Philosophie der modernen Kunst - Konrad Paul Liessmann - E-Book

Philosophie der modernen Kunst E-Book

Konrad Paul Liessmann

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Beschreibung

Die umstrittene Kunst der Moderne hat nicht nur die Zeitgenossen und Kunstwissenschaften, sondern auch die Philosophen zu unterschiedlichen Deutungsversuchen provoziert. Die Philosophie der modernen Kunst gibt einen Überblick über die Entwicklung der Theorien der Kunst seit dem 19. Jahrhundert. Ausgehend von den klassischen ästhetischen Konzeptionen bei Kant und Hegel werden die wichtigsten Stationen der ästhetischen Theorie der Moderne beschrieben und analysiert: die Romantik, Schopenhauer und Nietzsche, das Fin de Siècle, Lukács, Benjamin, Adorno, aber auch Kritiker der Moderne wie Ortega y Gasset, Arnold Gehlen und Hans Sedlmayr werden diskutiert. Die Untersuchung mündet in einer Auseinandersetzung mit aktuellen Kunsttheorien, die sich vor allem um den Begriff der Postmoderne und die Entwicklung der Medienwelt, um die Kategorie des Neuen und die Renaissance der Naturästhetik rankt. Die farbig reich bebilderte, schön ausgestattete Neuausgabe des Standardwerkes wurde durchgängig überarbeitet und um Kapitel über die Philosophie des Films, die Ästhetik der Grenzüberschreitung und den Kitsch ergänzt.

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KONRAD PAUL LIESSMANN

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://d-nb.de abrufbar.

Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe 2013

© 1993, 2013 Facultas Verlags- und Buchhandels AG, facultas.wuv, Stolberggasse 26, 1050 Wien

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Milena Greif

Gestaltung und Satz: grafzyx.com

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

ISBN 978-3-7089-0952-3

ISBN 978-3-99030-183-8 (epub)

ISBN 978-3-99030-184-5 (pdf)

Vorwort

Immer wieder haben sich Philosophen mit dem Phänomen der Kunst beschäftigt. Schon Platon fragte – eher kritisch – nach der Rolle der Dichter in einem wohlgeordneten Staatswesen, Aristoteles formulierte die erste Theorie der Tragödie, und seit dem 18. Jahrhundert hat kaum ein bedeutender Philosoph darauf verzichtet, eine „Ästhetik“ oder Kunstphilosophie zu schreiben. Was fasziniert die Philosophen an der Kunst? Ist es, wie bei vielen Menschen, einfach die Lust am Schönen, die Freude an sinnlichen Erfahrungen, die zum Nachdenken über Kunst führt, oder sehen die Philosophen in der Kunst mehr – ein Bild der Welt, eine Erscheinungsform der Wahrheit, ein Modell für eine bessere Gesellschaft?

Seit sich die Künste aus der Vormundschaft von Religion und Politik befreien konnten und „autonom“ wurden, nimmt auch die philosophische Auseinandersetzung mit Fragen der Kunst zu. Die Kunst wird zum Ausgangspunkt unterschiedlicher Theorien, die sich um Fragen der ästhetischen Werturteile, nach dem Stellenwert des Schönen, dem Erkenntniswert eines Kunstwerkes ebenso ranken wie um die Frage nach dem Genie oder dem Zusammenhang von Kunst und Moral. Bei den philosophischen Debatten der letzten zwei Jahrhunderte sind immer auch Probleme der Kunst im Mittelpunkt gestanden, ja, manchmal kann man sogar den Eindruck gewinnen, dass sich einige Philosophen lieber mit den Fiktionen, Bildern, Medien und Imaginationen der Künstler als mit genuin philosophischen Fragen oder gar den Realitäten des Lebens beschäftigten. Und manch ein Philosoph wäre selbst vielleicht sogar lieber ein Künstler gewesen. Keine Frage, dass die Philosophie dabei sehr viel über das Wesen, die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Kunst herausgefunden hat.

Die hier vorliegende Philosophie der modernen Kunst möchte anhand ausgewählter Beispiele darstellen, wie die Philosophie im Laufe der Zeit auf das Phänomen der modernen Kunst reagierte, mit welchen Begriffen, Kategorien und systematischen Konzepten sie sich diesem Phänomen stellte. Nur kunsthistorische oder rein kunstwissenschaftliche Bemühungen um die Moderne werden also bewusst ausgeklammert. Geboten wird ein selektiver Abriss des philosophischen Denkens über die Kunst und die Künste der Moderne. Den Gegenstand der folgenden Überlegungen bildet also nicht die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern die philosophische Reflexion zur Kunst, das philosophische Nachdenken über Kunst, wobei unter Kunst alle Gattungen, von der Literatur über die Malerei und die Musik bis zu Fotografie und Film verstanden werden. Ob diese philosophischen Bemühungen den einzelnen Künstlern und Kunstwerken tatsächlich immer gerecht geworden sind – dies zu bewerten ist nicht das Ziel der Untersuchung, genauso wenig wie vorschnell nicht gesagt werden kann, ob und inwieweit die Philosophie Einfluss auf die Kunstproduktion selbst gehabt hat. Fraglos haben sich aber viele Künstler der Moderne von verschiedenen Philosophen inspirieren lassen, und durch eine Vergegenwärtigung des kunstphilosophischen Denkens kann auch vieles über diese Kunst erfahren werden. Zudem darf nicht vergessen werden, dass die philosophischen Reflexionen über Kunst ganz entscheidend an der Konstitution eines brauchbaren Begriffs von Moderne und moderner Kunst beteiligt waren und sind. Eine Auseinandersetzung mit den Philosophien der modernen Kunst trägt also wesentlich zum Verständnis und Selbstverständnis des modernen Menschen bei.

Dem Autor ging es also darum, ausgewählte philosophische Positionen zur Kunst, wie sie vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung einer ästhetischen Moderne interessant oder relevant erscheinen, darzustellen und in Beziehung zueinander zu setzen. Die Auswahl der dafür behandelten Denker orientiert sich, wenn auch nicht ausschließlich, an den zentralen kontinentaleuropäischen Debatten und ist auch ein wenig von subjektiven Präferenzen und Vorlieben geleitet. Ein Kriterium war, vor allem die Grundlagen des ästhetischen Diskurses der Moderne, wie sie im 19. Jahrhundert geschaffen wurden, zur Sprache zu bringen, ein anderes, Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart in den Blick zu bekommen. Die dargestellten Theorien sollten allerdings nicht zu einer Super-Theorie der modernen Kunst verbunden werden. Gerade in ihrer Heterogenität und Vielfältigkeit liegt vielleicht ein entscheidender Reiz dieser philosophischen Bemühungen um die Kunst der Moderne, die in Summe ein facettenreiches Bild abgeben können, das sich keinem simplen Erklärungs- und Deutungsmodus unterordnet. Die einzelnen Abschnitte sind im Wesentlichen historisch angeordnet, wobei aus verschiedenen Perspektiven, unter unterschiedlichen Voraussetzungen und mit oft gegensätzlichen Werthaltungen das Phänomen der modernen Kunst ausgeleuchtet wird.

Das Buch wendet sich somit an alle, die an einem philosophischen Gespräch über Kunst interessiert sind, an Studierende der Kunst-, Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaften ebenso wie an Philosophen und Künstler, aber auch an Kunstliebhaber und Laien. Da es vor allem darum ging, das Denken der Philosophen als solches dem Leser näher zu bringen, wird vor allem dort, wo die Sprache der Primärtexte unverwechselbare Eigenarten aufweist, auch ausführlicher zitiert werden. Gerade bei einer Philosophie der Kunst ist es legitim, nicht nur Gedanken zu referieren, sondern auch die sprachliche Form erahnen zu lassen, in der diese formuliert worden sind.

Ich danke dem Verlag facultas.wuv und seinem Leiter, Herrn Mag. Thomas Stauffer, für die Bereitschaft, diese 1993 erstmals erschienene Philosophie der modernen Kunst in einer völlig neu gestalteten und erweiterten Fassung dem Publikum zugänglich zu machen.

Wien, im Juli 2013

Konrad Paul Liessmann

Inhaltsverzeichnis

2.  Der gute Geschmack und das Genie – Kant und die Grundlegung der Ästhetik

3.  Am Anfang: Das Ende der Kunst – Hegel und die Folgen

4.  Mythos, Ironie und tiefere Bedeutung – Die Romantik als Antizipation der Moderne

5.  Verführung und ästhetische Existenz – Sören Kierkegaards Experimente

6.  Betäubung und großer Rausch – Von Schopenhauer zu Nietzsche

7.  Im Bildrahmen der transzendentalen Obdachlosigkeit – Ästhetik der Moderne bei Simmel und Lukács

8.  Der Ausdruck des Künstlers – Konrad Fiedlers Subjektphilosophie

9.  Werk ohne Aura – Walter Benjamin und das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen (Re)Produzierbarkeit

10. Bewegte Bilder – Erste Ansätze zu einer Philosophie des Films

11. Die Welt als Phantom und Matrize – Günther Anders und die Philosophie der neuen Medien

12. Die Wahrheit der ästhetischen Avantgarde – Theodor W. Adornos Philosophie der modernen Kunst

13. Von der Subversivität der Kunst – Kunsttheorie nach Adorno

14. Picassos blaue Krawatte in Andy Warhols Brillo-Box – Arthur Danto und die Verklärung des Gewöhnlichen

15. Die kulturkonservative Kritik der Moderne – Arnold Gehlen und Hans Sedlmayr

16. Die Welt als Zitat – Von der Moderne zur Postmoderne

17. Eine Theorie des Neuen – Boris Groys und das kulturelle Archiv

18. Schmerz und Schock – Zur Ästhetik der Grenzüberschreitung

19. Die Rückkehr der Natur in die Kunst – Ansätze zu einer Renaissance der Naturästhetik

20. Am Jenseits der Kunst – Sentimentalität und Kitsch

Ausblick: Nach der Moderne ist vor der Moderne

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Über den Autor

Das Unternehmen einer Philosophie der modernen Kunst verlangt vorab einige Begriffsklärungen. Zu schillernd und mehrdeutig werden die zentralen Termini Kunst, Moderne und Philosophie mitunter verwendet, als dass ein verbindliches Vorverständnis vorausgesetzt werden dürfte. Auch beeinflusst diese Begriffsbestimmung natürlich die Selektion der Autoren, denen wir uns nähern wollen. Unter Kunst sollen im Folgenden alle Kunstgattungen verstanden werden, also Literatur, Musik und die bildenden Künste ebenso wie Tanz oder neue Kunstformen, Fotografie, Film, Medienkunst, sowie jene Formen, die der Entwicklung der Moderne selbst entsprungen sind. Solch ein breiter und umfassender Kunstbegriff ist nicht zuletzt deshalb vonnöten, weil die philosophischen Reflexionen auf ganz unterschiedliche Kunsterfahrungen verweisen, wenngleich die traditionellen Gattungen dabei oft im Vordergrund stehen; umgekehrt ist es aber auch immer ein Anspruch der Philosophie gewesen, einen Kunstbegriff zu formulieren, der auch tatsächlich alle Phänomene künstlerischen Schaffens und Aufnehmens erfassen sollte.

Ähnlich umfassend, deshalb vorerst natürlich auch ungenau, sei der Begriff der Moderne gefasst. Zwar ist die Moderne mittlerweile selbst fragwürdig geworden, und ob wir in einer Postmoderne, einer zweiten Moderne, einer globalisierten Moderne oder in einem neuen Finanzfeudalismus leben, ist alles andere als ausgemacht. Dass also Unklarheit darüber herrscht, ob wir selbst uns noch in jener Epoche oder jenem Projekt bewegen, das man die Moderne nennt, mag überdies das Interesse an unserer Thematik befördern und erleichtern – denn aus dieser Ungewissheit heraus haben wir wahrscheinlich einen mittlerweile etwas distanzierteren Blick auf dieses Projekt: Sowenig wie ihre Kunst müssen wir die Moderne mit Haut und Haaren verteidigen oder bekämpfen. Doch abgesehen davon: Moderne meint zwar immer auch das Zeitgenössische, aber nicht alles Kontemporäre lässt sich als modern diagnostizieren. Ungleichzeitigkeiten sind selbst ein notwendiges Moment von Modernität, die es erlaubten, Moderne stets auch als Kampfbegriff zu verwenden. Die Idee einer Avantgarde, die ihrer eigenen Zeitgenossenschaft immer schon voraus sein wollte, verweist noch einmal auf diesen inneren Differenzierungsprozess im Denken von Modernität. Der militärtechnische Begriff der Avantgarde signalisiert ja nicht nur den gesellschaftlichen Vorsprung, der damit verbunden ist, sondern auch das Wagnis des ästhetischen Spähtrupps, der sich den Unabwägbarkeiten und Risiken der künstlerischen Erneuerung ebenso aussetzt wie dem kunstpolitischen Feind, der in Gestalt von Tradition, Religion und Bildungsbürgertum eine ständige Gefährdung darstellen kann. Die Geschichte, die diese Avantgarde von sich selber erzählt, ist so nicht nur eine Geschichte des ästhetischen Fortschritts, sondern immer auch der kulturpolitischen Anfeindungen, denen dieser Fortschritt ausgesetzt war. Die ästhetische Avantgarde ist die einzige Vorhut, die nicht gegen einen unbekannten Feind, sondern gegen die eigene, zögerliche, unbelehrbare, reaktionäre Nachhut ihre Scharmützel führen muss. Die Frage nach dem Fortschritt in der Kunst, nach ihrem revolutionären Charakter wird dann auch die Philosophie der modernen Kunst wie ein Basso continuo über ein Jahrhundert begleiten.

Auf der anderen Seite ist Moderne aber selbst zu einem historischen Epochenbegriff geworden. Wann diese Epoche beginnt, und ob sie schon geendet hat, ist allerdings eine vieldiskutierte Frage. Will man unter Moderne jenen Prozess der ökonomischen Rationalisierung verstehen, der mit einer sukzessiven Säkularisierung aller Lebensbereiche einherging, dann ließen sich die Wurzeln desselben zweifellos bis in die Frührenaissance zurückverfolgen. Will man hingegen am Verständnis des traditionellen Kunstdiskurses festhalten, wäre die Moderne mit jenen Avantgardismen zu identifizieren, die erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die Kunst revolutionieren und durch das Aufbrechen traditionell verbürgter ästhetischer Parameter – der geschlossenen Form in der Literatur, der Gegenständlichkeit in der Malerei und der Tonalität in der Musik – gekennzeichnet sind. So gesehen könnte von moderner Kunst erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts geredet werden, seit die radikalen Schritte in die Abstraktion, die Atonalität und in die dadaistische Suspension von Sinn getan werden konnten.

Wir plädieren für einen mittleren Begriff der Moderne, der durch folgende Aspekte skizziert werden kann: durch die großräumige Umstellung der Gesellschaft auf eine kapitalistische Wirtschaftsform, die nicht nur das Geld- und Handelswesen und die industrielle Produktion, sondern das soziale Leben insgesamt betrifft; durch ein Reflexivwerden des säkularisierten Selbstbewusstseins im Denken der Aufklärung; und durch eine Befreiung der Künste aus religiösen und politischen Heteronomien zu tendenziell autonom agierenden Sektoren ästhetischer Produktivität. Richtet man sich nach diesen Kriterien, wird man das Ende des 18. und den Beginn des 19. Jahrhunderts als jene Zeit sehen können, in der gesellschaftlich, philosophisch und ästhetisch jene Dimensionen bestimmend geworden sind, die zu den Konstitutionsbedingungen des modernen Subjekts und seiner Lebenswelten gehören.

Für die Kunst kann der Prozess ihrer Autonomisierung zweifellos als entscheidendes Merkmal von Modernität gelten. Der einstens vieldiskutierte und kritisierte Begriff der ästhetischen Autonomie sollte dabei aber auch nicht überstrapaziert werden. Vorerst ist nicht viel mehr damit gemeint, als dass die Kunst aufhört, Auftragskunst zu sein und sich damit ein ästhetischer Diskurs entwickelt, der auch an die Etablierung eines „Kunstbetriebs“ gebunden ist, welcher in zunehmendem Maße eigene Gesetzmäßigkeiten hervorbringt. Entscheidend ist dabei aber wohl so etwas wie ein neues und gesteigertes ästhetisches Selbstbewusstsein, das den Künstler seine Verantwortlichkeit immer mehr im Rahmen seines individuellen Kunstanspruchs und immer weniger in der Rücksicht auf außerkünstlerische Interessen und Instanzen sehen lässt. Anstelle des Auftrags tritt die innere Notwendigkeit, das Ich des Künstlers wird zur einzigen Legitimationsquelle seiner Kunst.

Der Prozess der Autonomisierung kann so als tendenzieller Funktionsverlust der Kunst beschrieben werden, womit ihr sukzessiver Rückzug aus jenen religiösen und politischen Verpflichtungen gemeint ist, die bis ins 18. Jahrhundert vor allem die bildenden Künste und die Musik stark strukturiert hatten. Verbunden mit dieser Freisetzung ist nicht nur eine Suche nach neuen inhaltlichen und formalen Aufgaben, denen sich die Kunst verpflichten möchte, sondern auch die Konfrontation mit einem anonymen Kunstmarkt, der nun seinerseits das künstlerische Geschehen zu strukturieren beginnt – mit gravierenden Auswirkungen auf die soziale Lage der Künstler. Resultate der neuen Freiheit sind unter anderem nicht nur ungeheure ästhetische Innovationsschübe, sondern vor allem auch ein Legitimationsdefizit der Kunst, das bis heute nicht bereinigt werden konnte.

Die Moderne ist auch jene Epoche, die, weil sie nach dem Nutzen von allem fragt, den Nutzen von Kunst infrage stellen wird. Immer wieder sah und sieht sich die Kunst gezwungen, zur Deckung dieses Defizits Anleihen bei der Politik, der Humanität und nicht zuletzt bei der Moral zu nehmen, sich als Instrument im Kampf um Gerechtigkeit oder als mahnendes Gewissen zu stilisieren. Das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und jenen Lebensräumen, in denen Kunst agiert oder eingreift, ohne mit ihnen zusammenzufallen, wird dann auch ein bleibendes Motiv des philosophischen Nachfragens sein.

Allerdings: Philosophen haben sich der Kunst selten ohne Vorbehalte genähert. Jede Philosophie der Kunst hat zu bedenken, dass das Verhältnis der Philosophie zur Kunst stets von tiefen Spannungen gekennzeichnet war. Seit die Philosophie zu sich fand, also seit Platon, versucht sie, die Künstler aus ihren und den Bezirken des Staates zu verbannen. Kunst als Schein des Scheins, so Platon, der selbst ein veritabler Dichter war, sei ein Weg zur Lüge, nicht zur Wahrheit – und um die Wahrheit müsste es der Philosophie und dem erziehenden Staat in erster Linie gehen. Die Geschichte des Verhältnisses von Kunst und Philosophie beginnt also, so der Philosoph Bernhard Lypp, mit einer „totalitären Anmaßung“ seitens der Philosophie: „Die Austreibung der Kunst aus dem Universum des Diskurses, welche die Philosophie tyrannisch praktiziert, geschieht im Namen der Göttin, deren Liebesdienst sie sich allein verschrieben hat, im Namen der ‚nackten‘ und uneingeschränkten Wahrheit. Indem sich die Philosophie unter diesem Banner versammelt, versetzt sie die Umwelt in Angst und Schrecken. In der Liebe der Wahrheit macht sie sich ein Argumentationsballett zurecht, dem ihre ältere Schwester, die Kunst, nichts entgegenzusetzen hat – vor allem nicht die Hinterlist der Vernunft, die von dem Wissen in Gang gehalten wird, dass einen Kampf verliert, wer als Erster innehält, um Atem zu holen und die Besinnung walten zu lassen. Zwar hält sich ja gerade die Philosophie viel auf ihre Besinnung zugute, aber mit Hinsicht auf die Kunst verwandelt sich diese in eine Nötigung und die damit einhergehende Rechthaberei.“1

Die Ressentiments, die die Philosophie der Kunst gegenüber immer wieder produzierte und reproduzierte, gehorchen dabei in verschiedenen Varianten dem platonischen Schema: „Die Anklage, die Kunst halte uns im Gefängnis der Erscheinungswelt fest, erweitert sich zu dem Vorwurf, sie tue dies anhand von Abziehbildern und Fiktionen, die zu nichts nütze sind … Die Kunst skandalisiert die Ordnung unserer Lebenswelt.“2 Die Kritik der Philosophie an der Kunst bleibt aber nicht bei diesem erkenntnistheoretischen Vorbehalt stehen: „Zuletzt steigert sich die Anklage der Philosophie, die von der Wahrheitsunfähigkeit der Kunst einen erkenntniskritischen Ausgang genommen hat, zu ihrer moralischen Verdammung.“3 Nicht immer allerdings zeigte sich diese Verdammung offen, manch ein Philosoph brachte seine Skepsis gegenüber der Kunst in einer durchaus eleganten Konstruktion vor, so Hegel, der mit einer großen geschichtsphilosophischen Geste die Kunst in die Schranken weisen wollte: als historisch überholt.

Abb. 1

SEIT DIE PHILOSOPHIE ZU SICH FAND, ALSO SEIT PLATON, VERSUCHT SIE, DIE KÜNSTLER AUS IHREN UND DEN BEZIRKEN DES STAATES ZU VERBANNEN. KUNST ALS SCHEIN DES SCHEINS, SO PLATON, DER SELBST EIN VERITABLER DICHTER WAR, SEI EIN WEG ZUR LÜGE, NICHT ZUR WAHRHEIT.

Allerdings: Die Kunst wehrte sich. Sie konterte mit dem mitunter ebenso rabiat vorgetragenen Anspruch, als Mimesis, als Schein, als singuläre und vollkommene Darstellung des Besonderen, als Schönes ohnehin der einzige Weg zur Wahrheit zu sein: „Verbannt und unterdrückt, zur kriminellen Energie gemacht, fällt [die Kunst] nun ihrerseits in einer Gegenbewegung und in der Gegengewalt über die Philosophie und deren selbsternannte Statthalter der Rationalität her. Es vollzieht sich die Rache der Kunst an der Bevormundung durch das philosophische Wissen und seinen zur politischen Metaphysik ausartenden Formen der Unterdrückung.“4 Es ist die Kunst, die nun den Anspruch stellt, allein imstande zu sein, „die Wunden zu heilen, die die sokratische Verschlagenheit der Rationalität unseren Lebensformen zugefügt hat“.5

Diese Pendelbewegung von rhetorischer Gewalt und Gegengewalt ist zu bedenken, beschäftigt man sich mit dem Verhältnis der Philosophie zur modernen Kunst. Es ist in der Tat getragen von einer Mischung aus Bevormundung, Abwehr und Bewunderung. Und der Kampf der Philosophie mit der Kunst um die laszive Frage, ob die Wahrheit nun philosophisch zu enthüllen oder ästhetisch zu verhüllen sei, ist noch immer im Gange. Nach dem Verschwinden des ästhetischen Scheins der Wahrheit sollte diese, nackt und entborgen, den harten und schmerzenden Schlägen der philosophischen Kategorien ausgeliefert bleiben. Die zeitweilig fortgesetzte Liaison der Wahrheit mit der Kunst verlangte aber nach einer besonderen Züchtigung von beiden. Die Philosophie der modernen Kunst ist auch die Geschichte dieser Züchtigung und ihrer überraschenden Wendungen.

Das Verhältnis von Philosophie und moderner Kunst hält allerdings noch eine Pointe für uns bereit. Nicht nur, dass es sich mitunter um ein Konkurrenzverhältnis handelt, nicht nur, dass gerade die moderne Kunst in hohem Maße ihre Bedeutung durch philosophische Deutungen und Theoriebildungen unterstreichen konnte, hat man manchmal den Eindruck, dass die Philosophie selbst auf die Kunst angewiesen war, um ihre eigenen Fragen und Probleme noch beantworten zu können. In der Kunst, so könnte man zugespitzt formulieren, fand und findet die Philosophie jene Vorgaben und Anregungen, die es ihr erlaubt, ihre Fragen zu behandeln. Lieber als mit dem Leben und der Wirklichkeit beschäftigen sich viele zeitgenössische Philosophen dann auch mit dem Kino und der Oper, mit bildender Kunst und Literatur, mit Science-Fiction und Performances, und gerne wird es gesehen, wenn es den Denkern gelingt, in den trivialen Mythen der TV-Serien und Comicstrips die großen Fragen der Philosophie zu entdecken. Unter dieser Perspektive ließe sich das Verhältnis von Philosophie und moderne Kunst auch so formulieren: Keine Kunst ohne Philosophie? Vielleicht. Keine Philosophie ohne Kunst? Unbedingt!

1    Bernhard Lypp, Die Erschütterung des Alltäglichen. Kunstphilosophische Studien, München 1991, S. 10f.

2    Lypp, Die Erschütterung des Alltäglichen, S. 13

3    Lypp, Die Erschütterung des Alltäglichen, S. 13

4    Lypp, Die Erschütterung des Alltäglichen, S. 15

5    Lypp, Die Erschütterung des Alltäglichen, S. 15

Wenn auch nicht die Ästhetik der Moderne, so beginnt doch die moderne Ästhetik mit Immanuel Kant (1724–1804). In seiner 1790 erschienenen Kritik der Urteilskraft sind einige der entscheidenden Bestimmungen und Überlegungen enthalten, die die ästhetischen Diskussionen bis heute befruchtet haben. Modern ist Kants Ästhetik dabei in mehrerlei Hinsicht. Kant geht es nicht um einen engen Begriff des Kunstwerks, sondern um einen umfassenden Begriff der ästhetischen Erfahrung. Wurzel und Grund dieser Erfahrung ist natürlich das Subjekt, der Einzelne mit seinem Empfindungsvermögen. Von ihm hat alle Analyse dieser Erfahrung auszugehen. Das heißt aber auch, dass es keinen vorab definierten und eingeschränkten Bereich gibt, in dem ästhetische Erfahrung möglich ist. Indem Kant die Frage, ob etwas als ästhetisch wahrgenommen werden kann, nicht an einen Gegenstand, sondern an das wahrnehmende Individuum koppelt, eröffnet er jene Entgrenzung des Ästhetischen, die erst die moderne Kunst des 20. Jahrhunderts selbst eingelöst hat. Zum anderen hat Kant radikal wie wenige versucht, den Bereich des Ästhetischen als einen tatsächlich autonomen zu konstruieren, in dem keine anderen Zwecke walten als die des Ästhetischen selbst. Er weist jede Fremdbestimmung des Ästhetischen mit Nachdruck zurück und hat damit wohl auch den theoretischen Grundstein für jene Selbstbesinnung gelegt, welche die Künste seit dem 18. Jahrhundert zunehmend auszeichnet.

Das Vermögen einer ästhetischen Wahrnehmung, also einer qualifizierten, wertenden Sinnesempfindung im weitesten Sinne nennt Kant „Geschmack“. Dieser Begriff kann vorerst in der Bedeutung jener Gaumenfreuden genommen werden, die wir vielleicht am ehesten den Geschmacksnerven verdanken. Die Nähe des Kantischen Begriffs des Geschmacks zum Schmecken ist offensichtlicher, als es Kants Terminologie oft ahnen lässt. In einer genaueren Bestimmung heißt es dann: „Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Mißfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.“1 Der reine Geschmack, so könnte man kulinarisch paraphrasieren, schmeckt um des Schmeckens willen – es soll kein Hunger und kein Durst, also kein Interesse befriedigt, kein Bedürfnis gestillt werden. Damit sind jene wesentlichen Aspekte des Geschmacks benannt, die nicht nur der Kantischen Analyse ihre spezifische Bedeutung gegeben haben, sondern für jede Theoretisierung der ästhetischen Erfahrung relevant geworden sind. Fraglos: Der Geschmack ist Ausdruck von Subjektivität; das Postulat der Interesselosigkeit ist erforderlich, um den Geschmack in seiner Reinheit überhaupt erst zum Gegenstand der Analyse machen zu können. Sind nämlich Interessen, Bedürfnisse im Spiel, kommt es zu keiner Beurteilung eines Gegenstandes, sondern zu seinem Genuss – oder zu seiner Verweigerung. Ästhetisches Wohlgefallen ist also nicht mit dem Genuss oder dem Empfinden von Lust gleichzusetzen, ebenso wenig wie ästhetisches Missfallen mit Unlust, Abscheu oder Abwehr. Wohlgefallen und Missfallen sind Ausdrucksformen eines reinen Geschmacks, dem es darum geht, Gegenstände oder Vorstellungen rein ihrer sinnlichen Erscheinungsform nach zu erfahren, ohne von dieser unabhängige moralische, theoretische, leibliche, politische oder erotische Interessen ins Spiel zu bringen. Ausdruck dieser Dimension des Geschmacks, wird er artikuliert, ist aber das Geschmacksurteil. Damit ist ein weiterer entscheidender und vielleicht überraschender Schritt gesetzt. Beschränkte sich das Subjekt darauf, nur seinem Wohlgefallen Ausdruck zu verleihen – dies oder jenes gefällt mir –, wäre dies nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die Formulierung eines subjektiven Geschmacksempfindens, das keine weitere Beachtung verdiente, außer man wäre aus persönlichen Gründen an dem Menschen, der diese Empfindung äußert, selbst interessiert – möglich, dass man mit Menschen, denen z.B. Thomas Bernhard nicht gefällt, nichts zu tun haben will. In dem Moment aber, in dem sich die Geschmacksäußerung die Form eines Urteils gibt – dies oder jenes ist schön –, sind ganz andere Ansprüche damit verbunden. Es ist ein Moment von Allgemeinheit erreicht, das die Ebene rein subjektiver Unverbindlichkeit hinter sich lässt. Kant schreibt: „Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung (denn das kann nur ein logisch allgemeines, weil es Gründe anführen kann, tun); es sinnet nur jedermann diese Einstimmung an.“2 Man will also, dass andere ähnlich oder genauso empfinden. Dass wir unseren Geschmacksempfindungen die Form von Urteilen geben – Dieser Wein ist gut – drückt diesen Anspruch auf eine gewisse Verbindlichkeit und Gültigkeit unserer Urteile auch im Bereich des Alltags aus. Nach Kant ist dies keine sprachliche Ungenauigkeit – so, als müsste man immer statt „ist gut“ oder „ist schön“ oder „ist gelungen“ schlicht „es schmeckt mir“ oder „es gefällt mir“ sagen –, sondern Ausdruck eines eigenständigen Vermögens des Menschen: seiner Urteilskraft. Von dieser Überlegung ausgehend, kann Kant dann auch zu seiner Bestimmung des Schönen kommen: „Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt“ oder, anders und noch genauer formuliert: „Schön ist, was ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird.“3

Zweifellos: Solches klingt schon ein wenig widersprüchlich. Das ästhetische Geschmacksurteil ist also kein logisch begründbares, aus einem Begriff des Schönen deduzierbares Urteil, es beruht einzig und allein auf dem Empfindungsvermögen des Subjekts und erwartet dennoch Zustimmung, beansprucht eine spezifische Folgerichtigkeit und Notwendigkeit, will also nicht beliebig sein, sondern verbindlich. Man geht kaum fehl, wenn man unterstellt, dass Kant hier eine grundlegende Disposition des modernen Kunstdiskurses getroffen hat – jene Erfahrung, die in jeder Ausstellung, nach jeder Aufführung eines Musik- oder Theaterstücks, nach jeder Lektüre zu machen ist: dass man subjektive Urteile fällt und doch Zustimmung erwartet. Die Notwendigkeit, mit der das Schöne ohne jedes Interesse gefallen kann, gründet nach Kant darin, dass es einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“4 gehorcht, also weder einer materialen Naturgesetzlichkeit noch einem freien Willen unterliegt, aber seiner Form nach den Eindruck der Zweckmäßigkeit hervorruft, ein Eindruck, den man auch als die innere Stimmigkeit umschreiben könnte, die das ästhetische Wohlgefallen erst erlaubt. Dass unser subjektives Gefallen zu einem allgemeinen Urteil werden kann, gründet also darin, dass den Gegenständen dieses Gefallens eine innere Folgerichtigkeit und Stimmigkeit zukommt, die unser Urteil und den Anspruch auf Zustimmung zu diesem Urteil rechtfertigt.

Von diesen Voraussetzungen ausgehend, kann Kant dann das „reine Geschmacksurteil“ als ein solches definieren, auf welches „Reiz und Rührung“ keinen Einfluss haben,5 und das „bloß die Zweckmäßigkeit der Form zum Bestimmungsgrunde hat“.6 Es geht nicht darum, erregt oder in eine bestimmte Stimmung versetzt zu werden, es geht nicht darum, angesichts eines Kunstwerks in Tränen auszubrechen oder betroffen innezuhalten. Nur Gegenstände, die nicht unsere Interessen, Begierden oder Ressentiments erregen, sondern auf die unsere Urteilskraft mit interesselosem Wohlgefallen reagieren kann, sind damit als „schön“ klassifiziert. Schönheit ist also keine objektiv wahrnehmbare Eigenschaft, die einem Gegenstand zukommt, noch gibt es nach Kant eine vom Einzelnen und seinen zeitgebundenen Erfahrungsmöglichkeiten unabhängige Idee des Schönen, von dem die Urteile über diverse Gegenstände oder Kunstwerke abgeleitet werden könnten, sondern Schönheit ist das Resultat eines Wechselspiels zwischen einem wahrnehmenden Individuum und einem Gegenstand, der in dem Individuum das Gefühl des Wohlgefallens auszulösen vermag, ohne dass damit bestimmte Interessen, Bedürfnisse oder Affekte angesprochen werden. Jeder Gegenstandsbereich kann solcherarts prinzipiell „schön“ sein, die Natur so gut wie der Mensch und seine Werke. Während aber die Natur bestimmten Zwecksetzungen folgt und nur für den Menschen unter bestimmten Bedingungen als zweckfrei, also als schön erscheinen kann, ließen sich Kunstwerke überhaupt als Gegenstände beschreiben, die ausschließlich dazu angefertigt werden, um ein interesseloses Wohlgefallen hervorzurufen, also nichts anderes beim Rezipienten ansprechen, als seine ästhetische Urteilskraft – in dieser Zweckfreiheit aber müssen sie zweckmäßig sein. Die Autonomie der Kunst wurzelt so nach Kant in der Möglichkeit eines reinen Geschmacksurteils, das auf mannigfaltige Art und Weise angesprochen werden kann.

Kant hat sich zweifellos redlich bemüht, den Schwierigkeiten, die sich aus der Logik des Geschmacksurteils ergeben, nicht aus dem Weg zu gehen. Dass dieses Urteil einerseits in der subjektiven Erfahrung gründet, andererseits aber einen Anspruch auf Verbindlichkeit erheben kann, lässt sich nur erklären, wenn dem ein Prinzip zugrunde liegt, das „nur durch Gefühl“, aber doch „allgemeingültig“ bestimmen kann, „was gefalle oder mißfalle“. Und dieses Prinzip nennt Kant den „Gemeinsinn“.7 Unsere „Anmaßung“, so Kant, überhaupt Geschmacksurteile fällen zu können, setzt einen solchen Gemeinsinn, eine gefühlsmäßige, deshalb unbestimmte, aber nichtsdestotrotz „idealische“ Norm des Schönen, in der wir uns allen Menschen verbunden fühlen, notwendigerweise voraus – ansonsten wäre es unsinnig, das eigene Schönheitsempfinden mit anderen teilen zu wollen und zu können.8 Umgekehrt kann es aber nicht nur der reine Sinnenreiz sein, der die Urteilskraft provoziert; das, was am Gegenstand dem Geschmacksurteil korrespondiert, worin seine Zweckmäßigkeit ohne Zweck sich anschaulich realisiert, nennt Kant eine „ästhetische Idee“, und er definiert sie wie folgt: „Unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“9 Schön wie selten hat Kant damit formuliert, dass das sprachlich formulierte ästhetische Urteil nie ein endgültiges sein kann, und dass das Wesen einer ästhetischen Idee – und hier ist auch die Umkehrung erlaubt: der Idee des Ästhetischen – nicht zuletzt darin besteht, dass sie auf keinen Begriff gebracht werden kann und doch viel zu denken gibt. Das reflexive Element in ästhetischen Wahrnehmungs- und Produktionsprozessen erweist sich so als ein Vorgang, der auf keinen abschließenden sprachlichen Ausdruck gebracht werden kann. Gleichzeitig ist damit das Schöne aber kein Gegenstand eines rein sinnlichen Empfindens mehr; im Gegenteil: Es gibt uns zu denken, ohne dass dieses Denken zu einem formulierbaren Ende kommen könnte.

Vom Schönen, wie es neben den Gegenständen der Kunst auch die Natur in ihrem „freien Spiel“10 dem Menschen zu bieten hat, unterscheidet Kant noch das „Erhabene“. Da gerade dieser Begriff im Kontext der Postmoderne und der gegenwärtigen Ästhetik-Diskussionen wieder an Aktualität gewonnen hat, scheint es besonders wichtig, jene Differenzierungen in Erinnerung zu rufen, die Kant dem Erhabenen zuteil werden ließ. In einer ersten Annäherung an diesen Begriff schreibt Kant: „Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist“, genauer: „was über alle Vergleichung groß ist.“11 Da es sich also um den Eindruck handelt, den Quantitäten erzeugen können, unterscheidet Kant zwischen dem „Mathematisch-Erhabenen“ und dem „Dynamisch-Erhabenen“. Der Eindruck des „Mathematisch-Erhabenenen“ stellt sich ein, wenn wir mit Größenordnungen konfrontiert sind, die sinnlich nicht mehr fassbar sind und dennoch keine reinen Abstrakta bleiben – etwa die Vorstellung des Unendlichen. Das „Dynamisch-Erhabene“ aber begegnet uns in der Natur. Es ist das Resultat eines durchaus widerspruchsvollen Wahrnehmungs- und Erlebnisprozesses. Einerseits teilt das Erhabene mit dem Schönen, dass es für sich gefallen können muss. Während aber das Schöne zur ruhigen Kontemplation einlädt, versetzt uns das Erhabene in eine innere Bewegung – denn die Natur, die als erhaben beurteilt werden soll, muss „als Furcht erregend vorgestellt werden“.12 Ihre Größe erlaubt keine unbeteiligte Betrachtung, denn sie ist bedrohlich, ihre Schönheit aber verlangt Interesselosigkeit. Damit das Erhabene als solches ästhetisch erfahren werden kann, muss der Betrachter sich erst überwinden, seine Furcht bekämpfen. Nicht umsonst nennt Kant „drohende Felsen“, „am Himmel sich auftürmende Donnerwolken“, „Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt“, der „grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt“ und Ähnliches als Beispiele für das Erhabene, dessen Anblick umso anziehender ist, je furchtbarer er ist – aber nur, „wenn wir uns in Sicherheit befinden“.13 Zum Erleben des Erhabenen gehört also die Vorstellung, dass wir bedroht sein könnten, und die Erfahrung, dass wir dieser Bedrohung standhalten können, der Natur „überlegen“ sind, sie in ihrer Gewalt und Macht noch ästhetisch genießen und beurteilen können – so dass sich das Erhabene weniger als Eigenschaft der Natur als vielmehr als eine Stärke unseres Gemüts erweist.14 Während das Schöne aber wie von selbst ohne alles Interesse gefällt, muss diese Interesselosigkeit beim Erhabenen erst gegen die ängstlichen Interessen der Sinne durchgesetzt werden: „Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt.“15

Ähnlich wie Kant, aber doch mit einigen bemerkenswerten Gewichtungen, hat auch Friedrich Schiller (1759–1805), in vielem von Kant beeinflusst und doch ein grundsätzlich anderer Charakter, den Begriff des Erhabenen akzentuiert: „Der erhabene Gegenstand ist von doppelter Art. Wir beziehen ihn entweder auf unsere Fassungskraft und erliegen bei dem Versuch, uns ein Bild oder einen Begriff von ihm zu bilden; oder wir beziehen ihn auf unsere Lebenskraft und betrachten ihn als eine Macht, gegen welche die unsrige in nichts verschwindet. Aber ob wir gleich in dem einen wie in dem anderen Fall durch seine Veranlassung das peinliche Gefühl unserer Grenzen erhalten, so fliehen wir ihn doch nicht, sondern werden vielmehr mit unwiderstehlicher Gewalt von ihm angezogen.“16 Stärker noch als Kant betont Schiller die Differenz zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, die im Begriff des Erhabenen zum Ausdruck kommt: „Wir werden begeistert von dem Furchtbaren, weil wir wollen können, was die Triebe verabscheuen, und verwerfen, was sie begehren.“17

Abb. 2

„ERHABEN IST DAS, WAS DURCH SEINEN WIDERSTAND GEGEN DAS INTERESSE DER SINNE UNMITTELBAR GEFÄLLT.“

In dieser Differenz und ihrem gleichermaßen herausfordernden wie irritierenden Charakter ist auch für Schiller jene Dynamik zu sehen, die das Erhabene vom Schönen trennt: „Bei dem Schönen stimmen Vernunft und Sinnlichkeit zusammen, und nur um dieser Zusammenstimmung willen hat es Reiz für uns … Beim Erhabenen hingegen stimmen Vernunft und Sinnlichkeit nicht zusammen, und eben in diesem Widerspruch zwischen beiden liegt der Zauber, womit es unser Gemüt ergreift.“18 Dass der Mensch allerdings die Ebene der Sinnlichkeit überschreiten muss, um das Erhabene erfahren zu können, ist für Schiller Indiz nicht nur für den intelligiblen Charakter des Menschen, sondern auch dafür, dass uns das Erhabene „einen Ausgang aus der sinnlichen Welt (verschafft), worin uns das Schöne gern immer gefangen halten möchte.“19 Das Erhabene erlaubt also, den Bereich der reinen sinnlichen Anschauung zu verlassen und den Gegenstandsbereich des Ästhetischen um eine Dimension der Vernunft zu erweitern.

Im späten 20. Jahrhundert hat Jean-François Lyotard (1924– 1998) den Begriff des Erhabenen wieder aufgenommen und radikalisiert. Lyotard beschrieb das Erhabene als die Darstellung des Nichtdarstellbaren – also die Darstellung dessen, was in der Tat alle sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten und die bildliche Vorstellungskraft überschreitet. Davon ausgehend skizzierte Lyotard eine „Ästhetik der erhabenen Malerei“, die ohne Schwierigkeiten als eine Ästhetik der modernen Kunst gelesen werden kann: „Als Malerei würde die [erhabene Malerei] zwar etwas ‚darstellen’, aber nur in negativer Weise, sie würde also alles Figurative und Abbildliche vermeiden, sie wäre ‚weiß’ wie ein Quadrat von Malevitsch, sie würde nur sichtbar machen, indem sie zu sehen verbietet, sie würde nur Lust bereiten, indem sie schmerzt.“ Und Lyotard fügt dem hinzu: „In diesen Unterweisungen sind die Axiome der künstlerischen Avantgarden in dem Maße wiederzuerkennen, als sie darauf abzielen, durch sichtbare Darstellungen auf ein Nicht-Sichtbares anzuspielen.“20 Für Lyotard ist also die ästhetische Moderne eine Kunst des Erhabenen, die sich nur mit Rückgriff auf Kant sinnvoll deuten lässt. Wie immer es mit diesem Rückgriff auch bestellt sein mag – der Gedanke, dass die moderne Kunst tatsächlich das Nichtdarstellbare zum Ausdruck bringen will, wird ein zentrales Theorem einer Theorie der modernen Kunst sein.

Später hat Lyotard seine Arbeit am Begriff des Erhabenen wieder stärker an Kant orientiert. Ins Zentrum rückte auch bei ihm wieder jenes Gefühl, das nach Kant den Menschen angesichts des schlechthin Großen, angesichts der Idee des Absoluten ergreift. Der Versuch, dieses selbst zur Darstellung zu bringen, führt nach Lyotard aber zur Tragödie der Kunst: Sie kann das Absolute nicht darstellen, weil sie selbst Form und damit Begrenzung ist. Das Erhabene beschreibt Lyotard so als das Kind einer unglückseligen Begegnung von Idee und Form. Die Idee will das Unbegrenzte, Form und damit Kunst ist aber per definitionem Begrenzung. Dies führt zu einem Frontalzusammenstoß zwischen der Vernunft und der Kunst, weil die Vernunft, die das Absolute begreifen will, seine Darstellung fordern muss, die die Kunst nicht leisten kann – für Lyotard ein typischer Widerstreit, ein antinomischer Konflikt, der zum Wesen einer Sache gehört und von keiner dritten Instanz gelöst werden könnte. Das Erhabene wird deshalb auch nicht, wie noch Schiller es intendierte, zu einer Brücke zwischen allgemeiner Sittlichkeit und subjektivem Geschmack, sondern in ihm wird offenbar, dass diese Differenz nicht nur unhintergehbar ist, sondern im Erhabenen selbst einen Ausdruck gefunden hat.21

Wie immer man die weitere Diskussion um das Erhabene auch beurteilen mag: Im Erhabenen hat Kant so zwei Begriffe gebündelt, die in der Moderne immer wieder in großer Nähe, ja als Einheit gedacht und gedichtet wurden, das Schöne und das Schreckliche: „Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,/ uns zu zerstören“, wird Rainer Maria Rilke in seiner ersten Duineser Elegie schreiben.22 Nachdem die Beherrschung der Natur durch die Technik fast vollkommen geworden ist, stellt sich die Frage, ob nicht auch die Kategorie des Erhabenen an die Technik selbst abgegeben werden musste, und der Eindruck des Erhabenen sich heute dort einstellt, wo eine übermächtige, durch Technik hervorgerufene Bedrohung uns gerade noch verschont, aber als sinnlich wahrnehmbares Ereignis noch rezipierbar ist. Das macht vielleicht noch den erhabenen Charakter von Atomexplosionen aus, solange sie auch als Bild vergegenwärtigt werden können.

Kant selbst legte aber nicht nur eine Analytik der ästhetischen Urteilskraft, des Schönen und des Erhabenen vor, sondern auch eine Theorie ästhetischer Produktivität oder Kreativität, die bei ihm mit einem heute etwas diskreditierten Begriff verbunden ist: dem des Genies. Sofern Kant über den Künstler spricht, vertritt er eine Genieästhetik, allerdings in einer Form, die auch diesen Aspekt seines Werkes in besonderer Weise für die Diskussionen der ästhetischen Moderne fruchtbar erscheinen lässt. „Zur Beurteilung schöner Gegenstände, als solcher, wird Geschmack, zur schönen Kunst aber, d.i. der Hervorbringung solcher Gegenstände, wird Genie erfordert.“23 Die schöne Kunst, Kant lässt keinen Zweifel, ist die Kunst des Genies. Allerdings ist bei dem Begriff „schöne Kunst“ Vorsicht angebracht. Es geht der schönen Kunst nicht um die Darstellung des Schönen, sondern um schöne Darstellungen. Oder, mit den Worten von Kant: „Eine Naturschönheit ist ein schönes Ding; die Kunstschönheit ist eine schöne Vorstellung von einem Dinge.“24 Diese feine Differenzierung kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Kant macht deutlich, dass es schöne und hässliche Dinge in der Natur und im Leben geben kann, dass aber diese in der Kunst einer Verwandlung unterworfen werden, die auch die schöne Darstellung des Hässlichen erlaubt: „Die schöne Kunst zeigt eben darin ihre Vorzüglichkeit, dass sie Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt.“25 Als Beispiele führt Kant Furien, Krankheiten und Verwüstungen des Krieges an, die als solche schädlich und unansehnlich sind, doch schön dargestellt werden können. Nur jene Hässlichkeit, die auch noch in der Darstellung Ekel erregen, also das interesselose Wohlgefallen sabotieren würde, bleibt für Kant aus diesen Darstellungsmöglichkeiten ausgeschlossen. Die in der Moderne stets virulente Frage nach dem Hässlichen, dem Anstößigen, eben: Ekelerregenden findet also schon bei Kant eine erste Antwort, der auch folgende Fassung gegeben werden könnte: Indem der künstlerische Schaffensprozess noch das Widerwärtigste zu einem Gegenstand einer rein ästhetischen Betrachtung machen kann, ist nichts aus dem Bereich des Kunstschönen prinzipiell auszuschließen. Die Versuche mancher Künstler, diesen Zirkel zu durchbrechen, und durch ihre Kunst gerade Abscheu und Ekel zu provozieren, sind dann auch mehr als zweideutig: Denn der sogenannte Kunstkenner reagiert mit einer Beurteilung der ästhetischen Qualität, reagiert also nicht wie gewünscht; und derjenige, der auf solche Provokation mit Abscheu – also im Sinne des Künstlers, der provozieren wollte – reagiert, wird nur allzu oft als Banause und Kunstfeind verlacht. An Kant lässt sich vielleicht noch immer lernen, dass die ästhetische Urteilskraft tatsächlich ohne alle Interessen funktioniert und funktionieren muss, und dass alle Versuche, durch Adressierung dieser Urteilskraft, also durch Kunst etwas anderes zu erzeugen, etwa Ekel, aber auch Betroffenheit oder Engagement, ins Leere laufen müssen.

Diese scharfe Differenzierung, die zwar ein Naturhässliches, aber kein Kunsthässliches kennt, ist also von außerordentlicher Bedeutung; nicht weil Kant einen Kunstbegriff verwendete, der das Hässliche ausschlösse, sondern weil er andeutet, dass es zur Dynamik ästhetischen Produzierens gehört, hässliche Wirklichkeit in Schönes zu verwandeln – in solches also, das ohne Interesse zu gefallen imstande ist. Die Kriterien, ob solches gelungen ist, können also nie in der Wirklichkeit oder in der empirischen Natur selbst liegen. Alle Versuche, einen Kunstbegriff zu rekonstituieren, der es erlaubt, zwischen einer schönen Kunst, die sich an der Natur oder dem Guten orientiert, und einer pathologischen Kunst, die sich über Natur und Moral hermacht, zu unterscheiden, müssen notgedrungen fehlschlagen; aber auch die avancierten und zweifellos bewundernswerten Versuche, das gespaltene Bewusstsein der Moderne zu überwinden und zurückzufinden zu einer Einheit der ästhetischen Wahrnehmung mit der Reflexion, leiden unter der nicht einholbaren Differenz, die zwischen der Schönheit der Welt und der Welt der schönen Dinge liegt.

Doch zurück zum Genie. Genie ist jenes Talent, das zur Hervorbringung schöner Kunst befähigt, eine Mischung aus „Einbildungskraft, Verstand, Geist und Geschmack“, Faktoren also, die durchaus auch der Schulung bedürfen.26 Kants Geniebegriff enthält aber nicht nur eine pointierte Fassung ästhetischer Kreativität, sondern auch eine raffinierte Deutung des Verhältnisses von Natur und Kunst. Für Kant ist, auf delikate Weise, der Künstler als Genie selbst jene Instanz, in der sich Natur und Kunst durchdringen: „Genie ist die angeborene Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“27. Die „Originalität“ des Genies, dieses „Günstlings der Natur“ besteht in eben jener Fähigkeit, „Zwangsfreiheit von den Regeln so in der Kunst auszuüben, daß diese dadurch selbst eine neue Regel bekommt“.28 Genau diese Bestimmung bewahrt das Genie davor, nur „originalen Unsinn“ zu produzieren: Seine Produkte müssen „Muster, d.i. exemplarisch sein“.29 Vermittelbar, auch lernbar, sind die Regeln; nicht aber die Produktion derselben. Aneignen also kann sich jedermann die Regeln und die von ihnen gesteuerten Verfahrensweisen, nicht jedoch jenes Ingenium, das deren Transzendierung und Neukonstitution erlaubt. Doch abgesehen davon bleibt an der Kantischen Bestimmung des Genies auch die Einsicht bedenkenswert, dass das Durchbrechen und die Neukonstitution einer Regel selbst kein alltägliches Geschäft ist, das zur Regel werden kann. Dies folgt aus dem Begriff der Regel selbst: Was nie befolgt, immer nur umgestoßen wird, ist keine Regel mehr. Die heute gerne vorgenommene Delegation von Kreativität an jedermann scheitert dann auch in der Praxis daran, dass in der Regel nicht mehr herauskommen kann, abgesehen von der subjektiv therapeutischen Wirkung, als das, was Kant als „Nachäffung“ bezeichnet hat.30 Mit ein bisschen Besinnung auf Kant könnte man sich so die Peinlichkeiten, die entstehen, wenn Pubertierende angehalten werden, alle Regeln der Kunst umzustoßen, bevor sie diese überhaupt noch begriffen haben, ersparen.

Die Pointe der Kantischen Argumentationsstrategie liegt aber entscheidend wohl darin, dass, vermittelt durch den Künstler, Natur im Kunstwerk sich neu schafft – aber nicht als Abbild ihrer selbst und nicht nach denselben Regeln, sondern gleichsam ihrer Idee nach. Nicht Natur an sich, wohl aber das Naturschöne kann so in einer Weise zum Paradigma für das Kunstschöne werden, die gerade nicht Nachahmung des Naturschönen meint. Kant räumt dem Naturschönen so einen systematischen Primat vor dem Kunstschönen ein, ohne die Differenz zwischen beiden zu missachten: „An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei erscheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei.“31 Das Kunstwerk ahmt nicht die Schönheit der Natur nach, es soll nur so erscheinen, als wäre es selbst in seiner Freiheit naturhaft. Nicht Natur nachzuahmen, wäre danach die Idee von Kunst, sondern durch höchste artifizielle Konstruktion wie Natur zu erscheinen: so, dass das Kunstwerk als vollendete Einheit von Freiheit und Notwendigkeit erscheint. Man soll spüren, dass es nicht da sein muss; aber so, wie es da ist, muss es zwingend erscheinen.

Kants Ästhetik konnte, wie schon die Exkurse zum Erhabenen zeigten, nicht ohne Folgen bleiben. Vor allem die Reduktion des Ästhetischen auf den subjektiven Geschmack, der dann doch gemeinschaftlich gedacht werden sollte, erwies sich als ein höchst produktiver Widerspruch. Friedrich Schiller, dessen ästhetische Theorien in intensiver Auseinandersetzung mit Kant entstanden, hat versucht, die Frage nach dem Verhältnis von ästhetischem Subjekt und den Erfordernissen einer praktischvernünftigen Gemeinschaft der Menschen ganz anders zu beantworten. In einer Reihe von Briefen an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg über die Möglichkeit einer ästhetischen Erziehung des Menschen entwarf Schiller die Vision einer staatlichen Ordnung, in der Schönheit und Freiheit, Individuum und Allgemeinheit eine Einheit bilden sollten, die ihr Fundament nicht zuletzt in der Versöhnung und im Zusammenspiel jener Triebe haben sollte, die Schiller konzipierte, um den Kantischen Antinomien zu entgehen: der sinnliche Trieb und der Formtrieb. Während der sinnliche Trieb nach Schiller den Menschen an die Materie und die Zeit bindet, ihn zwingt, sich darin zu entfalten und zu bewegen, zielt der Formtrieb auf Freiheit, Harmonie und die Realisation des Menschen als eines vernünftigen Subjekts jenseits von Raum und Zeit: Der sinnliche Trieb, so Schiller, will, dass Veränderung sei, dass die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb aber will, dass die Zeit aufgehoben, dass keine Veränderung sei – derjenige Trieb aber, in dem diese beiden Grundtriebe harmonisch verbunden sind, ist – und damit hat Schiller einen folgenschweren Begriff in die Ästhetik eingeführt – der Spieltrieb: „Der sinnliche Trieb will bestimmt werden, er will sein Objekt empfangen; der Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt hervorbringen; der Spieltrieb wird also bestrebt sein, so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie sein Sinn zu empfangen trachtet.“32

Im Spieltrieb vereinen sich so für Schiller Pflicht und Neigung, Vernunft und Notwendigkeit, Begehren und Imagination. Deshalb kann er diesem Begriff die höchste Bestimmung überhaupt geben: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“33 Mit dieser Konzeption hat Schiller die Dimension der Praxis in die Ästhetik eingeführt und die Kantische Zurücknahme auf den Geschmack und die Urteilskraft transzendiert. Diesem Spieltrieb sollte der ästhetische Staat entsprechen, in dem der Mensch dem Menschen „nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freien Spiels gegenüberstehen“ darf, dem Grundgesetz „Freiheit zu geben durch Freiheit“ verpflichtet.34 Wie problematisch man immer den Begriff des Spieltriebs als gleichermaßen anthropologische wie ästhetische Kategorie und die daran anschließende ästhetische Staatsutopie auch finden mag – die Frage nach dem spielenden Charakter von Kunst wird der Moderne ebenso wenig verloren gehen wie die Versuche, aus dem Ästhetischen eine soziale und politische Praxis zu generieren, die das Schöne nicht nur als Gegenstand der Anschauung, sondern auch als Modell für eine spielerische Neuorganisation der Wirklichkeit in Freiheit werten wird. Damit hat Schiller aber dem Diskurs der Autonomie der Kunst jenen Kontrapunkt entgegengesetzt, der die Entwicklung der modernen Kunst bis auf Weiteres begleiten wird: dass Kunst, indem sie sich auf sich konzentriert, über sich hinausweisen muss. Ob damit aber die von Kant im Grunde exponierte Differenz zwischen der Interesselosigkeit des Ästhetischen und den sittlichen Interessen der praktischen Vernunft tatsächlich eingeebnet sein könnte – daran hat wohl auch Schiller mitunter gezweifelt. Zumindest beobachtete auch Schiller, wenn auch mit Besorgnis, eine Diskrepanz zwischen Moral und Ästhetik, die den autonomen Status des Geschmacks in der Weise unterstreicht, dass das moralisch Verwerflichere durchaus das ästhetisch Interessantere sein kann: „Ein Mensch, der stiehlt, würde für jede poetische Darstellung von ernsthaftem Inhalt ein höchst verwerfliches Objekt sein. Wird aber dieser Mensch zugleich Mörder, so ist er zwar moralisch noch viel verwerflicher, aber ästhetisch wird er dadurch wieder um einen Grad brauchbarer“35 – denn der Mord evoziert nach Schiller zumindest den Schein von Kraft und bringt die Seele zum Zittern. Diese Diskrepanz zwischen Ästhetik und Moral nannte Schiller „merkwürdig“, und er wollte ihr „mit Aufmerksamkeit“ begegnen. Das Problem des Bösen in der Kunst aber wird ebenfalls zu einer zentralen Fragestellung der Ästhetik der Moderne werden.

Diese wenigen Andeutungen mögen genügen, um die Wirkmächtigkeit der von Kant inaugurierten Probleme für eine Philosophie der modernen Kunst zu unterstreichen. Was immer Kant selbst von Kunst gehalten, welchen Geschmack auch immer er als Person gehabt haben mag – für die ästhetische Grundlegung der Moderne hat er Entscheidendes geleistet: Er hat einen Begriff der ästhetischen Urteilskraft entwickelt, der vom Kunstwerk losgekoppelt ist und deshalb auch für jene Prozesse tauglich scheint, die in der Moderne unter dem Stichwort Ästhetisierung der Lebenswelt verhandelt werden; er hat der Autonomie des Ästhetischen durch seine Formulierung des „interesselosen Wohlgefallens“ eine eindeutige, wenn auch umstrittene Fassung gegeben und damit die Differenz zwischen Ästhetik und Ethik exponiert; er hat durch seine Fassung des Begriffs des Erhabenen eine Kategorie bereitgestellt, die für die Diskussion der Grenzen des Ästhetischen nach wie vor unverzichtbar zu sein scheint; und er hat durch seinen Geniebegriff eine Form ästhetischer Subjektivität beschrieben, die als Dialektik von ästhetischer Regelhaftigkeit und intuitiver Regellosigkeit auch jenseits der Konnotationen des Elitären, die den Geniebegriff lange umgaben, einiges zum Verständnis kreativer Tätigkeit beigetragen hat und noch immer beitragen kann.

1    Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe, hg. v. W. Weischedel, Bd. X, Frankfurt/Main 1975 (KdU), S. 124

2    Kant, KdU, S. 130

3    Kant, KdU, S. 134 u. S. 160

4    Kant, KdU, S. 134ff.

5    Vgl. dazu auch Konrad Paul Liessmann, Reiz und Rührung. Über ästhetische Empfindungen, Wien 2004, S. 37ff.

6    Kant, KdU, S. 139

7    Kant, KdU, S. 157

8    Kant, KdU, S. 158f.

9    Kant, KdU, S. 250

10  Kant, KdU, S. 163f.

11  Kant, KdU, S. 169

12  Kant, KdU, S. 184

13  Kant, KdU, S. 185

14  Kant, KdU, S. 189

15  Kant, KdU, S. 193 Über Kunst und Wirklichkeit. Schriften und Briefe zur Ästhetik, hg. v. C. Träger, Leipzig 1975, S. 380

16  Friedrich Schiller, Über das Erhabene (1793/94). In: Friedrich Schiller,

17  Schiller, Über das Erhabene, S. 380

18  Schiller, Über das Erhabene, S. 381

19  Schiller, Über das Erhabene, S. 383

20  Jean-François Lyotard, Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Peter Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 44

21  Jean-François Lyotard, Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen. Aus dem Französischen von Christine Pries, München 1994

22  Rainer Maria Rilke, Werke I, Frankfurt/Main 1967, S. 685

23  Kant, KdU, S. 246

24  Kant, KdU, S. 246

25  Kant, KdU, S. 247

26  Kant, KdU, S. 257

27  Kant, KdU, S. 241f.

28  Kant, KdU, S. 255

29  Kant, KdU, S. 242

30  Kant, KdU, S. 255f.

31  Kant, KdU, S. 240

32  Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Friedrich Schiller, Über Kunst und Wirklichkeit. Schriften und Briefe zur Ästhetik, hg. v. C. Träger, Leipzig 1975, S. 309f.

33  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 315

34  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 371

35  Friedrich Schiller, Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen. In: Friedrich Schiller, Über Kunst und Wirklichkeit. Schriften und Briefe zur Ästhetik, hg. v. C. Träger, Leipzig 1975, S. 256f.