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Die bombastische Met-Gala ist eigentlich der gesellschaftliche Höhepunkt des Jahres in Manhattan. Doch dann stürzt Virginia Wakeling, eine steinreiche Witwe und großzügige Mäzenin, vom Dach des Kunstmuseums. Schnell zeigt sich: Es war Mord. Und auch der Mörder scheint gleich festzustehen: Ivan, der über zwanzig Jahre jüngere Personal Trainer und Geliebte der Witwe. Doch wie die Polizei es auch dreht und wendet, sie findet keine Beweise gegen ihn. Drei Jahre später soll Laurie Moran den Fall mit Hilfe ihrer TV-Sendung »Unter Verdacht« endlich aufklären. Je näher sie das Umfeld der Verstorbenen kennenlernt, desto klarer wird ihr, dass es eine Vielzahl weiterer Verdächtiger gibt: Virginias erwachsene Kinder und Verwandte ebenso wie ihre angeblich allerengsten Freunde. Und eine Person darunter hat überhaupt kein Interesse daran, dass Laurie der Wahrheit näher kommt ...
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Seitenzahl: 361
DAS BUCH
Die pompöse Met-Gala ist eigentlich der gesellschaftliche Höhepunkt des Jahres in Manhattan. Doch dann stürzt die achtundsechzigjährige Virginia Wakeling, eine steinreiche Witwe und großzügige Mäzenin, vom Dach des Kunstmuseums. Schnell zeigt sich: Es war Mord. Und auch der Mörder steht in den Augen der Familie schon fest: Ivan, ein Fitnesstrainer, der seit einiger Zeit eine Liebesbeziehung mit Virginia unterhalten hat, obwohl er über zwanzig Jahre jünger ist als sie. Allerdings findet die Polizei keinerlei Beweise gegen ihn und legt den Fall schließlich zu den Akten.
Drei Jahre später landet die Sache auf Laurie Morans Schreibtisch: Ihr unsympathischer Kollege Ryan, der Kunde in Ivans Fitnessstudio ist, will unbedingt dessen Namen reinwaschen. Widerwillig beginnt Laurie für ihre Sendung »Unter Verdacht« zu recherchieren. Und je näher sie das Umfeld der Ermordeten kennenlernt, desto klarer wird ihr, dass es eine Vielzahl weiterer Verdächtiger gibt: Virginias erwachsene Kinder und Verwandte ebenso wie ihre angeblich allerengsten Freunde. Und eine dieser Personen hat überhaupt kein Interesse daran, dass Laurie der Wahrheit näher kommt …
DIE AUTORINNEN
Mary Higgins Clark zählt zu den erfolgreichsten Thrillerautoren weltweit. Mit ihren Büchern führt sie regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an. Sie hat bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. den begehrten Edgar Award.
Alafair Burke war lange als Deputy District Attorney tätig. Ihr Beruf inspirierte sie dazu, Kriminalromane zu schreiben, u.a. die New-York-Times-Bestsellerserie um Ellie Hatcher. Sie ist die Tochter von James Lee Burke und lebt in New York.
MARY
HIGGINS
CLARK
ALAFAIR BURKE
MIT DEINEM
LETZTEN ATEMZUG
THRILLER
Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet
Für Lee und Philip Reap,
in Liebe
MARY
Für Danielle Holley-Walker,
voll Anerkennung und Bewunderung
ALAFAIR
PROLOG
Drei Jahre zuvor
An einem ungewöhnlich kalten, winterlichen Montagabend schlenderte die achtundsechzigjährige Virginia Wakeling durch die Kostümsammlung des Metropolitan Museum of Art. Es war ein wundervoller Abend, der in einer Tragödie enden sollte – aber das wusste sie nicht.
Ebenso wenig wusste sie, dass sie nur noch wenige Stunden zu leben hatte.
Das Museum war für die Öffentlichkeit geschlossen. Die wichtigste Benefizveranstaltung des Jahres sollte in Kürze beginnen, und das Kuratorium war exklusiv zu einer Ausstellung der Kleider geladen, die die ehemaligen First Ladies beim Ball zur Amtseinführung getragen hatten.
Virginias eigenes Abendkleid war eine Kopie der Robe von Barbara Bush von 1989. Ein Entwurf von Oscar de la Renta, der aus einem langärmligen Oberteil aus Samt und einem langen, pfauenblauen Satinrock bestand. Es wirkte würdevoll und herrschaftlich und vermittelte damit genau den Eindruck, den auch sie vermitteln wollte.
Nur von ihrem Make-up war sie nicht ganz so überzeugt. Dina hatte es aufgetragen, aber Virginia hielt es für zu kräftig. Dina hatte protestiert. »Mrs. Wakeling, vertrauen Sie mir, es passt perfekt zu Ihren dunklen Haaren und Ihrer wunderbaren Haut. Die verlangt nach einem leuchtend roten Lippenstift.«
Vielleicht, dachte Virginia, vielleicht aber auch nicht. Überzeugt war sie nur von einem: Aufgrund des professionellen Make-ups sah sie gut zehn Jahre jünger aus. So ging sie von einem ausgestellten Ballkleid zum nächsten und war fasziniert von deren Vielfalt: Hier war Nancy Reagans einschultriges Etuikleid, dort Mamie Eisenhowers Gewand aus rosaroter, mit zweitausend Strasssteinen besetzter Seide, gleich daneben Lady Bird Johnsons maisgelbes Abendkleid mit Pelzbesatz; hier Laura Bushs langärmlige Robe in Silber, dort Michelle Obamas Kleid in Rubinrot. Alle diese Frauen, so unterschiedlich sie auch sein mochten, waren entschlossen gewesen, neben ihrem Mann, dem Präsidenten, so gut wie möglich auszusehen.
Wie schnell die Zeit doch vergangen ist, dachte Virginia. Ganz am Anfang hatten sie und Bob in einem kleinen Zweifamilienhaus in der damals alles andere als noblen Lower East Side von Manhattan gewohnt, aber das hatte sich bald geändert. Schon ein Jahr nach ihrer Hochzeit hatte Bob, gesegnet mit einem glücklichen Händchen für Immobilien, ein Darlehen aufgenommen und eine Anzahlung auf ein eigenes Haus geleistet. Die erste von vielen brillanten Entscheidungen auf dem Immobilienmarkt. Jetzt, fünfundvierzig Jahre später, gehörten ihnen ein Anwesen in Greenwich, Connecticut, eine Maisonettewohnung in der Park Avenue, ein Strandhaus in Palm Beach und eine Wohnung in Aspen für ihre Ski-Urlaube.
Aber vor fünf Jahren war Bob überraschend an einem Herzinfarkt gestorben. Wie sehr würde es ihn freuen, wenn er wüsste, wie umsichtig Anna seitdem das von ihm aufgebaute Unternehmen führte.
Ich habe ihn so sehr geliebt, dachte Virginia wehmütig, trotz seines aufbrausenden Temperaments, trotz seiner Dominanz. Aber das hat mich nie gestört.
Dann, zwei Jahre zuvor, war Ivan in ihr Leben getreten. Er war zwanzig Jahre jünger als sie und hatte sie während einer Kunstausstellung in einem kleinen Atelier im Village angesprochen. Ein Zeitungsartikel über den Künstler hatte ihr Interesse geweckt, und sie hatte beschlossen, die Vernissage zu besuchen. Billiger Wein wurde serviert, den sie aus einem Plastikbecher trank, während sie die in die Gemälde vertieften Gäste beobachtete.
»Was halten Sie von ihnen?«, fragte er sie mit seiner angenehmen Stimme.
»Von den Leuten oder den Bildern?«, antwortete sie. Sie mussten beide lachen.
Die Vernissage war um neunzehn Uhr zu Ende. Ivan hatte ihr vorgeschlagen, mit zu einem kleinen Italiener ganz in der Nähe zu kommen, wo das Essen ganz ausgezeichnet sei – sofern sie nichts weiter vorhaben sollte. Das war der Beginn einer Beziehung, die bis jetzt anhielt.
Natürlich war es nicht zu vermeiden, dass ihre Familie nach etwa einem Monat wissen wollte, wohin sie so oft ausging und vor allem mit wem. Wie nicht anders zu erwarten, sorgte die Antwort für helles Entsetzen. Nach dem College-Abschluss hatte Ivan seine Leidenschaft und sein Talent für Sport zum Beruf gemacht. Im Moment arbeitete er als Personal Trainer, aber er hatte große Träume und bewies – wie er immer sagte – eine hohe Arbeitsmoral, wahrscheinlich die einzigen Eigenschaften, die er mit Bob gemeinsam hatte.
»Mom, besorg dir irgendeinen Witwer in deinem Alter«, hatte Anna sie bloß angeblafft.
»Ich will niemanden zum Heiraten«, hatte sie erwidert. »Ich genieße es aber, hin und wieder einen lustigen und interessanten Abend zu verbringen.« Nach einem Blick auf die Uhr wurde ihr klar, dass sie seit ein paar Minuten regungslos vor sich hin gestarrt hatte, und sie wusste auch, warum. Lag es daran, dass sie trotz der zwanzig Jahre Altersunterschied ernsthaft die Möglichkeit erwog, Ivan zu heiraten? Die Antwort lautete: Ja.
Sie schob den Gedanken beiseite und betrachtete wieder die Kleider der ehemaligen First Ladies. Hatte sich auch nur eine von ihnen jemals vorstellen können, dass sie einmal einen solchen Tag erleben würde?, fragte sie sich. Ich jedenfalls habe mir nie träumen lassen, wie sehr sich mein Leben noch ändern könnte. Hätte Bob länger gelebt und wäre er in die Politik gegangen, hätte er es vielleicht zum Bürgermeister oder zum Senator gebracht, möglicherweise auch zum Präsidenten. Aber er hat eine Firma gegründet und ein ganzes Stadtviertel aufgebaut und mir die Möglichkeit gegeben, Dinge zu unterstützen, an die ich glaube, wie zum Beispiel dieses Museum.
Zur Gala waren Prominente allerersten Ranges und die großzügigsten Spender der Stadt eingeladen. Als Mitglied des Kuratoriums würde Virginia an dem Abend im Rampenlicht stehen, und mithilfe von Bobs Geld hatte sie die Möglichkeit, sich für die Ehre erkenntlich zu zeigen.
Sie hörte Schritte hinter sich. Es war ihre sechsunddreißigjährige Tochter Anna. Deren Kleid war so schön wie das, das Virginia für sich selbst hatte anfertigen lassen. Anna hatte im Internet nach einem Abendkleid gesucht, das dem von Oscar de la Renta mit Goldspitze ähnelte, das Hillary Clinton zur Amtseinführung 1997 getragen hatte.
»Mom, die Presse ist am roten Teppich eingetroffen. Ivan hat dich gesucht, er scheint zu glauben, du möchtest dort sein.«
Virginia bemühte sich, nicht zu viel in die Worte ihrer Tochter hineinzuinterpretieren. Andererseits konnte man ihren reichlich spitzen Kommentar, »er scheint zu glauben, du möchtest dort sein«, auch so verstehen, als wüsste Anna stets besser, was ihre Mutter wollte. Aber immerhin hatte sich Anna anscheinend einvernehmlich mit Ivan unterhalten und sich auf seine Bitte hin auf die Suche nach ihr gemacht.
Oh, wie sehr wünsche ich mir, dass meine Familie meine Entscheidung akzeptiert, dachte sie leicht verärgert. Sie leben ihr Leben und haben alles, was sie jemals brauchen werden. Lasst mich in Ruhe und gestattet mir, auch mein Leben zu führen, wie ich es möchte.
Sie versuchte den Gedanken zu verscheuchen. »Anna«, sagte sie, »du siehst hinreißend aus. Ich bin ja so stolz auf dich.«
Zusammen verließen sie die Sammlung. Virginias blauer Taft raschelte neben Annas Goldspitze.
Später an diesem Abend wurden Virginias schwarze Haare und ihr farbenprächtiges Abendkleid von einem Jogger entdeckt, der im Central Park seine Runden drehte. Er blieb stehen, als er bemerkte, dass er mit dem Fuß gegen etwas gestoßen war, was aus dem Schnee herausragte. Die Frau, die vor ihm lag, war, wie er mit Entsetzen sah, nicht nur tot, sondern hatte die Augen geöffnet und starrte ihn mit angstverzerrter Miene an.
Virginia Wakeling war von der Dachterrasse des Museums gestürzt – oder gestoßen worden.
1
Laurie Moran konnte den zufriedenen Gesichtsausdruck ihres neunjährigen Sohnes nicht übersehen, als der Kellner ihnen das Frühstück servierte.
»Was ist los?«, fragte sie ihn.
»Nichts ist los«, erwiderte Timmy. »Ich dachte bloß, du siehst in deinem Kostüm richtig cool aus.«
»Na, danke sehr«, sagte Laurie erfreut, auch wenn sein Gebrauch des Wortes cool nur davon zeugte, wie schnell er älter wurde. Die Schule hatte wegen einer Bildungskonferenz geschlossen, also hatte sie beschlossen, später im Büro aufzutauchen und vorher mit Timmy und ihrem Vater noch frühstücken zu gehen. Timmy war schon mindestens zwanzigmal in Sarabeth’s Restaurant beim Frühstücken gewesen, hatte sich aber nie mit den Eiern Benedict mit Lachs anfreunden können, die Laurie so gern bestellte.
»Man soll zum Frühstück keinen Fisch essen«, bemerkte Timmy selbstbewusst. »Richtig, Grandpa?«
Hätte sich Laurie einen Rivalen um die Gunst ihres Sohnes aussuchen müssen, hätte sie kein besseres Vorbild für Timmy als ihren Vater Leo Farley finden können. Während andere Kids in Timmys Alter irgendwelche Sportler, Schauspieler oder Musiker bewunderten, betrachtete Timmy seinen Großvater, den pensionierten Ersten Stellvertretenden Polizeichef des NYPD, noch immer als eine Art Superman.
»Ich sag es nur ungern, Junge«, antwortete Leo bestimmt, »aber du kannst dir nicht für den Rest deines Lebens Pfannkuchen mit Schokolade und Puderzucker reinstopfen. In dreißig Jahren wirst du verstehen, warum deine Mom Fisch isst, und ich tue so, als wäre dieser nach Papier schmeckende Putenschinken ganz köstlich.«
»Also, was habt ihr beide heute noch so vor?«, fragte Laurie lächelnd.
»Wir werden uns das Spiel der Knicks gegen die Pacers ansehen«, sagte Timmy. »Wir haben es letzten Abend aufgenommen. Ich werde nach Alex Ausschau halten auf seinen Sitzplätzen ganz nah am Court.«
Laurie legte die Gabel hin. Es war zwei Monate her, dass sie zum letzten Mal mit Alex Buckley gesprochen hatte – und wiederum zwei Monate vorher hatte Alex verkündet, als Moderator ihrer Fernsehsendung eine Pause einzulegen, um sich ganz auf seine Kanzlei konzentrieren zu können. Bevor Laurie richtig bewusst werden konnte, wie wichtig Alex in ihrem Leben war, war er auch schon wieder verschwunden.
Es hatte schon einen Grund, warum sie so oft zum Spaß sagte, eigentlich brauche sie einen Klon. Sie hatte immer wahnsinnig viel zu tun, sowohl in der Arbeit als auch als Mutter. Dennoch hatte sich nach Alex’ Weggang in ihrem Leben eine Leere aufgetan. So zwang sie sich jetzt dazu, jeden Tag aufs Neue zu funktionieren, sie konzentrierte sich auf die Familie und die Arbeit, aber das half auch nicht recht weiter.
Nachdem Timmy Alex erwähnt hatte, erwartete sie insgeheim, dass ihr Vater den Faden aufgriff und ihr mit seinen Fragen kam: Ach, übrigens, wie geht es Alex eigentlich? Oder: Wollte Alex nicht diese Woche zu uns zum Essen kommen? Stattdessen nahm Leo nur einen weiteren Bissen von seinem anscheinend zu trockenen Putenschinken. Auch Timmy fragte sich vermutlich, warum sie Alex in letzter Zeit nicht mehr gesehen hatten. Wenn sie hätte raten müssen, hätte sie gesagt, er folgte dem Beispiel seines Großvaters und vermied ebenfalls, das Thema direkt anzusprechen. Deshalb also hatte er Alex und seinen Platz direkt am Spielfeldrand erwähnt.
»Du weißt«, begann sie und bemühte sich um einen neutralen Ton, »dass Alex die Plätze für wohltätige Zwecke zur Verfügung stellt. Auf seinen Plätzen sitzen manchmal ganz andere Leute.«
Ihr Sohn wirkte enttäuscht. Timmy war Zeuge des Mordes an seinem Vater geworden und hatte das alles einigermaßen gut überstanden. Aber es tat ihr im Herzen weh, wenn sie mit ansah, wie er seinen Vater durch Alex zu ersetzen versuchte.
Sie nahm einen letzten Schluck vom Kaffee. »Gut, es ist an der Zeit, ein bisschen Geld zu verdienen.«
Laurie war Produzentin von Unter Verdacht, einer Fernsehreihe, die auf wahren und ungelösten Kriminalfällen beruhte. Bereits der Titel gab zu verstehen, dass in der Sendung diejenigen im Mittelpunkt standen, die bei den polizeilichen Ermittlungen unter Verdacht geraten waren. Auch wenn sie nie offiziell angeklagt wurden, war ihr Leben seitdem trotzdem von Argwohn und Misstrauen überschattet. Es war nicht immer leicht, sich unter den infrage kommenden Fällen auf einen zu verständigen, für die neueste Sendung hatte sie die Optionen allerdings mittlerweile auf zwei eingegrenzt.
Sie gab Timmy einen Kuss auf die Stirn. »Ich bin rechtzeitig zum Abendessen wieder zu Hause«, versprach sie. »Sollen wir Hühnchen machen?« Sie hatte immer ein schlechtes Gewissen, dass sie ihrem Sohn nichts Gesünderes zubereitete.
»Mach dir mal keine Sorgen, Mom«, sagte Timmy. »Wenn du später kommst, holen wir uns eine Pizza.«
Leo schob den Stuhl zurück. »Ich muss heute Abend zur Taskforce. Ich breche auf, wenn du da bist, und zum Abendessen gegen acht bin ich zurück.« Einige Monate zuvor war ihr Vater in den Dienst zurückgekehrt und arbeitete nun für eine neue Taskforce des NYPD zur Terrorbekämpfung.
»Klingt gut«, beschied Laurie. Wie unfassbar glücklich sie sich doch schätzen durfte, dass ihre beiden Männer – ihr fünfundsechzigjähriger Vater und ihr neunjähriger Sohn – immer bemüht waren, ihr das Leben so leicht wie möglich zu machen.
Eine Viertelstunde später traf sie an ihrem Arbeitsplatz ein, und ein anderer Mann, der in ihrem Leben eine gewisse Rolle spielte, ging ihr augenblicklich auf die Nerven. »Ich hab mich schon gefragt, ob du heute überhaupt noch auftauchst«, kam es von Ryan Nichols aus seinem Büro, als sie an seiner Tür vorbeiging. Er war vor kaum drei Monaten als Moderator ihrer Sendung angeheuert worden, aber sie hatte keine Ahnung, was er vollzeit bei ihnen im Studio trieb. »Ich habe den perfekten Fall gefunden«, rief er ihr noch hinterher. Sie tat so, als hätte sie ihn nicht gehört.
2
Laurie ignorierte Ryan und sah zu, dass sie in ihr Büro kam, bevor sie sich mit ihm befassen musste. Ihre Sekretärin Grace Garcia spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. »Na, was nervt dich? Ich dachte, du wärst mit deinem hübschen Bengel beim Frühstücken?« Manchmal hatte Laurie das Gefühl, Grace kümmere sich weniger um den eigenen Urlaub als darum, dass sich Laurie die so dringend benötigte Auszeit nahm.
»Woher willst du wissen, dass mich etwas nervt?«, fragte Laurie.
Willst du darauf wirklich eine Antwort?, schien Graces Blick zu sagen. Vor ihr hatte Laurie noch nie ihre Gefühle verheimlichen können.
Laurie ließ ihre Tasche auf den Schreibtisch fallen, keine Minute später kam Grace mit einer Tasse Tee nach. Grace trug heute eine leuchtend gelbe Bluse, einen unmöglich engen Bleistiftrock und dazu schwarze Slingpumps mit zehn Zentimeter hohen Absätzen. Wie sie es schaffte, damit auch nur eine Tasse Tee von A nach B zu bringen, ohne der Länge nach hinzuknallen, war Laurie ein Rätsel.
»Ryan hat mich aus dem Aufzug kommen sehen und einen dämlichen Kommentar über mein Zuspätkommen vom Stapel gelassen«, antwortete Laurie recht unwirsch.
»Der muss gerade reden«, entgegnete Grace. »Ist dir schon aufgefallen, dass er morgens nie im Büro auftaucht, wenn er am Vorabend mal wieder auf so einem Promi-Event war?«
Ehrlich gesagt fiel Laurie Ryans Abwesenheit nie auf. Wenn es nach ihr ginge, hätte er vor dem Beginn der Dreharbeiten gar nicht hier sein müssen.
»Ach, wir reden über Ryans Doppelmoral in puncto Arbeitszeit?« Dieser Kommentar nun stammte von Lauries Produktionsassistenten Jerry Klein, der das Büro nebenan hatte und mittlerweile in der Tür aufgetaucht war. Laurie tat zwar immer so, als würde sie den ständigen Austausch von Klatschgeschichten zwischen ihren beiden Mitarbeitern missbilligen, musste sich aber eingestehen, dass die beiden damit nicht wenig zu ihrer Unterhaltung beitrugen. »Hat Grace dir schon erzählt, dass er hier war und sich nach dir erkundigt hat?«
Grace schüttelte den Kopf. »Ich wollte ihr doch nicht den Vormittag vermiesen. Sie wird ihn noch früh genug sehen. Hat ihm irgendjemand mal verklickert, dass Laurie seine Chefin ist? Er läuft doch immer rum wie ein Klon von Brett.«
Im Grunde hatte Grace damit nicht unrecht. Brett Young war der Leiter der Fisher Blake Studios. Er konnte auf eine lange, erfolgreiche TV-Karriere zurückblicken, war ein knallharter Boss und hatte seinen Laden immer fest im Griff.
Ryan Nichols wiederum war eine ganz andere Geschichte. Bevor er bei Fisher Blake aufgetaucht war, hatte er eine vielversprechende Laufbahn als Jurist vor sich. Jura-Abschluss mit magna cum laude in Harvard, gefolgt von einer Stelle am Obersten Gerichtshof. Nach nur wenigen Jahren als Bundesanwalt war er genau für die Fälle zuständig, über die die New York Times und das Wall Street Journal berichteten. Doch statt seine Juristenkarriere weiterzuverfolgen, verließ er die Bundesstaatsanwaltschaft und arbeitete als Moderator für Kabelsender, wo er sich mit rechtlichen Fragen beschäftigte und die Prozessberichterstattung begleitete. Heutzutage, dachte sich Laurie, will jeder berühmt sein.
Dann hatte sie erfahren, dass Brett ihn als neuen Moderator für ihre Sendung engagiert hatte, ohne vorher mit ihr darüber zu reden. Laurie hatte in Alex den perfekten Moderator gefunden und die Zusammenarbeit mit ihm sehr genossen. Alex war ein brillanter Anwalt, der immer respektiert hatte, dass Lauries untrüglicher Instinkt die Sendung so erfolgreich machte. Seine Erfahrung im Kreuzverhör machte ihn zum idealen Kandidaten für die Befragung der eingeladenen Gäste, die oftmals glaubten, sie könnten sich bei den Dreharbeiten aus der Affäre ziehen, indem sie die gleichen Lügen erzählten, die sie schon zuvor den Ermittlungsbehörden aufgetischt hatten.
Ryan war bislang nur in einer Sendung aufgetreten. Er besaß weder Alex’ Erfahrung noch dessen Talent, sein Auftritt war aber auch nicht so katastrophal verlaufen, wie sie ursprünglich befürchtet hatte. Am meisten Kopfschmerzen bereitete Laurie nur, dass Ryan seine Rolle im Studio anders sah als Alex und ständig Mittel und Wege fand, um ihre Vorstellungen zu untergraben. Daneben fungierte er als juristischer Berater für andere Sendungen, die im Studio produziert wurden. Es gab sogar Gerüchte, wonach er eine eigene Sendung entwickeln wollte. Es war sicherlich kein Zufall, dass Ryans Onkel einer von Bretts besten Freunden war.
Um also auf Graces rhetorische Frage zurückzukommen: Hat ihm irgendjemand mal verklickert, dass Laurie seine Chefin ist? So langsam hatte Laurie da ihre Zweifel.
Sie ließ sich Zeit, bis sie sich an ihrem Schreibtisch niederließ, dann bat sie Grace, Ryan anzurufen und ihm mitzuteilen, dass sie jetzt bereit sei, ihn zu empfangen.
Vielleicht war es kleinlich, aber wenn er was von ihr wollte, sollte er gefälligst zu ihr kommen.
3
Ryan hatte die Hände in die Hüften gestemmt, als er in ihrem Büro erschien. Wenn sie ihn objektiv betrachtete, konnte sie eine der aktuellen Debatten unter den Fans ihrer Sendung durchaus nachvollziehen: »Wer ist der Schnuckligere von beiden? Alex oder Ryan?« Klar, sie gab einem der beiden offensichtlich den Vorzug, aber Ryan mit seinen blonden Haaren, den leuchtend grünen Augen und seinem perfekten Lächeln war eine gewisse Attraktivität keineswegs abzusprechen.
»Der Ausblick ist fantastisch, Laurie. Dein Stilempfinden, die Einrichtung … einfach fantastisch.« Laurie befand sich im fünfzehnten Stock mit Blick auf die Eislaufbahn des Rockefeller Center. Sie hatte das Büro selbst mit modernen, freundlichen Möbeln eingerichtet. »Wäre es mein Büro, würde ich nie mehr weg wollen.«
Mit einem Anflug von Genugtuung vernahm sie den Neid in seiner Stimme, trotzdem konnte sie auf seinen Small Talk gut verzichten.
»Worum geht es?«, fragte sie.
»Brett scheint es kaum erwarten zu können, dass wir mit der nächsten Folge loslegen.«
»Ging es nach ihm, würden wir zwei Sendungen pro Woche ausstrahlen, solange nur die Einschaltquoten stimmen. Er vergisst gern, wie viel Arbeit da drinsteckt, einen Altfall von Grund auf neu zu untersuchen.«
»Schon verstanden. Wie auch immer, ich hab jedenfalls den perfekten Fall für unsere nächste Folge.«
Den Gebrauch des Wörtchens unsere konnte sie nicht ignorieren. Immerhin hatte sie Jahre damit verbracht, das Konzept der Sendung zu entwickeln.
So viele ungelöste Fälle es im Land auch gab, nur wenige entsprachen den ungeschriebenen Kriterien, die sie für Unter Verdacht infrage kommen ließen. Manche Fälle waren schlicht und einfach zu ungelöst – es gab eben keine Verdächtigen, sodass man aufs Geratewohl hätte raten müssen, wer der Täter sein könnte. Manche waren im Wesentlichen gelöst, und die Polizei wartete nur darauf, dass sich die einzelnen Indizien erhärteten und ineinanderfügten.
Die sehr schmale Kategorie dazwischen – ein ungelöstes Verbrechen, allerdings mit einer überschaubaren Menge an Verdächtigen – war Lauries Spezialität. Den Großteil ihrer Zeit verbrachte sie mit dem Überfliegen von Websites, die sich auf wahre Verbrechensfälle spezialisiert hatten, der Lektüre von Lokalnachrichten im ganzen Land und der Durchsicht der Hinweise, die online bei ihr eingingen. Immer war es ihr untrüglicher Instinkt, der ihr sagte, dass es sich lohnen würde, diesen oder jenen Fall weiter zu verfolgen. Jetzt aber stand Ryan vor ihr und war überzeugt, etwas zu haben, an dem sie arbeiten sollten.
Sie ging davon aus, dass sie mit jedem Fall, den Ryan erwähnen könnte, bereits vertraut war – von Anfang bis Ende. Aber sie wollte sich ihm gegenüber aufgeschlossen zeigen. »Dann lass mal hören.«
»Virginia Wakeling.«
Laurie kannte den Namen. Kein Todesfall vom anderen Ende des Landes, sondern einer, der sich nur wenige Meilen von hier ereignet hatte, am Metropolitan Museum of Art. Und von einem Altfall konnte man streng genommen auch nicht sprechen. Virginia Wakeling hatte dem Kuratorium des Museums angehört und war als eine der großzügigsten Spenderinnen bekannt. Am Abend der Met-Gala, der wichtigsten Fundraising-Veranstaltung des Museums, hatte man sie hinter dem Gebäude im Schnee gefunden. Sie war an den Folgen des Sturzes gestorben, nachdem sie von der Dachterrasse gesprungen – oder gestoßen worden – war.
Wakeling hatte eine so wichtige Stellung eingenommen, dass das Museum Gerüchten zufolge sogar daran gedacht hatte, die Gala im darauffolgenden Jahr ausfallen zu lassen, nachdem es bis dahin immer noch keine Erklärung für ihren Tod gab. Das Fest fand dann allerdings trotzdem statt, obwohl der Todesfall nach wie vor nicht geklärt war.
Laurie erinnerte sich an genügend Fakten, um eine erste Einschätzung zu äußern. »Es scheint doch vieles dafür zu sprechen, dass es ihr Freund war.«
»Der unter Verdacht steht«, antwortete Ryan und malte die Anführungszeichen in die Luft.
»Für mich scheint der Fall so gut wie gelöst. Wenn ich mich recht erinnere, war er beträchtlich jünger als Mrs. Wakeling. Die Polizei scheint überzeugt, dass er der Täter ist, auch wenn sie es nicht beweisen kann. War er nicht Model oder so was?«
»Nein. Personal Trainer. Er heißt Ivan Gray, und er ist unschuldig.«
Der Knoten in Lauries Magen zog sich weiter zusammen. Auch wenn sie immer eine recht dezidierte Meinung zu den von ihnen behandelten Fällen hatte, war sie nie von der Schuld oder Unschuld bestimmter Personen überzeugt gewesen. Der ganze Zweck der Sendung war es doch, sich unvoreingenommen einem ungelösten Fall anzunähern.
Sie war sich sicher, dass Ryan nicht einfach so über den Fall gestolpert war. »Du kennst Mr. Gray zufällig?«, fragte sie.
»Er ist mein Trainer.«
Klar, dachte sie. Das sieht ihm ähnlich. Als sich Grace und Jerry über Ryans willkürliche Arbeitszeiten austauschten, hätten sie sich auch gleich seine diversen sportlichen Hobbys vorknöpfen können: Golf auf der Driving Range des Chelsea Piers Golf Club, Indoor-Cycling bei SoulCycle, Zirkeltraining im Fitnessstudio gleich um die Ecke, und jetzt anscheinend irgendeine weitere Verrücktheit mit seinem neuen Kumpel Ivan Gray.
»Yoga?«, fragte sie.
Ryan verzog das Gesicht und gab damit unmissverständlich zu verstehen, was er von Yoga hielt. »Boxen. Gray gehört das PUNCH.«
Laurie war kein großer Fan von Fitnessstudios, aber selbst sie hatte schon von dem trendigen Schuppen gehört, der sich dem Boxen verschrieben hatte. Die auffällige Werbung in der U-Bahn und an den Bussen war kaum zu übersehen und zeigte perfekt aussehende New Yorker in modischer Sportkleidung und Boxhandschuhen. Laurie musste sich eingestehen, dass die Vorstellung, einem Objekt namens Ryan Nichols einen sauberen Haken zu verpassen, durchaus einen gewissen Reiz ausübte.
»Ich weiß deinen Vorschlag zu schätzen«, entgegnete sie kühl. »Aber ich glaube nicht, dass sich der Fall für die Sendung eignet. Es ist erst drei Jahre her. Die Polizei wird sicherlich noch ermitteln.«
»Ivans Leben ist im Grunde zerstört. Wir könnten ihm helfen.«
»Wenn ihm PUNCH gehört, ist es nicht ganz zerstört. Und falls er diese Frau umgebracht hat, bin ich nicht daran interessiert, ihm zu helfen. Er könnte uns benutzen, um kostenlose Publicity für sein Fitnessstudio zu bekommen.«
Unweigerlich musste Laurie an die Probleme denken, die Ryan ihr vor wenigen Monaten bereitet hatte. Er war noch gar nicht offiziell angestellt gewesen, hatte ihr aber unbedingt weismachen wollen, dass der von ihr ausgesuchte Fall – eine Frau, die bereits wegen Mordes an ihrem Verlobten verurteilt worden war – für ihre Sendung nicht geeignet sei, bloß weil er von ihrer Schuld überzeugt war.
Ryan warf einen Blick auf sein iPhone.
»Mit Verlaub, Ryan, aber es handelt sich beileibe nicht um einen Altfall«, sagte sie abwiegelnd. Der Mord an ihrem Mann war fünf Jahre nicht gelöst worden. Es hatte keinerlei Verdächtige gegeben, trotzdem hatte das NYPD ihr die gesamte Zeit versichert, dass man »aktiv ermittle«. »Ich will auf keinen Fall unser Verhältnis zur Polizei gefährden, indem ich dazwischenpfusche.«
Ryan tippte auf seinem Handydisplay herum. Daraufhin steckte er das Gerät in die Tasche und sah zu ihr. »Na, dann hören wir uns doch mal an, was er zu sagen hat. Ivan ist gerade unten in der Lobby und kommt hoch.«
4
Laurie kam nur ein Wort in den Sinn, als Ivan Gray ihr Büro betrat: riesig. Der Typ war gewaltig. Er war mindestens eins neunzig, aber es war nicht die Größe allein. Er hatte kein Gramm überflüssiges Fett am Leib, sondern war fit und athletisch. Dazu hatte er braune, kurz geschnittene Haare und grün-braune Augen.
Sie fürchtete sich fast davor, ihm die Hand zu geben, aus Angst, er würde ihr die Finger zerquetschen. Überrascht stellte sie fest, dass er sie mit einem ganz normalen Handschlag begrüßte.
»Ich danke Ihnen sehr, dass Sie mich eingeladen haben, Laurie.« Weder hatte sie ihn eingeladen, noch hatte sie ihn gebeten, sie mit Vornamen anzusprechen.
»Na, Ryan hat eine hohe Meinung von Ihnen«, entgegnete sie schroff.
»Was auf Gegenseitigkeit beruht«, antwortete Ivan und verpasste Ryan einen freundschaftlichen Schlag auf den Arm. »Als er das erste Mal bei uns aufgetaucht ist, dachte ich mir, er wird nach zwanzig Minuten betteln, Schluss machen zu dürfen. Aber er trainiert hart. Wenn er so weitermacht, kann er sich vielleicht irgendwann sogar gegen meine besseren Schützlinge zur Wehr setzen – unter den Boxerinnen, meine ich.«
Ein typischer Insiderwitz, der die Außenseiterin – in diesem Fall Laurie – daran erinnerte, dass sie nicht dazugehörte. Sie wünschte sich, Ryan würde auch so viel Engagement aufbringen, um sich mit den Grundzügen des Journalismus vertraut zu machen. Sie mühte sich zu einem Lächeln.
Normalerweise beschäftigte sie sich stundenlang mit einem Fall, bevor sie den Haupttatverdächtigen befragte. Nun fiel es ihr schwer, vom Geplänkel über Ryans Trainingsbesessenheit zu einem Mord an einer Frau überzuleiten. Sie deutete Ivan an, Platz zu nehmen, und beschloss, unumwunden auf den Punkt zu kommen. »Ryan hat mir gesagt, Sie seien daran interessiert, dass wir uns den Tod von Virginia Wakeling vornehmen und neu ermitteln.«
»Sie können das, wenn Sie wollen, als Neuermittlung bezeichnen, aber wenn Sie mich fragen, hat das NYPD nie richtig ermittelt. Die Polizei hat bloß gehört, dass eine Achtundsechzigjährige etwas mit einem Siebenundvierzigjährigen hatte, und die Sache war für sie klar. Dass gegen mich keinerlei Beweise vorlagen, hat sie gar nicht mehr interessiert.«
Virginia war vor drei Jahren ums Leben gekommen, ging Laurie durch den Kopf, Ivan musste also mittlerweile fünfzig sein. Er sah eher wie vierzig aus, aber sie vermutete, dass er hier und dort nachgeholfen hatte. Er war gebräunt, obwohl es Januar war, und sein kurzer Haarschnitt kaschierte die beginnende Glatzenbildung.
Der Fall war erst vor Kurzem wieder in den Medien durchgehechelt worden, sodass Laurie die meisten Fakten parat hatte. Nach allem, was sie gehört hatte, stand Virginias Vermögen im Mittelpunkt der ursprünglichen Polizeiermittlungen. Ihr Mann war ein erfolgreicher Immobilienunternehmer gewesen, der sie als eine extrem wohlhabende Witwe zurückgelassen hatte. Laurie konnte sich lebhaft vorstellen, was sich Wakelings Familie und Freunde dachten, als sie eine Beziehung mit einem über zwanzig Jahre jüngeren Trainer anfing.
Aber sein Alter und Beruf waren – trotz seiner eigenen Aussagen – nicht die einzigen Gründe, warum er zum Haupttatverdächtigen wurde.
»Bei allem Respekt«, sagte Laurie, »aber wenn Sie sagen, es hätten keinerlei Beweise vorgelegen, werden Sie den Ermittlungen nicht ganz gerecht. Auch das Motiv gilt als eine Art Indiz. Es gab, wenn ich mich recht erinnere, finanzielle Beweggründe.«
Nach Virginias Tod entdeckte die Polizei, dass mehrere Hunderttausend Dollar ihres Vermögens für diverse Verpflichtungen seitens Ivans aufgewendet worden waren. Ihre Kinder waren der Meinung, dass ihre Mutter diese Ausgaben nie und nimmer gebilligt hätte. Sie mutmaßten, ihre Mutter sei Ivan auf die Schliche gekommen und habe herausgefunden, dass er sie bestohlen hatte, möglicherweise hatte sie daraufhin vorgehabt, ihn anzuzeigen. Das hätte ihm einen triftigen Grund gegeben, sie ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen.
»Daran war überhaupt nichts Unrechtmäßiges«, antwortete er nun. »Ja, sie hat mir bei einigen Rechnungen ausgeholfen. Der Porsche war ihr Geburtstagsgeschenk. Ich wollte ihn nicht annehmen, das war viel zu großzügig, aber sie hat darauf bestanden. Sie hat gesagt, es würde ihr gefallen, im Sommer darin mit offenem Verdeck herumkutschiert zu werden. Für sie war es mehr ein Geschenk, das sie sich selbst gemacht hat.«
Laurie konnte sich nicht erinnern, dass es auch um einen teuren Sportwagen ging, aber selbst mit einem Porsche kam man nicht auf die fraglichen Summen. »Meines Wissens ging es um mehr als um einen Wagen. Angeblich waren gewaltige Summen verschwunden.«
»Nichts war verschwunden.« Er schlug mit der rechten Faust in die linke Handfläche. Laurie zuckte zusammen. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich wieder in Erinnerung rufen musste, möglicherweise mit einem Mörder zu sprechen. Das brachte ihre Arbeit unweigerlich mit sich. Plötzlich stand ihr sehr konkret vor Augen, wie er Virginia Wakeling hochgehoben und von der Dachterrasse geworfen hatte. Der Mörder – wer immer es gewesen sein mochte – musste jedenfalls über einige Kraft verfügt haben. Was auf ihn eindeutig zutraf.
Ganz ruhig fuhr Ivan fort. »Das Geld ist nicht verschwunden. Wie gesagt, sie ist für einige kleinere Rechnungen und für den Wagen aufgekommen. Der Rest des Geldes aber war gedacht als Investition in PUNCH. Mein Studio.«
Laurie nickte. Sie wusste, was er beruflich machte.
»Das war mein Traum, Virginia hat das gewusst. Sie war Kundin bei mir. Ich habe sie einige Boxübungen machen lassen – nichts Schweres, meistens Seilspringen oder Schattenboxen. Aber das sind tolle Fitnessübungen und ganz was anderes als die üblichen Sachen. Die Leute mögen das. Ich wusste, dass das Studio eine tolle Idee ist. Ich habe sie nie um Hilfe gebeten. Daher war ich richtig entsetzt, als sie mir gesagt hat, sie würde mir das Geld für die Anfangsinvestition geben. Ich hab eine alte Boxschule aufgetan und den Betreiber überreden können, sie mir zu verkaufen, damit ich sie zu einem coolen Fitnessstudio umbauen konnte. Im Grunde genommen ist er mein Partner, das Geschäft gehört aber mir. Virginia hat an mich geglaubt. Sie wusste, dass ich Erfolg haben würde. Und genau so ist es auch gekommen.«
Es war ihm anzusehen, wie stolz er auf das Erreichte war. Gründete das alles auf dem Mord an einer unschuldigen Frau? »Wie viel Geld hat sie investiert?«
»Fünfhunderttausend Dollar.«
Laurie sah ihn überrascht an. Es waren schon Menschen für sehr viel weniger umgebracht worden.
»Das verstehe ich nicht, Ivan. Sie hat in Ihre Geschäftsidee investiert, warum haben Sie dann keine schriftliche Vereinbarungen oder andere Dokumente, aus denen ihre Absichten eindeutig hervorgehen? Soweit ich die damalige Berichterstattung im Kopf habe, waren Virginias Kinder felsenfest davon überzeugt, dass ihre Mutter Ihnen niemals so viel Geld gegeben hätte.«
»Weil Virginia ihnen nie etwas anderes gesagt hat. Ihre Kinder sind Geizkragen. Ihnen ist alles in den Schoß gefallen, und es war ihnen nie genug. Sie haben nur einen Blick auf mich geworfen und für sich beschlossen, dass ich lediglich hinter ihrem Geld her wäre. Also hat Virginia ihnen versichert, dass sie mir nichts gibt, nur damit sie ihre Ruhe vor ihnen hat. Ich sollte ihnen noch nicht mal sagen, dass sie den Porsche bezahlt hat. Wahrscheinlich haben sie geahnt, dass Virginia ihnen einiges verheimlicht. Ich kann als Personal Trainer ganz gut leben, aber ich hätte nie so viel Geld für ein Auto ausgegeben. Nach Virginias Tod haben sie mich dann gegenüber der Polizei als Dieb hingestellt.«
»Geld für Luxusgüter wie einen Sportwagen auszugeben ist eine Sache. Aber meinen Sie nicht auch, dass eine Mutter ihren Kindern erzählen würde, wenn sie eine beträchtliche Summe in ein Geschäft investiert?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass sie es nicht getan hat. Verstehen Sie mich nicht falsch: Virginia hat ihre Kinder geliebt, sie hat ihnen sehr nahe gestanden. Aber sie haben ihre Mutter eigentlich gar nicht gekannt. Virginia hat in der Zeit tiefgreifende Veränderungen durchgemacht. Bob – ihr Mann – war damals fünf Jahre tot. Endlich hatte sie angefangen, ihr eigenes Leben zu leben, sie war nicht einfach nur mehr Ehefrau und Mutter. Sie war völlig unabhängig, und es hat ihr unheimlich gefallen, anderen Menschen Gutes tun zu können. Sie hat einige Dinge aufgegeben, die Bob wichtig gewesen waren, und sich dafür anderen gewidmet, hinter denen sie stand. Dazu hat der Sitz im Kuratorium des Metropolitan Museum gehört.«
Seine Stimme, bemerkte Laurie, bekam etwas sehr viel Sanfteres, wenn er von Virginia sprach. »Und wie passt Ihr Fitnessstudio in diese Geschichte?«
»Ich behaupte … nein, ich weiß, dass sie glücklich war über diese Veränderungen – wirklich glücklich. Aber ihre Kinder haben alles nur kritisiert. Sie wollten, dass sie in einer Art Zeitkapsel lebt. Es hat ihnen nicht gefallen, dass sie sich verändert hat, und zu diesen Veränderungen habe nun mal auch ich gehört. Wir haben ernsthaft davon gesprochen zu heiraten. Ich hatte ihr sogar schon einen Ring gekauft, aber sie war noch nicht bereit, es ihrer Familie zu sagen. Virginia meinte, wenn mein Studio erst mal richtig läuft, würden ihre Kinder mich eher akzeptieren. Deshalb hat sie mir geholfen, und deshalb hat sie niemandem etwas davon erzählt.«
»Aber es muss doch von ihr unterzeichnete Schecks geben, irgendetwas, das bestätigt, dass sie die Zahlungen abgesegnet hat.«
»Sie hat alles online überwiesen. Virginia war zwar älter, aber mit dem Internet kannte sie sich besser aus als ich. Mit ein paar Mausklicks konnte sie hunderttausend Dollar an eine Wohltätigkeitsorganisation überweisen.«
Oder, dachte Laurie, du kanntest ihre Passwörter und dachtest dir, bei ihrem Vermögen würde es nicht auffallen, wenn der eine oder andere Betrag fehlt.
»Die Hälfte des Geldes hat sie direkt an meinen Partner für den Kauf des Studios überwiesen. Die andere Hälfte ging für die Renovierung der Räumlichkeiten, für die Einrichtung und die Geräte drauf – das sind die Anfangskosten, wenn man so etwas aufzieht. Aber das Geld war nicht weg. Es steckt im Geschäft, an das hat sie geglaubt, und aus dem sollte zumindest ein Teil unseres Einkommens stammen, wenn wir verheiratet wären.«
Ryan hatte bis zu diesem Punkt geschwiegen, konnte es aber nunmehr kaum erwarten dazwischenzugehen. »Wie ich gesagt habe, Laurie. Ivan wurde von Anfang an mit Vorurteilen konfrontiert, aber er hatte kein finanzielles Motiv, um Virginia irgendetwas anzutun. Zum einen gibt es nicht den geringsten Beweis, dass das in PUNCH gesteckte Geld gestohlen wurde. Selbst wenn Ivan es gestohlen hätte …«
»Was ich nicht getan habe …«
Ryan hob die Hand, um Ivan zu unterbrechen. »Natürlich nicht. Aber nehmen wir es einfach mal an, dann hätte Virginias Wort gegen seines gestanden, wenn sie ihn beschuldigt hätte, das Geld ohne ihre Zustimmung genommen zu haben. Sie hatten eine Liebesbeziehung. Sie waren offiziell noch nicht verlobt, aber sie hatten sich zweifellos darüber unterhalten und von der Ehe gesprochen, was der bei Harry Winston gekaufte Ring bezeugt. Offensichtlich hatte sie Ivan freiwillig weitere Vermögenswerte überantwortet, unter anderem einen Porsche. Als ehemaliger Staatsanwalt sage ich, kein Kläger kann aufgrund dieser Beweislage Ivan ohne begründeten Zweifel einen Diebstahl nachweisen. Im schlimmsten Fall würde man sich auf eine Art Vergleich einlassen, wobei er ihr – wie einer ganz normalen Investorin – die fragliche Summe aus dem Firmenguthaben zurückzahlt.«
Laurie konnte sich Ryans Argumenten nicht verschließen. Im Zweifelsfall bedeutete Virginias Ermordung lediglich, dass Ivan nicht in ihr Vermögen einheiraten konnte. Außerdem rückte ihr Tod das Augenmerk auf ihre finanziellen Verhältnisse, wodurch Ivan umso mehr zum Hauptverdächtigen wurde. Diese beiden Argumente waren nicht von der Hand zu weisen. Das kurze Treffen hatte gereicht, um ihre ursprüngliche Meinung über Ivan ins Gegenteil zu verkehren. Seine Behauptung, er habe durch die Ermordung Virginias nichts zu gewinnen, aber eine Menge zu verlieren gehabt, klang aus dieser neuen Perspektive äußerst schlüssig.
Ivan musste spüren, dass sie sich mehr und mehr auf seine Seite der Geschichte einließ. »Ich schwöre, Laurie, ich war es nicht. Ich habe Ginny geliebt. So habe ich sie genannt. Das war ihr Kosename, als sie klein war, aber als sich ihr Mann einen gewissen Bekanntheitsgrad erarbeitet hatte, wollte er, dass man sie mit Virginia anredete. Wäre sie nicht gestorben, hätten wir wenige Monate später geheiratet, und wir wären sehr glücklich gewesen.«
»Laurie«, schaltete sich Ryan wieder ein, »ich weiß, du magst es nicht, wenn ich dir dazwischenrede, aber ich sage dir: Dieser Fall wird der Hit. Er ist für Unter Verdacht wie geschaffen. Darüber hinaus helfen wir jemandem, der es wirklich verdient hat.«
Wenn sie in solchen Vorbereitungsgesprächen die wichtigste Frage stellte, hatte sie sich normalerweise zuvor mit allen öffentlich zugänglichen Fakten des Falls eingehend vertraut gemacht. Das hatte sie hier beileibe nicht, trotzdem – und auch auf die Gefahr hin, voreilig zu sein – fragte sie ihn jetzt, weil sie es einfach wissen wollte: »Wenn Sie Mrs. Wakeling nicht getötet haben, wer war es dann?«
Als Ivan, statt ihr zu antworten, zu Ryan sah, glaubte sie, anfangs doch richtig gelegen zu haben. Als das Schweigen immer länger andauerte, erhob sie sich. »Okay, ich kann mir ja noch mal alles durch den Kopf gehen lassen …«
»Nein, warten Sie«, rief Ivan. »Es ist ja nicht so, dass ich mir nicht meine Gedanken gemacht hätte. Glauben Sie, ich habe durchaus Theorien, die von Tatsachen gestützt werden. Aber ich habe in fünfzehn Minuten eine Trainingsstunde mit einem sehr bekannten Schauspieler, und ich habe nicht erwartet, dass Sie von mir gleich die ganze Geschichte hören wollen. Ich weiß nicht, ob ich Namen nennen soll, solange ich nicht weiß, ob Sie sich wirklich für Virginias Fall entscheiden. Ich habe mich nicht unterkriegen lassen, obwohl mich viele für einen Mörder halten. Wenn ich das alles wieder aufrühre, dann nur, wenn es einen guten Grund dafür gibt.«
Sie wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Einerseits sollte man annehmen, dass jemand, der unschuldig war, alles daransetzen würde, seinen Namen reinzuwaschen. Andererseits konnte sie sich vorstellen, dass Ryan Ivan zum Besuch im Fernsehstudio überredet hatte, und in diesem Fall müsste Ivan sehr darauf achten, nicht zu viel zu sagen.
»Gut«, sagte sie. »Geben wir uns einen Tag, um darüber nachzudenken. Wir können uns morgen noch mal treffen, wenn wir beide der Meinung sind, der Fall wäre es wert.«
Ivan nickte. »Ich danke Ihnen sehr, Laurie, für Ihre Zeit und für Ihre Unvoreingenommenheit. Es bedeutet mir sehr viel.« Als er sich diesmal verabschiedete, war sein Handschlag so fest, dass ihr danach die Finger brannten.
5
Kaum hatte Ryan Ivan aus ihrem Büro begleitet, kamen auch schon Grace und Jerry hereingestürzt.
»Deshalb ist Ryan also den ganzen Morgen so herumgetigert«, platzte Jerry heraus. »Ivan Gray? Ich gehe davon aus, dass er nicht hier war, weil du Boxunterricht nehmen willst.«
»Es überrascht mich, dass du ihn kennst«, erwiderte Laurie. »Ich hätte jedenfalls nicht gewusst, wer er ist.«
»Ich war damals sehr fasziniert vom Wakeling-Fall und habe jedes Wort darüber gelesen«, entgegnete Jerry.
»Dann klär mich auf.«
»Nach ihrem Tod haben sich die Medien auf seine Rolle in ihrem Leben eingeschossen – erst als ihr Trainer in einem sehr exklusiven Fitnessklub in der Nähe des Plaza Hotel, dann als ihr unvermuteter Liebhaber. Er war am Abend ihres Todes mit auf der Gala. Aber im Lauf der Zeit ist dann immer weniger über ihn berichtet worden. Irgendwie muss es Ivan gelungen sein, seinen Namen und sein Gesicht aus der Presse herauszuhalten.«
»Du hast den Fall wirklich verfolgt, Jerry?«
»Na ja, Virginia Wakeling ist die Einzige, die bei einer Met-Gala jemals ums Leben gekommen ist.«
»Bleiben wir bei Ivan«, sagte Laurie. Sie prägte sich ein, dass die Zuschauer daran interessiert sein könnten, wie er es geschafft hatte, in den folgenden Jahren seine Privatsphäre zu wahren.
»Als ich gesehen habe, dass Ryan Ivan Gray in dein Büro brachte, wusste ich, was Ryan für unseren nächsten Fall vorgesehen hat«, sagte Jerry.
»Ryan mag es, wenn ihm alles in den Schoß fällt«, mischte sich Grace ein. »In letzter Zeit hat er nur noch von seinem Boxstudio gesprochen. Wenn ich es mir recht überlege, Ivan Gray wäre für unsere Sendung doch gar nicht so schlecht. Er ist völlig anders als unsere bisherigen Verdächtigen, er könnte richtiges Interesse wecken.«
»Laurie, wie schätzt du ihn ein?«, fragte Jerry. »Was hältst du von ihm?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hab ihn ja nur kurz gesehen, mein Bauchgefühl sagt mir aber, der Fall passt nicht. Dazu ist er noch viel zu jung. Ich gehe davon aus, dass die Polizei noch ermittelt. Außerdem, vielleicht bin ich ungerecht wegen des Altersunterschieds und der fraglichen Geldsumme, aber ich hatte den Eindruck, dass Ivan nicht ehrlich ist. Ihr kennt mich – ich würde nie jemanden als Mörder bezeichnen, wenn nicht eindeutige Beweise vorliegen, aber ich kann verstehen, warum Virginias Familie seinen Absichten mit Argwohn begegnet.«
»Du hältst ihn also für einen Heiratsschwindler?«, schlussfolgerte Grace.
»Das hast jetzt du gesagt, nicht ich.«
»Aber das Setting wäre faszinierend«, warf Jerry ein. »Ich meine – das Metropolitan Museum of Art!«
Grace, der schwante, dass nun eine längere Diskussion anstand, verkündete, dass sie sich wieder an ihren Schreibtisch verziehen würde und Laurie nach ihr rufen solle, wenn sie etwas brauchte. Nachdem sie fort war, führte Jerry seinen Punkt weiter aus.
»Laurie, einen fabelhafteren, berühmteren Schauplatz können wir uns doch gar nicht wünschen. Die jährliche Kostümausstellung gehört zu den berühmtesten der Welt. Der Abend, an dem Virginia ums Leben gekommen ist, stand unter dem Thema ›Mode der First Ladies‹ mit Exponaten von Präsidentengattinnen aus vielen verschiedenen Jahrzehnten. Ich will ja nicht zynisch sein, aber selbst wenn wir nur das wiederverwerten, was wir an Material aus den Nachrichtensendungen haben, können die Zuschauer nicht widerstehen.«
»Glaub mir, Jerry, das weiß ich. Aber wir können nicht davon ausgehen, dass wir vom Museum eine Drehgenehmigung bekommen …«