODA 94 »kontextualisierte« sie mit einer parallel zur Entwurfspräsentation projizierten Dia-Show den »Zusammenhang zwischen Textilindustrie und Prostitution«.
Das also ist es, was nach der Postmoderne das ästhetische Bewußtsein markiert. Untrennbar fließen Kunst, Werbung, Design, Propaganda, Unterhaltung, Lebensgefühl, Mode, Kritik und Konsum ineinander. Versatzstücke der Moderne wie das aufklärerische Pathos, der Filz und die Sorge um Randgruppen kreuzen sich mit postmodernem Ästhetizismus, die sichtbaren Signale einstiger Protestbewegungen werden zu Markenzeichen, und industriell verordnete Freizeitekstasen mutieren zu einer neuen Kunst- und Jugendbewegung, die Geschlechterfrage darf nirgendwo fehlen, wer andere schminken kann, beansprucht die Aureole des Künstlers, und der diesbezügliche Verweis auf Baudelaire ist