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Hans Werner Kettenbach

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Beschreibung

Die Geschäfte in Nashville waren abgeschlossen, nun wollte Wolfgang Lauterbach ausspannen, eine Woche lang ohne Terminkalender durch den Süden der USA bummeln. Doch in dem Motel an der Autobahn gerät er in eine rätselhafte Geschichte, von der er nur eines begreift: Leute, die er nie zuvor gesehen hat, trachten ihm nach dem Leben.
"

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Hans Werner Kettenbach

Minnie

oder Ein Fall von Geringfügigkeit

Roman

Diogenes

{5}1

Lauterbach spürte die Müdigkeit, als er auf den Gehsteig trat. Er stellte den Koffer und die Reisetasche ab, lockerte die Krawatte. Die Luft lag schwer und warm und regungslos in der engen Straße. Die Menschen, die Autos bewegten sich in ihr wie auf dem Grund eines trägen Gewässers. Ein glühender Sonnenstreifen auf dem Dachrand der Häuser gegenüber.

Einen Augenblick lang glaubte er, zu Hause zu sein, an einem späten Nachmittag im Hochsommer. Er schüttelte den Kopf, zog sein Notizbuch heraus. Freitag, der 4. September. Er sehnte sich nach einem frischen Windzug, einem Vorboten des Herbstes, der zu Hause vor der Tür stand. Vielleicht war es schon kühl im Rheintal, kühl und klar.

Der Schwarze, der ihm den Leihwagen an den Gehsteig brachte, ließ die Augen wandern. Während er den Koffer und die Reisetasche einlud, sah er Lauterbach an: »Wollen Sie noch weit heute?«

»Weiß noch nicht.«

{6}»Welche Richtung?«

»Atlanta. Vielleicht.« Lauterbach ärgerte sich über sich selbst. Warum gab er diesem Menschen überhaupt Antwort? Das rote T-Shirt war verschwitzt und fleckig. Die Bartstoppeln mindestens eine Woche alt. Lauterbach suchte nach einem halben Dollar.

»Atlanta? Oh, Mann! Da wird’s Ihnen warm werden. Warum bleiben Sie nicht in Nashville? Hat’s Ihnen nicht gefallen?«

Lauterbach gab ihm einen Dollar: »Danke.«

Der Schwarze kam hinter ihm her, hielt ihm die Wagentür auf. »Überlegen Sie sich’s noch mal. Ich kann Ihnen ein paar gute Adressen geben.«

Lauterbach stieß sich das Knie am Lenkrad. Er griff nach unten und suchte den Hebel, um den Sitz zurückzuschieben. Der Kerl langte, ehe er es verhindern konnte, in das Auto hinein. Lauterbach roch den Schweiß. »Hier, Sir. Genau zwischen Ihren Beinen.« Der Kerl lachte glucksend. »Die Stelle können Sie gar nicht vergessen.«

Lauterbach zog die Tür zu. Der Schwarze sprach gebückt durchs offene Fenster, er lehnte sich mit dem Ellbogen auf die Tür. »Ich wette, Sie haben gar nicht mitbekommen, was in Nashville alles los ist. Hier laufen die Mädchen zu Hunderten herum. Wollen alle ins Schallplattengeschäft, verstehen {7}Sie? Für einen Burschen wie Sie sind die alle zu haben. Ich kenne eine Menge von ihnen.«

Lauterbach sah den Schwarzen starr an. »Jetzt lassen Sie’s mal gut sein, okay? Ich arbeite im Schallplattengeschäft, verstehen Sie? Sie brauchen mir nichts zu erzählen.«

»Was sagen Sie, das ist ja spitze!« Der Kerl schlug mit der flachen Hand auf die Wagentür. »Sie müssen mir ein Autogramm geben. Sind Sie etwa Sänger? Nein, ich wette, Sie machen Liedtexte. Stimmt’s?«

Lauterbach sagte scharf: »Ich bin Rechtsanwalt. Und jetzt verschwinden Sie endlich.«

Der Schwarze trat einen Schritt zurück, hob beide Arme: »Oh, Mann, warum erschrecken Sie mich so. Rechtsanwalt! Ich hab doch nichts verbrochen, oder?«

Lauterbach ließ den Motor an und fuhr ab. Er sah in den Rückspiegel. Der Schwarze sprang auf den Gehsteig und ging zurück in seine Garage, mit wiegenden Schritten, pendelnden Armen. Er legte einen hüpfenden Wechselschritt ein, um einer Frau, die auf hohen Absätzen ihre Einkaufstüten balancierte, auszuweichen, wich erst im letzten Augenblick aus und grinste über die Schulter.

Lauterbach zog die Brauen zusammen und sah auf die Straße. Er hielt nach einer Parklücke {8}Ausschau, nahm die erste, die er fand, und schlug den Stadtplan auf. Während er in dem Gewirr dünner Linien den Weg zum Highway suchte, hob er plötzlich den Kopf. Er schnüffelte. Ihm schien, als röche er noch immer den Schweiß.

Er warf den Plan neben sich auf den Sitz, stieg aus, zog das Jackett aus und hängte es an den Haken hinter dem Fahrersitz. Er zögerte, aber er gab den Gedanken auf, einen Kleiderbügel aus dem Koffer zu holen.

Eine Weile blieb er neben dem Wagen stehen, rieb sich Stirn und Nacken trocken, rollte die Hemdsärmel hoch. Er legte einen Arm auf das Dach des Wagens und sah die Straße hinab. Die nächste Querstraße musste schon Church Street sein. Dort ging es nach links zwischen den steinernen Blumenkästen, den spiegelnden Schaufenstern der Fußgängerzone hinunter zum Fluss. Am Ufer Fort Nashborough, die verkleinerte Nachbildung, originalgetreu natürlich, der ersten Siedlung. Ein paar Blockhäuschen, umgeben von einem Palisadenzaun, der die Indianer hatte abhalten sollen.

Oder war das nicht am Fuß von Church Street? Er wusste es nicht mehr. Die Erinnerungen, die Bilder schoben sich schon übereinander. Seine Geschäftspartner hatten ihm das historische Schaustück nur im Vorüberfahren gezeigt, auf dem Weg {9}in ein Schallplattenstudio. Zur Besichtigung hatte die Zeit nicht gereicht.

Er wischte sich über die Stirn. Es war ein mörderisches Pensum gewesen für eine Woche. Die Feilscherei um Verträge, Lizenzen, Tantiemen, von früh bis spät. Er hatte sich nicht übers Ohr hauen lassen, Wallraf würde zufrieden sein. Aber er spürte die Anstrengung in allen Knochen.

Und jeden Abend hatten sie ihn in einen anderen Schuppen geschleppt, Country Music, sie wollten dem Gast aus Deutschland etwas bieten, und über Tag auch noch ein paarmal in die Studios, und er hatte angestrengt lächelnd, applaudierend so tun müssen, als interessiere ihn diese Katzenmusik, auf die Wallraf so wild war, weil sich groteskerweise auch in Mitteleuropa immer mehr Verrückte fanden, die das Gejammer hören wollten und gutes Geld dafür bezahlten.

Nashville – Music City USA. Du meine Güte.

Drei Morde hatte es in den sechs Tagen gegeben, die er hier verbracht hatte. Und nicht zuletzt diesen Banküberfall, er hatte geglaubt, er träume, aber es war kein Traum gewesen, kein Fernsehfilm, sondern Church Street, Nashville, an einem funkelnden Septembermorgen.

Er war aus dem Coffee-Shop gekommen, in dem er gefrühstückt hatte, und während er sich noch {10}auf der belebten Straße umschaute, hatte es ein paarmal bösartig scharf geknallt, die Menschen waren zusammengeschreckt, einige waren in die Eingänge der Läden gesprungen, andere wie erstarrt stehen geblieben.

Nur als Schemen hatte er sie wahrgenommen, die vermummten Gestalten, die aus der Glastür der Bank gegenüber herausgestürzt kamen und sich im Sprinttempo ihren Weg bahnten, eine Frau war umgerannt worden, sie schrie gellend auf, die Schemen verschwanden hinter der Straßenecke. Als die Sirenen der Streifenwagen sich näherten, war schon alles vorbei gewesen. Einhundertzehntausend Dollar, das Fernsehen hatte ausführlich berichtet, die Zeitungen. Von den Tätern, von der Beute keine Spur.

Lauterbach schüttelte den Kopf. Der Himmel mochte wissen, warum sie so stolz waren auf ihre Stadt. Und nicht einmal der Himmel konnte wissen, warum es sogar hier noch Leute gab, die meinten, die Polizei gehe zu hart vor.

Es war Zeit, diese Stadt zu verlassen. Eine Woche Urlaub, das musste doch reichen, um einen Platz zu finden, an dem es noch halbwegs geordnete Verhältnisse gab.

Ein Mädchen ging vorüber, die blonden, straff nach hinten frisierten Haare schimmerten. {11}Lauterbach richtete sich auf und sah sie an. Sie streif‌te ihn mit einem Seitenblick. Er sah ihr nach. Sie blickte nicht zurück.

Er stieg ein und schlug die Tür des Wagens zu. Er verstellte den Rückspiegel und betrachtete prüfend sein Gesicht, strich mit dem Handteller die dunklen Haare glatt, fuhr mit zwei Fingerspitzen über die dichten Augenbrauen. Er rückte das Gesicht näher an den Spiegel heran. Die Augen blickten müde, kein Zweifel. Die Lider waren ein wenig geschwollen.

»Los jetzt. Raus hier.« Er stellte den Rückspiegel wieder ein, warf einen Blick auf den Stadtplan und fuhr aus der Parklücke hinaus.

Als er in die Auf‌fahrt zum Highway abbog, versank die Stadt hinter ihm, die Hitze der verstopf‌ten Straßen, das Gedränge, die vielstimmigen Hupen des späten Freitagnachmittags. Die Hochhäuser wichen zurück, ihre scharfen Konturen lösten sich auf und verschwammen im Horizont. Bis hinaus in die Außenbezirke noch die emsigen, rauschenden Ströme der Autos, sechs, manchmal acht nebeneinander. Dann verästelten sie sich, der erste bog ab und blieb zurück, nach einer Weile wieder einer.

Als Lauterbach den Highway nach Georgia erreichte, wurde es ringsum still. Durch das Felsentor im Süden der Stadt begleitete ihn niemand {12}mehr. Abendsonne auf der zerklüf‌teten östlichen Flanke der Schlucht, das gelbe Gestein leuchtete. Und dahinter dann die dunkle Ebene. Gewitterwolken türmten sich hoch hinauf in den riesigen Himmel.

Auf den Schildern der Ausfahrten, die unter der wachsenden Kuppel immer winziger wirkten, erschienen biblische Namen: Antioch, Smyrna. Namen, die von einer knorrigen Vergangenheit sprachen: Old Hickory Boulevard. Einer dieser Orte, hinter deren Wegzeichen eine andere, geheimnisvolle Welt sich zu verbergen schien, trug den Namen des Schöpfers selbst, der göttlichen Vorsehung: Providence.

Lauterbach geriet in einen absonderlichen Schwebezustand. Er spürte, dass die Wirklichkeit sich von ihm ablöste, wie eine morsche Kruste, deren Risse und Sprünge sich verbreitern, hier fällt ein Stück heraus, dort das nächste.

Er glaubte, wie ein großer Vogel aus dem Abendlicht des Felskamms auf die düstere Ebene hinunterzusegeln. Er hielt seine Schwingen weit ausgebreitet, nur hin und wieder bewegte er sie, tat einen ruhigen Schlag, um sich über die Spitzen der schwarzen Bäume, einen Wiesenzaun hinwegzuheben. Das sanf‌te, strömende Geräusch, das seine Ohren füllte, es war nicht der Motor, es waren nicht {13}die Reifen seines Autos. Es war der Flugwind, der durch seine Schwingen strich.

Er fuhr sich hef‌tig übers Gesicht, drückte Daumen und Zeigefinger in die Augenwinkel. Es musste die Müdigkeit sein.

Als er das Grenzschild passierte, auf dem Rutherford County stand, fuhr weit vor ihm ein Blitz herunter, zerbarst vor dem schwarzen Himmel in ein Gewebe aus bläulich glühenden Fäden. Lauterbach kniff die Augen zusammen. Der zweite Blitz schlug näher ein, andere folgten schneller und schneller. Grell flackernde Lichter, so weit man sehen konnte. Und dann brach von einer Sekunde zur anderen der Regen herein wie ein Wasserfall, der Bäume und Sträucher und Straße unter sich begrub.

Lauterbach nahm den Fuß vom Gaspedal, er fuhr immer langsamer. Er suchte nach dem Schalter für die Scheibenwischer, fand ihn, aber die Wischer vermochten nichts auszurichten gegen die Wasserwand, die sich auf die Frontscheibe legte. Lauterbach konnte den Straßenrand nicht mehr erkennen, nicht einmal mehr die Markierung seiner Fahrspur.

Er biss auf die Zähne, als von hinten mit blendenden Scheinwerfern einer dieser beängstigenden, riesigen Lastwagen sich heranschob, sich neben {14}ihn setzte, ihn überholte und noch mehr Wasser auf seine Scheiben warf. Er versuchte, sich an das breite Band der Rücklichter anzuhängen, aber er gab es auf, als sein Auto im Kielwasser zu schlingern begann.

Er war schon entschlossen, auf den Randstreifen hinauszusteuern und einfach anzuhalten, als aus dem Dunkel ein hohes, breites Schild heranschwamm, von bleichen Lichtern eingerahmt. Er fuhr im Schritttempo daran vorbei, bewegte stumm die Lippen, während er mit vorgerecktem Kopf die Aufschrift entzifferte:

PETE’S MOTEL – DRINKS,

TV, EINZELZIMMER 12.95

NÄCHSTE AUSFAHRT,2 MEILEN.

Er fühlte sich so erleichtert, als wäre er aus Lebensgefahr gerettet worden. Die Vorstellung füllte ihn aus, sich in ein Zimmer zurückziehen, auf einem Bett sich ausstrecken, einen Schluck trinken und irgendeinen belanglosen Film ansehen zu können, während draußen das Unwetter tobte. Seine Nackenmuskeln entspannten sich.

Der Plan, noch an diesem Abend über hundert Meilen zu fahren, war ohnehin völlig verrückt gewesen. Chattanooga lief ihm nicht weg, Atlanta {15}auch nicht. Er hatte eine ganze Woche Zeit, Urlaub, Freizeit ohne Termine. Niemand erwartete ihn. Er konnte herumstreunen, wo und wie es ihm gefiel.

Er würde sich ins Bett legen, noch einen Whisky trinken oder zwei, ausschlafen und morgen früh weiterfahren. Wahrscheinlich war der Himmel bis dahin auch wieder blau. Es konnte ja nicht ewig so gießen.

Er fand die Ausfahrt, manövrierte langsam eine düstere Steigung empor, auf der das Wasser in Sturzbächen ihm entgegenschoss. Auf der Anhöhe hielt er an, unter einer einsamen Straßenlampe. Eine Querstraße, sie verlor sich auf beiden Seiten in der Finsternis. Er wusste nicht, ob er nach rechts oder nach links abbiegen musste. Von Pete’s Motel keine Spur. Kein Schild, gar nichts.

Lauterbach bewegte stumm die Lippen. Er entschied sich, nach rechts zu fahren. Der dunstige Lichtkreis der Straßenlampe verschwand im Rückspiegel. Die Straße wand sich, stieg ab, in ein dunkles Loch hinein. Nur noch stürzendes Wasser im Scheinwerferlicht. Lauterbach ahnte rechts und links den dichten Wald.

Er überlegte, was er tun könnte, wenn er in diesem menschenleeren Abgrund eine Panne hätte. Der Motor konnte stehenbleiben. Er konnte den {16}Straßenrand verfehlen und in den Graben rutschen, in einen Bach vielleicht.

Panik flog ihn an. Er kämpf‌te sie mühsam hinunter.

Auf der nächsten Anhöhe glaubte er, ein Licht zu sehen. Er fuhr langsam weiter, Hoffnung kam in ihm auf. Das Licht verbreiterte sich. Er erkannte eine Kette von Glühbirnen unter einem Vordach, es war das Motel. Als er in die Einfahrt abbog, lockerten sich seine Lippen, er lächelte, schüttelte den Kopf.

Ein eingeschossiger Bau, winkelförmig. An dem einen Ende des Winkels die Rezeption, mattes Licht hinter blinden Fenstern. Lauterbach fuhr dicht an das Vordach heran, blieb einen Augenblick sitzen. Er starrte die schmale Tür an, deren Farbe abblätterte, die Müllsäcke, die gleich neben dem Eingang lagen.

Auf der Tür pappte ein Schild, große Buchstaben von Hand: Keine Hunde! Darunter ein zweites Schild, ebenfalls von Hand geschrieben: Kochen in den Zimmern verboten!

Er schüttelte den Kopf. »Ganz egal, ich fahre keinen Schritt weiter.« Er griff hinter sich nach dem Jackett, sprang unter das Vordach. Die Eingangstür klemmte, er hatte Mühe, sie zu öffnen.

{17}2

Hinter dem Tresen war niemand zu sehen. Ein Schlüsselbrett, voll von Schlüsseln.

Eine dunkle Stimme sagte: »Hi!«

Lauterbach wandte sich um. Auf dem zerbeulten Ledersofa in der Ecke, unter der trüben Stehlampe saß eine Frau, rotblonde Haare, rund um den Kopf toupiert, ein blassgrünes, kurzes Trägerkleid, nackte Beine, übereinandergeschlagen, rote Schuhe, nicht mehr ganz neu, mit hohen Absätzen. Sie hielt ein Glas in der Hand.

Sie winkte ihm mit dem Glas zu, lächelte ihn an. »Herzlich willkommen. Ich hab schon gedacht, ich bin heute Nacht der einzige Gast in dieser Bruchbude. Das nenn ich eine angenehme Überraschung. Und dann auch noch ein so gut aussehender Mann.«

Lauterbach sagte: »Wo finde ich jemanden, der mir ein Zimmer gibt?«

»Sie müssen rufen. Die Glocke haben sie vergangene Woche versetzt.« Sie rief: »He, Chum! Heb deinen Arsch hoch! Kundschaft!«

Jemand hustete. Ein Bett knarrte. Der Schnurvorhang neben dem Schlüsselbrett wurde zur Seite geschoben. Ein langer, dürrer junger Schwarzer kam herein. Er bückte den Kopf unter den {18}Schnüren. Er sah Lauterbach nicht an. Er schob ihm mit knochigen, dunklen Fingern ein Anmeldeformular über den Tresen.

Lauterbach hängte sich das Jackett über die Schultern und füllte das Formular aus. Er trug in sauberer Druckschrift den Namen ein, auch den Doktortitel. Autonummer? Er wollte schon hinausgehen und sie ablesen, als ihm der Autoschlüssel einfiel. Er sah auf den Anhänger und schrieb sorgfältig die Nummer ab, die er fand, MVA221030.

Die Frau sagte: »Woher kommen Sie, John Travolta?«

Er sah die Frau irritiert an: »Meinen Sie mich?«

»Klar, wen denn sonst? Hat Ihnen noch keiner gesagt, dass Sie aussehen wie John Travolta? In seiner Glanzzeit, meine ich. Vielleicht sogar noch ein bisschen besser.« Sie trank einen Schluck. »Ihre Augenbrauen sind anders, wissen Sie. Stärker. Ich mag Ihre Augenbrauen.«

Lauterbach zog die Kreditkarte heraus. Die Frau sagte: »Seien Sie doch nicht so finster, Johnny-Boy. Seien Sie nett. Sagen Sie mir, woher Sie kommen.«

Der Schwarze sagte: »Keine Kreditkarten.«

Lauterbach sah ihn an: »Wieso denn das nicht?«

Der Schwarze sagte: »Keine Kreditkarten.«

Die Frau stand auf und kam an den Tresen: »Hier {19}kommen Sie nur mit Bargeld rein. Der Chum kann nicht schreiben, verstehen Sie? Der kann nur Bargeld zählen.«

Der Schwarze sagte: »Halt’s Maul.«

Sie reckte ihm das Glas entgegen, löste den Zeigefinger und visierte ihn damit an: »Du sagst mir nicht, wann ich das Maul halte, du nicht, Chum! Ich bin hier ein zahlender Gast, kapierst du? Ein Gast!«

Lauterbach zog sein Portemonnaie heraus. Er zählte einen Zehn-Dollar-Schein und drei Ein-Dollar-Scheine ab und legte sie vor den Schwarzen auf den Tresen. Der Schwarze sah das Geld an und sagte: »Vierzehn fünfundneunzig.«

Lauterbach sagte: »Auf dem Schild an der Autobahn steht zwölf fünfundneunzig.«

Der Schwarze sagte: »Altes Schild.«

Die Frau lachte. Lauterbach überlegte einen Augenblick, dann nahm er die drei Ein-Dollar-Noten zurück und legte eine Fünf-Dollar-Note auf den Tresen. Der Schwarze steckte das Geld in die Hosentasche. Er nahm einen Schlüssel vom Brett und legte ihn auf den Tresen: »Nummer zwei. Kochen verboten.« Er wandte sich ab und verschwand durch den Schnurvorhang.

Die Frau sah Lauterbach an und lächelte: »Und wie geht’s jetzt weiter, Johnny-Boy? Ich heiße {20}Sally. Seien Sie nett und sagen Sie mir, woher Sie kommen und wer Sie sind.«

Lauterbach sagte: »Entschuldigen Sie mich bitte, ich bin sehr müde.« Er wandte sich ab und ging. An der Tür hielt er ein. Er zögerte, dann deutete er auf ihr Glas und sagte: »Wo bekommt man so etwas?«

Die Frau lachte. »So gefallen Sie mir schon viel besser, Johnny-Boy.« Sie trank einen Schluck, lächelte ihn an: »Das bekommen Sie bei dem Chum.« Sie rief: »He, Chum! Komm raus mit der Flasche. Mister Travolta möchte einen Drink.«

Der Schwarze schob sich gebückt durch den Vorhang, in der einen Hand eine Whisky-Flasche, in der anderen ein Glas. Er sagte: »Glas oder Flasche?«

»Wie viel kostet ein Glas?«

»Zwei fünfzig.«

»Wie viel?«

»Zwei fünfzig.«

»Und wie viel die Flasche?«

Der Schwarze hielt die Flasche gegen die Lampe. Sie war zu zwei Dritteln voll. »Zwanzig Dollar.«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.«

Die Frau lachte. Der Schwarze wandte sich ab und bückte den Kopf. Lauterbach sagte: »Moment mal!« Der Schwarze blieb stehen. Lauterbach zog {21}sein Portemonnaie heraus: »Das ist Wucher, was Sie da machen. Verstehen Sie das?«

Die Frau sagte: »Nein, das versteht er nicht, Johnny-Boy. Seien Sie nicht ärgerlich. Der Stoff ist ganz gut, den er da hat.«

Lauterbach überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Geben Sie mir die Flasche.«

Die Frau sagte: »He, Johnny-Boy, jetzt sind Sie aber über Ihren Schatten gesprungen! Wollen Sie vielleicht doch eine kleine Party machen?«

Der Schwarze stülpte das Glas über die Flasche, schob sie über den Tresen, steckte den Zwanzig-Dollar-Schein in die Hosentasche und verschwand.

Lauterbach nahm die Flasche und ging zur Tür. Die Frau sagte: »Du kleiner, mieser Drecksack. Einen Schluck hättest du mir wenigstens abgeben können.«

Lauterbach versuchte, als er ins Auto stieg, dem strömenden Regen auszuweichen. Aber seine Haare wurden nass, sein Nacken, die Hand, die die Flasche hielt. Er blieb einen Augenblick sitzen, überlegte. Dann manövrierte er mit einer Hand, sehr langsam, sehr vorsichtig, den Wagen rückwärts vor den zweiten Eingang neben der Rezeption.

Er stieg aus, schloss gebückt die Autotür ab, spürte, wie das Wasser in seinen Nacken lief. Er {22}sprang unter das Vordach, stellte die Flasche ab, rieb sich Gesicht und Nacken und Hände mit dem Taschentuch trocken, sah hinaus in das dunstige Licht der Glühbirnen.

Er schloss den Kofferraum auf, holte Koffer und Reisetasche heraus.

Der Zimmerschlüssel passte nicht.

Lauterbach sah auf den Schlüssel. Es war ein alter Schlüssel, ein Rundeisen mit Bart. Er sah auf den Anhänger, es war die Nummer zwei. Er versuchte es noch einmal. Er bekam den Schlüssel ins Schloss hinein, aber er ließ sich nicht drehen.

Lauterbach richtete sich auf, stemmte beide Hände in die Seiten, sah voller Wut zur Rezeption. Er wollte schon unter dem Vordach zurückgehen, als er die Nummer auf der Zimmertür sah. Es war Nummer elf. Nummer zwei lag am anderen Ende des Winkelbaus.

Er sah hinaus in den Regen. Dann schüttelte er den Kopf. Er ließ das Auto stehen. Er stopf‌te die Flasche mit dem Glas in die Reisetasche, nahm Tasche und Koffer auf und trug sie unter dem Vordach hinüber zu seinem Zimmer. Vor Nummer eins stand ein altes, riesiges Auto. Sallys Wagen vermutlich.

Die Dusche gab nur ein dünnes Rinnsal ab, aber der Fernsehapparat funktionierte. Lauterbach {23}inspizierte die Bettlaken. Sie waren grau, aber ohne Flecken. Er zog seinen Schlafanzug an, probierte alle Kanäle des Fernsehapparats aus und entschied sich für ein Programm, das so aussah, als sei es ein Kriminalfilm. Er legte sich ins Bett.

Als er sich den zweiten Whisky eingeschenkt hatte, klopf‌te es an der Tür. Lauterbach glaubte zuerst, er habe sich getäuscht, aber dann klopf‌te es wieder. Er stand auf, zögerte einen Augenblick. Er vergewisserte sich, dass die Kette festsaß. Dann öffnete er die Tür einen Spaltbreit.

Es war Sally. Sie stand an den Türrahmen gelehnt, das leere Glas in der Hand. Sie lächelte matt. »Ich wollte mich entschuldigen. Seien Sie mir nicht böse, Johnny-Boy. Ich hab’s nicht so gemeint. Ich hatte schon einen Kleinen getrunken. Ich vertrag nicht viel, wissen Sie. Und ich war so schrecklich enttäuscht, als Sie gingen.«

Lauterbach sagte: »Das ist okay. Schlafen Sie gut.«

Ihre Mundwinkel glitten nach unten. Ihre Augen wurden groß. Sie sah plötzlich sehr ängstlich aus. Sie fing an zu weinen. »Johnny-Boy, ich fühl mich so einsam. Ich hab schreckliche Angst, Johnny-Boy.«

Lauterbach sagte: »Sie sind betrunken. Das geht vorüber.«

{24}»Nein, nein, wirklich nicht, Johnny-Boy. Ich hab doch nur einen ganz Kleinen getrunken.«

»Gehen Sie schlafen. Das wird Ihnen guttun.«

Sie schluchzte auf. Plötzlich streckte sie eine Hand durch den Türspalt, die Finger bewegten sich, irrten umher. »Bitte, bitte, Johnny-Boy, ich halt das nicht aus, ich hab so gottverdammte Angst, so gottverfluchte, beschissene Angst. Darf ich nicht zu dir reinkommen, Johnny-Boy?«

»Hören Sie jetzt auf damit. Ich will schlafen. Sie sehen doch, dass ich schon im Bett gelegen habe.«

»Das macht doch nichts. Ich leg mich zu dir, wenn du magst. Du wirst es nicht bereuen. Ich will kein Geld dafür. Ich bin keine Nutte, verstehst du, Johnny-Boy.«

»Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe?«

»Und wenn du nicht magst, setz ich mich in den Sessel. Du kannst ruhig schlafen, Johnny-Boy, ich werd ganz still sein. Nur lass mich nicht allein, bitte. Lass mich bei dir bleiben, Johnny-Boy, bitte.« Sie sah ihn aus großen Augen an, die Mundwinkel zitterten.

Lauterbach sagte: »Nein, verflucht noch mal!« Er packte ihre Hand und schob sie durch den Türspalt, schloss die Tür. Er ging zurück zum Bett, blieb stehen. Dann nahm er die Whisky-Flasche {25}und öffnete die Tür wieder. Sally stand da, regungslos, den Blick gesenkt.

Lauterbach sagte: »Gib mir das Glas.«

Sie hob das Glas, hielt es in den Türspalt. Er goss das Glas voll Whisky. Sie sah auf das Glas. Immer neue Tränen flossen über ihre Wangen.

Lauterbach sagte: »Und jetzt hau ab. Und komm nicht wieder.« Er schloss die Tür, verriegelte sie.

3

Licht legte sich auf seine Augenlider, drang in seinen Schlaf. Das Licht bewegte sich, es wurde immer heller. Lauterbach öffnete die Augen.

Das Licht kam durch den zerschlissenen Fenstervorhang, es näherte sich. Lauterbach hob den Kopf vom Kissen. Er hörte ein schwaches Motorengeräusch. Ein Auto fuhr langsam an den Eingang seines Zimmers heran. Er fürchtete einen Augenblick, das Auto werde sich unter das Vordach schieben, die Wand durchbrechen, unter einstürzenden Steinen vorrollen bis an sein Bett, immer näher die grellen Scheinwerfer.

Der Motor wurde abgestellt. Die Scheinwerfer erloschen. Türen klappten. Stimmen. Männerstimmen. Ein Mädchen lachte.

{26}Lauterbach stand auf. Er ging ans Fenster, hob den Vorhang ein wenig. Die Glühbirnen unter dem Vordach brannten nicht mehr. In der Dunkelheit konnte er nur ein paar Schemen erkennen. Knirschende Schritte auf dem Beton des Vorplatzes.

Die Schritte gingen weiter. Dann hämmerte jemand gegen die Tür nebenan. Lauterbach hörte eine saf‌tige, tiefe Männerstimme: »He, Sally! Tu nicht so, als ob du schläfst. Wir sind’s. Die Party kann anfangen.« Das Mädchen lachte. Eine andere Männerstimme sagte: »Nun mach schon auf, Sally.«

Die Tür wurde geöffnet, und sofort begann ein wildes Gewirr von Stimmen. Ab und zu ein Gelächter, dann wieder klang es wie ein hef‌tiger Streit. Er konnte nicht verstehen, was da gesprochen wurde, aber die Stimmen durchdrangen die dünne Wand, sie waren nicht zu überhören, sie wollten nicht verstummen.

Lauterbach ballte die Fäuste. Er setzte sich auf den Rand des Betts. Er sah auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht.

Dieses Weib. Sie hatte nicht aufgegeben. Sie hatte sich andere Gesellschaft besorgt. Fünf oder zehn Minuten nachdem er sie vor seiner Tür hatte stehenlassen, hatte er sie in ihrem Zimmer sprechen hören. Sie hatte telefoniert. Dann war ihre Zimmertür ins Schloss gefallen. Er hatte das Licht gelöscht, {27}war aufgestanden, hatte durch den Vorhangspalt hinausgeschaut.

Sie war langsam an seinem Fenster vorbeigegangen, mit unsicheren Schritten, das Glas in einer Hand, in der anderen eine große Tasche. Sie war unter dem Vordach weitergegangen, bis an das andere Ende des Winkelbaus. Sie war im Halbdunkel hinter seinem Auto verschwunden.

Er hatte sich wieder hingelegt. Nur noch das bläuliche Flackerlicht des Fernsehapparats. Nach einer Weile hatte ihn der Gedanke beunruhigt, dass sie sich an seinem Auto zu schaffen machen könne. Er hatte wieder hinausgesehen. Sie war aus der Rezeption herausgekommen. Gleich darauf waren die Glühbirnen unter dem Vordach erloschen. Dunkel. Strömender Regen.

Er hatte gewartet, den Kopf an den Vorhang gebeugt. Schließlich hatte er ihre langsamen Schritte gehört. Dann ihre Zimmertür. Dann ihre Stimme, von Pausen unterbrochen. Sie hatte wieder telefoniert. Er hatte das Ohr an die Wand gelegt, aber es war nicht zu verstehen gewesen, was sie sagte. Er war zu seinem Bett zurückgegangen, war stehen geblieben. Er hatte eine Weile auf das Fernsehbild gestarrt. Dann hatte er den Apparat ausgeschaltet und sich hingelegt. Er war sehr schnell eingeschlafen.

{28}Die Stimmen nebenan, die leiser geworden waren, schwollen wieder an. Lauterbach ballte die Fäuste. Er würde das keine Minute länger hinnehmen, er würde sich beschweren.

Er stand auf, tat einen Schritt, hielt ein, überlegte. Er schnauf‌te. Bei wem beschweren? Dieser Schwarze in der Rezeption würde wahrscheinlich nicht einmal den Telefonhörer abheben.

Der Gedanke, er könne gegen die Wand hämmern, »Ruhe da drüben!« rufen oder hinausgehen und an Sallys Tür klopfen, verursachte ihm Unbehagen. Die saf‌tige Männerstimme klang ihm im Ohr. Leute, die mit einer Frau wie dieser Sally Umgang hatten. Schlägertypen, wahrscheinlich Gangster. Er flüchtete sich in den Gedanken, dass es unter Niveau sei, mit solchen Leuten zu streiten. Verlorene Zeit. Die Mühe nicht wert.

Er warf sich ins Bett. Er rollte sich in die Decke ein, zog das Kissen übers Ohr. Er hörte die Stimmen noch immer. Eine Weile quälte ihn noch der Hass auf dieses Pack, die hilf‌lose Wut. Dann schlief er ein.

Es war noch dunkel, als ein hef‌tiger, dumpfer Schlag ihn jäh aus dem Schlaf riss. Er fand sich im Bett sitzend, sein Puls jagte. Irgendetwas musste nebenan zu Boden gefallen sein, oder gegen die Wand. Irgendein schweres Gewicht. Ihm war, als {29}hätte er zugleich mit der Erschütterung ein splitterndes Geräusch gehört.

Er fuhr sich über die Stirn. Sie war nass von Schweiß. Schweiß bedeckte seine Brust. Er lauschte. Er hörte nur seinen Herzschlag. Hatte er nur geträumt?

Plötzlich setzten wieder die Stimmen ein, nicht sehr laut, aber unüberhörbar. Eine Frauenstimme hob sich ab, sie steigerte sich, erstarb dann.

Lauterbach sah auf die Uhr. Zwei Minuten vor sechs. Er warf die Decke zurück. Es hatte keinen Sinn mehr. Dieses Pack würde wahrscheinlich erst schlafen, wenn der Tag angebrochen war.

Er duschte, brauchte lange, bis er unter dem dünnen Strahl den Seifenschaum vom Körper gewaschen hatte. Der Spiegel war blind und fleckig, er musste den Kopf vorbeugen, um sich sauber rasieren zu können. Er wählte ein sandfarbenes Sporthemd aus, nahm den Anzug vom Bügel und legte ihn sorgfältig zusammen. Er zog die braunen Jeans an und die leichte Lederjacke.

Es war still nebenan, als er die Tür hinter sich ins Schloss zog. Vor seinem Eingang, neben Sallys Auto, stand ein großes, dunkelblaues Coupé, ziemlich neu. Er trug den Koffer und die Reisetasche hinüber zu seinem Auto. Er ging quer über den Vorplatz. Es regnete nicht mehr. Der Himmel war {30}klar. Im Norden entdeckte Lauterbach einen verblassenden Stern.

Als er abfuhr, sah er im Rückspiegel eine Bewegung. Ihm schien, als wäre Sallys Tür geöffnet worden.

Lauterbach fuhr mit offenem Fenster. Er fuhr hinab in die Schlucht, in der ihn gestern Abend die Furcht vor einer Panne gepackt hatte. Er roch den dichten Nadelwald zu beiden Seiten der Straße. Als er die Steigung zum Highway hinauf‌fuhr, glaubte er zu spüren, dass die Luft wärmer wurde. Hier und da schimmerte noch Feuchtigkeit auf der Straße, aber sie begann zu trocknen.

Auf der anderen Seite des Highways sah er das hochbeinige Schild eines Restaurants. Die Glühbirnen setzten scharf umgrenzte, helle Punkte in das breit gestrichene Rot-Blau des Morgenhimmels.

Als Lauterbach ausstieg, roch er den Speck und die Würstchen, die Bratkartoffeln und den Kaffee. Der Hunger überfiel ihn. Er bestellte Rühreier mit Speck, nahm außer dem Toast auch noch ein Rosinen-Törtchen. Während er wartete und den Orangensaft trank, blätterte er in seinen Karten und Prospekten.

Vor Chattanooga lag rechts der Straße ein See, im Norden der Stadt ein anderer, vor Atlanta ein {31}dritter. Er las die Namen, sie lösten vage, angenehme Vorstellungen in ihm aus. Woods Lake. Elk River. Und Namen, die offenbar indianischen Ursprungs waren. Chikamauga Reservoir. Allatoona Lake. Er sah stille Gewässer, die dunkelgrünen Fichten. Ein großer Vogel schrie. Der Himmel endlos blau, ein paar kleine, zerzauste weiße Wolken.

Zwei Männer kamen herein. Sie gingen an ihm vorbei, kamen zurück, blieben stehen, gingen wieder an ihm vorbei. Lauterbach drehte sich um. Sie hatten sich an den übernächsten Tisch gesetzt. Er sah einen Rücken in einer fleckigen Jeansjacke, blonde, ungepflegte, lange Haare.

Er ließ die Karte neben sich ausgebreitet, während er aß. Ab und zu beugte er den Kopf hinunter, um einen Namen entziffern zu können, legte den Finger auf die dünne Linie einer Nebenstraße und hielt sie fest, während er die nächste Gabel nahm. Er musste ja nicht auf geradem Weg nach Chattanooga fahren. Vielleicht konnte er rund um den Woods Lake fahren, nahe dem Ufer.

Er ließ sich von der Kassiererin zwei Äpfel geben, legte sie ins Handschuhfach. Die Morgensonne war über den flachen Kamm im Osten hervorgekommen. Als Lauterbach auf den Highway fuhr, spürte er den würzigen Hauch, den die Wärme aus den Gräsern und Büschen hervortrieb.

{32}Nach einer halben Stunde aß er den ersten Apfel. Er hatte das Radio eingeschaltet. Country Music, aber dieses Mal empfand er keinen Widerwillen. Das war Tennessee, ein schönes Land, die sanf‌ten Hügel, die Wälder. Und diese Musik gehörte dazu.

Er fuhr mit einer Hand, hielt in der anderen den Apfel. Ab und zu sah er in den Rückspiegel. Der große alte, schmutzige Wagen, der schon einmal ziemlich nahe hinter ihm gewesen war, fiel zurück. Lauterbach sah auf den Geschwindigkeitsmesser. Nein, er fuhr nicht zu schnell, die Nadel stand auf fünfundfünfzig Meilen.

Er fragte sich, ob dieser Highway immer so leer sein mochte. Dann fiel ihm ein, dass es Samstagmorgen war, sehr früh noch am Samstag. Er lehnte sich zurück, schob die Hand in die enge Hosentasche, zog das Taschentuch heraus, um sich die Finger abzuwischen. Er sah in den Rückspiegel.

Der alte Wagen fuhr wieder sehr nahe hinter ihm. Lauterbach sah auf dem Vordersitz zwei Männer. Er stopf‌te das Taschentuch zurück, beschleunigte sein Tempo ein wenig. Die Nadel stieg auf siebzig Meilen. Der alte Wagen folgte ihm dichtauf.

Lauterbach nahm den Fuß vom Gaspedal. Der alte Wagen kam ihm gefährlich nahe. »Warum überholst du nicht, du Idiot?« Er sah auf den {33}Geschwindigkeitsmesser, beschleunigte, bis er wieder genau fünfundfünfzig Meilen fuhr. Der alte Wagen blieb dicht hinter ihm. Lauterbach starrte in den Rückspiegel. Lachten die beiden Kerle?

Er versuchte, dieses schmutzige Auto zu vergessen, konzentrierte sich auf die Straße. Plötzlich spürte er, dass jemand ihn ansah. Er sah zur Seite. Der alte Wagen schob sich neben ihn. Der Mann auf dem Beifahrersitz wandte ihm das Gesicht zu. Dann wandte er sich ab, sprach mit dem Fahrer und lachte.

Lauterbachs Puls begann schneller zu schlagen. Er sah geradeaus, tat so, als nehme er keine Notiz von den beiden. Sie blieben neben ihm. Nach einer Weile hielt er die Anspannung nicht mehr aus, er beschleunigte. Der alte Wagen hielt Schritt, er fuhr im gleichen Tempo auf der Überholspur, gleichauf mit Lauterbach.

Lauterbach ging mit dem Tempo zurück, auf fünfzig, auf fünfundvierzig Meilen. Er sah in den Rückspiegel. Irgendwann musste auf diesem gottverdammten Highway ja doch noch ein anderes Auto kommen. Er sah nicht zur Seite. Im Augenwinkel nahm er wahr, dass der alte Wagen sich auf gleicher Höhe hielt.

Nach einer endlos langen Zeit tauchte voraus ein Straßenschild auf. Lauterbach zwang sich, das {34}Tempo nicht zu erhöhen. Das Schild glitt vorüber: Jasper – Nächste Ausfahrt. Er erinnerte sich an den Namen. Er hatte ihn auf seinen Straßenkarten gesehen. Es hatte ausgesehen wie ein etwas größerer Ort.

Er versuchte, seine Muskeln zu entspannen. Als er das Schild der Ausfahrt sah, sehr klein noch, begann er sich zu konzentrieren. Er hielt das langsame Tempo ein, achtete darauf, dass er nicht schneller als fünfundvierzig Meilen fuhr. Der Wagen neben ihm hielt Schritt.

Das Schild der Ausfahrt näherte sich. Lauterbach wartete bis zur letzten Sekunde, dann riss er das Steuer herum, trat das Gaspedal durch, die Automatik ließ den Wagen bocken, die Reifen sprangen über die Graszunge, auf der das Schild eingepflanzt war, sie gewannen den festen Belag der Ausfahrt, der Wagen zog an. Während Lauterbach die Kurve durchfuhr, sah er in den Rückspiegel. Der alte Wagen war nicht mehr zu sehen.

Das Ortsschild wies nach links. Lauterbach bremste nur kurz, schleuderte auf die Straße, die über die Autobahn führte. Die Straße war schmal, sie schlängelte sich in engen Kurven in die Hügel hinein. Der Wagen drohte auszubrechen. Lauterbach fuhr langsamer. Kein Mensch zu sehen.

Nach ein, zwei Meilen beruhigte er sich. Er {35}atmete tief durch. Sein Pulsschlag ging zurück. Er sah in den Rückspiegel, strich die Haare glatt.

Es war zu albern. Wahrscheinlich waren es irgendwelche Lümmel gewesen, die sich einen Spaß hatten machen wollen. Seine Nerven hatten ihm einen Streich gespielt. Dieser verdammte Stress. Er hatte den Urlaub nötig nach dieser Woche.

Ein Wald nahm die Straße auf. Lauterbach drehte das Fenster herunter, atmete tief. Er schaltete das Radio ein, schaltete es aus, versuchte, die Vogelstimmen zu erkennen. Er strich sich wieder übers Haar. Er sah in den Rückspiegel.

Er sah den alten Wagen. Er kam schleudernd aus der Kurve hinter ihm, näherte sich sehr schnell.

4

Lauterbach trat aufs Gaspedal, aber es war zu spät. Der alte Wagen ging fast gleichzeitig mit ihm in die nächste, enge Kurve hinein. Lauterbach sah die schmutzige Motorhaube dicht neben sich. Er bremste, zog das Steuer nach rechts, um den Zusammenstoß zu vermeiden. Der alte Wagen passierte ihn, schleuderte von einer Straßenseite zur anderen, stellte sich quer und blieb stehen, die Vorderräder am Rand des Straßengrabens.

{36}Lauterbach sah, während er seine Reifen kreischen hörte, die beiden Männer auf dem Vordersitz wie in einem Traum herangleiten. Der Beifahrer sah ihm entgegen. Lauterbach glaubte zu sehen, dass der Beifahrer grinste, eine hässliche Fratze, ein Albtraum.