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Die Bewohner Midnights haben diesen Ort allesamt aus einem Grund zu ihrem Zuhause gewählt: Das texanische Städtchen ist klein und ruhig. Und damit ein perfektes Versteck. Doch wovor verstecken sie sich? Allein Bobo Winthrop, der Besitzer des Pfandhauses, scheint von jedem in der Stadt etwas zu wissen. Da ist Bobos neuer Untermieter, der seine Wohnung nur nachts verlässt. Oder die Esoterik-Lady, die behauptet, eine Hexe zu sein. Als Bobos Freundin Aubrey verschwindet, fangen die Einwohner an, Fragen zu stellen. Zu viele Fragen, denn plötzlich drohen Geheimnisse ans Tageslicht zu kommen, die besser verborgen geblieben wären ...
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Seitenzahl: 502
Das Buch
Die Bewohner Midnights haben diesen Ort allesamt aus einem bestimmten Grund zu ihrem Zuhause gewählt: Das texanische Städtchen ist klein, ruhig und abgeschieden. Hier werden Neuankömmlingen keine aufdringlichen Fragen gestellt. Hier wird Privatsphäre noch großgeschrieben. Genau der richtige Ort, um sich niederzulassen, denkt sich Medium Manfred Bernardo, als er bei Bobo Winthrop, dem Besitzer des Pfandleihhauses, zur Untermiete einzieht. Denn Manfred ist nicht der Einzige in Midnight mit einem speziellen Beruf: Da wäre zum Beispiel noch Fiji Cavanaugh, eine selbst ernannte Hexe, die esoterische Lebensberatung gibt. Oder der mysteriöse Lemuel, der von sich behauptet, ein Vampir zu sein. Oder die atemberaubend schöne Olivia Charity, die mehr als nur ein Geheimnis zu verbergen scheint. Als eines Tages eine Leiche auftaucht, ist es mit einem Mal vorbei mit der schaurig-schönen Ruhe in Midnight. Die Einwohner beginnen Fragen zu stellen. Zu viele Fragen, denn plötzlich kommen Dinge ans Tageslicht, die besser im Verborgenen geblieben wären …
Die Autorin
Charlaine Harris wuchs im Mississippi-Delta auf und begann schon in frühen Jahren mit dem Schreiben. Sie ist eine der international erfolgreichsten Fantastikautorinnen der USA. Ihre bekannteste Romanserie True Blood, um die hellsichtige Kellnerin Sookie Stackhouse, wurde als große TV-Serie verfilmt. Charlaine Harris lebt mit ihrer Familie in Arkansas.
Mehr über Charlaine Harris und ihre Werke erfahren Sie auf:
www.charlaineharris.com
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe
MIDNIGHT CROSSROAD
Deutsche Übersetzung von Sonja Rebernik-Heidegger
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Redaktion: Diana Mantel
Copyright © 2014 by Charlaine Harris
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlagillustration: Patrick Knowles
Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-22084-6V002
www.heyne.de
Dieses Buch ist wie immer meinen Leserinnen und Lesern gewidmet. Ich hoffe, Sie mögen diese neue Welt und ihre Bewohner.
Es wäre durchaus möglich, das Städtchen Midnight zu durchqueren, ohne es überhaupt zu bemerken, wäre da nicht die Ampel an der Kreuzung zwischen der Witch Light Road und dem Davy Highway. Die meisten Stadtbewohner sind sehr stolz auf diese Ampel, denn sie wissen, dass Midnight ohne sie wohl austrocknen und einfach vom Wind verweht werden würde.
Da die Ampel die Autofahrer allerdings zu einer Pause zwingt und ihnen einen Moment gewährt, um sich die Schaufenster der Läden anzusehen, bleiben etwa drei Autos pro Tag tatsächlich hier stehen. Und diese Menschen, die unternehmungslustiger oder neugieriger (oder verzweifelter auf der Suche nach einer Tankstelle) sind als die meisten, essen dann vielleicht im Home Cookin Restaurant, lassen sich ihre Nägel in dem Nagelstudio verschönern, das dem Antiquitätenladen namens Antique Gallery angeschlossen ist, oder füllen ihren Tank an der Tankstelle GasNGo auf und kaufen auch gleich noch eine Limo.
Die Neugierigsten unter ihnen verschlägt es außerdem jedes Mal in das Pfandleihhaus Midnight Pawn.
Das Gebäude, in dem sich das Pfandleihhaus befindet, ist das älteste in Midnight. Tatsächlich hat es bereits vor der Straßenkreuzung existiert, und das Städtchen siedelte sich um das Haus an. Das Pfandleihhaus befindet sich an der nordöstlichen Ecke der Kreuzung und besteht, wie die meisten Gebäude in Midnight, aus Stein. Stein ist in West Texas leichter zu bekommen als Holz. Die Farben – Beige, Braun, Kupferrot, Hellbraun und Creme – verleihen jedem Haus einen gewissen Charme, ganz egal, wie klein oder formlos es sein mag. Fiji Cavanaughs Häuschen am südlichen Straßenrand der Witch Light Road ist das beste Beispiel dafür. Es wurde in den 1930er-Jahren erbaut, das genaue Jahr kennt Fiji (»Ich wurde nach dem Land benannt, meine Mom und mein Dad sind gerne gereist«) nicht. Ihre Großtante Mildred Loeffler hat es Fiji vermacht. Das Haus hat eine Steinveranda im Eingangsbereich, die groß genug für zwei große, mit Blumen bepflanzte Steintöpfe und eine kleine Bank ist. Die Veranda wird von einer niedrigen Mauer begrenzt, und Steinsäulen stützen das Vordach. Das große Wohnzimmer verläuft über die gesamte Vorderseite des Hauses und verfügt über einen offenen Kamin auf der rechten Seite, den Fiji im Winter benützt. Das Wohnzimmer wurde mittlerweile in einen Verkaufs- und Schulungsraum umgewandelt, in dem Fiji ihre Kurse veranstaltet. Fiji ist eine begeisterte Gärtnerin, wie auch schon ihre Großtante vor ihr. Der Herbst hat bereits begonnen – selbst wenn der Herbstbeginn hier in Texas bloß ein Datum auf dem Kalender ist, denn es ist immer noch höllisch heiß –, doch in den Töpfen und Beeten im Vorgarten blühen Blumen im Überfluss. Es sieht einfach bezaubernd aus, vor allem wenn Fijis orangeroter Kater, Mr. Snuggly, wie eine pelzige Statue inmitten der Rosen, Mittagsblumen und Petunien thront. Dann bleiben die Leute stehen, bewundern den Garten und lesen das formelle kleine Schild mit der Aufschrift:
THEINQUIRINGMIND
Kurse für Neugierige
jeden Donnerstagabend ab 19:00 Uhr
The Inquiring Mind – ein Laden für Magie und für gewöhnlich einfach als »Fijis Haus« bekannt – befindet sich östlich der Hochzeitskapelle und des Tierfriedhofes, die von Reverend Emilio Sheehan betreut werden. Die Hochzeitskapelle ist vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche geöffnet (also immer unversperrt), doch das Schild an dem Tor, das in den umzäunten Friedhof hinter der Kapelle führt, informiert die trauernden Haustierbesitzer, dass Beerdigungen ausschließlich nach Terminvereinbarung stattfinden.
Obwohl sich seine Arbeitsstätte östlich des Davy Highways befindet, liegt das Haus des Reverends am westlichen Straßenrand an der rechten Seite des Home Cookin Restaurants, das wiederum gleich neben dem mittlerweile geschlossenen Hotel und der verlassenen Eisenwarenhandlung liegt. Das Haus des Reverends ähnelt Fijis Haus, obwohl es älter und kleiner ist und lediglich spärliches Gras im kleinen Vorgarten wächst. Außerdem ist es nicht annähernd so einladend und bezaubernd, und der Rev hat auch keine Katze.
Aber zurück zum Midnight Pawn, dem größten bewohnten Gebäude in Midnight. Das Pfandleihhaus hat eine Art Kellergeschoss, was in Texas sehr ungewöhnlich ist. Nur besonders Beherzte graben sich hier durch das Gestein, und der frühere Eigentümer des Pfandleihhauses war in der Tat ein eindrucksvolles Individuum.
Das Kellergeschoss befindet sich allerdings nur teilweise unter der Erde; die Fenster der beiden Wohnungen spähen über den harten, ausgedörrten Boden wie argwöhnische Präriehunde. Die meiste Zeit sind ihre Augen jedoch geschlossen, denn vor den Fenstern hängen schwere Vorhänge. Im Erdgeschoss, dessen Eingang über sechs Stufen erreichbar ist, befindet sich das eigentliche Pfandleihaus, das tagsüber von Bobo Winthrop geführt wird. Seine Wohnung befindet sich über dem Laden und nimmt das gesamte obere Stockwerk ein. In Bobos Wohnung hängen bloß leichte Vorhänge an den Fenstern. Wer sollte ihm schon durchs Fenster schauen? Es gibt meilenweit kein Gebäude, das ähnlich hoch ist wie das Pfandleihhaus.
Das Gebäude nebenan gehörte zum Pfandleihhaus, als Bobo es gekauft hat. Eigentlich war es als Wohnhaus für den Besitzer gedacht, doch als Bobo das Pfandleihhaus übernahm, beschloss er, dass er in der Wohnung über dem Laden genauso glücklich werden würde. Er hatte vor, das Haus zu vermieten, um etwas dazuzuverdienen. Also führte er die notwendigen Reparaturen durch und warb jahrelang für das Haus. Doch bis zum heutigen Tag hatte sich niemand dafür interessiert.
Heute bekommt das Haus allerdings einen neuen Mieter. Alle Bewohner Midnights (außer Reverend Sheehan, aber wer weiß schon, was in dessen Kopf vor sich geht?) sind ziemlich gespannt, weil er noch an diesem Tag einziehen wird.
Fiji Cavanaugh späht immer wieder hinter ihren Spitzenvorhängen hervor und ermahnt sich dann, wieder zu ihrer Arbeit hinter der Glasvitrine zurückzukehren, die voller New-Age-Merchandising-Artikel ist: gläserne Einhörner, mit Feen verzierte Lesezeichen und Delfine im Überfluss auf allen erdenklichen Gegenständen. Auf dem etwas tiefer gelegenen Arbeitstisch hinter der als Ladentisch dienenden Vitrine mischt Fiji gerade eine Kräutertinktur, um damit Verwirrung unter ihren Feinden zu stiften … wenn sie denn welche hätte. Sie kämpft gegen das Verlangen, in das Glas mit den tränenförmigen Schokoladenbonbons zu greifen, das sie unter dem Ladentisch für ihre Kunden bereithält. (Zufälligerweise mögen Fijis Kunden ihre Lieblingsschokolade ebenfalls.)
Auf der anderen Seite der Witch Light Road steigt Bobo gerade die Treppe von seiner Wohnung ins Erdgeschoss hinunter. Dort angekommen stehen ihm mehrere Möglichkeiten zur Auswahl: Die Tür zu seiner Linken öffnet sich in die Einfahrt, eine kurze Treppe führt hinunter zu den Wohnungen seiner beiden Mieter, und durch die Tür zu seiner Rechten käme er in den Laden. Eigentlich sollte Bobo jetzt durch diese Tür gehen und den Laden aufsperren, der geschlossen ist, seit Lemuel vor zwei Stunden zu Bett ging, doch er beachtet sie nicht weiter. Stattdessen entscheidet er sich für die Tür nach draußen und verschließt sie hinter sich. Er schlendert über die kiesbedeckte Einfahrt, die an die Rückseite des Pfandleihhauses führt, über einen schmalen Streifen niedergetrampeltes Gras und über die ausgefahrene Auffahrt des Hauses nebenan, um dem Neuankömmling zu helfen. Der nicht gerade groß gewachsene, magere Kerl lädt gerade Kartons aus einem Umzugswagen und schwitzt bereits heftig.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragt Bobo.
»Sicher, ein wenig Hilfe wäre toll«, erwidert der neue Mieter. »Ich habe keine Ahnung, wie ich die Couch aus dem Wagen bekommen soll. Können Sie Ihren Laden denn so lange alleine lassen?«
Bobo lacht. Er ist ein groß gewachsener blonder Mann in den Dreißigern, und sein Lachen ist überschwänglich, trotz der Falten in seinem Gesicht und des meist traurigen Ausdrucks um seinen Mund und in seinen Augen. »Ich kann es sehen, wenn ein Auto anhält, und dann bin ich in weniger als dreißig Sekunden zurück im Laden«, erwidert er. Im Handumdrehen hebt er die Kartons hoch und trägt sie dorthin, wo sie laut ihrer Aufschrift hingehören. Auf den meisten Kartons steht »Wohnzimmer«, und sie sind ziemlich schwer. Die Kartons für das Schlafzimmer und die Küche sind weniger zahlreich. Außerdem gibt es einige Möbel – wirklich alte Möbel, die früher vermutlich auch nicht besser ausgesehen haben.
»Ja«, meint Bobo und lässt den Blick über den Inhalt des Umzugswagens schweifen. »Ohne ein Paar helfende Hände wären Sie aufgeschmissen.«
Inzwischen schlendert Joe Strong mit seinem kleinen Pekinesen an der Leine von der Antique Gallery auf sie zu. Er bietet ebenfalls seine Hilfe an. Joe Strong sieht genauso aus, wie sein Name es vermuten lässt: Er ist extrem muskulös und braun gebrannt, auch wenn seine bereits etwas schütteren braunen Haare und die Falten um seine Augen vermuten lassen, dass Joe älter ist, als er aussieht. Nachdem Joe ganz offensichtlich ein äußerst fähiger Möbelpacker ist, nimmt der Neuankömmling auch seine Hilfe gerne an, und die Arbeit erledigt sich immer schneller und schneller.
Rasta, der Pekinese, wurde mit seiner mit Strasssteinen besetzten Leine an der vorderen Verandasäule festgebunden, und der Neuankömmling zieht netterweise eine Schale aus den Tiefen eines mit »Küche« beschrifteten Kartons und füllt sie mit Wasser für den Hund.
Fiji späht aus dem Fenster und fragt sich, ob sie auch hinübergehen und helfen soll, aber ihr ist klar, dass sie nicht so stark ist wie die Männer dort drüben. Außerdem lebt Mr. Snuggly im ständigen Kleinkrieg mit Rasta, und er würde ihr sicher folgen, wenn sie die Straße überqueren würde. Nachdem sie eine Stunde lang mit sich selbst gekämpft hat, beschließt Fiji, Limonade und Plätzchen hinüberzubringen, doch als sie alles vorbereitet hat, sind die Männer schon verschwunden. Sie tritt auf die Straße hinaus und sieht, dass sie sich auf den Weg ins Home Cookin Restaurant gemacht haben. Offensichtlich machen sie Mittagspause. Fiji seufzt und beschließt, es um drei Uhr nachmittags noch einmal zu versuchen.
Die kleine Gruppe bewegt sich inzwischen an der nördlichen Straßenseite entlang westwärts, geht am Pfandleihhaus vorbei und überquert schließlich die Kreuzung. Dem Neuankömmling fällt auf, dass der Davy Highway breiter und besser asphaltiert ist als die Witch Light Road. Sie kommen an der Tankstelle GasNGo vorbei, und die Alteingesessenen winken dem Mann mittleren Alters zu, der hinter der Kasse sitzt. Auf die Tankstelle folgen eine Gasse und ein weiterer verlassener Laden, und im Anschluss würden sie zur Antique Gallery und dem Nagelstudio kommen. Doch stattdessen überqueren sie die Witch Light Road, um schließlich in das Home Cookin Restaurant zu gelangen. Der Neuankömmling betrachtet die leer stehenden Gebäude.
»Gibt es hier eigentlich noch mehr Leute?«, fragt er. »Ich meine, außer uns?«
»Sicher«, erwidert Bobo. »Es gibt einige verstreute Häuser entlang der Witch Light Road und ein paar entlang des Davy Highways. Und weiter draußen liegen schließlich die Farmen. Die Familien und Arbeiter, die dort leben, lassen sich ab und zu hier blicken. Die wenigen Leute in der Gegend, die keine Farm betreiben oder auf einer Farm arbeiten, haben Jobs in Davy oder Marthasville. Pendeln ist billiger als umzuziehen.«
Dem Neuankömmling wird klar, dass der Kreis der Leute, die in Midnight leben, sehr klein ist. Aber das ist durchaus in Ordnung für ihn.
Als die Männer (und Rasta) das Restaurant betreten, hebt Madonna Reed den Blick von der Babytrage auf dem alten Laminattresen. Sie spielt gerade mit dem Baby, und ihr Gesicht wirkt weich und glücklich.
»Wie geht es Grady?«, fragt Joe. Er hat seinen Hund ohne weitere Diskussion einfach mit ins Diner genommen, weshalb der Neuankömmling davon ausgeht, dass das öfter vorkommt.
»Es geht ihm gut«, erwidert Madonna, und ihr unverfälschtes Lächeln wirkt von einem Augenblick auf den anderen professionell. »Wie ich sehe, haben wir heute einen Neuen hier.« Sie deutet mit dem Kopf in Richtung des Neuankömmlings.
»Ja, ich vermute, wir brauchen heute mal die Speisekarte«, erwidert Bobo.
Der Neuling blickt höflich von Madonna zu den anderen Männern. »Sie kommen wohl oft hierher?«, vermutet er.
»Andauernd«, erklärt Bobo. »Wir haben zwar nur einen Laden, in dem man frisches Essen bekommt, aber Madonna ist eine großartige Köchin, also gibt es keinen Grund, sich zu beschweren.«
Madonna ist eine füllige Frau mit wilder Afromähne. Vermutlich stammten ihre Vorfahren aus Somalia, denn sie ist groß, und ihre braune Haut schimmert rötlich. Ihre Nase ist schmal und markant. Sie ist wirklich eine sehr hübsche Frau.
Der Neuankömmling nimmt seine Speisekarte entgegen, ein einseitig beschriebenes Blatt Papier in einem Plastikumschlag. Es sieht ein wenig ramponiert aus und wurde offensichtlich schon seit einiger Zeit nicht mehr erneuert. Heute ist Dienstag, und unter der entsprechenden Überschrift sieht er, dass er die Wahl zwischen gebratenem Seewolf und gebackenem Hühnchen hat.
»Ich nehme den Seewolf«, beschließt er.
»Und als Beilage?«, fragt Madonna. »Es gibt drei Möglichkeiten, von denen Sie zwei auswählen können. Zum Seewolf passen zum Beispiel Maisklößchen.« Die anderen Beilagen für Dienstag sind Kartoffelbrei mit Käse und Zwiebeln, Krautsalat oder ein Bratapfel mit Zimt.
Der Neuankömmling entscheidet sich für den Krautsalat und den Bratapfel.
Sie sitzen am größten Tisch des Diners. Dieser Tisch ist rund und befindet sich genau in der Mitte des kleinen Raumes. Er bietet acht Personen Platz, und der Neuankömmling wundert sich, warum sie sich gerade diesen Tisch ausgesucht haben. An der westlichen Wand befinden sich vier Nischen, und am Fenster, das nach Norden auf die Witch Light Road hinausführt, gibt es außerdem noch zwei Tische für jeweils zwei Personen. Nachdem sich der Neuankömmling umgesehen hat, macht er sich jedoch keine weiteren Gedanken mehr darüber, den Tisch zu Unrecht in Beschlag zu nehmen. Es gibt nämlich keine weiteren Gäste.
Ein kleiner, spanischstämmiger Mann in einem blitzsauberen gestreiften Sport-T-Shirt, makellosen Khakis, einem glänzend braunen Ledergürtel und Slippern betritt das Diner. Er ist um die vierzig. Sofort tritt er an den Tisch, drückt Joe Strong einen Kuss auf die Wange und gleitet auf den Stuhl neben ihm. Der neue Gast lehnt sich nach vorne, damit er erst Rasta am Kopf kraulen kann, ehe er über den Tisch greift, um die Hand des Neuankömmlings zu schütteln.
»Ich bin Chuy Villegas«, stellt er sich vor.
»Und ich bin Manfred Bernardo«, erwidert der Neuankömmling.
»Hat Joe Ihnen geholfen, sich einzurichten?«
»Ich würde immer noch Möbel und Kartons ins Haus schleppen, wenn er und Bobo nicht aufgetaucht wären. Mittlerweile ist nicht mehr viel übrig. Und ich muss ja nicht alle Kartons auf einmal auspacken.«
Chuy beugt sich nach unten, um den Hund zu streicheln. »Wie hat sich Rasta geschlagen?«, fragt er seinen Partner.
Joe lacht. »Es war brutal. Er hat Manfred mit seinen Furcht einflößenden Zähnen zu Tode erschreckt. Wenigstens ist Mr. Snuggly auf seiner Straßenseite geblieben.«
Obwohl Chuys Augen von Krähenfüßen umrahmt sind, zeigt sich in seinen Haaren keine einzige graue Strähne. Seine Stimme klingt weich, und er spricht mit einem kaum merklichen Akzent. Vielleicht ist es aber auch die sorgfältige Wortwahl, die vermuten lässt, dass er ursprünglich nicht aus den USA stammt. Er scheint genauso muskulös wie sein Freund zu sein.
Ein Mann in den Sechzigern betritt das Restaurant, und eine elektrische Glocke über der Tür kündigt sein Eintreten an. Wie Chuy ist auch er spanischer Abstammung, doch abgesehen davon, haben die Männer nichts gemeinsam. Der ältere Mann wirkt ausgezehrt, und seine Haut ist sehr viel dunkler als Chuys karamellfarbener Teint. Tiefe Falten durchziehen seine Wangen. Trotz seiner Cowboystiefel ist er kaum einen Meter sechzig groß, und er trägt ein weißes Hemd, einen uralten schwarzen Anzug und einen schwarzen Stetson. Das einzig Auffällige ist seine Schnürsenkelkrawatte mit dem großen türkisfarbenen Stein als Schnalle. Der ältere Mann nickt der Gruppe höflich zu und setzt sich dann an einen der kleineren Tische am Fenster. Er nimmt den Hut ab, unter dem seine bereits dünner werdenden schwarzen Haare zum Vorschein kommen. Manfred will den älteren Mann bitten, sich zu ihnen zu setzen, doch Bobo legt eine Hand auf seinen Arm. »Der Reverend sitzt gerne alleine«, erklärt er leise, und Manfred nickt.
Nachdem sein Stuhl dem Fenster zugewandt ist, bemerkt Manfred, dass der Mini-Markt der Tankstelle sehr gut besucht ist. Er kann zwar die beiden Zapfsäulen nicht sehen, aber er nimmt an, dass jede Person, die den Laden betritt, in der Zwischenzeit ihr Auto tankt. »Im GasNGo ist ja im Moment einiges los«, merkt er an.
»Ja, Shawn und Creek kommen nie zum Mittagessen herüber. Aber dafür manchmal zum Abendessen«, erwidert Bobo. »Creek hat einen Bruder – Connor. Er ist vierzehn. Oder schon fünfzehn? Er besucht die Schule in Davy.«
»Davy liegt nördlich von hier, nicht wahr?«
»Ja. Mit dem Auto sind es etwa zehn Minuten. In Davy befindet sich die Verwaltung des Roca Fría Countys. Die Stadt wurde nach Davy Crockett benannt – der Name Crockett war bereits vergeben.«
»Ich nehme an, Sie sind auch nicht von hier?«, fragt Manfred.
»Nein«, erwidert Bobo, ohne weiter ins Detail zu gehen. Das ist ein wichtiger Hinweis für Manfred. Er denkt gerade darüber nach, was es zu bedeuten hat, als Madonna mit einem Glas Wasser aus der Küche tritt und damit an den Tisch des Reverends geht, um seine Bestellung aufzunehmen. Sie hat vorhin bereits mehrere Gläser mit Eiswürfeln, eine Kanne Tee und eine Kanne Wasser auf dem großen Tisch abgestellt.
In diesem Moment entdeckt Manfred eine Frau, die den Bürgersteig auf der anderen Seite der Witch Light Road entlanggeht. Sie kommt an der Antique Gallery vorbei, doch sie wirft nur einen kurzen Blick auf das Schild mit der Aufschrift MITTAGSPAUSE im Fenster. Die Frau sieht atemberaubend aus. Sie ist beinahe einen Meter achtzig groß, trägt Jeans, in denen sie schlank aussieht, ohne mager zu wirken, und ihr orangefarbener Pullover schmiegt sich an ihre breiten Schultern und die schlanken, muskulösen Arme. Obwohl Manfred irgendwie das Gefühl hat, sie sollte Schuhe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen tragen, tut sie nichts dergleichen. Stattdessen trägt sie abgetragene Stiefel. Sie hat nur eine Spur Make-up aufgelegt, und ihr Schmuck besteht aus silbernen Ohrringen und einer Silberkette.
»Verdammt.«
Manfred bemerkt erst, dass er laut gesprochen hat, als Bobo meint: »Vorsicht, mein Lieber.«
»Wer ist das?«
»Sie hat eine meiner beiden Wohnungen gemietet. Olivia Charity.«
Manfred ist sich ziemlich sicher, dass Olivia Charity nicht der richtige Name der Frau ist. Bobo weiß ihren richtigen Namen, aber er wird ihn Manfred nicht verraten. Sehr eigenartig.
In diesem Augenblick fällt Manfred auf, dass ihm – trotz der Kameradschaftlichkeit, die sich im Laufe des Vormittags entwickelt hat – niemand die üblichen Fragen gestellt hat: Warum ziehen Sie an einen so gottverlassenen Ort? Was führt Sie hierher? Was machen Sie beruflich? Wo haben Sie vorher gewohnt?
Und Manfred erkennt, dass Midnight der richtige Ort für ihn ist. Tatsächlich scheint es, als würde er hierhergehören.
1
Manfred schaffte es in weniger als zwei Tagen, sein gesamtes Computer-Equipment aufzubauen. Am Donnerstagnachmittag begann er bereits damit, seine Websites zu checken. Im Hellsehergeschäft bedeutete Zeit Geld.
Inzwischen hatte er es geschafft, seinen Lieblingsstuhl direkt vor den großen, L-förmigen Tisch zu rollen, der den Raum dominierte. Das Zimmer war ursprünglich vermutlich als Wohnzimmer gedacht gewesen und führte auf die Witch Light Road hinaus. Er hatte sein gesamtes Computer-Equipment dort aufgebaut, und unter dem Tisch standen einige niedrige Aktenschränke, obwohl er die meisten seiner Daten online gespeichert hatte. Abgesehen von seinem Computertisch und dem Stuhl, hatte er in einer kleinen Nische zwei gepolsterte Lehnsessel mit einem kleinen Tisch in der Mitte aufgestellt, bloß für den Fall, dass ein Klient oder eine Klientin zu ihm nach Hause kam und sich für Handlesen oder Kartenlegen interessierte.
So erschien Manfred das größte Zimmer im Haus am besten genutzt. Er hatte zwar keinen Sinn für Dekoration, dafür aber umso mehr für Zweckmäßigkeit. Das weitläufige Zimmer verfügte an drei Seiten über große Fenster, die von uralten Jalousien verdunkelt wurden. Diese Jalousien waren praktisch, aber deprimierend, weshalb Manfred Vorhänge angebracht hatte, um sie zu verdecken.
Die Vorhänge der Fenster an der Vorderseite waren waldgrün und golden, die Vorhänge an den Fenstern, die auf die Auffahrt hinausführten, waren im Paisley-Muster bedruckt, und die Vorhänge zum (leer stehenden) Nachbarhaus waren tiefrot. Manfred war der Meinung, dass das Zimmer insgesamt sehr fröhlich wirkte.
Das Zweiersofa seiner Großmutter, ein Lehnsessel und die Fernsehkommode samt Fernseher hatten im ehemaligen Esszimmer Platz gefunden, und Xyldas kleine Essecke hatte er in eine schmale Nische in der Küche gequetscht. Durch eine Tür an der westlichen Küchenwand gelangte man in Manfreds Schlafzimmer, das ziemlich einfach ausgestattet war. Mit Bobos Hilfe hatte er das Doppelbett aufgestellt, es bezogen und eine Tagesdecke darüber gebreitet. Vom Schlafzimmer aus gelangte man auch in das einzige Badezimmer des Hauses, das ebenfalls einfach, aber zumindest groß genug war. Im Hinterhof gab es außerdem zusätzlich einen Schuppen, den er sich noch nicht näher angesehen hatte. Stattdessen hatte er einen Ausflug zum größten Lebensmittelladen in Davy unternommen, sodass sein Kühlschrank mittlerweile gefüllt war.
Manfred war froh, dass er sich schnell in seinem neuen Zuhause eingerichtet hatte und wieder mit der Arbeit beginnen konnte.
Die erste Website, die er besuchte, nannte sich Bernardo, Medium und Hellseher. Sein Foto nahm die Hälfte der ersten Seite ein. Er trug natürlich ausschließlich schwarz und stand mitten auf einem Feld, während Blitze aus seinen Fingerspitzen schossen. (Jedes Mal, wenn er die Photoshop-Blitze bewunderte, musste er an seine Freundin Harper denken, die vom Blitz getroffen worden war.)
Bernardo, Medium und Hellseher hatte in den Tagen, in denen Manfred mit dem Umzug beschäftigt gewesen war, 173 E-Mails erhalten. Er sah sie schnell durch. Einige waren bloß Spam-Nachrichten, die er schnell löschte. Vier stammten von Frauen, die eine intime Beziehung mit ihm eingehen wollten, eine ähnliche Nachricht kam von einem Kerl, und fünf Personen forderten ihn auf, zur Hölle zu fahren. Zehn Besucher der Homepage wollten mehr über seine »Gabe« erfahren, und er verwies sie auf seine Biografie, die zum Großteil erfunden und auf seiner Homepage gut ersichtlich war. Manfred hatte die Erfahrung gemacht, dass Menschen unendlich anfällig dafür waren, das Offensichtliche zu übersehen. Vor allem Menschen, die die Hilfe eines Hellsehers in Anspruch nahmen. Unter den 173 Nachrichten gab es seinen Schätzungen zufolge etwa neun, die Geld versprachen, auch wenn er den Rest ebenfalls beantwortete.
Nachdem er seine Pflicht gegenüber den Besuchern der Bernardo-Website erfüllt hatte, checkte er die Website Der Unglaubliche Manfredo. Wenn man hier mit Kreditkarte (oder Pay-Pal) fünfzehn Dollar bezahlte, beantwortete Manfredo die vom Kunden gestellte Frage. Der Unglaubliche Manfredo erhielt seine Antworten »aus dem Jenseits« und übermittelte sie über das Internet. Das Jenseits war in diesem Fall »der Ort, von dem Manfredos wunderbare Mächte stammten«. Viele Suchende wurden von dem Unglaublichen Manfredo in den Bann gezogen, der dem Foto auf seiner Website zufolge ein dunkelhaariger, äußerst attraktiver Mann in den Vierzigern war. Es gab 194 Anfragen, und diese Leute hatten alle bezahlt.
Es dauerte ein wenig länger, die Mails dieser Website zu beantworten, und Manfred dachte sorgfältig über seine Antworten nach. Er konnte seine wirkliche Gabe nicht über das Internet nutzen, aber er hatte sich einiges an psychologischem Wissen angeeignet, und er war der Meinung, dass sich ein Talkshow-Arzt nicht besser geschlagen hätte. Vor allem, da die meisten Antworten durch eine weitere Anfrage für fünfzehn Dollar spezifiziert werden konnten.
Nachdem er drei Stunden lang die Fragen an den Unglaublichen Manfredo beantwortet hatte, legte Manfred seinen dritten Zwischenstopp an diesem Tag ein, und zwar auf seiner gewerblichen Facebook-Seite, die er unter seinem vollen Namen – Manfred Bernardo – betrieb. Das Profilbild auf dieser Seite war sehr viel schicker und spielte mit der Wirkung seines blassen Gesichts, der stacheligen, platinblonden Haare und seiner unzähligen Piercings. Winzige Silberringe verliefen entlang einer seiner Augenbrauen, er trug ein Piercing in der Nase, und seine Ohren waren voller Silberringe und Ohrstecker. Er ertrug den Gedanken nicht, seine Ohrlöcher zu dehnen, dafür hatte er ein Rook-Piercing. Auch hier wirkte er dynamisch und sehr intensiv. Der Fotograf hatte ihn gut in Szene gesetzt.
Es gab viele Nachrichten und Kommentare zu der letzten Ankündigung, die er gepostet hatte: »Ich werde einige Tage nicht erreichbar sein. Es wird Zeit, mich zurückzuziehen, zu meditieren und meinen Geist auf die Aufgaben vorzubereiten, die vor mir liegen. Wenn ich wieder mit euch in Verbindung trete, werde ich unglaubliche Neuigkeiten haben.«
Nun musste Manfred sich entscheiden, welche unglaublichen Neuigkeiten das sein würden. Hatte er eine außerordentliche Botschaft von den Geistern derjenigen, die bereits ins Jenseits weitergezogen waren, erhalten? Und wenn ja, wie konnte diese Botschaft lauten? Vielleicht wurde es aber auch Zeit, dass Manfred Bernardo, Medium und Hellseher, wieder einmal persönlich in Erscheinung trat. Das wären auf alle Fälle unglaubliche Neuigkeiten.
Er beschloss, dass er nun, wo er sich in Texas und damit auf neuem Terrain befand, tatsächlich einige Sitzungen mit Terminen in ein paar Wochen vereinbaren würde. Natürlich waren solche Sitzungen anstrengend, aber er konnte sehr viel mehr dafür verlangen. Auf der anderen Seite waren da allerdings die Reisekosten, denn er musste in einem wirklich guten Hotel absteigen, um den Klienten den Eindruck zu vermitteln, dass er ihr Geld wert war. Aber es täte bestimmt gut, mal wieder jemanden tatsächlich zu berühren und das Feuer neu zu entfachen. Er hatte alles, was es über das Handwerk eines Mediums zu wissen gab, von seiner Großmutter gelernt, und sie hatte an die Macht persönlicher Begegnungen geglaubt.
Obwohl Xylda von der Möglichkeit, online schnelles Geld zu verdienen, begeistert gewesen war, hatte sie sich nie näher damit beschäftigt, und in Wahrheit war sie eher eine Performancekünstlerin gewesen. Manfred musste grinsen, als er an Xyldas Presseauftritte während des letzten großen Mordfalls dachte, an dem sie gearbeitet hatte. Sie hatte jede Sekunde in der Öffentlichkeit genossen. Die meisten Enkelsöhne hätten sich furchtbar für die alte Dame geschämt: für ihre blond gefärbten Haare, ihre farbenprächtigen Kleider, ihr extravagantes Make-up, ihr theatralisches Getue. Aber für Manfred war Xylda eine Quelle der Information und der Unterweisung gewesen, und sie hatten einander vergöttert.
Auch wenn einige betrügerische Absichten hinter Xyldas Visionen gesteckt hatten, blitzte ihre wahre Gabe doch immer wieder auf. Manfred hoffte, dass Xylda niemals herausgefunden hatte, dass seine Gabe sehr viel mächtiger war als ihre. Allerdings hegte er die traurige Vermutung, dass sie es sehr wohl gewusst hatte, auch wenn sie das Thema lediglich indirekt angesprochen hatten. Und jetzt würden sie nie wieder darüber sprechen können.
Er träumte oft von ihr, und in seinen Träumen sprach sie mit ihm, aber es war eher ein Monolog als ein Dialog.
Vielleicht würde sie einmal in einer seiner Séancen auftauchen.
Doch im Großen und Ganzen hoffte er, dass es nie dazu kommen würde.
2
Bobo Winthrop saß im Midnight Pawn und machte sich Gedanken über seinen neuen Mieter, als Fiji das Pfandleihhaus betrat. Momentan saß Bobo auf einem gemütlichen Stuhl, der vermutlich irgendwann um die Jahrhundertwende von einem Handwerker gebaut wurde. Er bestand aus einem dunklen, mit aufwendigen Schnitzereien verzierten Holz und hatte einen verblichenen, blutroten Samtbezug. Mittlerweile saß Bobo seit einem Monat auf diesem Stuhl, und er würde ihn vermissen, falls der Besitzer jemals wiederkommen sollte, um ihn abzuholen. Natürlich hätte ihn der Kerl eigentlich in die Antique Gallery bringen sollen, aber er wollte nichts mit diesen »Verrückten« zu tun haben, wie er Joe und Chuy so freundlich genannt hatte. Nachdem er den Stuhl einen Tag lang betrachtet hatte, hatte Bobo ihn vor einen der Holzsteher gestellt, die vom Boden bis an die Decke reichten. Anschließend platzierte er einen alten Tisch daneben. Der Stuhl passte perfekt in das Labyrinth des Pfandleihhauses, und außerdem war er von der Eingangstür aus nicht sofort zu sehen.
»Bobo?«, rief Fiji. »Bist du da?«
»Sitze auf meinem Stuhl«, antwortete er, und sie bahnte sich den Weg durch die Möbel und anderen Gegenstände, die im Laufe der Jahre im Laden zurückgeblieben waren. Abseits der Fenster an der Vorderseite war es im Pfandleihhaus düster und staubig, und es gab nur einige Lampen da und dort, die dem Besucher den Weg wiesen.
Bobo freute sich, Fiji zu sehen. Er mochte ihre Sommersprossen, ihre Sanftmütigkeit und ihre Kochkünste. Es machte ihm nichts aus, dass Fiji behauptete, eine Hexe zu sein. In Midnight hatten alle eine Vergangenheit und eine verrückte Seite. Manche zeigten es eben mehr als andere. Das Licht, das durch das große Fenster am Eingang fiel, beleuchtete Fiji von hinten, während sie sich durch die jahrzehntelang angehäuften Gegenstände wand, die sich im Midnight Pawn angesammelt hatten. Sie lächelte, als sie schließlich vor Bobo trat.
»Hola, Fiji«, begrüßte Bobo Fiji und deutete mit der Hand auf den Schaukelstuhl, der sein Lieblingsplatz gewesen war, bevor er den samtbezogenen Stuhl bekommen hatte.
Nach dieser Begrüßung grinste sie noch breiter und ließ ihr kurviges Hinterteil auf den Schaukelstuhl sinken. »Wie geht es dir, Bobo?«, fragte sie vorsichtig.
»Gut. Und dir?«
Sie entspannte sich. »Alles klar so weit. Worüber machst du dir heute Gedanken?«
»Über meinen neuen Nachbarn«, erwiderte Bobo ohne zu zögern. Er belog Fiji niemals.
»Ich habe ihm Limonade und Plätzchen gebracht«, erklärte sie.
»Welche Plätzchen?«, fragte Bobo, denn für ihn war das der entscheidende Punkt.
Fiji lachte. »Butterkekse.«
Bobo schloss übertrieben sehnsüchtig die Augen. »Sind vielleicht noch welche übrig?«
»Ich hätte einige mehr beiseitegelegt, wenn ich ihn vorher gesehen hätte. Er sieht nicht so aus, als würde er viele Plätzchen essen.« Tatsächlich hatte Manfreds hagerer Körper Fiji ihre eigenen Kurven mehr als bewusst gemacht.
Bobo tätschelte seinen Bauch, der immer noch ziemlich flach war. »Dieses Problem kenne ich nicht«, meinte er.
»Ja, das ist wahr«, erwiderte Fiji trocken. »Ich bringe dir nachher welche rüber.« Dann hielt sie inne.
»Raus damit«, forderte er sie auf.
»Ich kenne ihn«, erklärte sie. »Manfred, meine ich.«
Bobo riss seine leuchtend blauen Augen auf. »Woher?«
»Aus den Zeitungen. Dem People Magazine.«
Bobo rutschte auf dem Stuhl nach vorne, und seine träge Zufriedenheit war wie weggeblasen. »Du solltest mir besser alles darüber erzählen«, meinte er, klang allerdings nicht im Geringsten aufgebracht. »Ich bin überrascht, dass du nicht schon früher rübergekommen bist.«
»Es tut mir leid«, erwiderte Fiji. »Ich …« Sie brach ab.
»Was?«
Gerade sah sie aus, als wäre sie am liebsten im Erdboden versunken. »Ich dachte, du hättest genug um die Ohren, nachdem Aubrey fort ist.«
»Du musst mich nicht wie ein kleines Kind behandeln, Fee«, erwiderte Bobo. »Frauen verlassen ihre Männer jeden Tag. Ich fühle mich echt mies, aber sie ist nun mal fort, und ich habe seither nichts mehr von ihr gehört. Aubrey wird nicht wiederkommen.« Er zwang sich, aus dem Abgrund hervorzukriechen, der ständig darauf wartete, ihn zu verschlingen. »Also, was soll diese Sache mit Manfred?«
»Na gut, okay«, meinte Fiji schulterzuckend. »Er ist ein Hellseher.«
Bobo begann zu lachen. »Ein Telefon-Hellseher? Kein Wunder, dass er sich so für die Telefon- und Internetverbindungen hier bei uns interessiert hat. Er hat mir Dutzende Fragen gestellt. Ich konnte nicht einmal alle beantworten.«
Midnight hatte Glück und verfügte zufällig über eine exzellente Mobiltelefon- und Internetverbindung, da sich eine Zweigstelle einer sehr bekannten Internet-Spiele-Plattform ganz in der Nähe befand.
Fijis Lippen wurden schmal. »Ha-ha«, meinte sie trocken. »Hör zu, ich weiß, du kannst nicht gerade viel mit Computern anfangen, aber google mal seinen Namen, okay? Du weißt doch, wie man googelt oder?«
»Ich glaube schon.«
»Bobo, er ist eine echt große Nummer.« Sie wand sich unbehaglich in dem harten Holzschaukelstuhl. »Er wird gewisse Dinge wissen.«
»Willst du damit andeuten, dass ich Geheimnisse habe, die er womöglich ans Tageslicht bringen könnte?« Bobo lächelte noch immer, doch das Lächeln reichte nicht mehr bis zu seinen Augen. Er strich sich seine blonden Haare mit beiden Händen aus dem Gesicht.
»Wir haben alle unsere Geheimnisse«, erwiderte Fiji.
»Sogar du, Fee?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ein paar.«
»Und du denkst, ich hätte auch welche?« Er sah sie an. Sie wich seinem Blick nicht aus.
»Ich weiß, dass du welche hast. Warum wärst du sonst hier?« Danach erhob Fiji sich abrupt aus dem Schaukelstuhl. Sie hatte den Rücken durchgedrückt, als wollte sie aus dem Laden stürmen, doch stattdessen schlenderte sie noch ein oder zwei Minuten lang durch das Pfandleihhaus, bevor sie ging.
Bobo hatte gewusst, dass sie das tun würde. Fiji konnte den Laden nicht verlassen, ohne einen Blick auf die beliehenen Gegenstände zu werfen, die auf den Ladentischen und in den Regalen und Schaukästen ausgestellt waren.
Zahllose, früher durchaus wertvolle Gegenstände, die nun müde und verlassen schienen. Bobo erkannte überrascht, dass Fijis Blick traurig war, als sie an der Tür noch einmal einen Blick über die Schulter warf und ihn ansah.
Vermutlich dachte sie, er würde sehr gut hierherpassen.
3
In den darauffolgenden Tagen arbeitete Manfred jede wache Minute, um die Zeit aufzuholen, die er durch den Umzug verloren hatte. Er hatte keine Ahnung, warum er den Drang verspürte, so hart zu arbeiten, doch als ihm schließlich klar wurde, dass er sich wie ein Eichhörnchen vor dem herannahenden Winter verhielt, legte er noch einen Zahn zu. Schließlich wusste er, dass es sich lohnte, derartige Warnungen ernst zu nehmen.
Nachdem er vollkommen in seiner Arbeit aufging und sich außerdem selbst das Versprechen gegeben hatte, jeden Abend drei Kartons auszupacken, hatte er nach dem ersten Mittagessen mit Bobo, Joe und Chuy keinen Kontakt mehr zu den anderen Bewohnern Midnights gehabt.
Er war allerdings einige Male nach Davy gefahren, um einzukaufen. Davy war eine staubige Verwaltungsstadt, die in etwa genauso schmucklos und karg war wie Midnight, in der aber um einiges mehr los war. In Davy gab es einen See, der vom Río Roca Fría gespeist wurde, einem trägen, schmalen Fluss, der etwa drei Kilometer nördlich des Pfandleihhauses von Nordwesten nach Südosten floss. Früher war der Fluss sehr viel breiter gewesen, und seine Ufer deuteten immer noch darauf hin. Mittlerweile fielen sie auf beiden Seiten mehrere Meter tief ab und bildeten so einen mehr als dramatischen Rahmen für das Wasser, das träge über die runden Steine im Flussbett floss.
Nördlich des Pfandleihhauses schrieb der Fluss eine Kurve und umschloss die Westseite Davys, bevor er sich zu einem See verbreiterte. Ein See bedeutete Badegäste, Bootsfahrer, Angler und Ferienhäuser, und daher herrschte in Davy das ganze Jahr über an den Wochenenden reges Treiben, und im Sommer auch unter der Woche. Das hatte Manfred zumindest in seinem Reiseführer über Texas gelesen.
Manfred hatte sich selbst das Versprechen gegeben, zum Roca Fría zu wandern und dort zu picknicken, sobald er das Gefühl hatte, sich ein paar Stunden freinehmen zu können. Laut seinem Reiseführer (und Bobo) konnte er sich auf einen angenehmen Ausflug freuen. Er hatte gelesen, dass man im Sommer im seichten Wasser des Flusses waten und sogar auf den Sandbänken picknicken konnte. Und das klang tatsächlich ziemlich cool.
Am Sonntagnachmittag rief Manfreds Mutter Rain an. Als er ihren Namen auf dem Display sah, wurde ihm bewusst, dass er ihren Anruf eigentlich hätte erwarten sollen.
»Hallo, Junge«, meinte sie fröhlich. »Wie gefällt es dir in deinem neuen Zuhause?«
»Gut, Mom. Ich habe beinahe alles ausgepackt«, erwiderte Manfred und sah sich um. Zu seiner Überraschung stimmte es sogar.
»Hast du deine Computer bereits aufgebaut und zum Laufen gebracht?«, fragte sie, als wollte sie sagen: »Hast du deine Transmogrifizierer schon eingerichtet?« Da war ständig diese kaum verhohlene Ehrfurcht. Obwohl Manfred mit Sicherheit wusste, dass Rain jeden Tag bei der Arbeit einen Computer benutzte, war seine Mutter der Meinung, seine Arbeit im Internet wäre hoch spezialisiert und kompliziert.
»Ja, alles bestens«, erwiderte er. »Geht es dir gut?«
»Ja, im Job läuft es ganz gut.« Eine Pause. »Und ich treffe mich immer noch mit Gary.«
»Das ist gut, Mom. Du brauchst jemanden.«
»Ich vermisse dich noch immer«, meinte sie plötzlich. »Ich meine, ich weiß, dass du schon eine Zeit lang fort bist … aber trotzdem.«
»Ich habe die letzten fünf Jahre bei Xylda gewohnt«, erwiderte Manfred emotionslos. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mich noch immer wahnsinnig vermisst.« Er trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Natürlich wusste er, dass er viel zu ungeduldig war, was die sentimentalen Ausbrüche seiner Mutter betraf, aber das hier war ein Gespräch, das sie schon mehr als einmal geführt hatten – und es hatte ihm schon beim ersten Mal nicht gefallen.
»Du wolltest zu ihr ziehen. Du meintest, sie würde dich brauchen!«, rief seine Mutter. Ihre verletzten Gefühle lauerten stets direkt unter der Oberfläche.
»Das hat sie auch. Mehr als du. Ich war seltsam, sie war seltsam. Ich dachte, es würde dir besser passen, wenn ich bei ihr wohne.«
Dann folgte ein langes Schweigen, und Manfred war versucht, einfach aufzulegen. Aber er wartete. Er liebte seine Mutter. Es war nur manchmal schwer, sich diese Tatsache in Erinnerung zu rufen.
»Ich verstehe«, meinte sie schließlich. Sie klang müde und resigniert. »Okay, dann ruf mich in einer Woche wieder an. Damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist.«
»Wird gemacht«, erwiderte er erleichtert. »Bye, Mom. Mach’s gut.« Manfred legte auf und machte sich wieder an die Arbeit. Er war froh, eine weitere E-Mail beantworten zu können. Die E-Mail einer Frau, die überzeugt war, dass er eine besondere Gabe hatte und außerdem zu einem eigenen Urteil fähig war. Einer Frau, die ihm nicht bis in alle Ewigkeit Vorwürfe machen würde, weil er das Naheliegendste getan hatte. In seinem Job war er beinahe allmächtig – er wurde ernst genommen, und seine Worte wurden kaum infrage gestellt.
Das echte Leben unterschied sich vollkommen von seinem Job – und nicht immer auf gute Art. Manfred zupfte gedankenverloren an seinem linken Ohr, in dem sich die meisten Piercings befanden. Es war seltsam, dass er selten Visionen hatte, in denen seine Mutter vorkam. Und noch seltsamer, dass es ihm bis jetzt nicht aufgefallen war. Das war vermutlich eine wichtige Erkenntnis, und er sollte ein wenig Zeit darauf verwenden, darüber nachzudenken. Aber nicht heute.
Heute musste er Geld verdienen.
Nachdem er eine weitere Stunde an seinem Schreibtisch verbracht hatte, erkannte Manfred, dass er Hunger hatte. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, als er sich fragte, was wohl heute Abend im Diner auf dem Menüplan stand. Er hatte sich das Schild angesehen und wusste, dass es auch sonntags geöffnet hatte. Ja, es wurde Zeit, mal essen zu gehen.
Er verschloss die Haustür hinter sich und fragte sich im selben Moment, ob er wohl der Einzige in Midnight war, der Türen versperrte.
Bevor er sich zur Abwechslung ein Essen gönnen konnte, das er nicht selbst gekocht hatte, musste er jedoch noch seine sozialen Pflichten erfüllen. An der Witch Light Road sah er zuerst nach links und rechts (und es kam wie üblich kein einziges Auto), bevor er die Straße überquerte und zu Fijis Haus ging. Er hatte ihren rosafarbenen, geblümten Teller und den Krug aus durchsichtigem Plastik gewaschen und seitdem immer wieder schuldbewusst beäugt. Die Plätzchen und die Limonade hatten ihm geschmeckt, und das Mindeste, was er tun konnte, war, die Straße zu überqueren und Fiji ihr Geschirr zurückzubringen.
Am vorangegangenen Donnerstagabend hatte er eine Arbeitspause eingelegt, um die kleine Gruppe von Frauen zu beobachten, die zu Fijis »Selbstfindungsabend« kamen. Manfred erkannte in ihnen seinen eigenen Kundenkreis wieder: Frauen, die ihr eintöniges Leben nicht mehr befriedigte; Frauen, die sich nach Macht und Abgrenzung sehnten. Es war nichts Falsches daran, nach diesen Dingen zu suchen – tatsächlich verdiente er sein Geld mit Menschen, die nach mehr als Eintönigkeit strebten –, aber Manfred bezweifelte, dass eine dieser Frauen die Gabe hatte, die er in Fiji gespürt hatte, als er die Tür geöffnet hatte und sie in Jeans und einer weiten bestickten Bluse mit einem Teller in der linken und einem Krug in der rechten Hand vor ihm gestanden hatte.
Fiji entsprach nicht dem, was er als seinen »Typ« bezeichnete. Es machte ihm zwar absolut nichts aus, dass sie älter war als er – tatsächlich passte ihm das generell sogar sehr gut –, aber Fiji war zu kurvig und weich. Manfred neigte dazu, sich eher in harte, sportliche Frauen zu verlieben – taffe Bräute eben. Trotzdem wusste er das Zuhause zu schätzen, das Fiji sich selbst erschaffen hatte. Je näher man dem Häuschen mit der Ziegelfassade kam, desto bezaubernder wurde es. Er bewunderte die Blumen, die noch immer aus den Töpfen und Fässern in Fijis Vorgarten wucherten, obwohl es bereits Ende September war. Ihr rot getigerter Kater Mr. Snuggly posierte formschön unter einer Glanzmispel. Selbst die unregelmäßigen Pflastersteine, die zur Veranda führten, schienen kunstvoll angeordnet.
Manfred klopfte, da Fijis Laden am Sonntag geschlossen hatte.
»Komm rein!«, rief sie. »Es ist offen.«
Die Glocke über der Tür klingelte sanft, und ein ungebändigter Haarschopf tauchte über dem Ladentisch auf.
»Hallo Nachbarin«, sagte er. »Ich bringe dir deine Sachen wieder. Danke noch mal für die Plätzchen und die Limo.« Er streckte den Teller und den Krug von sich, als müsste er beweisen, dass er mit guten Absichten gekommen war. Dabei versuchte er, nicht zu offensichtlich auf die Regale im Laden zu starren, deren Inhalt seiner Meinung nach absoluter Schrott war: Bücher über das Übernatürliche, Geistergeschichten und Anleitungen zum Kartenlegen und zur Traumdeutung. Von der Decke hingen zahllose Windspiele und Traumfänger, und außerdem entdeckte er noch zwei Stößel mit dazugehöriger Schale, die eigentlich ziemlich hübsch waren, einige Ratgeber über Kräuter und Gartenbau sowie vermeintliche Zeremonienmesser, Tarotkarten, Hexenbretter und andere Ausrüstungsgegenstände für New-Age-Okkultisten.
Im Gegensatz dazu gefielen Manfred die beiden bequemen geblümten Lehnstühle, die einander in der Mitte des Raumes gegenüberstanden und zwischen denen ein kleiner Tisch mit mehreren Magazinen stand. Fiji erhob sich, und sein Blick fiel auf ihr gerötetes Gesicht. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass sie sich gerade über etwas geärgert hatte.
»Was ist denn los?«, fragte er.
»Ach, dieser verdammte Zaubertrank«, antwortete Fiji, als würde sie sich über das Wetter beschweren. »Meine Großtante hat mir das Rezept hinterlassen, aber ihre Handschrift war grauenhaft, und ich habe bereits drei verschiedene Zutaten ausprobiert, weil ich einfach nicht weiß, was sie gemeint hat.«
Manfred war nicht klar gewesen, dass Fiji offen zugab, eine Hexe zu sein, und daher war er einen Moment lang ziemlich überrascht. Aber sie hatte die Gabe, und wenn sie sich auf diese Weise dem öffentlichen Urteil preisgeben wollte, okay. Und er hatte schon viel seltsamere Dinge erlebt. Er stellte den Teller und den Krug auf dem Ladentisch ab. »Lass mal sehen«, bot er an.
»Oh, ich will dich nicht damit belästigen«, erwiderte sie offensichtlich verlegen. Sie hatte ihre Lesebrille auf, und ihre braunen Augen wirkten groß und unschuldig.
»Nimm es als Dankeschön für die Plätzchen.« Manfred lächelte, und Fiji gab ihm den Zettel.
»Verdammt«, meinte er, nachdem er ihn einen Augenblick lang betrachtet hatte. Die Handschrift ihrer Großtante sah aus, als wäre ein Huhn mit schmutzigen Füßen über das Papier getanzt. »Okay, welches Wort?«
Fiji deutete auf das Gekritzel in der dritten Zeile. Manfred sah es sich genau an. »Beinwell«, sagte er schließlich. »Ist das eine Pflanze?«
Sie schloss erleichtert die Augen. »Oh ja, und ich habe sogar etwas davon in meinem Garten«, erwiderte sie. »Danke vielmals!« Sie strahlte ihn an.
»Kein Problem.« Er lächelte zurück. »Ich will zum Abendessen ins Home Cookin Restaurant. Kommst du mit?«
Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, sie zu fragen, und er hoffte, dass er damit nicht das falsche Signal aussandte (falls eine zwanglose Einladung zum Abendessen als falsches Signal verstanden werden konnte), aber Fiji hatte etwas Verletzliches an sich, das einen dazu brachte, freundlich zu ihr zu sein.
»Ja«, erwiderte sie. »Ich habe ohnehin nichts Interessantes mehr zum Essen zu Hause. Und heute ist Sonntag, oder? Da gibt es gebratenes Hühnchen oder Hackbraten.«
Sie verschloss den Laden (jetzt wusste Manfred, dass er nicht der Einzige war, der seine städtischen Gewohnheiten auch hier beibehielt) und tätschelte den Kopf des Katers, bevor sie sich auf den Weg nach Westen machten. Manfred hatte es sich angewöhnt, einen Blick in die Einfahrt zu werfen, die hinter das Pfandleihhaus führte. Und obwohl sie von der südlichen Straßenseite aus nicht so gut einsehbar war, tat er es auch jetzt.
Weil er ein Mann mit einer ausgeprägten Beobachtungsgabe war, hatte Manfred schon bald nach seinem Einzug bemerkt, dass normalerweise drei Autos hinter dem Pfandleihhaus parkten. Bobo Winthrop fuhr einen blauen, etwa drei Jahre alten Ford F-150 Pick-up. Das zweite Auto war eine Corvette. Manfred war kein Autoexperte, aber er war sich sicher, dass es sich dabei um einen Oldtimer handelte, der einiges Geld wert war. Normalerweise war das Auto unter einer Abdeckung verborgen, doch eines Abends hatte er einen Blick darauf erhascht, als er den Müll rausbrachte. Die Corvette sah echt super aus. Das dritte Auto war relativ unscheinbar. Ein Honda Civic vielleicht? Es war jedenfalls klein, silbern und hatte vier Türen. Und es war weder nagelneu noch besonders alt.
Manfred hoffte, dass die heiße Braut – Olivia – die Corvette fuhr. Aber das wäre fast schon zu gut gewesen. Wie Pfannkuchen mit Ahornsirup und Butter. Und wer wohnte eigentlich noch in dem Haus? Er nahm an, dass er wohl am besten wartete, bis es ihm jemand von sich aus erzählte.
»Wie bekommst du eigentlich genügend Leute in deinen Laden?«, fragte er Fiji, weil er schon lange genug nichts mehr gesagt hatte. »Und wo wir schon dabei sind: Wie schafft ihr es hier in Midnight überhaupt, eure Läden am Laufen zu halten? Das einzige Geschäft, das wirklich gut läuft, ist die Tankstelle.«
»Wir sind hier in Texas«, erwiderte sie. »Die Menschen hier sind es gewöhnt, wegen allem und jedem weite Strecken zurückzulegen. Ich bin der einzige Zauberladen im Umkreis von … na ja, ich weiß nicht, wie groß der Umkreis tatsächlich ist, aber er ist auf alle Fälle groß. Die Leute sehnen sich nach dem Außergewöhnlichen. Die Gruppe am Donnerstagabend ist immer ziemlich beachtlich. Manche Teilnehmerinnen nehmen eine Strecke von über achtzig Kilometern in Kauf, um dabei zu sein. Außerdem verkaufe ich meine Waren auch über das Internet.«
»Dann vertreibst du also keine Liebes- und Fruchtbarkeitstränke durch die Hintertür?«, fragte er neckend.
»Großtante Mildred hat etwas in der Art getan.« Sie sah ihn herausfordernd an.
»Hey, ich sehe das total entspannt«, erklärte Manfred sofort.
Fiji nickte bloß, und dann standen sie auch schon vor dem Diner. Er öffnete ihr die Tür, und sie trat vor ihm ein. Ihr Gesichtsausdruck wirkte irgendwie kühl, sofern Manfred das beurteilen konnte.
Im Diner war heute Abend einiges los. Joe und Chuy saßen an dem großen runden Tisch. Bei ihnen war ein großer, kräftiger Mann, den Manfred noch nicht kannte und der mit einem aufgeweckten Baby spielte. Manfred achtete eher auf Autos als auf Babys (und Schuhe und Fingernägel), aber er glaubte, dass das Baby in etwa dieselbe Größe hatte wie das Kind, das er bei seinem ersten Besuch im Home Cookin gesehen hatte. Demnach standen die Chancen gut, dass das hier Madonnas Baby war. Und er ging davon aus, dass auch der Mann zu Madonna gehörte.
Die elektrische Glocke klingelte, und die Tür schwang hinter ihnen zu, während Manfred den Blick nach rechts schweifen ließ. Die beiden Zweiertische vor dem Fenster waren besetzt, genauso wie eine der vier Nischen an der Westseite. Reverend Emilio Sheehan (den alle bloß »der Rev« nannten) saß alleine an seinem Stammplatz, der weiter von der Tür entfernt war als der andere Tisch. Er hatte dem Eingang den Rücken zugewandt, um jedem sofort klarzumachen, dass er für sich sein wollte. An diesem Abend hatte er eine Bibel mitgebracht, um darin zu lesen. Sie lag geöffnet vor ihm. An dem Tisch neben der Tür saßen zwei Männer, die nicht aus Midnight stammten. Sie waren mit ihren Getränken und der Speisekarte beschäftigt.
Obwohl Manfred sicher war, dass er noch nicht alle Bewohner Midnights kennengelernt hatte, war ihm sofort klar, dass die Familie, die in der U-förmigen Nische saß, ebenfalls nur auf der Durchreise war. Die vier wirkten zu … gestriegelt, um hier zu wohnen. Mama hatte geschickt gesträhnte Haare und Brustimplantate und trug eine offensichtlich teure, wenn auch lässige Hose und den dazu passenden Pullover. Dad trug Ich-bin-ein-reicher-Rancher-Klamotten (glänzende Lederstiefel und einen jungfräulichen Cowboyhut), und die Kinder – ein etwa drei- bis vierjähriger Junge und ein vielleicht zwei Jahre älteres Mädchen – sahen sich nach etwas zum Spielen um.
»Entschuldigen Sie!«, rief die Mutter Madonna zu, die Chuy gerade frischen Tee einschenkte. »Haben Sie vielleicht Buntstifte oder ein Spiel für die Kinder?«
Madonna drehte sich um und sah sie erstaunt an. »Nein«, antwortete sie. Dann stellte sie den Krug mit dem Tee auf dem Tresen ab und verschwand in der Küche.
Mom warf Dad einen vielsagenden Blick zu, als wollte sie sagen: Das gefällt mir nicht, aber ich will die Einheimischen nicht gegen uns aufbringen. Manfred nahm an, dass es wohl auf einen Planungsfehler seitens des Vaters zurückzuführen war, dass die Familie nun ihr Abendessen im Home Cookin zu sich nahm. Und er ging davon aus, dass Dad diese Tatsache sicher einige Tage lang zu hören bekommen würde. Die Laune der Familie hob sich allerdings erheblich, als Madonna mit einem riesigen Tablett mit vollen Tellern erschien. Das Essen sah gut aus und roch köstlich. Madonna hatte heute Abend Hilfe. Manfred erhaschte einen Blick auf eine weitere Person in der Küche, als die Schwingtür offen stand. Als die Familie schließlich zu essen begann, wurde es ruhig im Diner.
Manfred und Fiji hatten mittlerweile an dem großen runden Tisch Platz genommen. Er saß auf demselben Stuhl wie beim letzten Mal und blickte zur Eingangstür, während Fiji neben dem Mann mit dem Baby saß, als hätte sie darauf geachtet, dass zumindest zwei Stühle zwischen ihnen frei blieben. Vielleicht hatte sie seine Bemerkung über die Zaubertränke, die sie verkaufte, mehr verärgert, als er gedacht hatte. Joe und Chuy begrüßten Manfred zwar, konnten es allerdings kaum erwarten, Fiji von der Frau zu erzählen, die ein altes Buch vorbeigebracht hatte, damit Joe es sich ansah. Manfred bekam am Rande mit, dass es sich um einen Bericht über Hexen in Texas Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts handelte.
Madonnas Mann band dem Baby gerade ein Lätzchen um und schien überaus beschäftigt, weshalb Manfred beschloss, sich erst ein wenig später vorzustellen. In der Zwischenzeit beobachtete er die Männer an dem Tisch an der Tür. Die beiden Fremden passten besser hierher als die reiche Familie. Sie trugen beide abgetragene Jeans, alte T-Shirts und abgewetzte Stiefel. Der größere der beiden Kerle war dunkelhaarig und trug ein offenes kariertes Hemd über seinem T-Shirt. Sein Bart war sorgsam gestutzt. Der kleinere Mann hatte mittelbraunes Haar und war glatt rasiert. Manfred schätzte die beiden etwa auf Anfang dreißig.
Die Schwingtüren in die Küche öffneten sich erneut, und Manfred sah hinüber. Er musste seinen Kopf bloß ein wenig nach rechts drehen, um das Mädchen zu sehen, das gerade mit zwei Salaten aus der Küche trat. Manfreds Interesse war sofort geweckt. Sein Blick folgte ihr, als sie sich quer durch den Raum auf den Weg zu den beiden Männern machte. Sie stellte die Salate vor ihnen auf den Tisch, kehrte zum Tresen zurück, um noch zwei Päckchen Dressing und einen Korb Cracker zu holen und den beiden anschließend zu bringen. Manfred war sich durchaus bewusst, dass die Leute an seinem Tisch sich unterhielten, doch er achtete nicht weiter darauf.
Fiji plapperte gerade in Babysprache mit dem kleinen Kind, weshalb Manfred sich nach links lehnte. »Chuy, bitte entschuldige, aber wer ist das? Das Mädchen, das serviert.«
Einen Augenblick später wurde Manfred klar, dass sämtliche Gespräche am Tisch verstummt waren. Er sah zu Chuy, der neben ihm saß, und dann zu Fiji, Joe und dem dunkelhäutigen Kerl mit dem Baby. Die anderen betrachteten ihn amüsiert.
»Das ist Creek Lovell«, antwortete Chuy, und sein Grinsen wurde noch breiter.
»Ihrem Dad gehört das GasNGo gegenüber«, erklärte Fiji. »Ach, übrigens, das ist Teacher.« Sie deutete mit dem Kopf auf den dunkelhäutigen Mann.
»Sehr erfreut. Wie geht es der … dem … kleinen …« Er verstummte. Leider konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, ob das Baby ein Junge oder ein Mädchen war. »Grady!«, rief er schließlich triumphierend.
»Da hast du noch mal die Kurve gekratzt, Mann«, erwiderte Teacher. »Solange man keine eigenen hat, stehen Babys eben nicht ganz oben auf der Prioritätenliste. Ja, das hier ist Grady. Er ist acht Monate alt, und ich erledige Handwerkerarbeiten. Ruf mich an, falls du etwas zu reparieren hast.«
»Teacher kann einfach alles«, erklärte Joe. »Klempner-, Elektriker- und Zimmermannarbeiten.«
»Danke, mein Freund«, erwiderte Teacher mit einem strahlenden Lächeln. »Ja, ich bin ein praktischer Kerl. Ich helfe Madonna im Diner, und ab und zu arbeite ich für Shawn Lovell, wenn er sich mal einen Abend freinehmen will. Außerdem stehe ich auch als Aushilfe bei Bobo zur Verfügung. Ruf mich an, wenn du etwas brauchst.« Er holte eine Visitenkarte aus der Tasche und schob sie über den Tisch in Manfreds Richtung, der sie nahm und einsteckte.
»Ich kann alleine nur die allergrundlegendsten Handwerkerarbeiten erledigen, also werde ich das auf jeden Fall tun«, erwiderte Manfred, um gleich darauf zu einem interessanteren Thema zurückzukehren. »Also, wie alt ist Creek?«, fragte er. Sein Versuch, unbeeindruckt zu klingen, war ein totaler Reinfall. Das wusste er selbst.
Joe lachte. »Nicht alt genug«, antwortete er. »Aber warte mal, vielleicht ist sie das ja doch. Ja, sie hat letzten Mai die Highschool abgeschlossen. Wir haben ihr einen Geschenkgutschein für ein Einrichtungshaus geschenkt, damit sie ihr Zimmer im Studentenwohnheim einrichten kann. Aber offensichtlich geht sie gar nicht aufs College, zumindest nicht in diesem Semester. Weißt du etwas darüber, Fiji?«
Fiji runzelte die Stirn. »Ich glaube, bei ihrem Antrag auf ein Studentendarlehen ging irgendetwas schief«, erwiderte sie und runzelte die Stirn. »Scheinbar ging die Finanzierung nicht durch. Sie hofft noch immer, dass sich alles aufklärt, auch wenn ihr Dad nicht gerade begeistert ist, dass sie fortgeht. Creek tut mir leid. Erst konnte sie nicht aufs College, dann wurde ihr Welpe überfahren, und außerdem überwacht ihr Dad sämtliche Schritte der Kinder. Ein so junges und kluges Mädchen wie Creek sollte nicht hier in Midnight versauern.«
»Das ist wahr«, erwiderte Manfred. Obwohl die Größe für ihn keine entscheidende Rolle spielte, freute es ihn, dass Creek mindestens fünf Zentimeter kleiner war als er. Ihre schwarzen Haare reichten ihr bis knapp unters Kinn. Sie waren alle gleich lang und schwangen bei jedem Schritt vor und zurück. Ihre Haut war feinporig und rein, ihre Augenbrauen klare, dunkle Linien und ihre Augen hellblau.
Sie war nicht wirklich dünn, aber auch nicht wirklich kurvig. Nein, sie war genau richtig.
»Ich gebe dir jetzt mal einen guten Rat«, meinte Chuy. »Sieh zu, dass Shawn nicht mitbekommt, dass du sein kleines Mädchen auf diese Weise ansiehst. Er nimmt seinen Job als Dad sehr ernst.« Die Männer am Tisch grinsten, und sogar Fiji wirkte amüsiert.
»Natürlich tut er das«, erwiderte Manfred und riss sich aus seiner Trance. »Und ich will auf keinen Fall respektlos erscheinen«, fügte er hinzu. War es denn respektlos, dass er hoffte, eines Tages nackt mit Creek Lovell im Bett zu liegen? Und war es vielleicht sogar noch respektloser, dass er hoffte, es würde eher früher als später so weit sein?
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Joe.
»Zweiundzwanzig.« Na ja, beinahe dreiundzwanzig. Es war seltsam, sich jünger zu machen anstatt älter.
»Oh.« Das musste Joe erst einmal verdauen. »Du bist also eher in ihrem Alter als alle anderen in der Stadt.« Er sah seinen Freund an. Chuy zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wäre es sogar gut«, meinte er. »Aber denk immer daran, Manfred, wir haben dieses Mädchen alle sehr gern, und niemand will, dass sie verletzt wird.«
»Das hat natürlich oberste Priorität«, erwiderte Manfred, auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Die Art, wie Creek Lowell geschmeidig und makellos durch den Raum schwebte, hatte im Moment oberste Priorität. Er rief sich in Erinnerung, dass sie womöglich erst vor ein paar Monaten ihren Abschlussball besucht hatte … was die unwillkürliche körperliche Reaktion bei ihrem Anblick ein wenig dämpfte. Ein wenig.
Draußen war es noch nicht ganz dunkel, und die Familie auf der Durchreise hatte ihren Hackbraten und ihr gebratenes Hühnchen gerade aufgegessen. Das kleine Mädchen begann, auf ihrem jüngeren Bruder herumzuhacken, und Mom warf immer wieder verzweifelte Blicke in Richtung Küche. Dem Geklapper der Töpfe und Pfannen nach zu urteilen kochte Madonna, und Creek eilte aus der Küche, um den beiden Männern am Zweiertisch ihr Essen zu servieren. Sie stellte die Teller ab, warf ihnen ein unpersönliches Lächeln zu und hastete dann zu der Nische, um das Geld in dem schwarzen Plastiketui entgegenzunehmen, das Dad ihr entgegenhielt.
Kurz nach Sonnenuntergang klingelte die Glocke über der Tür erneut, und Bobo trat mit einem Mann ins Diner, den Manfred noch nie gesehen hatte. Manfred war bereits aufgefallen, dass sein Vermieter eine angenehme Farbzusammenstellung sein eigen nannte: Seine Haare waren golden, seine Augen hellblau und seine Haut gebräunt. Er war groß und kräftig. Sein Begleiter war hingegen eher … wie Bobo, den jemand gebleicht und getrocknet hatte, sodass er leicht eingefallen aussah. Seine Haare waren nicht golden, sondern platinblond. Genauso wie Manfreds Haare, außer dass es offenbar seine natürliche Haarfarbe war. Seine Augen waren hellgrau. Und seine Haut war …
»Weiß wie Schnee«, flüsterte Manfred und erinnerte sich an ein altes Märchen, das Xylda ihm einmal vorgelesen hatte. »Seine Haut war weiß wie Schnee.«
Joe warf einen Blick auf Manfred und nickte. »Alles cool«, flüsterte er leise. »Das ist Lemuel.«
Manfred nahm sich vor, so cool zu sein wie möglich, denn er war sich nicht sicher, was Lemuel eigentlich war – allerdings hatte leider niemand die nette Durchschnittsfamilie in der Nische darauf hingewiesen, dasselbe zu tun. Die Kinder verfielen in Schweigen, als sich der Neuankömmling im Diner umsah. Er lächelte die Kinder an, die vollkommen verängstigt wirkten. So verängstigt, dass sie die Klappe hielten, was eigentlich eine gute Sache war. Die beiden Männer hielten den Blick auf ihre Teller gerichtet, nachdem sie einmal kurz hochgesehen hatten, und bemühten sich ganz offensichtlich, es nicht noch einmal zu wiederholen.
Der Rev las weiter in seiner Bibel.
»Das ist ja mehr als seltsam«, flüsterte Manfred kaum hörbar vor sich hin, doch der bleiche Mann drehte sich dennoch zu ihm um und lächelte ihn an.
Oh mein Gott, dachte Manfred. Er verspürte den lächerlichen Drang, aufzuspringen und sich zwischen den bleichen Mann und Creek Lovell zu werfen, und es war auf alle Fälle gut für ihn, dass er diesem Drang nicht nachgab. Creek kam nämlich gerade mit dem Wechselgeld der Familie wieder, legte es auf deren Tisch und schlang anschließend die Arme um den Hals des bleichen Mannes – was Manfred für alles Geld der Welt nicht getan hätte. Dann meinte sie: »Onkel Lemuel! Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen! Wie geht es dir?«