Schmatz - Hans Werner Kettenbach - E-Book

Schmatz E-Book

Hans Werner Kettenbach

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Uli Wehmeiers ganzes Leben ist in Frage gestellt. Seine Frau erträgt die Besessenheit, mit der er sich in seine Arbeit als Werbetexter kniet, nicht mehr. In der Agentur fühlt er sich durch die Schikanen des neuen Creative Director immer stärker eingeengt und abgewürgt. Wehmeier reagiert auf seine Art, er spielt mit dem Gedanken an einen Mord, als könne er so die Bedrohung seiner Existenz abwehren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 421

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans Werner Kettenbach

Schmatz

oder Die Sackgasse

Diogenes

1

Herr Nowakowski als Leiche: Das mußte ein beglückender Anblick sein. Beruhigend. Entspannend.

Statt des Sportjacketts, dessen Eleganz einem in die Augen schnitt, ein ordinärer Totenkittel. Nein, das wohl doch nicht. Wahrscheinlich würde er rechtzeitig vor seinem Ableben verfügen, wie seine Leiche auszustatten sei. Ein Hemd mit schmalen, offenstehenden Rüschen vielleicht. Weiße Seide, dreiviertellanger Ärmel, ein leger geschnittenes Shirt, als ginge er zu einer seiner Partys.

Und die Hände nicht falten, du lieber Gott, wie sähe das denn aus! Vielmehr eine Hand abwärts gestreckt, die andere auf die Brust gebreitet, wie in einer ausdrucksvollen Bewegung. Das würde dem Arrangement den Reiz des Asymmetrischen verleihen. Wir bringen Leben in die Sache, und wenn Sie uns Steine zu verkaufen geben.

Aber tot wäre er trotzdem. Statt des dynamischen Redeflusses, der mal samtenen, mal stahlharten Blicke nur noch Stille, Starre. Eben noch hat er den Staub aufgewirbelt mit seiner Performance. Und jetzt liegt er da wie ein aufgeputzter Sack Zement, es knirscht ein wenig, wenn man den Finger hineindrückt. In der Luft hängt noch dieser Hauch von Eau d’Homme, Les Créations Jim Morgan, Inc. Das Parfum für ganz wenige. Die Fenster auf! Sobald sie ihn abgeholt und in die Grube haben fahren lassen, wird auch das spurlos verweht sein.

»Hören Sie mir überhaupt zu?« Nowakowski beugte sich vor, er ließ den Blick ins Stählerne changieren.

»Natürlich höre ich Ihnen zu. Sie sind doch nicht zu überhören.«

»Sparen Sie sich die Ironie. Das imponiert mir nicht. Damit werden Sie mich nicht los.«

Da hatte er leider recht. Damit war Herr Nowakowski nicht aus dem Wege zu räumen. Und ans Sterben dachte der auch nicht. Der war kerngesund mit seinen dreiundvierzig Jahren. Jeden Morgen das Fitness-Training auf der Terrasse des Penthouses. Zweimal im Jahr zum Skilaufen, ein halbes dutzendmal zum Segeln, die Stirnglatze behielt auch im Winter die sportive Bräune. War vermutlich unerläßlich, um seine jungen Freunde bei der Stange zu halten.

Nein, wer den loswerden wollte, der mußte ihn schon totschlagen. Erstechen, hinterrücks. Oder vergiften. Über das Geländer der Dachterrasse stoßen, hoppla, die Hantel war wohl zu schwer, er hat sie zu dynamisch gestemmt und ist ins Taumeln geraten, kippt über das Geländer und folgt seiner Hantel, acht Stockwerke tief. Er hatte noch so viel vor.

Aber so beglückend wäre der Anblick dann vielleicht auch nicht mehr. Ganz so eklig hat man’s ihm nun doch nicht gewünscht.

»Würden Sie jetzt vielleicht die Güte haben, mir stichhaltig zu erklären, warum Sie eine gute Stunde lang nicht an Ihrem Arbeitsplatz zu finden waren?«

Man kann’s ihm gar nicht eklig genug wünschen. »Wollen Sie hier im Ernst Fabrikmethoden einführen? Ich war im Atelier.«

»Im Atelier waren Sie nicht, da habe ich Sie suchen lassen. Sie waren auch sonst nirgendwo zu finden, jedenfalls nicht in diesem Haus. Und was die Fabrikmethoden angeht, da will ich Ihnen mal was erzählen, mein lieber Herr Wehmeier …«

Ich mußte mal an die frische Luft, du Arschloch. Aber das geht dich nichts an.

Irgendwas stimmt nicht mit Marion. So aggressiv wie heute morgen war sie früher nie. Jedenfalls nicht, wenn Jens dabei war.

Er hat noch nie geheult, wenn er einen Streit mitbekam. Ist höchstens mal abgehauen. Aber jetzt steigt er auf einmal von seinem Küchenstuhl herunter, läßt den Kakao stehen, baut sich auf in seinem T-Shirt und den Hosen, die ihm noch ein bißchen zu weit sind und bis auf die Knie reichen, mit seinen spillrigen Beinen in den großen Schnürschuhen, steht da stocksteif und fängt an zu brüllen wie am Spieß. Kneift die Lider zu, aber die Tränen schießen ihm aus den Augen, sein ganzes Gesicht ist naß. Und der Hund verzieht sich, er kriecht in seinen Korb, legt die Kinnlade auf den Rand und läßt die Augen wandern, man sieht das Weiße in seinen Augen, so strengt er sich an, die Katastrophe zu verfolgen, ohne sie durch eine auffällige Kopfbewegung auf sich zu ziehen.

»Diese Methode, Herr Wehmeier, einfach nicht zuzuhören, wird Ihnen nicht nutzen. Es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben, als das ernstzunehmen, was ich Ihnen sage. Sehr ernst.«

Und alles nur wegen dieser dämlichen Wanderung. Was zum Teufel findet Marion nur an diesen Leuten? Schnüren jeden Sonntagmorgen beim ersten Glockenschlag ihre Schuhe, als hätten sie Wanzen im Bett.

»Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Na klar. Alles klar. Roger.«

Das war offenbar eine Drehung zuviel. Nowakowski stemmte die Hände auf den Schreibtisch, als wolle er aufspringen. Er biß auf die Zähne, die Wangenmuskeln spielten. Nach einem tiefen Atemzug sagte er: »Herr Wehmeier, Ihres Bleibens in diesem Hause wird, so vermute ich, nicht mehr lange sein. Hier sind, bevor ich meine Aufgabe übernommen habe, einige Sitten eingerissen, an denen schon größere Unternehmen pleite gegangen sind. Aber das wird hier nicht passieren. Ich werde diesen Saustall schon auf Vordermann bringen, verlassen Sie sich drauf.«

»Das würde Herrn Verweerth aber freuen, wenn er das hörte.«

»Was Herrn Verweerth freuen wird, das überlassen Sie mal mir.« Er hob den Telefonhörer ab und wählte. »Nowakowski, Herr Verweerth. Herr Wehmeier hat sich wider Erwarten eingefunden. Wir können jetzt rüberkommen, wenn Sie wollen.«

Verweerth blätterte in Papieren. Er hob ein Blatt vor die Augen, legte den Kopf in den Nacken und las durch die Halbkreise der Brillengläser, strich sich den Bart. Dann legte er das Blatt ab, senkte den Kopf und sah über die Gläser. »Wo haben Sie denn gesteckt, Uli?«

»Ich bin mal um den Block gelaufen.«

»Probleme?«

»Ach. Nichts Besonderes. Ich mußte nur mal frische Luft schnappen.«

Verweerth nickte. Nowakowski, der schon den Mund geöffnet hatte, schloß ihn wieder. Er ließ sich im Sessel vor Verweerths Schreibtisch nieder, schlug die Beine übereinander, lehnte sich zurück, stützte das Kinn in die Hand, hob die Augenbrauen und setzte ein verhaltenes Lächeln auf. Ein Beobachter, der unversehens zum Zeugen eines ebenso unglaublichen wie grotesken Vorgangs geworden ist.

»Setzen Sie sich doch, Uli.« Verweerth wies auf den Stuhl an der Seite des Schreibtischs. »Woran arbeiten Sie im Augenblick?«

»An den Anzeigen für die Stadtsparkasse.«

Fall 3: Am Sonntagmorgen ruft die Traumfrau an, die Ihnen bisher nur Körbe gegeben hat. Ob Sie denn Zeit hätten heute abend, für einen kleinen Stadtbummel vielleicht? Sie haben Zeit – aber nicht so viel Geld im Haus, wie Sie mit ihr ausgeben möchten. Na und? Mit der Scheckkarte der Stadtsparkasse können Sie sich Ihr Geld aus unseren Automaten holen. Tag und Nacht. An 61 Filialen im ganzen Stadtgebiet. Natürlich: Ein Konto müssen Sie schon bei uns haben.

Denn wer hat, dem wird gegeben.

»Wie weit sind Sie denn damit?« Verweerth sah über die Brille.

»Ungefähr fertig.«

Nowakowski zog die Hosenfalte gerade. »Ich darf daran erinnern, daß die Präsentation am Mittwoch nächster Woche stattfinden soll. Und wie ich von Herrn Cvetković höre, hat er für das Layout noch keinen einzigen Text zu sehen bekommen.«

Sieh mal an, Zwetschko, dieser krumme Hund. Bohrt tagelang in der Nase, macht alles nur auf die letzte Minute, aber schwärzt andere Leute an.

»Schaffen Sie das, Uli?«

»Ich denke schon.«

Nowakowski lächelte. »Ich hab ja gleich gewarnt.« Er hob die Stimme: »Denn wer hat, dem wird gegeben!« Er schüttelte den Kopf. »Aus einem so ledernen Spruch lassen sich doch keine Funken schlagen. Damit muß man die Leute doch spätestens nach der dritten Schaltung anöden.«

»Das ist kein lederner Spruch. Das steht im Matthäus-Evangelium. Kapitel dreizehn, Vers zwölf.«

Denn wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.

»Hochinteressant, wirklich!« Nowakowski führte einen mühsam beherrschten Anfall von Heiterkeit vor, indem er die Schultern und den Bauch zucken, die Stimme ein wenig glucksen ließ. »Sagen Sie mal, Herr Wehmeier, ist es möglich, daß Sie die Arbeit in einer Werbeagentur mit der Bibelforschung verwechseln?«

Verweerth zog die Stirn zusammen. »Jetzt laßt es mal gut sein! So schlecht ist der Spruch nicht. Liegt voll im Trend.«

»Oder voll dagegen.« Nowakowski nahm ein Partikelchen vom Hosenbein. »Ich habe, wenn ich mich recht erinnere, schon gleich darauf hingewiesen, daß das auch als antikapitalistische Stimmungsmache verstanden werden kann.«

»Ja, das haben Sie.« Verweerth nahm die Blätter auf. »Uli, sehen Sie zu, daß Sie möglichst bald mit dem Auftrag fertig werden. Ich hab nämlich was Neues für Sie. Ziemlich eilig. Müßte Ihnen aber liegen.«

Die Stadtwerke? Glauben Sie nur ja nicht, daß wir Ihre Scheiße unbesehen ins Wasser pumpen. O nein: Wir bereiten sie auf, umweltfreundlich. Mit hohen Kosten – den Gewinn haben Sie. Oder vielleicht eine Sun Tan Lotion? Verleiht dem Arsch eine gesunde Gesichtsfarbe. Oder ganz was Schwieriges? Salat aus Tschernobyl vielleicht?

»Hundefutter.« Verweerth reichte die Blätter über den Schreibtisch. »Sehen Sie sich das mal an, Epple & Cie., sie haben sich eine Chance ausgerechnet, in den Markt reinzukommen. Ich hab gedacht, der Markt ist proppenvoll, aber was die da ausbaldowert haben, klingt ganz vernünftig. Natürlich muß die Kampagne ziemlich ausgefallen sein, also nicht irgendwas mit Gesund-für-den-Hund oder wie’s dem Köter schmeckt, wenn er das Zeug frißt, das haben die Großen besser drauf. Aber vielleicht kann man sie mit einer ganz ausgefallenen Idee ausmanövrieren. Eine Kampagne mit Pfiff schwebt mir vor, irgendein ganz neuer Approach.«

Hundefutter mit Pfiff. »Klar.«

»Ich. hab mir gedacht, daß Sie das reizt. Und damit Sie wissen, um was es geht: Allein für den Testmarkt wollen sie zwei Millionen lockermachen. Die Leute sind nicht von gestern, die wissen, daß sie klotzen müssen, wenn sie in den Markt reinwollen. Sie denken vor allem an Fernsehspots. Wir brauchen also eine Gesamtkonzeption und schon ein paar Ideen für die Spots. Und einen Namen, der sitzt.«

»Bis wann?«

Verweerth rieb sich den Bart. »Bis Sonntagmorgen. Ich dachte mir, daß wir uns um zehn hier zusammenhocken, Nowakowski, Sie und ich, Hildebrandt und Frau Karlisch, Stumpff natürlich. Cvetković. Und daß wir uns dann gemeinsam über Ihre Vorschläge hermachen.«

Nowakowski sagte: »Ich darf noch einmal an die Stadtsparkasse erinnern. Am Mittwoch nächster Woche müssen wir zur Präsentation.«

»Das wissen wir ja. Es tut mir leid, Uli. Aber wir sind natürlich nicht die einzigen, die hinter diesem Hundefutter her sind. Kluthe & Kluthe haben schon geglaubt, den Etat im Sack zu haben, aber sie haben für die Spots genau den alten Quatsch vorgeschlagen, der Tierarzt hält den Fraß in die Kamera, der Köter leckt sich das Maul und rülpst oder so was, und da waren sie raus. Und jetzt stehen die Epples natürlich unter Zeitdruck.«

»Rülpsen wär ja noch was Neues.«

Verweerth lachte. »Ihnen fällt bestimmt was Besseres ein. Also, ziehen Sie ab und machen Sie sich ran. Nein, Moment noch!« Er rieb sich den Bart. »Nur, um Ihnen die Richtung zu zeigen, die mir vorschwebt … Mir ist da vorhin eine Idee durch den Kopf geschossen.«

Er sah irritiert zur Tür. Babette Verweerth trat auf, in meerblau wogender Jacke, grasgrünen Röhrenhosen, meerblauen hochhackigen Stiefeln, die Augen, gesäumt von den unzähligen Fältchen, strahlten angestrengt wie immer, sie warf die Tür ins Schloß, schritt auf Verweerths Schreibtisch zu, »Hallo, Nowa, Tag, Herr Wehmeier«, beugte sich weit über den Schreibtisch und küßte Verweerth auf die Stirn, »Erik, mein Lieber«, streifte Nowakowski, der sich erhoben hatte, mit einem Wangenkuß, zog im Weitergehen die Jacke aus, warf sie aufs Sofa und ließ sich nieder. Sie schlug die grasgrünen Beine übereinander, klappte die Handtasche auf und sah in den Spiegel. »Laßt euch nicht stören.« Zwei Finger tupften die rötlichen Locken über der Stirn zurecht, verharrten einen Augenblick lang in der Schwebe, dann strichen sie über die Mundwinkel, die schlaffen Falten rechts und links der Lippen.

Irgendwann wird sie sich liften lassen, es kann nicht mehr lange dauern. Vielleicht ist das Bett in der Klinik schon bestellt. Oder sie hat zuviel Angst. Versucht es vorerst noch mit Gymnastik, Jazz Dance, Gesichtspackungen, Schlammbädern. Wie fühlen Sie sich, Frau Verweerth? Wie neugeboren, tatsächlich. Bis die Wärme unter der Haut sich wieder verliert.

Verweerth starrte über die Brillengläser. »Ich dachte, du wolltest erst morgen zurückkommen?«

»Ich hab mir’s anders überlegt.« Sie klappte die Handtasche zu. »Na, was brütet ihr aus?«

Verweerth setzte die Brille ab, nahm ein Tuch hervor und putzte stumm die Gläser. Nowakowski schob seinen Sessel halb zur Seite, lächelte Babette an. »Es geht um Hundefutter. Sieht so aus, als ob wir einen Etat von zwei Millionen an Land ziehen könnten.«

»Na, dann strengt euch mal an. Wie weit seid ihr denn?«

»Wir sind schon fertig.« Verweerth steckte das Tuch weg. »Also, fangen Sie sofort an, Uli, aber vergessen Sie die Sparkasse nicht.«

»Sie wollten mir doch noch einen Tip geben. Diese Idee, die Sie gehabt haben.«

»Ach ja, richtig.« Er setzte die Brille auf, zögerte einen Augenblick. Dann sah er über die Gläser. »Was halten Sie von einem klavierspielenden Hund?«

»Sie meinen …?«

Babette stützte beide Hände auf den Rand des Sofas, sie beugte sich vor. »Ein was? Was hast du gesagt?«

»Ein klavierspielender Hund, habe ich gesagt. Spreche ich so undeutlich?«

»Und damit willst du Hundefutter verkaufen?« Sie ließ sich in das Sofa zurücksinken, sah auf zur Decke. »Also, weißt du, Erik! Ich hab ja ein Faible für originelle Ideen. Aber das ist doch wohl nicht möglich!«

»Natürlich ist das möglich!«

Nowakowski, der die Hand über die Lippen gelegt hatte, räusperte sich. »Ich weiß mich jetzt nicht zu erinnern … aber ist denn in dem Epple-Material die Rede von Trickfilmen?«

»Wie kommen Sie auf Trickfilme? Natürlich nicht. Ich spreche von ganz simplen, realistischen Spielszenen, Szenen mit Hunden!«

»Ja, aber …«, Nowakowski hob die Schultern und breitete die Hände aus, als sei es ihm peinlich, so begriffsstutzig zu sein, »wo wollen Sie einen Hund auftreiben, der Klavier spielen kann?«

»Mein Gott noch mal!« Verweerth klatschte die Hand auf die Stirn. »Ich hab doch nicht gesagt, daß er die Mondscheinsonate spielen soll! Haben Sie so was denn noch nie gesehen, im Fernsehen ist der Köter aufgetreten, er kann keine Noten lesen, da haben Sie völlig recht, aber er haut mit der Vorderpfote auf die Tasten und klimpert sich was zusammen. Ich weiß es nicht mehr genau, aber wenn ich mich nicht irre, war es sogar Hänschen klein.«

»Moment mal, Moment mal!« Babette sprang auf und näherte sich, den erhobenen Zeigefinger wedelnd. »Jetzt weiß ich, wovon du redest. Du schmeißt was durcheinander.«

»Ich schmeiße überhaupt nichts durcheinander.«

»Doch. Natürlich.« Sie beugte sich über den Schreibtisch. »Es gibt Seehunde, die so etwas können. Sie spielen Melodien auf Autohupen, Hänschen klein zum Beispiel. Nur verwechselst du das mit den Hunden, die im Zirkus auftreten. Die können das nicht. Hunde sind auch ganz unmusikalisch.«

Verweerth beugte sich vor und sagte sehr laut: »Herrgott noch mal! Ich hab den Köter selbst gesehen! Im Fernsehen! Er hat Klavier gespielt!«

»Du irrst, Erik, wie so häufig. Hunde können eine ganze Menge, diesen …«, sie ließ den Zeigefinger kreisen, »den Salto rückwärts, Flicflac und solche Sachen. Aber eine Melodie spielen, das ist ganz ausgeschlossen!«

»Er hat Hänschen klein gespielt!«

Nowakowski sagte: »Einen Augenblick mal, verzeihen Sie … Mir kommt da eine Idee.«

Raus hier, auf dem schnellsten Wege. Nun auch noch eine Idee von Nowakowski, das kann zu traumatischen Folgen führen, nächtlichen Schweißausbrüchen, Alpträumen, Seehunde, massenweise, sie umzingeln das Bett und verlangen röhrend nach Epples Hundefutter, denn sogar Seehunde wissen, was Hunden schmeckt, und Nowakowski hebt die Büchse und weist mit dem Finger darauf, lächelnd.

Verweerth starrte Nowakowski an. »Schießen Sie los. Worauf warten Sie?«

»Nun, diese Zirkushunde … Es wird ja nicht schwer sein, so einen Hund aufzutreiben und ihn zu engagieren.«

»Und dann?«

»Ich stelle mir einen Spot vor, in dem eine Hand den Napf mit dem Futter vor den Hund stellt. Und dann fängt der nicht sofort an zu fressen, sondern er macht erst einmal den Salto rückwärts, zweimal oder dreimal. Vor Freude, verstehen Sie?«

»Ich verstehe.« Verweerth legte eine Pause ein. Dann beugte er sich vor: »Und damit wollen Sie eine Serie von Spots machen? Sechs Wochen lang, und jedesmal passiert nichts anderes, als daß der Hund sich überschlägt, vor Freude?«

Nowakowski zog das Kinn an, mit der Andeutung eines Kopfschüttelns. »Verzeihen Sie, Herr Verweerth, aber vor diesem Problem stehen Sie ja auch mit Ihrem klavierspielenden Hund. Der kann schließlich auch nichts anderes als immer wieder denselben Trick vorführen.«

»Eben nicht! Dem können Sie nämlich jedesmal eine andere Melodie unterlegen! Oder Sie lassen zu derselben Melodie jedesmal einen anderen Text singen, von einer Baßstimme zum Beispiel, damit es wirkt, als ob der Hund das selber singt, dazu muß er ja nur das Maul bewegen, und dazu bekommt man ihn mit Sicherheit. Das Schwierigste sind die Texte, aber die werden uns ja einfallen, hoffe ich.« Verweerth ließ sich zurücksinken. »Na? Was sagen Sie dazu?«

Babette sagte: »Das klingt ganz gut. Nur wird die ganze Sache daran scheitern, daß es den Hund nicht gibt, der Klavier spielen kann.«

»Also Schluß jetzt.« Verweerth stand auf, dann setzte er sich wieder, er hob den Aschbecher hoch und stellte ihn heftig wieder ab. »Machen Sie sich an die Arbeit, Uli. Sie haben keine Fragen mehr, nehme ich an?«

»Muß es dieser klavierspielende Hund sein?«

Nowakowski lächelte: »Das haben Sie doch gehört.«

Verweerth atmete tief. Dann sagte er: »Natürlich nicht. Ich hab doch gesagt, daß ich Ihnen nur die Richtung angeben wollte. Wenn Ihnen was Besseres einfällt, um so besser.«

»Okay. Ich werd drüber nachdenken.«

Babette sagte: »Und fragen Sie Fräulein Zander mal, wo mein Kaffee bleibt.«

Fräulein Zander war dabei, den Kaffee aus der Maschine in ein Kännchen umzufüllen. Sie sah auf: »Na, machen Sie das Hundefutter?«

»Sieht so aus.«

»Da haben Sie aber Glück gehabt.«

»Wieso?«

»Herr Nowakowski wollte Sie schon feuern.«

»Dieses Arschloch.«

»Aber, aber! Warten Sie, ich hab da noch ein paar Probebüchsen für Sie.«

»Von Epple?«

»Ja. Haben sie mitgeschickt.« Sie ließ den Kaffee stehen und öffnete einen Wandschrank.

»Bringen Sie lieber erst den Kaffee rein. Frau Babette ist schon ganz ausgedörrt.«

»Ach, die kann mich doch mal.« Sie stellte einen Karton mit sechs unbeschrifteten Büchsen auf den Schreibtisch. »Hier, lecker, lecker. Soll ich mal eine aufmachen? Vielleicht inspiriert Sie das.«

»Nein, lassen Sie nur. Ich weiß sowieso nicht, wohin vor lauter Ideen.«

»Ich seh’s Ihnen an.« Sie kam heran und ließ die Augen wie suchend wandern. »Dieses Glitzern in Ihren Augen – sind das die Ideen?«

»Nein, das ist was anderes.«

»Oh, wirklich? Was denn?«

Nowakowski schloß die Tür zu Verweerths Zimmer hinter sich. »Fräulein Zander, Frau Verweerth wartet auf den Kaffee. Und der Herr Wehmeier hat auch Besseres zu tun, als hier herumzustehen.«

»Ich stehe hier nicht herum.«

»Nein? Was tun Sie denn?«

»Ich arbeite. Hier, sehen Sie mal: Hundefutter. Oder hatten Sie das schon vergessen?«

»O nein. Darauf können Sie wetten, daß ich das nicht vergesse.« Nowakowski lächelte. »Machen Sie nur weiter so. Sie schaufeln sich Ihr eigenes Grab, mein Lieber.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Ich an Ihrer Stelle hätte diesen Auftrag nicht so großkotzig übernommen. Das schaffen Sie doch nie bis Sonntagmorgen. Entweder schmeißen Sie die Sparkasse. Oder Sie müssen am Sonntagmorgen hier anrücken und den Offenbarungseid ablegen. War nichts mit dem Hundefutter. Da bin ich aber mal sehr gespannt auf Herrn Verweerths Reaktion.«

»Hoffentlich halten Sie so viel Spannung aus.«

»Das werde ich, mein Lieber. Und nicht nur das: Ich werde es genießen. Also, dann …«, er hob winkend die Hand. »Frohes Schaffen!« Er wandte sich lächelnd ab und ging.

»Können Sie sich den mit einem Messer im Rücken vorstellen?«

»Ja, das kann ich.« Fräulein Zander hob das Tablett. »Aber tun Sie’s nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich würde Sie nicht gern im Gefängnis besuchen. Da kann ich mir was Schöneres vorstellen.«

2

Jens erschien in der Küchentür. Er hatte seine Hose ausgezogen, die Schuhe und die Strümpfe, hatte die Pantoffeln angezogen, aber die Schnallen nicht geschlossen. Er steckte einen Finger in den Mund, kaute darauf herum. Nach einer Weile sagte er: »Wann kommt denn der Papi endlich?«

»Ich weiß es doch auch nicht.« Woher soll ich das wissen? Und warum? Macht es irgendeinen Unterschied, ob er jetzt kommt oder später? Oder gar nicht?

»Dann ruf doch mal an.«

»Ich hab dir schon mal gesagt, daß ich nicht anrufe. Und jetzt nimm den Finger aus dem Mund. Du bist doch kein Baby mehr.« Ist er natürlich doch. Und für ihn macht es schon einen Unterschied, wann sein Vater kommt. Ob er das aushielte, wenn er nicht mehr unter einem Dach mit seinem Vater wohnte?

Viele Kinder müssen das aushalten. Und sie halten es aus.

Jens nahm den Finger aus dem Mund. »Aber ich kann ja mal anrufen.«

»Nein, das wirst du nicht! Oder willst du den Papi stören?« Liebes Kind, hör auf, mich zu nerven. Bitte. Zwing mich nicht, dir zu erklären, daß dein Vater etwas Wichtiges zu tun hat. So wichtig, daß niemand ihn dabei stören darf. Ich schaff das jetzt nicht. Soll ich diesem Kind weismachen, daß der Unsinn, den sein Vater produziert, einen Sinn hat? Das kann doch niemand von mir verlangen, verdammt noch mal!

Er schlappte auf seinen Pantoffeln zum Hundekorb, kniete nieder und zog den Dackel am Ohr. Der Dackel wälzte sich auf den Rücken, er schnappte vorsichtig nach der Hand. »Aber ich störe den Papi ja nicht. Der freut sich bestimmt, wenn ich anrufe.«

»Also Schluß jetzt. Und mach die Pantoffeln zu, sonst fällst du noch. Geh rauf und zieh deinen Schlafanzug an.«

Fällt mir nichts Besseres ein? Es ist unfair, das Kind büßen zu lassen, was seine Eltern anrichten. Dieser ganze Mist, dieser undurchdringliche, von Tag zu Tag immer höher sich häufende Mist, man darf ihn nicht auf ein Kind abladen. Na gut, er gehorcht sowieso nicht, er stellt sich einfach taub. Aber es geht ihm nahe. Sonst hätte er heute morgen nicht so geschrien. Und sein Vater nutzt natürlich die Situation, er nimmt ihn in den Arm, der große Tröster, komm her, Männlein, es ist doch nichts passiert, wir haben nur ein bißchen laut gesprochen, aber wir tun’s nicht mehr, ganz bestimmt, jetzt hör auf zu weinen, Männlein, es ist alles in Ordnung, siehst du?

Dieser Heuchler. Nichts ist in Ordnung. Und laut gesprochen habe nur ich, das wollte er mir auf diese infame Weise klarmachen, und dem Kind natürlich auch, infamer geht es nicht, er entschuldigt sich für etwas, das er gar nicht getan hat, damit klar wird, daß ich die Schuldige bin. Und mir fällt nicht ein, wie ich mich dagegen wehren kann, ich möchte schreien, ihn umbringen, diesen Heuchler, mit beiden Fäusten auf ihn eindreschen, aber dann hätte er sein Ziel erreicht, es wäre völlig klar, daß ich allein die Schuldige bin, und das Kind würde es glauben, seinen Vater verteidigen und sich an ihn klammern.

»Jens?«

»Ja?«

»Komm, ich geh mit dir rauf. Ich helf dir beim Ausziehen, und dann …«

Er sprang auf. »Der Papi, der Papi!« Er lief zur Tür, die Pantoffeln über den Boden ziehend, als liefe er Schlittschuh, der Hund sprang aus dem Korb, glitt aus, als er die Kurve zur Tür nehmen wollte, rappelte sich mit strampelnden Pfoten wieder auf und verschwand in der Diele. Das Garagentor fiel zu. Der Hund kläffte. Jens’ Stimme, die Worte schienen sich zu überschlagen, es war nicht zu verstehen, was er sagte. Und diese dunkle Stimme, das Lachen. »Jetzt aber rein mit euch, ihr macht ja die Nachbarschaft rebellisch!« Die Haustür fiel ins Schloß. Der Hund bog mit wehenden Ohren um die Ecke, sprang in seinen Korb, setzte sich und sah erwartungsvoll zur Tür, wedelte.

»Guten Abend, Marion.«

»Guten Abend.« Keinen Kuß, bitte. Wenn es sich vermeiden läßt.

Er kam heran, beugte den Kopf vor. »Wie geht es dir?«

»Danke, es geht mir ausgezeichnet.« Dieser verwunderte, leicht enttäuschte Blick, weil er mit seinen Lippen ins Leere gerät. Man muß ihm gar nicht in die Augen sehen, man spürt diesen Blick förmlich auf der Haut.

Er wandte sich ab, stellte den kleinen Karton, den er unter dem Arm hereingebracht hatte, auf den Tisch. Jens öffnete den Kühlschrank und wies mit dem Finger hinein. »Die Mami hat Salat gemacht, Papi, soll ich dir was geben?«

»Nun mal langsam. Wieso bist du eigentlich noch auf?«

»Weil ich auf dich gewartet habe. Was ist in dem Karton, Papi?«

»Etwas ganz Besonderes.«

»Was denn?«

»Das kann ich dir noch nicht sagen.«

»Warum denn nicht?«

»Weil es noch keinen Namen hat.« Er setzte sich, griff in den Karton und holte eine Büchse heraus, stellte sie auf den Tisch.

»Mußt du den erfinden?«

»Ja.«

Ich bin aus dieser Unterhaltung ausgeschlossen. Sie denken gar nicht daran, mich teilnehmen zu lassen. Das ist meine Schuld, nicht wahr? Ich hätte ihm ja meine Wange hinhalten können, und schon wäre alles wieder in Ordnung gewesen, die Familie ist am Feierabend endlich vereint, Vater, Mutter und das Kind, sie reden miteinander, und dann wird das Kind zu Bett gebracht, und alle haben sich lieb, reihum.

»Aber Papi, wenn du mir verrätst, was es ist, dann kann ich dir ja helfen, den Namen zu erfinden?«

»Das ist keine schlechte Idee. Hilfe kann ich gebrauchen.«

»Dann sag’s doch endlich.«

»Hol mir mal den Büchsenöffner.«

Glaubt er wirklich, er könne mit einem läppischen Kuß das Problem aus der Welt schaffen? Will er den bescheidenen Wunsch, den ich zu äußern gewagt habe, ganz einfach totschweigen? Warum versucht er nicht, die Ursache dieses Streits auszuräumen? Es tut mir leid, Marion, ich weiß auch nicht, warum ich so ekelhaft war heute morgen. Ich wandere mit am Sonntag. Ich bin ein Idiot, es wird mir guttun, mal an die frische Luft zu kommen. So einfach wäre es.

Er schnitt die Büchse auf, hielt sie unter die Nase, hob bedeutungsvoll die Augenbrauen. Jens, auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches sitzend, beide Arme angewinkelt auf der Tischplatte, das Kinn auf den Armen, sah gespannt zu.

»Aha, aha!« Er schob Jens die Büchse hinüber. Jens reckte den Kopf vor, sah über den Rand der Büchse, schnüffelte, fuhr zurück und hielt sich die Nase zu: »Ih! Das stinkt ja!«

»Das stinkt doch nicht.«

»Das stinkt aber doch! Das stinkt wie Gepupstes!«

»Du spinnst doch. Paß auf.« Er bückte sich, hielt die Büchse über den Boden. »Pit, komm mal her!« Der Dackel sprang aus dem Korb, lief ein paar Schritte, näherte sich dann der Büchse immer langsamer. Er blieb stehen, reckte den Kopf vor. Plötzlich begann er zu lecken.

»Siehst du. Der hat die feinste Nase von uns allen. Das riecht lecker.«

Jens, beide Hände am Rand des Tisches, den Kopf unter den Tisch gebeugt, schrie: »Ich weiß, was das ist, ich weiß, was das ist!«

»Na, was denn?«

»Hundefutter, Hundefutter!«

»Sehr gut. Du hast es erraten. So, und jetzt ist Schluß der Vorstellung.« Er hob die Büchse und stellte sie auf den Tisch. Der Dackel setzte sich, wedelte und sah hoch. »Hau ab, Pit. Das war für heute genug.«

»Aber du darfst ihn nicht zanken!«

»Hat er denn sein Fressen noch nicht bekommen?«

»Doch. Aber wenn du ihn lecken läßt, mußt du ihm auch ein Stückchen zu fressen geben. Sonst ist er traurig!«

»Ach wo. Sieh ihn dir doch an. Der ist ganz vergnügt. Der freut sich jetzt auf morgen.«

Jens kroch unter dem Tisch durch und streichelte den Dackel. »Pitty, freust du dich auf morgen?« Der Dackel leckte sich das Maul.

»Siehst du. Komm jetzt, ich bring dich rauf.« Er rückte den Stuhl nach hinten. Jens sprang ihm mit gespreizten Beinen auf den Schoß, umklammerte seine Brust mit beiden Armen: »Du kannst mich nicht tragen, ich bin zu schwer für dich! Los, versuch doch mal aufzustehen!«

Er stand ächzend auf, »ach, du lieber Gott, das ist ja wie ein Sack voll Blei!« setzte sich mit tappenden Füßen in Bewegung, wankte um den Tisch herum und kam heran.

Wenn er versucht, sich an den Gute-Nacht-Kuß anzuhängen, werde ich ihm eins auf die Nase geben. Ich werde ihn vors Schienbein treten.

Er blieb aufrecht stehen. Jens reckte den Kopf nach hinten, mit gespitzten Lippen. »Gute Nacht, Mami.«

»Gute Nacht, Jens.«

Sie wankten zur Tür hinaus. Der Dackel stand auf, wedelte, hob eine Vorderpfote, entschloß sich aber zu bleiben. Er setzte sich wieder und sah hoch zum Tisch. Ein Ächzen noch von der Treppe, »du lieber Gott, wie soll ich das nur schaffen bis da oben!« Jens kicherte.

Er wird ihn bis zum Rand des Betts schleppen und dann so tun, als bräche er zusammen, er läßt sich ein wenig zur Seite fallen, damit Jens nicht unter ihn zu liegen kommt, sie plumpsen auf das Bett, er verdreht die Augen, schließt sie, stöhnt auf und bleibt liegen, regungslos. Jens trommelt mit beiden Fäusten auf seine Brust, kneift ihn in die Wangen und zieht daran, rüttelt an seinen Schultern. Plötzlich schlägt er die Augen auf und kitzelt Jens unter den Armen, der kleine Kerl lacht schallend und schlägt um sich, und dann folgt der Ringkampf, die nackten kleinen Füße strampeln und verlieren die Pantoffeln, Ächzen, Stöhnen, und am Ende läßt er sich von Jens in den Schwitzkasten nehmen, streckt die Zunge lang heraus und Jens schreit: »Du hast verloren, du hast verloren!«

Genau so, wie man es sich vorzustellen hat. Wie es im Buch steht. Das Familienspiel. So geht es zu zwischen Vater und Sohn, da, wo die Welt noch in Ordnung ist. Wer fände etwas auszusetzen an diesem Mann? Er kümmert sich doch um sein Kind, und das tun ja lange nicht alle. Kann man mehr von ihm verlangen? Unerhörte Frage. Er arbeitet schließlich schwer, dieser kreative Beruf, nicht wahr, das braucht nicht nur viel Zeit, das kostet auch Kraft, diese Werbesprüche, sie fallen einem ja nicht in den Schoß, man muß erst einmal darauf kommen, und dann muß man daran feilen, polieren, tagelang, oft doch auch nächtelang, und die schöpferischen Pausen, wer würde das nicht verstehen! Starrt aus dem Fenster, hört nicht, was ich sage, taucht plötzlich auf wie aus tiefem Traum und fragt: »Was hast du gesagt? Warum schläfst du denn noch nicht?«

Ja, was habe ich gesagt! Ist es nicht zu läppisch, um es zu wiederholen? Was mich beschäftigt, was ich da treibe, von acht bis zwölf im Büro, an den langen Nachmittagen zu Hause, die Schulaufgaben mit Jens, das bißchen Hausarbeit, ist es denn die Rede wert? Die paar Briefe am Vormittag, na gut, in französisch und italienisch, aber es wird wohl niemand behaupten wollen, daß Briefe des Speditionsgewerbes dem Menschen geistige Höhenflüge abverlangen! Man muß den Mann doch verstehen, es langweilt ihn, was ich zu erzählen habe. Und es muß ihn kränken, wenn ich seine brillanten Sprüche zum Kotzen finde.

Wer wollte sich darüber wundern, daß er das Familienspiel nur noch mit seinem Sohn spielt? Bin nicht ich schuld daran, ich allein?

So ist es. Zum Kotzen.

Er kam zurück, nahm den Salat aus dem Kühlschrank, schnitt eine Scheibe Brot ab und setzte sich an den Tisch. »Was machst du da?«

»Das siehst du doch.«

»Ist die Hose denn noch zu retten?«

»Hast du einen besseren Vorschlag? Wenn ich jede Hose wegschmeiße, die er zerreißt, dann wird er bald nackt herumlaufen.«

»So hab ich’s ja nicht gemeint.«

»Wie hast du’s denn gemeint?«

Er kaute stumm.

Das war nicht nett von mir. Ich hätte sagen müssen: Ich flicke die Hose, die Jens vorgestern zerrissen hat. Er hat einen Wutanfall bekommen, der kleine Sonnenschein, weißt du, und ist in den Garten gelaufen und wollte sich in den Sträuchern verstecken, und dabei ist er hängengeblieben, aber er hat einfach weitergezerrt, vor lauter Wut, und schon war dieser Riß in der Hose. Aber ich bekomme das hin, siehst du. Ich hätte die Hose hochheben und ihm den Flicken zeigen und lachen müssen, ein kleines, fröhliches Lachen. Und dann wäre er aufgestanden und zu mir gekommen und hätte mir einen Kuß gegeben. Das wäre nett gewesen, nicht wahr.

Er zog die Büchse heran, schnupperte, schob die Büchse wieder weg. Er aß weiter. Nach einer Weile sagte er: »Mir ist ein Name für dieses Zeug eingefallen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich gut ist.«

Verschone mich. Ich bin kein Versuchskarnickel, verdammt noch mal. Und ich will nicht auch noch mitmachen bei diesem Nonsens, mit dem die Leute verdummt werden sollen.

»Kannst du mal genau zuhören und mir sagen, was du davon hältst?«

»Wenn’s sein muß.«

Er legte die Gabel auf den Teller, rieb sich die Nase, lächelte. Dann sagte er: »Schmatz.«

Ich glaube, ich hör nicht recht. »Schmatz? Wie Kuß?«

»Nicht wie Kuß. Wie schmatzen, verstehst du? Beim Essen. Beim Fressen. Aber nicht schmatzen, sondern Schmatz. Schlicht und einfach: Schmatz.«

Diese blauen Augen. Ich war mal verrückt darauf, sie haben mich angemacht. Es kann doch nicht wahr sein, daß hinter diesen Augen solch ein Unsinn ausgebrütet wird.

Er nickte. »An die Assoziation zu Kuß hab ich auch schon gedacht. Aber das muß nicht schaden, im Gegenteil, das ist ja eine positive Assoziation. Normalerweise jedenfalls. Wenn die unterschwellig mitwirkt – um so besser. Die zentrale Botschaft ist jedenfalls ganz unmißverständlich, Schmatz, wenn das im Zusammenhang mit Hundefutter auftaucht, weiß doch jeder, was gemeint ist.« Er zuckte die Schulter. »Glaube ich jedenfalls. Oder bist du anderer Meinung?«

»Sei mir nicht böse, Uli. Aber ich hab kein Organ für so was. Darüber sind wir uns doch schon lange einig. Ich … ich komm da einfach nicht mit.«

Bin ich eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Will ich schon wieder eingestehen, daß es nur an mir liegt? Das ist doch nicht zu fassen. »Ich halt’s ganz einfach für Quatsch, verstehst du? Schmatz! Ich kann dir wirklich nicht sagen, ob die Leute darauf reinfallen werden oder nicht. Ich will es auch nicht wissen. Ich halt’s ganz einfach für pervers.«

Er nickte. Dann stand er auf, kratzte den Rest von seinem Teller in den Abfalleimer, wusch den Teller und das Besteck ab. Er stellte die Büchse in den Karton, fuhr mit dem Lappen über den Tisch, wusch sich die Hände, trocknete sie sorgfältig ab. Er nahm den Karton unter den Arm, der Dackel fiepte.

»Das ist ein neuer Auftrag?«

»Ja.«

»Und bis wann mußt du damit fertig sein?«

Er zögerte. Dann sagte er: »Zunächst bis Sonntagmorgen. Um zehn wollen wir uns zusammenhocken und über mein Konzept reden.«

»Am Sonntag? Das heißt also, daß du unter gar keinen Umständen mitkommen kannst?«

Er nickte. »Es tut mir leid, Marion. Ich hatte es mir überlegt, ich wollte dir sagen, daß ich mitkomme. Aber dann kam Verweerth mit diesem Auftrag, wir haben den Etat noch nicht, verstehst du, aber wir können ihn bekommen, zwei Millionen immerhin. Und da steckt noch viel mehr drin.«

»Hör auf.«

Er zog die Augenbrauen zusammen. »Warum soll ich aufhören? Interessiert es dich nicht, was ich dir zu sagen habe?«

»Nein. Es interessiert mich absolut nicht.«

»Dann wirst du mich ja auch nicht vermissen bei dieser Wanderung.«

»Nein, das werde ich nicht, da hast du recht. Ich werde aufatmen, das kannst du mir glauben, ich werde froh und zufrieden sein unter Menschen, die … die einem noch zuhören können, und die etwas anderes im Kopf haben als Fernsehspots und Millionenetats und … und Hundefutter und …«

Er stand da, mit seinem Karton unter dem Arm, und wartete. Ich darf jetzt nicht weinen. Ich muß diesen Satz vollenden, mit einem und kann man nicht aufhören. Ich werde nicht weinen, das fehlte gerade noch.

Er sagte: »Warum ziehst du eigentlich nicht ganz zu ihnen? Bei diesen Naturaposteln wird doch noch ein Plätzchen für dich zu finden sein?«

Treib’s nicht auf die Spitze. Überspann den Bogen nicht, ich gebe dir den guten Rat.

Er lächelte. »Ich meine – wenn sie dich so mögen und du so versessen darauf bist, mit ihnen zusammenzusein. Dann könntest du nach Lust und Laune wandern. Und dich rund um die Uhr biologisch-dynamisch ernähren. Und meditieren. Und überhaupt so leben, wie du es dir erträumst. Na, wäre das nichts?«

Raus hier. Ich muß an die frische Luft, ich halt’s nicht mehr aus. Der Mantel, das Kopftuch, ich kann’s vor der Tür binden, raus. Ich hab mein Portemonnaie vergessen, egal, ich werd’s nicht brauchen.

Die Dunkelheit, der Regen. Die Straße wie ausgestorben, weit weg die Lichtflecke der Fenster hinter den Vorgärten. Ich darf weinen, ganz hemmungslos, niemand wird meine Tränen sehen, und wenn doch noch einer käme und ich unter der Laterne an ihm vorbeiginge, würde er glauben, es sei der Regen, der meine Wangen näßt. Ich darf sogar laut schluchzen. Niemand wird mich hören.

3

»Lubo, hast du Uli schon gesehen?«

Cvetković sah nicht auf. Er tupfte seine Feder auf das Transparentpapier, Pünktchen um Pünktchen. Im Aschbecher qualmte eine seiner schwarzen Zigaretten, aus der roten, irdenen Tasse dampfte der Kaffee.

Er kann ein richtiges Ekel sein, dieser kleine Cvetković. Ich mag ihn ja. Er ist noch immer hübsch anzusehen, trotz des Bäuchleins, das er sich angetrunken hat. Die bräunlichen, glatten Hände, die schwarzen Locken. Und meistens ist er ja auch lieb. Selbst dann, wenn er einen in der Krone hat. Aber man weiß nie, wann ihn der Teufel reitet. Er wird mich jetzt hier stehen lassen und seine Pünktchen tupfen, bis es ihn verlangt, an der Zigarette zu ziehen. Er will den Künstler herauskehren, den man nicht stören darf. Oder er ist ganz einfach gekränkt, weil ich nicht von ihm was will, sondern nach Uli gefragt habe.

»Lubo! Bist du schwerhörig?«

Cvetković legte die Feder ab. Er warf sich zurück und hob die Hände. »Was glaubst du eigentlich, was ich hier tue? Meinst du, das ist Kindergarten? Hier kann doch nicht jeder reinkommen und mir reinquatschen! Jetzt ich hätte beinah das Blatt versaut!« Er zog an der Zigarette, schluckte den Rauch mit Kaffee hinunter.

Klas Kaufmann, der vor seinem Zeichenbrett am Fenster stand, sagte: »Laß den kleinen Ljubomir in Ruhe, Christel. Er war doch gerade so schön bei der Arbeit.«

»Ja, ja, du auch noch!« Cvetković schüttelte die Faust. »Geht ja nicht, ohne daß du Senf dazugibst!« Kaufmann lachte.

»Tut mir leid, Lubo, ich wollte dich nicht stören. Hast du eine Ahnung, wann Uli kommt?«

»Nein, habe ich nicht.« Er beugte sich über das Transparentpapier, studierte die Pünktchen. »Mußt noch ein bißchen aushalten mit Sehnsucht.«

»Laß doch die blöden Witzchen.«

Er lachte. »Ja, ja.« Er beugte sich noch ein wenig tiefer über das Papier. »Wenn Sonne kommt spät, kommt heiß.«

»Was murmelst du da?«

»Das ist serbische Sprichwort. Muß ich Uli mal sagen. Weiß er vielleicht noch gar nicht.«

»Was weiß ich nicht?« Uli Wehmeier schloß die Tür hinter sich. »Ich weiß bekanntlich alles.«

Das ist doch wirklich ein Biest, dieser Cvetković. Ich hab’s genau verstanden: Wenn Sonne kommt spät, kommt heiß. Alte Scheunen brennen gut, nicht wahr? Und Kaufmann grient vor sich hin.

»Christel, mein Schatz.« Der angedeutete Kuß aufs Haar. Es ist ganz lächerlich, aber ich fühle mich erleichtert, bloß weil er da ist. »Was tust du hier so früh? Warum vergeudest du deine Zeit mit diesen schrägen Vögeln?«

»Ich hab dich gesucht, Uli. Hast du vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich?«

»Sofort. Ich habe nur mit diesem Picasso hier noch etwas zu besprechen.« Er legte seine Mappe auf Cvetkovićs Tisch ab, stützte beide Fäuste auf den Tisch, beugte sich vor. »Zwetschkowitz, was habe ich hören müssen?«

Cvetković studierte seine Pünktchen. »Was willst du?« Er tastete, über das Blatt gebeugt, mit der Rechten nach dem Federhalter.

»Ich habe dir etwas zu sagen, Zwetschkowitz.«

»Dann sag und hau ab. Du störst mich. Und nenn mich nicht Zwetschkowitz.«

»Ich habe dir wiederholt geraten, deinen Namen eindeutschen zu lassen. Aber Pflaumenhuber willst du ja nicht heißen. Obwohl das ein schöner Name wäre, der gut zu dir passen würde.«

Cvetković hob, ohne sich aufzurichten, den Kopf und sah Wehmeier düster an. »Hau ab, hab ich gesagt.«

»Das könnte dir so passen. Du wirst mir Rede und Antwort stehen.«

»Ich werde überhaupt nichts. Ich werde dich in Arsch treten, wenn du nicht verschwindest.«

»Wie willst du das Bein so hoch heben?« Wehmeier schüttelte den Kopf. »Nein, Ljubomir Ljubomirowitsch, du mußt dir schon anhören, was ich dir zu sagen habe.« Er beugte sich noch ein wenig weiter vor. »Wie ich höre, intrigierst du.«

»Was tue ich?«

»Du intrigierst. Du schmiedest Ränke, du ziehst verborgene Fäden. Du versuchst, anderen ein Bein zu stellen.«

Cvetković warf den Federhalter auf den Tisch. »Wer hat das gesagt?«

Wehmeier nickte schwer. »Herr Kreativ-Direktor Nowakotzki persönlich. Ich hab’s aus seinem eigenen Munde.«

Cvetković begann auf seinem Stuhl zu zappeln. »Und das glaubst du? Das glaubst du?«

»Sag die Wahrheit, Zwetschko. Hast du gesagt, daß du von mir noch keinen einzigen Text für die Sparkasse bekommen hast? Ja oder nein?«

»Na und? Stimmt das nicht?« Er fuhr sich durch die Locken. »Was soll ich machen, wenn Nowakowski mich fragt? Dreimal war er hier, immer wegen Sparkasse!«

»So, so, das ist ja interessant. Nun gut, Ljubomir, damit niemand dich mehr verführen kann, deinen Freund anzuschwärzen, wirst du jetzt bedient.« Er öffnete seine Mappe, zog einen Hefter heraus und legte ihn vor Cvetković, fuhr mit den Fingerspitzen rechts und links an den Kanten entlang, als wolle er die Blätter exakt ausrichten. »Hier hast du, worauf du so begierig gewartet hast. Fall eins bis acht aus dem Sparkassenwesen, und einer schöner als der andere.«

Cvetković starrte auf den Hefter.

»Nun such mal eine richtig geile Schrift heraus. Du kannst sofort anfangen. Bis heute abend wirst du das doch wohl geschafft haben.«

»Bist du verrückt geworden?« Cvetković hob den Hefter hoch und warf ihn wieder auf den Tisch. »Glaubst du, ich hab nichts anderes zu tun? Warum bringst du immer auf letzte Minute?«

»Komm, Christel. Der Künstler braucht jetzt seine Ruhe, wir dürfen ihn nicht länger stören.«

Wann hat er bloß die Texte gemacht? Gestern abend hatte er erst drei zusammen. Er muß die Nacht durchgearbeitet haben. Aber man sieht es ihm nicht an, er wirkt frisch und munter. Die Hand an meinem Arm, sie führt mich zur Tür, während Cvetković seinen Anfall verzweifelter Wut ausgestaltet. Es ist völlig verrückt, aber diese Hand gibt mir das Gefühl, als wäre mein Problem fast schon erledigt.

Er sagte: »Kannst du mit zu mir kommen? Ich warte auf einen Anruf.«

»Ich will dich auch gar nicht lange aufhalten.«

»Ich hab Zeit.« Er schloß die Tür des Büros, räumte den Papierstapel vom Stuhl, ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Diese blauen Augen. »Du siehst nicht besonders gut aus.«

»Ich fühl mich auch nicht besonders gut.« Ich fühle mich uralt, Uli, aber das würdest du vielleicht nicht verstehen. Die zehn Jahre, die uns trennen, das ist eine ganze Ewigkeit. Die Erfahrung mußt du erst noch machen. Als ich sechsunddreißig war, hab ich auch die Nacht durcharbeiten können und bin am nächsten Morgen frisch und munter ins Büro gekommen.

»Aber du bist doch hoffentlich nicht krank?«

»Nein, nein. Mir fehlt nichts.«

»Na, Gott sei Dank.«

Warum will ich ihn eigentlich mit diesem Problem belasten? Was soll er denn tun? Ich werde ihn in meinen Schlamassel hineinziehen. Er wird sich verpflichtet fühlen, etwas für mich zu tun, und wird sich bloß den Mund verbrennen. Es wird ihm schaden, und mir wird es nicht nutzen.

»Also, was ist denn? Oder hast du dir’s anders überlegt?« Plötzlich begann er zu lächeln. »Ist es vielleicht eine anrüchige kleine Liebesaffäre? Schieß los, Christel, jetzt hast du mich neugierig gemacht. Mit wem hast du’s getrieben?«

»Uli, laß doch den Quatsch.«

»Entschuldige, ich hab’s ja nicht bös gemeint.«

Wie hat er es denn gemeint? Glaubt er wirklich, daß ich noch imstande bin, anrüchige kleine Liebesaffären zu haben?

»Ich fürchte, ich habe eine große Dummheit gemacht.«

»Was denn?« Er hob die Augenbrauen.

»Nowakowski hat mich gestern abend zu Hause angerufen.«

»Nowakowski? Willst du mir etwa erzählen, daß der sich auf einmal für Frauen interessiert?«

»Uli, wenn du jetzt nicht mit dem Quatsch aufhörst, dann gehe ich.«

Er hob die Hände. »Entschuldige! Der Gedanke hat mich nur so fasziniert. Warum hat er angerufen?«

Raus damit. Ich will es endlich loswerden.

»Ich hatte ihm gestern nachmittag meine Konzeption für diesen Fertigpunsch gegeben, du weißt doch, das Gesöff soll von November an unter die Leute gebracht werden. Er hat das Manuskript angenommen, nicht einmal einen Blick darauf geworfen, hat es gleich zur Seite gelegt und bloß gesagt: Ja, ja, ist gut. Hat ungeheuer beschäftigt getan. Aber dann ruft er mich gestern abend zu Hause an, um halb zehn, ich war auf dem Sofa eingeschlafen, er hat nicht mal guten Abend gesagt, sondern legt gleich los: Hören Sie, Frau Sommer, was Sie da geliefert haben, das ist ja wohl das Allerletzte. In einem Ton, sage ich dir …«

Er schüttelte den Kopf. »Um halb zehn?«

»Ja, ich hab zuerst gar nicht kapiert, was los war, so verdöst war ich, ich hab mich furchtbar erschreckt, als das Telefon ging, ich hab gedacht, es ist was mit meiner Mutter, und dann kotzt der mich an, wirklich, Uli, ich war … ich hab zuerst kein Wort herausbekommen, so durcheinander war ich, der hat … Uli, der hat mit mir geredet, als wäre ich der letzte Dreck!«

»Der Junge dreht durch.« Er nickte. »Das ist nicht mehr zu übersehen, der dreht durch. Es wird höchste Zeit, daß er eins aufs Maul bekommt.«

Nun kommen sie, die Tränen. Ich hab die ganze Nacht nicht weinen können, aber jetzt schießen sie heraus, endlich, sie strömen mir über die Wangen, und ich lasse sie ganz einfach laufen.

»Jetzt beruhig dich erst mal.« Er zog sein Taschentuch, reichte es über den Schreibtisch.

»Uli.« Meine Stimme zittert. »Uli, er hat gesagt, dieses Manuskript ist der Beweis dafür, daß ich total unfähig bin.«

Er schüttelte den Kopf.

»Und er würde mir dringend raten, mir einen anderen Beruf zu suchen. Als Texter wäre ich absolut fehl am Platz.«

Er sagte: »Das ist ja unglaublich.«

Uli, könntest du jetzt bitte sagen, daß das nicht stimmt? Kannst du nicht das eine oder andere nennen, was ich in der letzten Zeit gemacht habe, und sagen, das sei doch wirklich gut gewesen? Und ich hätte überhaupt keinen Anlaß, das ernstzunehmen, was Nowakowski gesagt hat?

Er sagte: »Wie sieht deine Konzeption denn aus?«

Die Frage mußte natürlich kommen. Aber muß ich mich wirklich davor fürchten? »Ach, ich war eigentlich ganz glücklich damit. Ich wollte eine Serie von Situationen machen, in denen dieser Punsch Wunder wirkt, vier für die Anzeigen und ein paar zusätzliche für das Heftchen, mit dem sie in die Supermärkte gehen wollen. Solche Situationen mit einem Aha-Effekt, verstehst du, also nicht die erstklassigen Zutaten, die das Zeug enthält, das glaubt einem ja sowieso kein Mensch, sondern alles mehr auf intellektuellen Witz getrimmt, na ja, sagen wir: auf Überraschung. Ich hab lange an einem Spruch herumgedoktert, der das abdeckt, und dann hab ich einen gefunden, den ich ganz witzig fand.«

»Wie heißt er denn?«

Uli, sei lieb. Dieser Nowakowski hat mich völlig verunsichert, ich brauche jetzt jemanden, der mir mal auf die Schulter klopft.

»Der Punsch ist der Vater des Gedankens.«

»Na, der ist doch gut.« Er lachte. »Wirklich, Christel, den find ich schick.«

»Findest du nicht, daß ich deine Konzeption für die Sparkasse abgekupfert habe?«

»Hat Nowakowski das gesagt?«

»Nein, das nicht. Aber die Situationen, die ich mir ausgedacht habe, sind natürlich schon so ähnlich wie deine Fälle für die Sparkasse. Ein Mann, der über seiner Steuererklärung brütet, und dann trinkt er einen Schluck Punsch und schon kommt er auf den Trichter. Oder sie beim Kreuzworträtsel. Und zwei Schachspieler, der eine trinkt Kaffee und ist ganz verbiestert, aber sein Gegner hält in der einen Hand das Punschglas und mit der anderen macht er den genialen Zug.«

Er lächelte. »Das ist doch alles nicht übel.«

»Na ja, am Ende ist mir die Luft ein bißchen ausgegangen. Ein paar von den Situationen sind nicht die stärksten. Aber das hätte man ja nachbessern können, findest du nicht?«

Er nickte. »Wer macht den Etat?«

»Hildebrandt.«

»Und was hat der gesagt?«

»Noch gar nichts. Ich bin für elf mit Nowakowski und Klas Kaufmann bei ihm verabredet.«

Du könntest sagen, Uli, daß Hildebrandt sich von Nowakowski nicht reinreden läßt. Daß er vielleicht sogar sehr angetan ist von meinem Papier. Hildebrandt ist doch auch kein Freund von Nowakowski, nicht wahr, und jetzt sieht er vielleicht eine Gelegenheit, Babettes Protegé auflaufen zu lassen, was haben Sie denn gegen diese Konzeption einzuwenden, Herr Nowakowski, ich bin sicher, daß sie dem Kunden gefällt, Sie können das nicht nur an Ihren kreativen Maßstäben messen, manche unserer Kunden sind nun einmal schlichte Gemüter, die springen auf solche Konzeptionen an, und völlig zu Recht, sie wollen ja schließlich nicht Kunst verkaufen, sondern so schlichte Produkte wie Fertigpunsch, das sollten Sie bitte nicht vergessen.

Er sagte: »Warte das doch mal ab, Christel.« Plötzlich streckte er beide Hände über den Schreibtisch. Er lächelte. »Na? Ich kann wirklich nicht sehen, daß du eine Dummheit gemacht hast. Ich finde die Konzeption okay.«

»Aber das war es doch nicht, was ich mit der Dummheit gemeint habe.«

»Was denn sonst?« Er ließ die Hände nebeneinander liegen, die Handflächen nach oben gekehrt.

Ich werde meine Hände hineinlegen. Er hat es mir ja angeboten.

Und jetzt möchte ich eigentlich gar nicht mehr reden. Auch nicht mehr nachdenken. Es genügt mir, so zu sitzen, mit meinen Händen in seinen Händen. Ich finde das überhaupt nicht lächerlich.

»Also, was denn noch?« Er rüttelte die Hände ein wenig, lächelte.

Nun gut. Er hat ja recht. Die Augen zumachen hilft nicht. »Ich hab ihm mit der Gewerkschaft gedroht.«

Er hob die Augenbrauen. »Wie bitte?«

»Ich bin doch Mitglied. Ich bin vor zwanzig Jahren eingetreten, vor mehr als zwanzig Jahren. Das war lange bevor ich hier angefangen habe. Ich hab dem alten Böckenförde natürlich nichts davon gesagt, als er mich eingestellt hat, er hat zum Glück auch nicht danach gefragt. Der hat mir das wahrscheinlich gar nicht zugetraut. Aber wenn er’s geahnt hätte, hätte ich den Job hier bestimmt nicht bekommen. Böckenförde, der hat die Gewerkschaften gehaßt wie die Pest. Und auch nachdem Verweerth Teilhaber geworden war und das Heft in die Hand genommen hatte, hab ich mich wohlweislich bedeckt gehalten. Es gab mal so einen Versuch, da warst du noch gar nicht hier, Willem Thomé, das war ein Grafiker, große Klappe, aber viel drauf hatte er nicht, der ist mit seinem Etatdirektor aneinander geraten, und da hat er versucht, hier einen Betriebsrat auf die Beine zu stellen. Offiziell konnten sie dagegen natürlich nichts einwenden, brauchten sie auch nicht. Willems Unternehmen ist ganz einfach mangels Masse gescheitert. Keiner wollte mitmachen. Ich auch nicht. Und es dauerte dann nicht mehr lange, bis sie Willem rausgeekelt hatten, nach allen Regeln der Kunst.«

»Wer? Verweerth etwa?«

»Die treibende Kraft war sicher Böckenförde. Der ist damals noch mal richtig von den Toten auferstanden. Bevor er sich auf seinem Schlößchen eingemottet hat. Ich hab jedenfalls den Kopf bis unter die Schultern eingezogen. Willem war allerdings auch nicht die Figur, für die man auf die Barrikaden gegangen wäre. Aber Mitglied bin ich geblieben. Und meine Beiträge habe ich immer pünktlich bezahlt.«

Plötzlich fing er an zu lachen. »Das glaubt doch kein Mensch: Christel Sommer als zahlendes Mitglied der werktätigen Klasse! Entschuldige, aber das ist wirklich zu komisch!«