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In dem einsam gelegenen Städtchen Midnight, Texas, bleibt jeder Bewohner gerne für sich. Doch selbst an diesem Ort der Geheimnisse ist Olivia Charity ein Rätsel. Sie lebt bei dem Vampir Lemuel – doch was sie tut, weiß niemand. Nur eines ist sicher: Sie ist wunderschön und gefährlich. Wie sehr, das findet ausgerechnet Manfred, ein gefragtes Medium, heraus, als er Olivia bei einem Auftrag in Dallas begegnet. Drei Tote später muss er sich fragen, wem er in Midnight trauen und wen er fürchten muss …
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Seitenzahl: 524
Das Buch
Das texanische Städtchen Midnight ist klein, ruhig und abgeschieden. Hier werden Neuankömmlingen keine aufdringlichen Fragen gestellt. Hier wird Privatsphäre noch groß geschrieben. Aber selbst den geheimniskrämerischen Einwohnern Midnights ist die atemberaubend schöne Olivia Charity ein Rätsel. Man weiß nur, dass sie mit dem Vampir Lemuel zusammenlebt und immer mal wieder für einige Zeit aus Midnight verschwindet – aus beruflichen Gründen, wie sie sagt. Als ihr Nachbar, der Hellseher Manfred Bernardo, in einem schicken Hotel in Dallas auf eine Klientin wartet, staunt er nicht schlecht, als er dort Olivia in Begleitung eines wohlhabenden Paares sieht. Keine vierundzwanzig Stunden später ist das Paar tot und Manfreds Klientin ebenfalls. Ehe er sichs versieht, gerät Manfred ins Visier der Polizei und die einzige, die ihm aus dem Schlamassel heraushelfen könnte, ist Olivia. Doch kann er ihr überhaupt vertrauen …
Die Autorin
Charlaine Harris wuchs im Mississippi-Delta auf und begann schon in frühen Jahren mit dem Schreiben. Sie ist eine der international erfolgreichsten Fantastikautorinnen der USA. Ihre bekannteste Romanserie True Blood um die hellsichtige Kellnerin Sookie Stackhouse wurde als große TV-Serie verfilmt. Charlaine Harris lebt mit ihrer Familie in Arkansas.
Mehr über Charlaine Harris erfahren Sie auf:
www.charlaineharris.com
Titel der amerikanischen Originalausgabe
DAYSHIFT
Deutsche Übersetzung von Sonja Rebernik-Heidegger
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Redaktion: Diana Mantel
Copyright © 2015 by Charlaine Harris
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe und der
Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlagillustration: Patrick Knowles
Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München,
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-22087-7 V002
www.heyne.de
Für meine Leserinnen und Leser,die bereit sind, mir überallhin zu folgen.
Es ist nicht das Rumpeln der Lastwägen, das Manfred Bernardos Aufmerksamkeit erregt, sondern vielmehr die plötzliche Stille, als auf einmal die Motoren abgestellt werden. Dass große Lastwägen durch Midnight donnern und vor der Ampel an der Kreuzung zwischen dem Davy Highway und der Witch Light Road langsamer werden (oder noch mal schnell Gas geben) kommt eigentlich sogar sehr oft vor. Nachdem das Haus, das Manfred gemietet hat, direkt an der Witch Light Road liegt, hat er sich mittlerweile an den Lärm gewöhnt, sodass er ihn normalerweise nur noch im Hintergrund wahrnimmt.
Doch das plötzliche Verstummen dieses Geräusches reißt ihn nun doch aus seinen Gedanken. Er ist schon aufgesprungen und hat die Tür aufgerissen, bevor ihm überhaupt bewusst wird, dass er sich mit dem Rollsessel von seinem Schreibtisch abgestoßen hat. Schnell schnappt er sich eine Jacke von dem Haken neben der Tür.
Vor dem Haus angekommen, wirft er einen Blick über die Straße und sieht, wie seine Freundin Fiji Cavanaugh in ihren Vorgarten tritt, der sich im Januar von seiner trostlosesten Seite zeigt.
Es ist ein – für texanische Verhältnisse – kalter, aber sonniger Tag. Fijis orangerot getigerter Kater, Mr. Snuggly, sonnt sich auf seinem momentanen Lieblingsplatz vor einem großen Topf, in dem Fiji im Frühling versuchen möchte, Gardenien zu pflanzen. Sogar Mr. Snuggly starrt in Richtung Westen.
Manfred nickt Fiji zu, die sich in einen warmen, wattierten Mantel gewickelt hat. Ihre Haare stehen unerklärlicherweise in zwei Zöpfen von ihrem Kopf ab, sodass sie aussieht wie ein sechsjähriges Mädchen. Dann wendet Manfred seine Aufmerksamkeit wieder den Lastwägen zu. Einer davon hat Baumaterialien geladen: Bretter, Ziegel, elektrische Kabel, Rohre, Eisenwaren. Zwei weiße Vans spucken mehrere kleine, dunkelhäutige Männer in Kapuzenpullovern aus – Pullis, die sicher überflüssig werden, sobald es wärmer wird. Eine große weiße Frau in hellbraunen Hosen und einer blauen Seidenbluse steigt aus einem Lexus. Es ist offensichtlich, dass sie hier das Sagen hat. Sie trägt eine Kunstpelzjacke, silberne Ohrringe und eine silberne Kette, und hat die Haare zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengefasst. Außerdem trägt sie eine Brille mit einem großen, viereckigen Schildpattrahmen, und ihr Lippenstift leuchtet in einem aggressiven Rot.
Sämtliche Fahrzeuge und ihre Insassen haben sich um das stillgelegte Río Roca Fría Hotel an der südwestlichen Ecke der Kreuzung versammelt. Soweit Manfred weiß, ist es schon seit Jahrzehnten geschlossen. Die Arbeiter beginnen augenblicklich, die Bretter von den Türen und Fenstern zu reißen und das uralte Sperrholz in eine riesige Mulde zu werfen, die ein weiterer Lastwagen auf dem Bürgersteig abgestellt hat. Kurz darauf schwärmen sie in das dunkle Innere des Hotels.
Ihr Anblick erinnert Manfred an einen riesigen Stiefel, der in einen alten Ameisenhaufen tritt.
Fünf Minuten später überquert Fiji die Straße und gesellt sich zu ihm. Gleichzeitig schlendert Bobo Winthrop die Stufen vor dem Eingang des Midnight Pawn, wo er arbeitet und wohnt, herunter. Das Pfandleihhaus liegt an derselben Kreuzung wie das Río Roca Fría Hotel, jedoch auf der schräg gegenüberliegenden Seite. Manfred muss (einigermaßen resigniert) feststellen, dass Bobo heute wieder auf unaufdringliche Weise attraktiv aussieht, obwohl er bloß ausgewaschene Jeans, ein uraltes T-Shirt und ein genauso altes Flanellhemd trägt. Bobo tritt neben Manfred und Fiji, und im selben Moment sieht Manfred, dass Teacher Reed aus der Tankstelle Gas’n’Go getreten ist, die sich auf westlicher Seite direkt gegenüber des Pfandleihhauses und auf nördlicher Seite direkt gegenüber des Hotels befindet. Seine Frau Madonna – eine außergewöhnliche Schönheit – steht auf dem Bürgersteig vor dem Home Cookin Restaurant und hält ihr Baby Grady im Arm, das sie in eine Decke gewickelt hat. Mit der anderen Hand schirmt sie sich die Augen vor der Sonne ab. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind Joe Strong und Chuy Villegas mittlerweile ebenfalls aus ihrer Antique Gallery und dem angeschlossenen Nagelstudio getreten. Joes Aussehen hält, was sein Name verspricht: Er ist sehr muskulös und scheint etwa vierzig zu sein. Chuy ist kleiner, und seine Haare werden langsam dünner. Seine Haut ist so braun wie gut gerösteter Toast.
Selbst der Rev kommt in seinem uralten schwarzen Anzug aus der weiß getünchten Kapelle und wirft einen Blick auf das Geschehen, der sich allerdings nicht deuten lässt.
Jetzt fehlen nur noch Olivia und Lemuel, denkt Manfred. Doch Lemuel kann natürlich unmöglich während des Tages ins Freie, und Olivia ist auf einer ihrer mysteriösen Geschäftsreisen.
Die Bewohner Midnights stehen noch eine Weile herum, beobachten die ganze Sache und denken nach, bis Joe Strong schließlich die Initiative ergreift und sich auf den Weg macht, quer über die Witch Light Road. Er schlägt sich durch die Horde von Arbeitern zu der Frau durch, die hier offensichtlich das Sagen hat und die scheinbar gerade einen Plan auf ihrem Klemmbrett studiert – obwohl ihre Körpersprache Manfred sofort verrät, dass sie sehr wohl mitbekommen hat, dass Joe sich auf dem Weg zu ihr befindet.
Die Frau dreht sich zu Joe um, setzt ein professionelles Lächeln auf und streckt ihm die Hand entgegen. Manfred fällt auf, dass sie groß genug ist, um Joe direkt in die Augen sehen zu können. Das, was sie sieht, scheint ihr zu gefallen. Joe ist gepflegt, gut aussehend und freundlich. Mal bewegt sich sein Mund, mal bewegt sich ihr Mund. Sie lächeln zwar beide, scheinen es aber beide nicht wirklich ernst zu meinen. Es ist fast wie bei einem Ritual, denkt Manfred. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie sich der Rev wieder in seine Kapelle zurückzieht, doch der Rest der Bewohner bleibt draußen.
Bobo wendet sich an Manfred. »Hast du irgendetwas davon mitbekommen?«, fragt er.
»Nein. Glaub mir, wenn es so wäre, hätte ich es euch sofort erzählt«, versichert Manfred seinem Vermieter. »Aber das hier ist wirklich eine große Sache, oder?«
Manfred merkt, dass ihn diese Entwicklung in der kleinen Stadt, in der er seit weniger als einem Jahr wohnt, auf lächerliche Weise in Aufregung versetzt. Reiß dich zusammen, ermahnt er sich selbst. Es ist ja nicht so, als wäre der Zirkus in die Stadt gekommen.
Aber irgendwie fühlt es sich genau so an, und auch Fijis rundes, hübsches Gesicht spiegelt Manfreds Neugierde wider. Ihre Augen leuchten.
»Was meint ihr?«, fragt sie und rollt nervös auf den Fußballen vor und zurück. »Das Hotel wird vermutlich wiederöffnet, oder? Aber wie wollen sie es an die heutigen Standards anpassen? Es ist doch schon seit so vielen Jahren geschlossen. Man müsste alles austauschen. Die Rohre, die elektrischen Leitungen … die Böden …«
Bobo nickt. »Ich war mal im Inneren des Hotels. Gleich, nachdem ich hierhergezogen bin, sind Lem und ich eines Nachts dorthin. Auf der Hinterseite gab es ein loses Brett, und Lem hat es aufgebrochen. Wir hatten Taschenlampen dabei. Er wollte es mir einfach mal zeigen.«
»Und wie war es?«, fragt Manfred.
»Verdammt gruselig. Die alte Rezeption mitsamt den Fächern für die Schlüssel und die Post war noch immer da. Die Lampen hingen einfach so von der Decke und waren mit Spinnweben überzogen. Es war wie in einem Horrorfilm. Die hohen Räume. Die Tapeten, die sich von den Wänden lösten. Der Geruch nach Mäusen. Wir sind allerdings nicht hinauf in den ersten Stock. Die Treppe dorthin war eine richtige Todesfalle.« Er lächelt. »Lem erinnert sich noch an die Zeit, als das Hotel geöffnet hatte. Es war wohl ziemlich hübsch damals.«
Lemuel ist über einhundertfünfzig Jahre alt, weshalb es nicht gerade verwunderlich ist, dass er sich an das Hotel in seiner Blütezeit erinnern kann.
»Aber warum sollte jemand Geld ausgeben, um es zu renovieren?«, fragt Manfred und spricht damit aus, was ihnen allen im Kopf herumschwirrt. »Wäre es nicht billiger, einfach ein neues Motel aufzustellen, wenn man der Meinung wäre, Midnight könnte ein Hotel vertragen?«
»Und wer will denn ausgerechnet hier die Nacht verbringen?«, und damit wirft Fiji eine weitere Frage auf, die sich die anderen ebenfalls schon gestellt haben. »In nördlicher Richtung gibt es drei Hotels in Davy, und in westlicher Richtung mindestens sechs in Marthasville. Und wenn man auf die Interstate fährt, hat man Dutzende Unterkünfte zur Auswahl. Außerdem gibt es im Home Cookin nicht einmal Frühstück.« Das Home Cookin ist das einzige Restaurant im Umkreis von fünfundzwanzig Kilometern.
Manfred, Fiji und Bobo hängen schweigend ihren Gedanken nach.
»Wie viele Zimmer hat das Hotel eigentlich?«, fragt Manfred Bobo schließlich.
Bobo sieht zu ihm hinunter, und seine Augen werden schmal, während er nachdenkt. »Ich glaube, es sind maximal zwölf«, meint er schließlich. »Im Erdgeschoss gibt es die Lobby, die Küche und den Speisesaal und außerdem noch eine uralte Telefonzelle, die wer weiß wann eingebaut wurde … in den Zimmern gibt es keine Badezimmer … also würde ich sagen, es sind acht kleine Zimmer im Erdgeschoss, plus einem Badezimmer und den Gemeinschaftsräumen, und vier größere Zimmer plus zwei Badezimmer im ersten Stock. Lem meinte, dass im zweiten Stock das Lager und die Personalunterkünfte untergebracht waren.«
Fiji packt Bobos Arm. »Sagtest du Speisesaal?«
»Ja«, erwidert er und scheint für einen Moment überrascht, sie so aufgewühlt zu sehen. »Oh, ich verstehe. Die Reeds.«
»Ich kann mir auch jetzt schon nicht erklären, wie es das Home Cookin Restaurant schafft, sich überhaupt über Wasser zu halten. Denkt doch mal nach. Wie funktioniert das?« Manfred hebt fragend die Hände.
Doch Bobo und Fiji ignorieren Manfreds Frage. Sie sind einfach froh, dass es eine so hervorragende Köchin wie Madonna nach Midnight verschlagen hat.
»Wenn sie den Speisesaal nicht wiedereröffnen …«, beginnt Bobo.
»Dann ist es auf jeden Fall eine gute Sache«, beendet Fiji seinen Gedanken. »Im Home Cookin Restaurant wäre mehr los und in der Tankstelle auch. Vielleicht würden sogar Joe und Chuy mehr Antiquitäten verkaufen und Nägel maniküren.«
»Hmm«, meint Manfred. »Das wäre dann wohl in Ordnung.«
Obwohl er eigentlich nicht will, dass sich etwas verändert, muss er wohl oder übel zugeben, dass ein wenig mehr Einkommen dem Städtchen sicher guttun würde. Sein Unternehmen dagegen funktioniert über Telefon und Internet, sodass zumindest er nicht auf Laufkundschaft angewiesen ist.
Manfreds Telefon klingelt, und er holt es aus seiner Tasche. Er muss nicht auf das Display sehen, um zu wissen, dass es Joe ist, der mittlerweile wieder bei Chuy im Laden steht.
»Wir müssen uns heute Abend treffen«, erklärt Joe ohne lange Vorrede. »Vielleicht kann Fiji mit dem Rev reden, und Bobo kann es Lem sagen. Ist Olivia in der Stadt?«
»Ich glaube nicht. Wann treffen wir uns?«
»Wir treffen uns hier im Laden, wenn es dunkel ist.« Es folgt gedämpftes Gemurmel, als Joe Chuy eine Frage stellt. »Passt sieben Uhr?«
»Gut. Ich sage es den anderen.«
»Bis dann.«
Manfred legt auf und gibt die Information weiter.
»Ich gebe dem Rev Bescheid, aber man weiß ja nie, ob er kommt«, meint Fiji mit einem Schulterzucken.
»Und ich lege eine Nachricht für Lemuel in den Keller«, erklärt Bobo. »Er wird sie sehen, sobald er wach ist. Vielleicht ist Olivia ja bis dahin schon wieder zurück.«
Als die Arbeiter und auch die große Frau verschwunden sind, versammeln sich die Bewohner Midnights an diesem Abend in der Antique Gallery. Ab und zu hören sie Rasta, der einen Stock höher in der hübschen Wohnung, die sich Joe und Chuy teilen, bellt. »Ich dachte, er würde vielleicht Grady wecken, wenn er hierbleibt«, erklärt Chuy. »Er wird sich gleich beruhigen.«
Tatsächlich gibt Rasta keinen Laut mehr von sich, als schließlich alle da sind. Das Nagelstudio befindet sich in der rechten vorderen Ecke des Ladens, und die entstaubten und ansprechend angeordneten Antiquitäten nehmen den Rest des Raumes in Anspruch. Joe hat einige Klappstühle und ein altes Zweiersofa um einen Büfetttisch arrangiert. Chuy und er haben Limonade und Eistee gemacht, und es gibt außerdem mehrere Flaschen Wein und ein Tablett mit Käse und Crackern. Fiji hat eine Schüssel mit gerösteten und gesalzenen Pecanüssen mitgebracht. Manfred versucht, höflich zu sein, aber es fällt ihm schwer, sich nicht gleich einfach eine Handvoll zu nehmen.
Nachdem sie alle etwas zu trinken und essen haben, sucht sich jeder einen Platz.
Madonna und Teacher lassen sich mit Grady, der an Madonnas Brust döst, auf dem Zweiersofa nieder. Madonnas Verhalten wirkt immer irgendwie abgehoben, und sie ist ein wenig Furcht einflößend und nie wirklich freundlich. Ihr Mann Teacher betreibt momentan die Tankstelle, bis ein neuer Pächter dafür gefunden ist. Er ist der Handwerker des kleinen Städtchens. Teacher kann einfach alles. Seit er den ganzen Tag über in dem Laden arbeitet, der an die Tankstelle angeschlossen ist, bleiben allerdings viele Dinge unerledigt, und alle freuen sich darauf, wenn irgendwann alles endlich wieder seinen gewohnten Gang gehen wird. Teacher mit eingeschlossen. Grady kann mittlerweile bereits alleine sitzen und wird bald zu laufen beginnen, und Madonna macht sich bereits Gedanken darüber, wie sie kochen soll, während er durch die Küche stolpert.
Joe tritt vor die bunt zusammengewürfelten Stühle, auf denen die anderen Platz genommen haben, und beginnt: »Also, bisher konnte ich Folgendes in Erfahrung bringen …«
Seine Gäste verstummen und hören aufmerksam zu.
»Die Frau, die für die Baustelle zuständig ist, heißt Eva Culhane. Sie ist nicht die Besitzerin, sondern bloß die Vertreterin vor Ort. Ich weiß nicht, wer der Besitzer oder die Besitzerin ist, und Culhane gibt sich diesbezüglich sehr verschlossen. Aber sie hat mir Folgendes erzählt: Das Hotel wird wiedereröffnet. Die acht ursprünglichen Zimmer im Erdgeschoss werden in vier größere Zimmer mit angeschlossenem Bad umgewandelt, und die vier Zimmer im ersten Stock werden ebenfalls umgebaut. Sie sollen längerfristig vermietet werden.«
Alle schnappen nach Luft, und es ist offensichtlich, dass es Hunderte Fragen gibt.
»Wartet!«, meint Joe. »Wartet.«
Es wird leise gelacht, doch eigentlich sind alle viel zu neugierig und auch zu besorgt, um wirklich amüsiert zu sein.
»Die längerfristig vermieteten Zimmer sind für Leute gedacht, die eine Zeit lang in der Gegend arbeiten. Zum Beispiel für Leute, die einen Dreimonatsvertrag bei Magic Portal haben. Und für ältere Menschen, die auf einen Platz in einem Altenheim warten. Nebenbei bemerkt hat Culhane mir erzählt, dass es für sämtliche Plätze in den Altenheimen im Umkreis von hundert Kilometern Wartelisten gibt. Die restlichen Zimmer werden als normale Hotelzimmer genutzt. Zwei Hotelangestellte werden in Zukunft in Midnight leben, außerdem gibt es noch eine Köchin, die Frühstück für die Hotelgäste anbietet. Mittag- und Abendessen werden nur für die längerfristigen Bewohner bereitgestellt, soweit ich informiert bin.«
Madonna entspannt sich sichtlich. Sie hat einige Gäste, die von der Internetfirma Magic Portal zu ihr kommen (dank Magic Portal hat Midnight einen außergewöhnlich guten Internetzugang), und außerdem finden ab und zu die Farmer der umliegenden Ranches den Weg zu ihr. Ihre Stammgäste sitzen allerdings allesamt gerade mit ihr in diesem Zimmer. Mehr Gäste wären also durchaus willkommen. Und ältere Leute mögen ja normalerweise genau die traditionelle Kost, die Madonna anbietet.
»Was für Angestellte werden das sein?«, fragt Fiji.
»Ich weiß nur, dass zwei Angestellte hier wohnen werden«, wiederholt Joe.
»Ist eine davon vielleicht eine Krankenschwester oder sonst irgendwie medizinisch ausgebildet?«, fragt Bobo. »Es klingt, als würden sie etwas in der Art brauchen. Und außerdem brauchen sie vermutlich ein Zimmermädchen. Meiner Meinung nach sind es zu viele Zimmer für eine Person, und dann sind da ja auch noch das Geschirr und die Vorbereitungen für das Essen.«
»Gute Frage. Das müssen wir noch herausfinden.« Joe wirkt etwas verärgert, weil er nicht selbst daran gedacht hat.
»Hat Miss Culhane dir gesagt, wie der Zeitplan für die Renovierung aussieht?«, fragt Fiji.
»Sie meinte, dass sie auf eine Eröffnung in sechs Monaten hoffen.«
Einen Moment lang herrscht absolute Stille.
»Die müssen ja eine Menge Geld haben«, meint Teacher Reed schließlich, und Bobo nickt. »Das ist aber ein rasanter Umbau.«
Olivia, die erst vor einer Stunde nach Hause gekommen ist, meldet sich zum ersten Mal zu Wort. Sie sitzt neben Lemuel, dem Vampir, der gleichzeitig auch ihr Partner ist, und sieht erschöpft aus. Niemand spricht sie auf die offensichtlich bandagierte Schulter unter ihrem Shirt an. »Wir müssen herausfinden, wem das Unternehmen gehört, das die Renovierung übernommen hat«, meint sie.
»Manfred, kannst du das für uns erledigen?«, fragt Joe.
Manfred kennt sich von allen Bewohnern Midnights am besten mit Computern aus, aber er ist kein Hacker. Er weiß einfach, wo sich gewisse Informationen finden lassen. »Ich kann es versuchen«, antwortet er. Joe reicht ihm eine Broschüre, die er von Eva Culhane bekommen hat. Der Name des Unternehmens lautet MultiTier Living. Olivia streckt schweigend die Hand aus, und Manfred gibt ihr das Heftchen. Sie betrachtet es eingehend, bevor sie es ihm wiedergibt.
Nachdem alle gesagt haben, was ihnen auf dem Herzen liegt (und manche sogar mehr als einmal), bietet Lemuel Olivia beim Hinausgehen seinen Arm an. Die anderen Bewohner gehen getrennte Wege: Teacher, Madonna und der schlafende Grady überqueren die Straße und gehen am Home Cookin Restaurant vorbei zu dem ungewöhnlich breiten Trailer, der hinter dem Diner steht. Der Rev begleitet sie ein Stück, biegt dann jedoch nach rechts zu dem schmucklosen kleinen Häuschen ab, in dem er lebt. Er hat das ganze Treffen über kein Wort gesagt, aber er hat von dem Käse, den Crackern und den gerösteten Pecanüssen gegessen.
Die Bewohner, die östlich des Davy-Highways leben (Bobo, Manfred und Fiji) brechen gemeinsam auf, und Fiji hat den Plastikbehälter mit den übrig gebliebenen Pecanüssen dabei. Sie gibt ihn an Bobo weiter. »Du und Manfred könnt sie euch teilen«, meint sie. »Ich habe noch genug zu Hause.« Fiji sieht kurz in beide Richtungen, bevor sie die Witch Light Road überquert. Ihr orangeroter Kater, Mr. Snuggly, wartet bereits auf sie, und Bobo und Manfred sehen zu, wie die Frau und der Kater durch die vordere Eingangstür ins Haus treten.
»Streck die Hände aus«, meint Bobo zu Manfred. Manfred zieht ein Stofftaschentuch aus seiner Tasche und breitet es aus, um die Hälfte der Nüsse aufzufangen. Er schlägt die Ecken übereinander und nickt Bobo dankend zu, bevor sich dieser auf den Weg zur seitlichen Eingangstür des Pfandleihhauses macht, hinter der eine Treppe in seine Wohnung hochführt.
Manfred öffnet die Tür in sein kleines Haus, das er von Bobo gemietet hat. Er geht an dem riesigen, geschwungenen Schreibtisch vorbei, auf dem sich sein gesamtes Computerequipment befindet, durch das kleine Arbeitszimmer (das ihm als Ess- und Wohnzimmer dient) und in die Küche im hinteren Teil des Hauses. Gerade ist er satt und nicht wirklich durstig, aber er beschließt, sich trotzdem einen Becher heiße Schokolade zu kochen, bevor er zu Bett geht. Heute wird er eine zusätzliche Decke brauchen. Ihm läuft ein unerklärlicher Schauer über den Rücken, wenn er nur daran denkt, dass hier bald fremde Leute wohnen werden, und er will heute Nacht nicht frieren.
Am nächsten Morgen setzt sich Manfred vor seinen Computer und gibt den Namen »MultiTier Living« in eine Suchmaschine ein. Er liest die vom Unternehmen verfasste Beschreibung, die jedoch so vage ist, dass sie keine wirklichen Informationen bietet. MultiTier bietet Wohnungen aller Art an, einschließlich »längerfristiger Hotelunterkünfte«, sowie die kurzfristige Unterbringung von älteren oder gerade erst geheilten Menschen … vorausgesetzt, sie brauchen keine besondere medizinische Betreuung. Manfred scrollt durch das nichtssagende Geschwätz und die Bilder der vollkommen gesund wirkenden älteren Menschen, die ihren aufmerksamen Pflegern ein Lächeln schenken oder sich in ihren kleinen Wohnungen entspannen. Schließlich stößt er auf einen weiteren Namen: Chisholm Multinational.
Er gibt den Namen in die Suchmaschine ein, und die Website, auf die er stößt, ist so riesig, dass sie ihm beinahe Angst einjagt. Chisholm Multinational arbeitet in derart vielen Bereichen, dass er Stunden auf der Website zubringen könnte. Das Unternehmen gleicht einem Oktopus.
Ein Arm umfasst zahllose Hotels und medizinische Einrichtungen. Es werden normale Hotelunterkünfte im höheren Preissegment, Rehabilitationszentren, Pflegeheime für Alzheimerpatienten sowie für Menschen mit psychischen Problemen und Krebserkrankungen angeboten.
Ein weiterer Zweig des Unternehmens umfasst mehrere Baufirmen. Manfred erkennt natürlich den Zusammenhang. So ist es möglich, die Hotels und Unterkünfte gleich selbst zu bauen. Ein dritter Zweig bietet Instandhaltungsdienste an, und auch das ist nachvollziehbar. Immerhin muss man die Gebäude, die man für Reisende und kranke Menschen gebaut hat, immer in Schuss halten.
Manfred rollt von seinem Schreibtisch zurück und beschließt, sich eine Tasse Tee zu kochen. Er muss den Mann, der Chisholm Multinational vorsteht, unwillkürlich bewundern. Scheinbar handelt es sich dabei um den Enkelsohn des Firmengründers. Manfred fragt sich, ob dieser Kerl eigentlich eine Ahnung hat, womit sich die zahllosen Zweige seines Unternehmens beschäftigen … oder wo sich Midnight, Texas, überhaupt befindet. Er stellt sich eine Gruppe Anzugträger vor, die sich um eine große Karte versammelt haben und auf den stecknadelgroßen Punkt hinunterblicken, der das Zuhause von Manfred, dem Rev, Fiji, Bobo, Chuy, Joe und der Familie Reed ist … den Bewohnern dieses kleinen Städtchens, das beinahe einer Geisterstadt gleicht.
Und er spürt einen Widerwillen in sich hochsteigen, der beinahe an Angst grenzt.
1
Fünf Monate später checkte Manfred Bernardo in das exklusive Hotel Vespers ein, das sich am Rand von Bonnet Park und damit in einem der ältesten und »hübschesten« Teile der Stadt Dallas befand. Tatsächlich glich Bonnet Park einer eigenen kleinen Stadt in der Stadt.
Manfred hatte überlegt, dass seine Klienten nach einer langen und mühsamen Fahrt durch die Innenstadt wahrscheinlich so aufgedreht zu ihm ins Hotel kommen würden, dass sie nicht in der richtigen Stimmung für eine Sitzung waren, und so hatte er das Vespers vor allem wegen seiner Lage etwas außerhalb der Stadt ausgesucht. Der zweite Grund war die Ausstattung hier.
Das Innere des Hotels kombinierte moderne Linienführung und verschiedene Grautöne mit leuchtenden Stoffen und beinahe lebensgroßen Reh- und Löwenskulpturen. Die Rehe wirkten verwirrt, und die Löwen bleckten die Zähne, was wohl beides eine angemessene Reaktion war, wenn man sich plötzlich in einer solchen Umgebung wiederfand. Im Hintergrund spielte leise Techno-Musik in Dauerschleife, und die Angestellten an der Rezeption sahen aus, als hätte man sie von einem Fotoshooting für Outdoor-Bekleidung entführt: jung, attraktiv, gesund und sportlich. Alles in allem eben Menschen, denen es nichts ausmachte, sich ständig in einem der vielen Spiegel zu sehen, die als weiteres Stilelement dienten.
Manfred selbst war nicht gerade oft im Freien unterwegs, wobei das zum Teil auch auf seinen Beruf zurückzuführen war. Als Telefonhellseher, der zusätzlich mehrere Websites betreute, verbrachte er seine Zeit ständig in Reichweite seiner Telefone und seines Computers, weshalb er ziemlich blass war. Außerdem war er nicht wirklich groß und muskulös und sah durch seine zahlreichen Piercings und Tätowierungen auch nicht gerade freundlich aus. Trotzdem zog er eine bestimmte Art Frauen an, und er hatte seinen eigenen Charme – zumindest hatte man ihm das gesagt.
Die Rezeptionistin, die seine Anmeldung entgegennahm, gehörte allerdings nicht zu den Frauen, die sich für seinen Charme begeisterten.
»Wollen Sie vielleicht für heute Abend einen Tisch im Vespers Veneto reservieren?«, fragte sie und lächelte freundlich.
Eigentlich war er versucht, sich einfach nur etwas auf sein Zimmer zu bestellen. Doch dann sagte Manfred sich, dass er sich so oft wie möglich unter Menschen begeben sollte, solange er in der Stadt war, nachdem es in Midnight ja so wenige davon gab. Er verspürte sogar ein gewisses Verlangen nach Fremden. »Ja«, erwiderte er. »Das wäre perfekt. Einen Tisch für eine Person. Um acht Uhr.« Er verwendete das Wort »perfekt« vorsorglich und hoffte, dass sie es nicht wiederholen würde.
»Perfekt«, murmelte sie automatisch, während sie die Reservierung in den Computer eingab. Manfred wünschte, es wäre jemand bei ihm gewesen, zu dem er sich umdrehen und die Augen verdrehen konnte. Stattdessen warf er einen Blick in den Spiegel hinter der Rezeptionistin, und zu seiner Überraschung sah er jemanden, den er kannte. Er wollte bereits den Mund öffnen und »Olivia!« rufen, doch als er Olivia Charity über den Spiegel hinweg in die braunen Augen sah, schüttelte diese kaum merklich den Kopf.
»Benötigen Sie sonst noch etwas, Mr. Bernardo?«, fragte die junge Rezeptionistin und sah ihn ein wenig besorgt an.
»Nein, nein«, erwiderte er hastig und nahm das kleine Mäppchen, in dem sich die Schlüsselkarte aus Plastik befand. »Danke«, fügte er noch rasch hinzu.
»Die Aufzüge sind dort drüben«, erklärte sie und deutete nach rechts. »Hinter dem Spiegel.«
Natürlich, meinte er murrend zu sich selbst, während er um die Spiegelwand herumging und vor die Aufzüge trat. Als sich schließlich eine der Türen zischend vor ihm öffnete, sah er sein genervtes Gesicht in dem Spiegel an der Rückwand des Aufzuges. Er fuhr schweigend nach oben. Aus reiner Gewohnheit sah er nach rechts und links den Flur hinunter, bevor er ausstieg, doch er konnte keine Sicherheitskameras entdecken. Das bedeutete zwar nicht, dass sie nicht trotzdem da waren, aber es verwunderte ihn in einem Hotel wie dem Vespers, das aufgrund seines angeberischen Aussehens und der hohen Preise zweifellos einige wohlhabende und berühmte Gäste anzog.
Trotz der Kosten hatte sich Manfred für eine Suite entschieden, wo er in Ruhe seine Sitzungen abhalten konnte. Wäre er aus einem anderen Grund unterwegs gewesen, hätte er sich mit einem billigen Motel begnügt. Er selbst brauchte bloß ein Bett und ein – vorzugsweise sauberes – Badezimmer. Doch seine Klienten hatten eine höhere Meinung von ihm – und dadurch auch von sich selbst –, wenn sie ihn in einer offensichtlich kostspieligen Umgebung aufsuchten.
Manfred bemerkte erfreut, dass das Wohnzimmer der Suite tatsächlich sehr großzügig bemessen war. Es gab eine Couch, einen Lehnstuhl, einen Fernseher, eine Bar, eine Mikrowelle und einen kleinen runden Esstisch mit zwei Stühlen, die perfekt für seine Sitzungen waren. Das Schlafzimmer war so gemütlich wie erhofft, und das Badezimmer war mehr als in Ordnung. Es dauerte nicht lange, bis Manfred seine Klamotten ausgepackt hatte (er hatte für dieses Wochenende ausschließlich Schwarz eingepackt). Anschließend legte er seinen Terminplan, seine Tarot-Karten, den Spiegel und ein Samtkissen für die Gegenstände, die seine Klienten für ihn mitbringen würden, auf den runden Tisch. Er hatte zwar selten Visionen, wenn er Gegenstände berührte, doch ab und zu half es ihm dabei, etwas deutlicher zu erkennen.
Manfred verspürte eine gewisse Vorfreude beim Anblick der vertrauten Gegenstände. Persönliche Sitzungen mit seinen Klienten waren aufregend, weil er die Möglichkeit hatte, das Beste aus seiner Gabe herauszuholen. Aus diesem Grund waren sie jedoch gleichzeitig ermüdend und manchmal sogar Furcht einflößend. Er hatte zwei Sitzungen für Samstagvormittag und drei weitere für Samstagnachmittag geplant und würde dasselbe auch am Sonntag wiederholen, bevor er am Montagvormittag schließlich nach Midnight zurückfahren wollte.
Doch heute Abend würde er sich entspannen und den Tapetenwechsel und den ungewohnten Luxus genießen. Das hier war meilenweit von seinem kleinen Haus in Midnight entfernt. Dort hatte die Badewanne Löwenfüße, und der Duschkopf war erst sehr viel später eingebaut worden. Es gab kaum genug Platz, um sich um die eigene Achse zu drehen, während er in diesem gefliesten Wunder sogar ein Tänzchen wagen konnte und es multifunktionale Duschköpfe und zwei Waschbecken gab. Es wird Zeit, sich zu duschen, umzuziehen und zu Abend zu essen, dachte er vergnügt. Er hatte das kurze Zusammentreffen mit Olivia Charity bereits wieder verdrängt.
Manfred fühlte sich überaus weltmännisch, als er schließlich nach unten fuhr. Obwohl er vermutete, dass so etwas in einem schicken Restaurant nicht gerne gesehen wurde, hatte er seinen E-Reader mitgebracht. Er starrte nicht gerne ins Leere, und außerdem war er gerade mitten in einem Buch über die Fox-Schwestern, die Begründerinnen der Geisterbeschwörung. Sein Mobiltelefon war ebenfalls mit dabei.
Die Plätze für Gäste, die alleine aßen, befanden sich oft in einer weniger attraktiven Ecke des Restaurants, doch im Veneto war an diesem Abend nicht viel los, sodass Manfred eine hufeisenförmige Koje für sich alleine hatte. Sie grenzte mit dem Rücken an eine weitere Koje, die sich allerdings in die andere Richtung öffnete. Dank der allgegenwärtigen Spiegel hatte er einen sehr guten Blick auf den gesamten Raum und auch auf sämtliche Gäste. Nachdem er bestellt hatte, gelangte Manfred schließlich zu dem Schluss, dass er beinahe zu viel sah. In seinem schwarzen Anzug wirkte er wie eine Krähe auf einer Gänseblümchenwiese, denn die anderen Gäste trugen leichte Sommerfarben, wie es für Juni angemessen schien.
In dem Spiegel, der hoch oben an der gegenüberliegenden Wand hing, entdeckte er schließlich eine weitere Person, die Schwarz trug. Es war eine Frau. Sie saß direkt hinter ihm in einer Koje, zusammen mit einer weiteren Frau und einem Mann. Obwohl Manfred seinen E-Reader bereits aktiviert hatte, hob er mehrmals den Blick, weil ihm der Kopf und die Schultern der Frau bekannt vorkamen. Nachdem er sie drei- oder viermal gemustert hatte, wurde ihm klar, dass es sich wieder um Olivia Charity handelte. Er hatte Olivia allerdings noch nie so herausgeputzt gesehen, und er war überrascht, wie edel und wunderschön sie aussah.
In Midnight trug Olivia Jeans, T-Shirts und Stiefel und kaum Make-up oder Schmuck. Die Augen der Dallas-Version waren hingegen stark geschminkt, ihre Haare waren im Nacken zu einer makellosen Rolle eingedreht, und ihr ärmelloses, schwarzes Kleid glänzte seidig. Dazu trug sie eine Kette aus einander überlappenden Blättern. Manfred nahm an, dass die Kette aus Jade bestand, auch wenn er keine Ahnung von Edelsteinen hatte.
Manfred konnte von seinem Platz aus nur immer wieder einen kurzen Blick auf Olivias Gesicht erhaschen, doch ihre beiden Begleiter schienen ins Gespräch vertieft, weshalb er sie ungeniert beobachten konnte. Sie waren beide Ende fünfzig oder sogar Anfang sechzig und auf jeden Fall gut erhalten. Die Haare der Frau waren in jedem Fall blond gefärbt, allerdings so gelungen, dass sie einem nicht gleich ins Auge stachen. Sie sah aus wie eine Tennisspielerin. Ihr Schmuck funkelte auffällig.
Der Mann hatte graue Haare, die gepflegt und gut geschnitten waren, und er trug einen Anzug, der vermutlich sehr teuer gewesen war.
Aber sie sprechen nicht über Tennis, dachte Manfred bei sich. Für einen unbedarften Beobachter sah es so aus, als würden sich die beiden angeregt mit Olivia unterhalten, doch Manfred war nicht nur von Natur aus, sondern ebenso von Berufs wegen ein scharfer Beobachter. Das Paar lächelte immer wieder wissend, zwinkerte sich zu und stieß sich in die Seite, sodass er sicher war, dass die beiden gerade in aller Öffentlichkeit über Sex sprachen.
Manfred hatte gerade zu Ende gegessen, als die drei ihr Gespräch schließlich beendeten. Das Ehepaar verließ das Restaurant gemeinsam. Manfred sah, wie die Frau etwas aus ihrer winzigen Handtasche fischte und es unauffällig in Olivias Hand gleiten ließ. Eine Schlüsselkarte. Hah, das hätte ich nicht gedacht, staunte er. Er hatte immer schon überlegt, was es mit seiner mysteriösen Nachbarin auf sich hatte, die eine Wohnung im Keller des Pfandleihhauses gemietet hatte.
Manfred hatte Olivia im Jahr zuvor zur gleichen Zeit kennengelernt, zu der er auch Bekanntschaft mit Lemuel Bridger, Bobos zweitem Untermieter, gemacht hatte. Niemand hatte ihm Näheres über seine Nachbarn erzählt, denn in Midnight wurde schon aus Prinzip nicht über die anderen Bewohner getratscht. Trotzdem war Manfred mit der Zeit dahintergekommen, dass Olivia einen mysteriösen Job hatte, für den sie immer wieder auf Reisen ging. Und er hatte beobachtet, dass Olivia manchmal in schlechter Verfassung nach Midnight zurückkehrte. Unter anderem war ihm auch schon der Gedanke gekommen, dass Olivia womöglich als Prostituierte arbeitete. Doch nachdem er sie näher kennengelernt hatte, hatte ihn etwas an der Art, wie sie sich gab, von dieser Idee abgebracht.
Und obwohl das Abendessen mit dem älteren Paar ganz danach ausgesehen hatte, konnte er es immer noch nicht glauben. Was hat sie vor?, fragte er sich. Er warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Sieben Minuten später erhob sich Olivia und verließ das Restaurant. Sie ging direkt an ihm vorbei, doch sie hob nicht einmal eine Augenbraue, um ihm zu zeigen, dass sie ihn erkannt hatte.
Manfred ging etwa drei Minuten später, doch er traf Olivia nicht wie erwartet bei den Aufzügen. Tatsächlich sah er sie den ganzen Abend nicht mehr wieder. Am frühen Morgen wachte er kurz auf, weil es sich so anhörte, als gäbe es einen kleinen Tumult im Flur vor seinem Zimmer im dritten Stock, doch nachdem der Lärm rasch vorbei war, schlief er noch eine weitere Stunde.
Als er etwas später aus dem Zimmer trat, um im Coffee-Shop des Hotels zu frühstücken, karrte die Polizei gerade eine Leiche in einem Sack aus einem Zimmer, das etwas näher an den Aufzügen lag als seines.
Ach du Scheiße, was hat Olivia bloß getan?, fragte sich Manfred in diesem Moment.
Er blieb im Türrahmen stehen, bis die fahrbare Trage im Aufzug für die Hotelbediensteten verschwunden war. Als er sich schließlich den Flur hinunter auf den Weg zu den Gästeaufzügen machte, hielt ihn ein Polizist mit Klemmbrett auf und bat ihn um seinen Namen. Manfred sagte ihn, und der Polizist hakte den Namen auf seiner Liste ab. »Einer meiner Kollegen wird später mit Ihnen sprechen«, erklärte der Cop. »Sie müssen im Hotel bleiben, bis Sie befragt wurden.«
»Ich werde hierbleiben.« Manfred versuchte, angemessen ernst und unschuldig zu klingen. »Gehe ich recht in der Annahme, dass einer der Gäste verstorben ist?«
»Zwei. Aber mein Kollege wird Ihnen alles erzählen, was Sie wissen müssen.«
Manfred trat in den Aufzug, und seine Gedanken liefen im Kreis wie ein Hamster in seinem Rad. Ihm wurde bewusst, dass er keine Sekunde lang angenommen hatte, Olivia könnte nichts mit der Sache zu tun haben. Genauso wenig, wie er davon ausging, dass die Leiche in dem Sack jemand anderes gewesen sein könnte als der Mann oder die Frau, mit denen Olivia am Abend zuvor gegessen hatte.
Als er aus dem Aufzug trat, schien ihm die ansonsten so stoische, mit Techno-Musik beschallte Lobby des Vespers vollkommen verändert. Heute sah man eine ansehnliche Menge Menschen in den Spiegeln, von denen der Großteil eine Polizeiuniform trug. Manfred seufzte. Er bezweifelte, dass jemals so viele Polizisten im Vespers gewesen waren, sei es nun in Uniform oder zivil. Die Angestellten wirkten heute nicht so schick wie sonst, sondern eher verängstigt und aufgeregt zugleich.
Er entdeckte Olivia in dem sonnigen Frühstücksrestaurant. Sie saß an einem Tisch für zwei und sah dieses Mal eher wie die Frau aus, die er kannte. Heute trug sie kaum Make-up, eine dünne Bluse und Kakihosen. Manfred wandte absichtlich den Blick ab (Ich habe diese Frau noch nie gesehen!), doch als die Kellnerin zu ihm trat, um ihm einen Platz zuzuweisen, rief Olivia ihn mit einem Kopfnicken zu sich.
»Ich habe gerade eine Freundin entdeckt«, erklärte er der Kellnerin und ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Olivia sinken. Sie hatte ihren Obstteller und den Joghurt kaum angerührt. Während er sich setzte, bedeutete sie der Kellnerin, ihr frischen Kaffee zu bringen.
»Du meine Güte, Manfred!«, meinte Olivia und versetzte ihm einen leichten Klaps auf den Arm. »Ich wusste gar nicht, dass du auch in Dallas bist!«
»Ja, ebenfalls«, meinte er genauso leise, sodass ihn maximal die Kellnerin hören konnte. »Ich dachte, ich hätte dich gestern schon gesehen, aber dann habe ich mir gesagt: ›Nein, das kann unmöglich Olivia sein.‹« Seine Stimme klang beiläufig, aber er wusste, dass sein Gesicht eine andere Sprache sprach.
Die Kellnerin kam mit einer frischen Kanne Kaffee, um Olivias Tasse wieder aufzufüllen, und Manfred nutzte die Gelegenheit, um ein großes Frühstück zu bestellen. Er würde heute noch eine Menge Energie brauchen.
Olivia setzte ein ernstes Gesicht auf und meinte: »Es war ein ähnlich seltsamer Zufall, als ich gestern die Devlins traf. Ich glaube, ich habe sie schon seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Sie haben allerdings so gewirkt, als würde es ihnen gut gehen. So normal. Ich verstehe es einfach nicht.«
Dann waren die beiden Toten also wirklich die Devlins gewesen.
»Ich kenne die beiden nicht«, erwiderte Manfred bestimmt und vielleicht ein wenig lauter als notwendig. »Aber ich habe gesehen, wie eine Leiche weggebracht wurde, aus einem Zimmer etwas weiter den Flur hinunter. Der Polizist wollte mir nicht sagen, was geschehen ist. Aber es sieht so aus, als wüsstest du darüber Bescheid?«
»Ja, es ist schrecklich. Stuart … naja, ich will es eigentlich gar nicht laut aussprechen, aber scheinbar gerieten Stuart und Lucy gestern Abend in ihrem Zimmer in einen Streit, und er hat sie umgebracht. Und anschließend sich selbst.«
Manfred starrte Olivia an. Ihr Gesicht und ihre Augen waren vollkommen ausdruckslos. »Oh Gott«, meinte er schließlich überrascht und spürte, wie ihm übel wurde. Er bemühte sich, die Fassung wiederzufinden. »Hat denn jemand gehört, wie sie sich stritten? Das ist ja … schrecklich.«
»Das ist es wirklich«, stimmte Olivia ihm zu, nachdem sie einen großen Schluck Kaffee getrunken hatte. »Ich bin den beiden gestern Abend im Veneto begegnet, und wir haben miteinander zu Abend gegessen. Sie haben immer wieder aufeinander herumgehackt, aber manche Paare tun das eben, nicht wahr? Sie waren schon so lange verheiratet. Es ist einfach unglaublich.«
»Ja, ich kann es auch kaum glauben«, stimmte Manfred Olivia zu und war sich bewusst, dass er viel zu grimmig klang. Er bemühte sich erneut, sich etwas zu entspannen. »Also, mal angenommen, die Polizei lässt uns gehen: Was hast du heute noch so vor?«
Olivia lächelte sanft. »Ich hatte von Anfang an vor, noch eine Nacht hier zu verbringen, und dabei bleibe ich auch. Ich will nicht oberflächlich klingen, aber ich schätze, ich werde shoppen gehen. Das war der Plan für heute. Und jetzt will ich mich einfach von den beiden ablenken. Immerhin kann ich ihnen weder helfen noch etwas an der Situation ändern.« Sie sah auf ihren Kaffee hinunter und zuckte mit den Schultern. »Wenn man schon mal in Dallas ist, dann muss man unbedingt zum Shoppen in die Galleria. Eine Frau braucht nun mal Klamotten. Und danach werde ich mir einen Film ansehen und am Abend vielleicht in einen Comedy-Club gehen. Ein wenig Lachen wird mir guttun, nach allem, was passiert ist. Willst du mitkommen?«
»Tut mir leid, aber ich bin geschäftlich hier, und ich bin heute und morgen ausgebucht.« Er hatte zwar an beiden Abenden frei, aber er wusste, dass er die Zeit brauchen würde, um sich zu regenerieren. Außerdem wollte er im Moment nicht mit Olivia losziehen.
»Geschäftlich?« Es klang leichte Ungläubigkeit in ihrer Frage mit.
»Private Sitzungen.«
Sie musterte ihn ernst, als sähe sie ihn gerade zum ersten Mal. »Ich hoffe, du staubst ordentlich ab«, meinte sie schließlich.
»Ja, das ist der Plan«, erwiderte er. Im nächsten Moment stellte die Kellnerin seinen Teller vor ihm ab. Manfred war froh über die Unterbrechung. Olivia warf einen lächelnden Blick auf seinen übervollen Teller, doch er reagierte nicht darauf. Stattdessen goss er Sirup über seinen French Toast und schnitt ihn in Stücke, wobei er hoffte, dass sein Appetit bald wiederkehren würde. Er aß viel, wenn er Einzelsitzungen hatte, denn er wollte auf keinen Fall, dass ihm unwohl dabei wurde. Gerade schaufelte er sich das Essen regelrecht in den Mund, und es schmeckte so gut, dass er mit jedem Bissen hungriger wurde. Olivia trank weiter Kaffee, und er war froh, dass sie das Gespräch nicht weiter verfolgte, sodass er in Ruhe essen konnte. Sie ließ sich ihr Frühstück auf ihre Zimmerrechnung schreiben, nahm ihr Telefon und die Zeitung und wollte sich auf den Weg machen.
»Wirst du Lemuel erzählen, dass wir uns getroffen haben?«, fragte Manfred.
Sie schob gerade den Stuhl zurück, doch dann hielt sie inne. »Warum nicht?«
»Keine Ahnung, ich wollte bloß sichergehen, dass wir uns in dieser Sache einig sind.« Denn wenn es jemanden auf dieser Welt gab, vor dem Manfred kein Geheimnis haben wollte, dann war es Lemuel.
Ein untersetzter Mann in einem weißen Hemd zog einen weiteren Stuhl an den Tisch. Manfreds Blick huschte überrascht von dem dunkelhäutigen Gesicht des Mannes zu Olivia. Sie wirkte ein wenig verwirrt, aber nicht beunruhigt.
»Manfred, ich bin Detective Sterling von der Polizei von Bonnet Park.«
»Manfred Bernardo.« Er schüttelte die Hand des Detectives. »Wollen Sie mit mir reden, oder soll ich mich aus dem Staub machen?« Er warf einen schnellen Blick auf die Uhr. In dreißig Minuten kam seine erste Klientin.
»Ich bitte Sie nur um ein paar Minuten Ihrer Zeit«, erwiderte der Detective. Er hatte eine weiche, versöhnliche Stimme, die im scharfen Gegensatz zu seinem ernsten Gesicht stand. Olivia nickte den beiden zu und verschwand, ohne sich noch einmal umzublicken.
Na toll, dachte Manfred. Er bemühte sich, offen und unschuldig zu wirken. »Ich habe bald einen Termin«, erklärte er so neutral wie möglich, als Detective Sterling nicht sofort zu sprechen begann. »Ich bin geschäftlich hier.«
»Sie kennen Miss Charity?«
»Sicher. Wir wohnen in der gleichen Stadt.«
»Waren Sie hier mit ihr verabredet?«
»Nein.« Manfred lächelte. »Wir laufen uns in Midnight schon oft genug über den Weg.«
»Sie haben gestern Abend im Hotelrestaurant gegessen?«
»Ja. Ich hatte eine Reservierung für acht Uhr.«
»Und haben Sie Miss Charity gesehen?«
»Es hat sich herausgestellt, dass ich ihren Hinterkopf gesehen habe. Ich saß von ihr abgewandt, aber in diesem Laden hier gibt es ja überall Spiegel, und ich dachte mir noch: ›Die kommt mir irgendwie bekannt vor.‹ Aber sie hat sich nicht umgedreht, und ich habe gelesen. Richtig erkannt habe ich sie erst heute Morgen.«
»Was hat sie gemacht?« Der Detective senkte den Blick auf seinen Notizblick, der mit Gekritzel vollgeschrieben war, aber Manfred war sich sicher, dass er es nicht tat, um die Aussagen eines anderen zu überprüfen – eines Kellners vielleicht? Oder eines anderen Gastes?
»Gestern Abend? Sie unterhielt sich mit einem älteren Paar. Ich habe die beiden noch nie zuvor gesehen.«
»Aber sie schienen sich Ihrer Meinung nach gut zu verstehen?«
Manfred versuchte nicht, seine Überraschung zu verbergen. »Nachdem ich dachte, niemanden von ihnen zu kennen, habe ich nicht darauf geachtet«, erklärte er. »Wenn etwas Außergewöhnliches passiert wäre, würde ich mich allerdings daran erinnern. Also wenn jemand zum Beispiel die Stimme erhoben oder ein Glas umgeworfen hätte … ein echtes Drama eben.«
»Mehr haben Sie also nicht bemerkt? Bloß drei Menschen, die zusammen in einer Nische sitzen und sich unterhalten? Aber Sie saßen doch wirklich sehr nah, Rücken an Rücken. Haben Sie denn nichts von dem Gespräch mitgehört? Oder sind Sie vielleicht zu einem Ergebnis gekommen, wie das Verhältnis zwischen den dreien aussah?«
»Nein, das ging mich ja alles nichts an.«
»Ein berühmter Hellseher wie Sie hat tatsächlich überhaupt nichts … wahrgenommen?« Detective Sterling ließ die Finger durch die Luft tanzen, um etwas Übernatürliches anzudeuten. Damit hätte er vielleicht einen Fünfjährigen unterhalten, doch Manfred war keinesfalls darüber amüsiert. Ihm war bereits klar gewesen, dass der Detective wusste, wer er war und womit er sein Geld verdiente, als dieser an seinen Tisch getreten war. Er war sich allerdings weniger sicher, ob der Detective auch nur die geringste Ahnung hatte, womit Olivia ihren Lebensunterhalt verdiente. Es wäre wohl ziemlich interessant und amüsant gewesen, ihn darauf anzusprechen, aber er wusste, dass er das auf keinen Fall tun durfte.
Manfred lächelte nachsichtig (darin hatte er eine Menge Übung). »Nein, keine einzige Schwingung«, erwiderte er. Dann warf er erneut einen Blick auf die Uhr. »Es tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen.«
»Ja, sicher, gehen Sie nur, Mr. Bernardo. Bleiben Sie über Nacht?«
»Ja, heute und morgen. Es sei denn, meine Pläne ändern sich.«
»Warum sollten sie das tun?«, fragte Sterling ehrlich neugierig.
»Meine Klienten kommen vielleicht nicht gerne in ein Hotel, in dem gerade eine polizeiliche Ermittlung läuft.«
»Bis jetzt deutet alles auf Mord mit anschließendem Selbstmord des Täters hin«, erklärte der Detective. »Das zeigen auch die Aufzeichnungen der elektronischen Zugangskarte. Es gibt bloß einen registrierten Eintritt, als die beiden nach dem Abendessen in ihr Zimmer zurückgekehrt sind. Aber wir überprüfen natürlich trotzdem sämtliche Hinweise.«
»Natürlich. Sie müssen schließlich bei allem sichergehen«, wiederholte Manfred.
Er war sich ziemlich sicher, dass bloß Zutritte mit der Schlüsselkarte im Computer registriert wurden. Der Computer zeichnete sicher allerdings nicht auf, wenn die Tür von innen geöffnet wurde. Also hatte Olivia die Schlüsselkarte, die ihr Lucy Devlin gegeben hatte, nicht benutzt.
»Immerhin sind wir keine Hellseher wie Sie«, meinte Detective Sterling mit derselben aufgesetzt freundlichen Stimme wie vorhin.
»Ja, wäre das nicht praktisch, wenn es so wäre? Aber ich wünsche Ihnen auf alle Fälle alles Gute für Ihre Ermittlungen.« Manfred erhob sich.
»Gut, und wenn ich noch mal mit Ihnen sprechen muss …?«
»Dann rufen Sie mich an.« Manfred gab Sterling die Nummer seines Mobiltelefons, der sie in sein Notizbuch schrieb. »Ich arbeite zwar, aber ich kann sicher einige Minuten für die Polizei erübrigen.« Damit verließ Manfred das Restaurant und fühlte sich mit jedem Schritt, den er sich von dem Detective fortbewegte, besser.
Manfred war froh, dass er etwas Zeit hatte, um sich zu sammeln, bevor seine erste Klientin eintraf. Er musste nicht nur die an ihm nagende Ungewissheit bezüglich Olivia und dem, was sie getan oder nicht getan hatte, beiseiteschieben, sondern sich auch auf den Tag vorbereiten, der vor ihm lag. Die Aussicht, seine Gabe einzusetzen, erfüllte ihn mit Aufregung, aber gleichzeitig mit Angst, und das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, waren düstere Gedanken über ein totes Ehepaar. Er befürchtete, dass die beiden womöglich sogar Kontakt zu ihm aufnehmen würden. Und er war sehr dankbar, dass er sie nicht persönlich kennengelernt oder berührt hatte, denn das hätte es Stuart und Lucy Devlin sehr viel leichter gemacht, Manfred aus dem Jenseits aufzuspüren. Manfreds erste beiden Termine verliefen gut. Er konnte Jane Lee mit Sicherheit sagen, dass ihre Großmutter mit Janes Verlobtem einverstanden war, und er konnte Robert Hernandez einen Ort nennen, an dem er nach der Goldkette seiner Mutter suchen konnte. Während der Mittagspause legte er sich eine Weile mit geschlossenen Augen aufs Bett, und sein Energielevel stieg wieder.
Auf seinen Termin um dreizehn Uhr freute sich Manfred bereits. Er hatte schon einige Sitzungen mit Rachel Goldthorpe hinter sich. Sie war eine treue Klientin, die hier in Bonett Park wohnte. Einmal hatte er sie auch schon zu Hause besucht. Rachel war Mitte sechzig und hatte zwei Töchter und einen Sohn, sowie mehrere Enkelkinder. Sie liebte ihre Enkelkinder und ihre beiden Töchter, die sie sehr glücklich machten. Vor weniger als zwölf Monaten war Rachel zur Witwe geworden, und jetzt kam sie zu Manfred, weil sie ihren Mann schrecklich vermisste. Nicht zuletzt deshalb, weil der verstorbene Morton der Einzige war, der mit ihrem Sohn – Lewis – zurechtgekommen war.
Manfred hatte Rachels Kinder bereits kennengelernt, wenn auch nur kurz. Die Meinung, die er sich über sie gebildet hatte, bezog sich hauptsächlich auf die Geschichten, die Rachel ihm erzählt hatte. Annelle und Roseanna, die Töchter (die beide in den späten Dreißigern waren), erschienen warmherzig und pflichtbewusst. Doch Rachels jüngstes Kind, Lewis, war offensichtlich völlig irre. Seiner Mom zufolge war Lewis seit seinem vierzehnten Geburtstag immer wieder in Schwierigkeiten geraten und häufig in psychiatrischer Behandlung gewesen. Mittlerweile war er zweiunddreißig, unverheiratet und vollkommen besessen von den Besitztümern seiner Mutter. Nachdem er seinen letzten Job bei einer Hausverwaltung verloren hatte, war er zurück in Rachels Pool-Haus gezogen. Von dort aus beobachtete er seine Mutter auf Schritt und Tritt und beschwerte sich endlos, wenn sie einmal Geld spendete oder ihre Klamotten zur Altkleidersammlung gab.
Heute wollte Rachel mit ihrem Mann Morton über ihre Probleme mit Lewis sprechen. Manfred mochte Rachel, was zum Teil auch darauf zurückzuführen war, dass er großen Erfolg damit hatte, Kontakt zu Morton Goldthorpe aufzunehmen, der immer wieder dringend mit seiner Frau sprechen wollte. Seit Morton tot war, waren Manfreds Sitzungen mit Rachel sehr bereichernd und aufregend gewesen.
Als er schließlich vor Kurzem eine Massen-E-Mail ausgesandt hatte, dass er wieder Termine für private Sitzungen zu vergeben hatte, war Rachel eine der Ersten gewesen, die sich einen Termin gesichert hatten.
Als Manfred die Tür öffnete, war er entsetzt, wie erbärmlich seine Klientin aussah. »Was ist denn mit Ihnen los?«, fragte er, bevor ihm bewusst wurde, wie taktlos diese Frage geklungen hatte.
»Ich weiß, ich weiß, ich sehe schrecklich aus«, erwiderte Rachel. »Ich habe gerade eine Lungenentzündung hinter mir.« Sie stapfte an ihm vorbei, sah den Tisch und machte sich auf den Weg dorthin. Er konnte sie atmen hören. Rachel war übergewichtig, aber sie war immer aufgeweckt und voller Energie gewesen. Heute schienen allerdings ihre Knochen ihren Körper kaum zu tragen, und sie hatte Ringe unter den Augen. »Und vorhin habe ich in der Lobby auch noch meine Handtasche fallen gelassen. Der gesamte Inhalt lag überall verstreut. Man musste mir helfen, meine Sachen zusammenzusammeln.«
»Rachel, sollten Sie überhaupt hier sein?«, fragte Manfred und brach damit eine seiner eigenen Regeln. Er kommentierte das Erscheinungsbild eines Klienten normalerweise aus Prinzip nicht, weder positiv noch negativ.
Rachel rang sich ein Lächeln ab und klopfte Manfred auf die Schulter. »Ich fühle mich schon viel besser. Heute habe ich zum ersten Mal seit drei Wochen das Haus verlassen. Am Vormittag war ich beim Friseur, und nun bin ich hier bei Ihnen. Junge, es fühlt sich gut an, mal rauszukommen!« Sie strich über ihre grau melierten Haare, die wie immer zu sorgsamen Locken gedreht waren. Auf ihrem T-Shirt stand: »Die beste Oma der Welt.«
»Wer hat Ihnen das T-Shirt geschenkt?«, fragte Manfred, da er wusste, dass es sie freute, wenn ihm solche Dinge auffielen. Er versuchte, nicht so besorgt zu wirken, wie er sich fühlte.
Rachel sank offensichtlich erleichtert in den Stuhl. Sie zog eine wiederbefüllbare schwarze Flasche aus ihrer Handtasche und stellte sie in ihrer Reichweite auf den Tisch. »Annelles Kinder. Und Roseannas Zwillinge haben mir diese Wasserflasche zum Muttertag geschenkt«, erklärte sie stolz. »Es ist so viel besser für die Umwelt, als jedes Mal eine neue Plastikflasche zu benutzen, nicht wahr?«
»Sind Sie sicher, dass Sie heute fit genug für eine Sitzung sind?«, fragte Manfred. Er wollte nicht weiterbohren, aber er war mehr als besorgt.
»Ich freue mich schon seit Wochen darauf«, erwiderte sie bestimmt. »Fangen wir an. Ich brauche etwas Gutes in meinem Leben – sonst ist Lewis noch mein Tod. Habe ich Ihnen erzählt, dass er ins Pool-Haus gezogen ist?« Sie nahm einen großen Schluck aus ihrer schwarzen Flasche und seufzte. Dann verschloss sie die Flasche und streckte ihre fleischigen Arme aus. »Ich bin bereit.«
Manfred ließ sich ihr gegenüber nieder und griff über den Tisch, um ihre Hände in seine zu nehmen. Seine Klienten hatten unterschiedliche Vorlieben. Die einen wollten Tarot-Karten, die anderen den Spiegel, und wieder andere nahmen Andenken an geliebte Menschen mit, die Manfred in der Hand halten sollte. Rachel dagegen wollte berührt werden. Er umfasste ihre kalten Hände mit seinen warmen Fingern, senkte den Kopf und schloss die Augen.
»Morton Goldthorpe, Ehemann von Rachel, ich rufe dich«, meinte er. »Rachel braucht dich.«
»Oh Gott«, hauchte sie. »Natürlich brauche ich ihn. Dieser Lewis! Er hat mir doch wirklich erklärt, er würde die Verantwortung für meinen Schmuck übernehmen. Die Verantwortung übernehmen! Als hätte ich Alzheimer! Ich musste ihn vor ihm verstecken.«
Manfred hörte sie nur noch von Weitem. Er war zu beschäftigt damit, sich Morton zu öffnen. Aber er war erleichtert, dass Rachel ihren Schmuck versteckt hatte. Obwohl sie sich genauso kleidete und anzog wie sämtliche anderen Großmütter, die man jeden Tag im Supermarkt traf, war Rachel überaus reich. Ihr verstorbener Mann hatte eine Menge Geld am Immobilienmarkt gemacht und war schlau genug gewesen, einen Schlussstrich zu ziehen, bevor alles den Bach hinunterging. Und selbst wenn Manfred nicht wusste, wie viel Rachel tatsächlich auf dem Konto hatte, war ihm klar, dass sie sich seine Gage auf jeden Fall leisten konnte. Und offensichtlich auch noch einige Klunker.
Doch sämtliche Gedanken an Rachels Vermögen traten in den Hintergrund, als Manfred das Reich der Toten betrat. Wie immer schloss er die Augen, damit er besser sehen konnte. Er stand dem üblichen Nebel gegenüber, aus dem in erschreckend schneller Abfolge zahllose Gesichter auftauchten.
Plötzlich raste ein bekanntes Gesicht aus dem Nebel auf ihn zu. Rachels Finger fühlten sich seltsam kraftlos an, doch Manfred konzentrierte sich weiter mit grimmiger Entschlossenheit auf den Nebel.
»Da ist er«, murmelte Manfred, als er spürte, wie Morton durch ihn hindurchschoss. Doch irgendwie fühlte es sich heute anders an als sonst. Normalerweise hielt Morton an Manfreds Fingerspitzen inne und gab sich damit zufrieden, seine Frau mit Manfreds Hilfe zu berühren, doch heute bewegte sich Morton mit solcher Kraft, dass er durch Manfred hindurch in Rachel eindrang. »Du wirst keine Schmerzen spüren, meine liebste Rachel«, sagte Manfred zu seiner eigenen Überraschung.
»Oh!«, erwiderte Rachel benommen und klang in Manfreds Ohren sowohl aufgeregt als auch ein wenig überrascht … aber nicht verängstigt. Manfred riss die Augen auf und sah direkt in Rachels Augen, deren Blick in diesem Moment erlosch. Sie fiel nach vorne auf den Tisch.
Ihre Finger wurden schlaff.
Morton trat durch Manfreds Körper den Rückzug an und zog Rachel mit sich. Fünf Sekunden lang war Manfreds Blick verschleiert, und er fühlte sich vollkommen leer.
Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis er endlich wieder klar sehen konnte. Sein Blick fiel auf Rachels schlaffen Körper. Manfred ließ ihre Hände los und schlang sich die Arme um die Mitte. Er zitterte am ganzen Körper. Gerade wollte er nur noch weinen, schreien, brüllend aus dem Zimmer laufen, doch er tat nichts dergleichen.
Shit happens, wie seine Großmutter immer wieder gesagt hatte.
Er stand auf, schwankte zum Telefon und wählte die Nummer der Rezeption. »Gibt es vielleicht einen Arzt im Hotel?«, fragte er und hörte, wie seine Stimme brach. Zum letzten Mal hatte er mit dreizehn Jahren derart unsicher geklungen. »Meine Besucherin ist bewusstlos. Genau genommen glaube ich, dass sie tot ist.«
2
Und was ist dann passiert?«, fragte Fiji Manfred. Mittlerweile waren drei Tage vergangen, und sie saßen zusammen in Fijis kleiner Küche. Fiji hatte Manfred und Bobo zum Abendessen eingeladen, es gab Braten. Eigentlich kaufte sie nicht allzu oft teures Fleisch, doch das Lendenstück war in dem Supermarkt nahe Davy, in dem die Bewohner Midnights immer einkauften, im Sonderangebot gewesen. Sie hatte den Braten auf traditionelle Art zubereitet: mit Frühkartoffeln, Karotten und jeder Menge Sauce. Es gab sogar Brötchen. Das Essen war so gut, dass sowohl Manfred als auch Bobo einen Nachschlag nahmen.
»Sämtliche Polizisten, die in der Lobby mit den Ermittlungen zu dem Mord und dem Selbstmord beschäftigt waren, standen plötzlich in meinem Zimmer«, antwortete Manfred grimmig. »Ich habe eine gute Stunde gebraucht, um ihnen zu erklären, was Rachel und ich dort getan haben. Sie hielten mich nämlich für eine Art Gigolo. Vermutlich haben sie gehofft, dass ich auch etwas mit dem Paar zu tun hatte, bei dem der Mann erst seine Frau und dann sich umgebracht hat, obwohl sie mich deswegen bereits befragt hatten.«
»Oh Mann«, meinte Bobo. Er war groß, durchtrainiert, blond und hatte ein ansprechendes Zahnpasta-Lächeln, sodass er viel eher dem Bild eines jungen Liebhabers entsprach als Manfred. Allerdings war Bobo kein bisschen eitel und schien gar nicht zu wissen, wie attraktiv er war. »Mit einer Sechzigjährigen? Das muss echt peinlich gewesen sein.«
»Ich hatte viel zu viel Angst, um es peinlich zu finden. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, dass ich vielleicht sogar froh sein konnte, wenn sie mir lediglich eine Affäre mit Rachel andichteten.«
»Hast du dann Olivia angerufen? Du hast ja erzählt, dass sie auch in dem Hotel war.« Fiji schenkte Bobo Eistee nach.
Manfred hatte den beiden nichts von Olivias Verbindung zu dem ermordeten Paar erzählt, ganz zu schweigen von seiner Vermutung, dass sie die beiden umgebracht hatte. Zwar war er wütend auf Olivia und hatte auch ein wenig Angst vor ihr (wenn er an die Sache mit den Devlins dachte), doch er glaubte nicht, dass es richtig war, seine Freunde damit zu belasten. Er wählte seine Worte also mit Bedacht. »Ich dachte, ich würde sie vielleicht nur in Schwierigkeiten bringen, wenn ich sie anrufe. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mich über ein freundliches Gesicht gefreut hätte, weshalb ich auf alle Fälle darüber nachgedacht habe.« Etwa eine Sekunde lang. Manfred glaubte nicht, dass Olivias Gesicht allzu freundlich gewesen wäre, wenn er sie in diese Sache hineingezogen hätte. Außerdem war ihm einen schrecklichen Augenblick lang auch ein ganz anderer, schrecklicher Gedanke gekommen: Zuerst die Devlins und dann Rachel. Ist das wirklich Zufall?
»Und was haben die Cops gesagt?«, fragte Bobo.
»Es war nicht so schlimm, wie ich zuerst dachte«, erwiderte Manfred und zuckte mit den Schultern. »Rachel hatte nicht die kleinste Verletzung, und die Leute im Hotel wussten, womit ich mein Geld verdiene und dass ich Klienten in meinem Hotelzimmer empfing. Ich habe ihnen zwar nicht erzählt, dass ich als Hellseher arbeite, aber eine meiner Klientinnen hat es offenbar getan.«
»Was war eigentlich mit deinen anderen Terminen? Was hast du mit ihnen gemacht?«, fragte Fiji, deren Gedanken gerne abschweiften.
»Ich bekam ein anderes Zimmer und hatte am nächsten Tag noch zwei Klienten. Die anderen haben abgesagt«, erwiderte Manfred. Das hatte ihn nicht überrascht, denn natürlich konnte er verstehen, warum seine Klienten nicht in ein Hotel kommen wollten, das unter Medienbeobachtung stand. Immerhin planten sie etwas, das sie womöglich in Verlegenheit bringen würde, wenn es sich herumsprach. Einen Hellseher aufzusuchen war nicht so ehrbar, wie zum Beispiel zu einem Wohltätigkeitsdinner zu gehen.
»Wirklich?«, fragte Fiji ungläubig. »Du konntest dich nach dem Tod der armen Frau immer noch auf die Arbeit konzentrieren?«
»Ich wäre sofort abgehauen«, meinte Bobo. »Ich hätte meine Taschen gepackt und mich so schnell wie möglich auf den Weg nach Midnight gemacht.«
Die beiden sahen Manfred erwartungsvoll an.
»Zuerst war ich natürlich am Boden zerstört«, gab er zu. »Aber Rachel verstarb so schnell und wirkte dabei beinahe friedlich. Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, kam ich zu dem Schluss, dass es zwar zu früh für sie war, aber vielleicht doch auf die Art passiert ist, die sie sich gewünscht hätte. Ich war noch nie einem Sterbenden so nah wie ihr, nicht einmal meiner Großmutter. Annelle – ihre Tochter – war bereits fünfundvierzig Minuten später im Vespers. Ich war echt erleichtert. Sie hat mir erzählt, wie sehr sich Rachel auf die Sitzung mit mir gefreut hatte, und wie glücklich sie immer war, nachdem sie mit mir gesprochen hatte. Annelle meinte auch, dass sie ihre Mutter bekniet hatte, zu Hause zu bleiben, bis es ihrer Lunge wieder besser gehen würde«, fügte er noch hinzu.
»Aber was ist denn eigentlich genau passiert?« Bobo trug seinen Teller zur Spüle und legte ihn dort ab. »Ich meine, woran ist sie gestorben?«
»Sie machen eine Autopsie, aber Annelle hat mir erzählt, dass Rachel Medikamente gegen Bluthochdruck nahm. Sie war wohl kränker, als ich geahnt habe. Wenn sie zu Hause gestorben wäre, hätte wohl niemand ihren Tod hinterfragt, weil sie unter ständiger ärztlicher Aufsicht stand. Ich hoffe, sie haben die Wasserflasche mitgenommen, aus der sie getrunken hat. Aber das haben sie sicher. Außerdem hatte sie eine große alte Handtasche bei sich. Der Inhalt war vollkommen durcheinandergeraten, weil sie ihr in der Lobby auf den Boden gefallen war und sie daraufhin einfach alles schnell wieder hineingeschleudert hatte.« Manfred hielt einen Augenblick inne, dann meinte er noch: »Sie hat gesagt, die Gäste in der Lobby hätten ihr geholfen, ihre Sachen einzusammeln.« Er versuchte mit aller Kraft, nicht so auszusehen, als würde er sich fragen, ob Olivia womöglich ebenfalls in der Lobby gewesen war, um Rachel zu helfen.