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Ist es heutigentags ungehörig, sich einem Festival, der Feier des ästhetischen Augenblicks hinzugeben? Bedarf Kunst einer Rechtfertigung angesichts von Terror, Amok, Krise? Über Kunst in bewegten Zeiten: Der ungekürzte Text der Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele, gehalten am 27. Juli 2016 in der Felsenreitschule.
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Seitenzahl: 22
Konrad Paul Liessmann
Und mehr bedarfs nicht
Über Kunst in bewegten Zeiten
Wir leben in bewegten Zeiten: Terroranschläge, Amokläufe, Renationalisierungstendenzen, der Brexit und die tiefe Krise der Europäischen Union, soziale Spannungen, Unsicherheiten und Ängste allerorten, autoritäre Sehnsüchte, Kriege und Bürgerkriege, unzählige Menschen auf der Flucht und eine Kommunikationstechnik, die uns all dies hautnah, im Live-Stream erleben lässt. Nahezu reflexartig stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch möglich ist, sich in solchen Zeiten ruhigen Gewissens dem Schönen und der Kunst, der Feier des ästhetischen Augenblicks und dem Genuss eines rauschenden Festes hinzugeben. Müsste nicht die Kunst selbst angesichts dieses Weltzustandes verzweifeln und, wenn schon nicht verstummen, so doch ihre Stimme in einem politischen Sinne erheben, müsste sie nicht eingreifen, zumindest aufmerksam machen, über sich hinausweisen auf jene unerträglichen Zustände, müsste sie nicht die aufrüttelnde Aktion anstelle der Verehrung des Schönen setzen?
Wir leben in bewegten Zeiten. Doch das ist nichts Neues. Vor knapp einem halben Jahrhundert, am 7. Juli das Jahres 1967, sollte der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno auf Einladung der FU Berlin über Goethe sprechen. Sommer 1967: Das ist in West-Berlin der heiße Sommer der Anarchie und Revolution, erst wenige Wochen zuvor war während einer Demonstration der Student Benno Ohnesorg von einem Polizeibeamten erschossen worden, was eine Welle des Protestes ausgelöst hatte, der Kampf gegen eine als reaktionär verstandene Staatsmacht, gegen das gesellschaftliche Establishment, gegen Kapitalismus, Krieg und Imperialismus hatte begonnen, und die berüchtigte Kommune I um Rainer Langhans, Uschi Obermaier und Fritz Teufel hatte — halb im Ernst und halb satirisch — in einem Flugblatt zum Anzünden von Kaufhäusern, diesen symbolischen Orten der verhassten Konsumgesellschaft, aufgerufen. Adorno, immerhin das Haupt der neomarxistischen Frankfurter Schule, wurde aufgefordert, nicht über Goethe, sondern über die politische Lage zu sprechen und die Kommunarden zu verteidigen. In bewegten Zeiten müssten sich die Kunst und die Rede über sie der politischen Aktualität beugen, habe man Stellung zu beziehen, Kritik zu üben, sich für die richtige Seite zu engagieren. Adorno weigerte sich. Es kam zu Tumulten, und erst nach dem Einschreiten von Ordnungskräften konnte der Philosoph seinen Vortrag halten. Der Titel lautete: »Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie.«1
Wäre es besser gewesen, den Vortrag nicht zu halten und den Forderungen einer empörten Jugend nachzukommen? Adorno soll, so ein Gerücht, kurz danach eine Aussprache mit den Studenten gesucht und eingestanden haben, dass es ein Fehler war, diesen Vortrag zu halten. Dies kolportierte zumindest das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel, sogar von einem »Canossa-Gang« des Philosophen war die Rede.2 Alle Versuche Adornos, dieses Gerücht zu dementieren, scheiterten. Ein von Adornos Assistenten Rolf Tiedemann unterzeichneter Leserbrief Adornos an den Spiegel