Mord am Hirschlachufer - Dietmar Beetz - E-Book

Mord am Hirschlachufer E-Book

Dietmar Beetz

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Beschreibung

An einem sonnigen Septembertag des Jahres 1948 ist ein Mann „auf Hamstertour“ im Eichsfeld unterwegs. Aber es gibt noch andere Geschäfte, die ihn in das Dörfchen Ulmbach treiben ... Der Großbauer Hugo Strauch weiß nur zu genau, warum er Schneiders Kommen fürchten muss. Als wenig später im nächtlichen Erfurt ein furchtbares Verbrechen geschieht, führen die Spuren nach dem weltabgeschiedenen Ulmbach — und zurück in eine dunkle Vergangenheit. LESEPROBE: Die Sache rollt, der Händl wird marschieren! Ich dirigiere ihn mit festem Griff und Kniff. Ich hab’s gewollt, und er muss mir parieren. Methode Strauch - sie hat den altbewährten Pfiff. Er summte dabei vor sich hin, und während er so zurückging zum Haus, vorbei an der Kate, am duftenden Gras, am Birnbaum und an den Apfelbäumen, an den rauschenden Pappeln und Eschen vorbei — während dieser Minuten verschwamm rings um ihn der Garten, und Strauch sah seine Welt wieder in ihrem alten Gefüge. Hier auf dem Weg zwischen Blumenrabatten, die später Gemüsebeeten weichen mussten, war er damals auf und ab gegangen, gemeinsam mit Händl, den die Panik trieb — damals, im November neunzehnhundertzweiunddreißig, Tage nach dem Mord. „Was du nur willst? Er ist nicht wieder zu Bewusstsein gekommen, hat’s nicht überlebt — na und? Dein Glück. Und seins dazu! So hat er’s hinter sich und braucht nicht erst ins Gras zu beißen, wenn demnächst die große Abrechnung beginnt.“ „Aber ich hab’s doch nicht gewollt, Hugo, ich bin unschuldig! Du und dein Rohr ... Du hast mir’s in die Hand gedrückt, hast mich besoffen gemacht mit deinem Gerede und dem Schnaps ...“ „Max, was soll das? Ich versteh überhaupt nicht, wovor du solche Angst hast. Wichtig ist doch nur, dass wir’s geschafft haben und niemand an uns denkt.“ „Noch nicht, Hugo, noch nicht ...“ „Ach was! Wenn du die Nerven behältst und nicht durchdrehst, wird keiner auf den Gedanken kommen, uns zu verdächtigen. Die suchen in ganz anderer Richtung, bei seinen Genossen.“ „Bei den Kommunisten?“ Händl war stehen geblieben, Argwohn im Blick, Argwohn, Verwirrung und einen Funken Hoffnung. „Seine eigenen Leute sollen ihn ...?“ „Man glaubt’s, Max, man ist davon so gut wie überzeugt. Kein Wunder, es deutet ja auch alles darauf hin!“ „Auf die Kommunisten?“ Unter den buschigen Brauen von Händl glommen bereits Erleichterung und beschämtes Einverständnis. Strauch legte ihm die Hand auf die Schulter, und während sie weitergingen über den knirschenden Kies, sagte er voller Genugtuung:

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Impressum

Dietmar Beetz

Mord am Hirschlachufer

Kriminalroman

ISBN 978-3-95655-179-6 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1982 im Greifenverlag zu Rudolstadt.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Erster Teil

1

Fünfzehn Stunden und vierunddreißig Minuten vor dem Mord verließ ein Personenzug den Erfurter Hauptbahnhof. Er fuhr zunächst ostwärts, vorbei an zerbombten, notdürftig reparierten Industrieanlagen, und bog dann nach Nordwesten ab.

Es war ein sonniger Morgen, damals, Ende September neunzehnhundertachtundvierzig, ein sonniger Sonntagmorgen im vierten Jahr nach dem Krieg. Anna Kuwittke sah die Ruinen vor dem staubigen Fenster, Ruinen, rostrot, bewachsen mit gilbendem Gras, doch nahm sie auch den rosigen Schein wahr am dunstigen Himmel, das Rattern der Räder, das Stimmengewirr.

„So könnte ich tagelang fahren“, sagte sie. „Nichts tun, nur so dasitzen, schauen ...“

„Was?“, fragte Herta Schramm, ihre Arbeitskollegin und Freundin, indem sie sich vorbeugte. „Was hast du gesagt?“

„Nichts. Nur …“ Anna wich dem Blick der mausgrauen Augen aus. „Nur, dass ein schöner Tag ist, und überhaupt ...“

„Stimmt, das Wetter hält sich. Ein Glück, denn im Regen von Hof zu Hof gehn, von Dorf zu Dorf ...“ Ihre Stirn, ihr ganzes Gesicht legte sich in Falten.

Anna nickte hastig und blickte rasch wieder weg. Sie fürchtete diese Kummermiene, die sie an ihr eigenes Spiegelbild, ihr eigenes Schicksal erinnerte, und heute mochte sie solche Gedanken weniger denn je. Einmal vergessen, dass der Mann gefallen war und nichts hinterlassen hatte als die beiden Kinder, die Erinnerung an ein paar Stunden Fronturlaub!

Witwe mit Anhang, ging es Anna durch den Kopf, und sie überlegte, ob sie nicht doch in der Zeitung annoncieren sollte: Junge Frau, sechsundzwanzig, brünett ... Wieder fielen ihr die Kinder ein, und ihr Körper erschlaffte.

Doch dann fuhr sie auf und hielt den Atem an. Meint der mich? Starrt her wie ... wie ...

Da kniff der Mann ein Auge zu, breitete die Arme aus und hob bedauernd die Schultern. - Kann nicht. Du siehst ja ...

Er stand im Gang zwischen den Sitzreihen, eingekeilt von anderen Reisenden und ihrem Gepäck; er überragte alle.

Der wär’ was, dachte Anna. Groß, kräftig, kaum älter als ich. Und wie die Zähne blitzen, wenn er lacht!

Unwillkürlich öffneten sich auch ihre Lippen, und ihr Rücken straffte sich noch mehr. Sie wusste, wie verführerisch das wirken konnte.

Und spürte im nächsten Moment Hertas Hand auf dem Arm. „Der ist nichts für dich. Wir, mit unserem Anhang ...“ Sie brach ab, mitten im Satz und schüttelte den Kopf.

„Was du gleich denkst!“, versetzte Anna, indem sie die Hand fortstieß. „Was kann denn ich dafür, dass der mich die ganze Zeit schon anstarrt?“

Herta verzog den schmallippigen Mund. „Meinst du, ich hätte nicht bemerkt, wie du zurückgefunkt hast?“

„Na und?“ Anna zuckte die Schultern und schaute zum Fenster hinaus, über abgeerntete Felder und blaugrüne Baumgruppen zum blassblauen Himmel am Horizont.

Als ob man nicht selber wüsste, dass so einer nicht mehr zu haben ist! Nicht für immer. Wer von denen überlebt hat, liegt längst an der Kette.

Verstohlen warf sie einen Blick zu der Hand, mit der sich der Fremde an einem Gepäcknetz festhielt.

„Einen Ring hat er nicht. Jedenfalls nicht am Finger.“ Diesmal lächelte Herta, und versonnen fügte sie hinzu: „Hübsch ist er ja, alles, was recht ist. Ein Johannes Heesters, hübsch und gefährlich.“

„Johannes Heesters, dass ich nicht lache!“

Ein wenig verschämt fiel Herta ein, und wie auf Kommando verstummten beide.

So unzutreffend, fand Anna, war der Vergleich mit dem Filmhelden durchaus nicht, und doch wirkte er befremdend. - Ein „Bel ami“ und sie, zwei Näherinnen, hier, in diesem überfüllten Abteil, unterwegs, um Blusen und Hemden gegen Mehl und Speck einzutauschen ...

„Ob er auch auf Tour ist?“, fragte Anna.

Herta, das Gesicht wieder in Falten, zuckte die Schultern und schwieg.

Und dann kreischten die Bremsen, und der Zug hielt an. „Mühlenau! Mühlenau!“ Der Rest der Ansage ging unter im Stimmengewirr der Reisenden.

Auch Anna und Herta hatten sich erhoben, um auszusteigen. Ihr Anschlusszug würde erst in einer Viertelstunde fahren, sodass sie in Ruhe ihre Rucksäcke aus dem Gepäcknetz nehmen konnten und sich nicht in das Gedränge zu stürzen brauchten.

Der Fremde, fiel Anna auf, war verschwunden.

Sie erblickte ihn auf dem anderen Bahnsteig wieder und wurde im selben Moment auch von ihm entdeckt. Die Freude auf seinem Gesicht war unverkennbar. Anna tat noch einen Schritt, rascher als sonst, blieb dann stehen und sah ihm entgegen, die Schultern mit den Rucksackgurten gereckt.

„Tag, die Damen! Schönes Wetter heut.“

„Könnte besser sein“, erwiderte Herta. „Sonst was — der Herr?“

Der Fremde entblößte die Zähne und wandte erst jetzt den Blick von Anna ab. Seine Lider verengten sich, doch um die Mundwinkel begann es zu zucken.

„Und ob!“, rief er. „Sogar eine ganze Menge!“

Die Falten auf Hertas Stirn wurden schärfer, während sie parierte: „Und was, wenn man fragen darf?“

Er schien diese Wendung angesteuert zu haben; denn nun genoss er die Situation: beugte sich nieder zu Herta und blinzelte Anna zu, dämpfte die Stimme und sprach doch laut genug, mit aufreizendem Grinsen: „Das, meine Dame, verrat’ ich erst später, heimwärts vielleicht.“

Es schwang eine Aufforderung mit, und prompt tat Herta enttäuscht.

Da fragte er, gespielt entrüstet: „Soll ich’s Ihnen etwa vormachen? Hier?“

Die Reaktion der Frauen - ein Lachen, spitz wie ein Schrei - wurde überdröhnt vom Lärm des einfahrenden Zuges. Sie verstummten und schwiegen noch, als sie bereits die Reise fortsetzten, zu dritt allein in einem Abteil.

Der Fremde verstaute ihr Gepäck und seinen eigenen Rucksack, der schlaff war und offenbar völlig leer.

„Auch hamstern?“, fragte er beiläufig, zerstreut.

Beide nickten, Anna erwartungsvoll und bang in einem. Sie lauerte auf das nächste Wort, die nächste Dreistigkeit und schreckte zugleich davor zurück.

Der Fremde aber schien die Frauen plötzlich vergessen zu haben. Die Lider schmal, verfolgte er, wie auf der Chaussee, die hier neben dem Schienenstrang verlief, ein Kraftfahrer mit dem Lokomotivführer um die Wette fuhr: Der „Opel“, alt und sicher klapprig, holte auf, meter-, dezimeterweise. Da schob sich ein Wiesenstück, eine Brücke dazwischen, und das Auto musste erneut ansetzen; doch schließlich lief der Zug auf einer Station ein, und der Fahrer zog hupend davon.

„Verdammt!“, stieß der Fremde hervor. „Einen Wagen müsste man haben! Wie der uns abgehängt hat, mit dieser Kiste! Die würde ich auffrisieren, und dann …“ Er verstummte jäh und starrte zum Fenster hinaus. Seine Augäpfel ruckten unruhig.

Also ein Autonarr, sagte sich Anna. Nicht reich genug, einen Wagen zu kaufen, aber von Autos versteht er was. Oder behauptete zumindest. Vielleicht ist er Schlosser; die Hände sprechen dafür, schöne kräftige Hände.

„Sie sind wohl oft auf Tour?“, erkundigte sich Herta.

Der Fremde streifte sie mit dem Blick, runzelte die Stirn und schwieg.

„Ich meine“, erklärte Herta, sich räuspernd, „ob Sie oft unterwegs sind, hamstern und so?“

Der Fremde tat, als habe er die Frage nicht gehört.

Da sagte Herta, an Anna gewandt: „Die Männer heute! Quatschen einen erst an, ohne sich vorzustellen, und hüllen sich dann in vornehmes Schweigen. Da hatte man früher andere Manieren, stimmt’s? — Oder war dein Alfred auch so ein Klotz?“

„Lass das!“, versetzte Anna erschrocken.

„Ach!“, rief der Fremde, plötzlich wie umgewandelt. „Sie können sprechen! Ich dachte schon, Sie wären stumm.“

„Sie ... Sie sind ja auch nicht gerade gesprächig.“

„Stimmt, meine Dame. Also passen wir ganz gut zusammen.“ Er lächelte breit, mit blitzenden Zähnen.

Wieder war Anna, als habe er das alles nur inszeniert, um ihr dieses Kompliment zu machen, sie in Verlegenheit und in Erregung zu versetzen.

„Aber Ihre Freundin hat recht“, fuhr er fort, „man sollte sich miteinander bekannt machen. Mein alter Herr heißt Schneider, und mich hat man auf den schönen Namen Horst getauft. — Zufrieden?“

Herta, unversehens wieder im Blickpunkt, hatte Mühe, ihr Mienenspiel zu beherrschen. Bevor sie etwas erwidern konnte, wandte sich Schneider erneut an Anna: „Nun sind Sie dran.“

Sie nannte ihren Namen und den von Herta, erzählte, woher sie kamen, welche Dörfer sie aufsuchen wollten, was sie anzubieten hatten und was sie einzutauschen hofften ... Die Zeit verging dabei für Anna wie im Flug.

„Rammstädt“, sagte plötzlich Herta. „Wir müssen raus.“

Schneider half den Frauen, die Rucksäcke schultern, und stieg mit aus.

„Na dann“, sagte er und hob die Hand, „Hals- und Beinbruch! Bis heute Nachmittag, vielleicht!“

Eh sie antworten konnten, ging er davon, hastig, ohne noch einmal zurückzuschauen. Der Rucksack hing ihm schlaff von den Schultern. „Komischer Kerl“, sagte Herta. „Erst bearbeitet er dich, und dann haut er ab.“

„Na und?“ Anna schluckte. „Wer weiß, was er vorhat.“

„Tja, wer weiß? — Hamstern geht er jedenfalls nicht.“

„Nein, hamstern nicht. — Ach, Herta, komm!“

Und beide verließen die Bahnstation in anderer Richtung.

2

Als er außer Sichtweite der Frauen war, schritt Schneider langsamer aus, bedächtiger als sonst. Er benutzte heute auch nicht die Abkürzung, den Pfad, der steil bergan durch lichten Laubwald führte; er folgte der Straße, die sich in engen Schleifen über den Höhenzug wand.

Ein elender Sauweg, dachte er. Noch verkommener als voriges Jahr.

Damals, im Sommer neunzehnhundertsiebenundvierzig, war Schneider zum ersten Mal von Rammstädt nach Ulmbach gegangen, auf dieser kaum befestigten, vom Regen zerfurchten Chaussee, die ihm seitdem als Durchlass zu einem verborgenen Winkel der Welt erschien. Wie jeder gewöhnliche Hamstergänger hatte er Tauschware geschleppt, heiße Ware allerdings, nach der vor dem Höhenriegel, in den Dörfern um Mühlenau, vielleicht schon gefahndet wurde.

Danach war er wieder und wieder hier angereist, meist einen Monat um den anderen und stets mit leerem Rucksack, um jedes Mal beladen heimzufahren.

Ein Jahr — das reicht, dachte er heute. Wie sich die Verhältnisse entwickeln, hüben und drüben, wird’s Zeit, was Neues anzufangen. Aber was — ohne Wagen?

Und während er den Anstieg bewältigte, überlegte Schneider erneut, ob er auf andere Weise zu Geld kommen könnte, zu viel Geld, zu zwanzigtausend Mark. Es fiel ihm auch jetzt nichts ein, und so dachte er wieder an Hugo Strauch.

Dieser Fuchs! Ein Wunder, dass ich ihn aufgespürt hab’, damals, vor gut einem Jahr. Hugo Strauch in einem Nest bei Mühlenau, auf eignem Bauernhof, wer hätte das gedacht? - Nicht weit von Mühlenau und doch am Ende der Welt ...

Er stand jetzt auf dem Kamm des Höhenzuges, der gar nicht so gewaltig wirkte. Nach Westen fiel er eher sanft ab, in eine herbstgelbe, hüglige Landschaft. Der Dunst darüber verstärkte den Eindruck von Schläfrigkeit und Abgeschiedenheit.

Das Eichsfeld, dachte Schneider. Kaum zu glauben, dass hier eine andere Welt anfängt. - Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein, weil sich für mich einiges geändert hat, seit ich Strauch dort unten wiederbegegnet bin: kein Bruch mehr, genug Fressalien, manchmal sogar noch was für eine Mieze ...

Während er weiterging auf der löchrigen, bald abfallenden Chaussee, fiel ihm Anna Kuwittke ein, doch schob er Gedanken an ihre Augen und an die Wölbungen unter der Bluse beiseite und sagte sich: Später vielleicht. Erst muss ich mit Strauch klarkommen, und das wird nicht einfach sein.

Und dann wich der Wald zu beiden Seiten der Chaussee zurück, und Schneider erblickte Ulmbach. Das Dorf lag in einer Mulde an den Ausläufern des Höhenzuges — fünf Dutzend Häuser, rot die Dächer, winklig und schmal die Gassen ... Der Hof von Strauch befand sich rechts, am Nordrand, wo eine andere Landstraße mündete. Er unterschied sich von den übrigen Gehöften nur durch den weitläufigen Garten — ein grüner Fleck vor dem Gelbbraun der Flur, die dahinter begann.

Idyllisch, dachte Schneider. Und er ist hier der Fürst. Versteh’ schon, dass er das nicht aufgeben möchte; und solange er nicht weiß, was ihn drüben erwartet ...

Da war sie wieder: die Angst, die Entwicklung im anderen Teil Deutschlands könnte seine Pläne durchkreuzen. Zwar liefen in Nürnberg noch Prozesse, doch Schneider wusste, welcher Geist jenseits der Grenze wieder bestimmend wurde. Er musste sich beeilen, wollte er seine Absicht verwirklichen.

Wenig später stockte er. Und ging dann steif nackig weiter, bemüht, unauffällig zu beobachten.

Schon das war neu für Schneider: Dass in Ulmbach gebaut wurde, noch dazu am Sonntagvormittag. Ein halbes Dutzend Burschen und ein Mann planierten ein Feld, offenbar für einen Sportplatz. Wie bemerkenswert das auch schien, verwirrt wurde Schneider vor allem durch den Mann, der sich an den Arbeiten beteiligte.

Dieser schmächtige, wettergegerbte Kerl, der Gärtner des Dorfes, war ihm schon bei früheren Besuchen aufgefallen. Wenn Schneider an der Gärtnerei, einem Gemüsefeld zwischen Getreideäckern, vorbeigekommen war, hatte sich der Gärtner aufgerichtet, als wolle er den schmerzenden Rücken strecken, und war ihm mit dem Blick gefolgt, lauernd und ängstlich zugleich.

Auch heute schien er Schneider erwartet zu haben, und nicht nur das; diesmal folgte er ihm. Er sagte etwas zu den Burschen, die kaum von der Arbeit aufsahen, ließ die Schaufel fallen und ging wie ein Storch mit stakenden, vorsichtigen Schritten zur Straße.

Beunruhigt blickte Schneider geradeaus. Gewiss, heute wollte er Strauch in aller Öffentlichkeit besuchen, sogar provokatorisch offen, aber das Gebaren des Gärtners passte nicht in seinen Plan.

Was er nur will? fragte er sich. Belauert mich seit Monaten - und schweigt! Ob er was ahnt? Vielleicht sollte ich ihm auf den Zahn fühlen?

Schneider blieb stehen und schaute zurück.

Im nächsten Moment bückte sich der Gärtner und begann, an seinen Schuhen herumzufingern.

Amateurdetektiv! Soll er ruhig was ahnen! So ein Stümper kommt dir schon nicht in die Quere.

Trotzdem schritt Schneider nun schneller aus. Er überquerte den Kirchplatz, das Zentrum des Dorfes, und bog in die Kirchgasse ein. Drei dunkelgekleidete Frauen schauten tuschelnd hinter ihm her. In einigem Abstand folgte ihm der Gärtner.

Recht so! Mein Einzug soll sich herumsprechen; mein Besuch muss Strauch auf die Nerven gehen. Ihn unter Druck setzen, stark genug und doch nicht so sehr, dass er durchdreht und abhaut! — Wenn er erst mal sicher ist, drüben straflos auszugehn ...

Einen Atemzug lang fürchtete Schneider, schon jetzt zu spät zu kommen. Das Tor stand sperrangelweit offen, und vom Hof drang die Stimme des Bürgermeisters.

Auch der noch! Schneider stockte, sofort sich im Klaren, dass Roller, der Bürgermeister, weitaus gefährlicher als der Gärtner war. Kaum ein halbes Jahr im Amt, schien er alles zu durchschauen, sich in alles reinzuhängen; kein Besuch bei Strauch ohne Hassausbruch gegen Roller, diesen Kommunisten, der im Haus saß wie die Laus im Pelz und bei dem er, Strauch, sich anbiedern müsse. Ein Arschkriecher, den die Angst treibt, dachte Schneider, und er überlegte: Vielleicht ist es ganz gut, wenn er sich einbildet, dass Roller sein Theater durchschaut. Da kann er’s nicht wagen aufzumucken; da muss er schlucken und zahlen, um mich loszuwerden; dadurch kriegt alles noch mehr Pfiff. Beinah beschwingt betrat Schneider den Hof, herausfordernd, mit einem Kribbeln im Leib.

Als Roller ihn erblickte, brach er ab und hielt die Luft an.

„Meinetwegen“, sagte er dann mit veränderter, mühsam beherrschter Stimme zu den Männern, die ihn umstanden. „Machen wir eben Schluss! Ich will keinen von seiner Andacht abhalten.“

Die Männer, ein knappes Dutzend und alle älter als er, blickten ihn an und schauten her zu Schneider, neugierig und überrascht. Keiner nahm die Hacke oder die Schaufel auf; alle waren wie in Erwartung erstarrt.

„Geht schon!“, drängte der Bürgermeister. „Geht heim, ihr habt’s euch verdient; wir haben heute für den Anfang ganz schön geschafft.“ Er schielte dabei zu Schneider, und sein sommersprossiges Gesicht unter dem wirren Schopf begann zu zucken.

Irgendwo tuckerte ein Truthahn, und irgendwer hüstelte zweimal. Sonst rührte sich niemand und nichts auf dem Hof.

„Leute, seid brav, tut, was euer Schulze euch sagt!“

Noch während er sprach, sah Schneider, wie sich der Bürgermeister verfärbte, und bemerkte hinter dem Fenster im Treppenflur ein Gesicht.

Strauch! Gleich, Kommandoführer, kommt’s noch besser!

„Sie …“, begann Roller heiser, gepresst. „Sie ...“

„Schon gut, Bürgermeister, so ist das halt heute: Keiner pariert mehr der Staatsmacht. Dabei wollen Sie doch wirklich nur das Beste!“ Einige Männer fingen zu grinsen an — breit die bäurischen Gesichter.

„Und Sie? Was geht Sie das eigentlich an? Was haben Sie hier überhaupt verloren?“

„Aber, Herr Bürgermeister!“ Schneider legte eine Pause ein und streifte mit dem Blick das Fenster, wo gerade das Gesicht verschwand.

„Ich habe Sie was gefragt. — Ich kann eine Antwort verlangen!“

Im nächsten Moment stürzte Strauch aus der Tür, und der Truthahn flatterte auf und begann, als protestiere er lauthals, zu kollern.

„Die Antwort - bitte!“, erwiderte Schneider, indem er auf Strauch wie auf den Truthahn wies.

Zu seiner Überraschung war das Gelächter gebrochen. Die Männer wirkten allesamt wohl belustigt, doch mischte sich in die Heiterkeit bei einigen anderes, Mitleid vielleicht. Sie wandten den Blick ab von Rollers verzerrter Miene, als habe der Fremde auch sie verhöhnt.

„Bist du verrückt?“, fuhr Strauch ihn an, fahl im Gesicht. „Dich hier so aufzuführen!“

Es läuft, dachte Schneider. Sie kochen beide. Noch etwas Feuer ...

„Ich?“, fragte er gespielt naiv. „Ich bin doch bloß höflich gewesen. Ich habe mich bei deinem Untermieter erkundigt, bei deinem zeitweiligen Untermieter ...“

Er sah, wie Roller zusammenzuckte, zu Strauch herumfuhr, wie der die Zähne zusammenbiss. — „Stimmt wieder was nicht? Bist du etwa nicht mehr der Herr hier? Gehört der Hof jetzt dem da? Verbietet er dir, einen Kriegskameraden zu empfangen?“

Alle im Umkreis, auch die Männer, die sich schon abgewendet hatten — alle starrten Schneider an. Und alle schauten sie dann auf Strauch.

Der einstige König des Dorfes, der bedrängte Fürst wich mit dem Blick aus — einem Blick voller Hass.

„Blödsinn! Ich begreif’ nicht, was das soll. Roller und ich - wir verstehen uns bestens. Was, Fred?“

Es klang unsicher, gepresst; und nun hefteten sich die Blicke auf Roller, auf das dunkelrote, schweißbedeckte Gesicht des Bürgermeisters.

Jetzt! dachte Schneider, und er sagte bedächtig, genießerisch: „Also bist du nach wie vor der Chef hier, und er kann mir überhaupt nichts sagen. — Was sich alles auf einmal mausig macht!“

Im nächsten Moment wurde Schneider am Kragen gepackt, gewürgt und geschüttelt. „Du Lump, du Provokateur! Dir werd’ ich zeigen, dir werd’ ich beweisen, wer hier was zu sagen hat! Für alle Zukunft, nicht — zeitweilig!“

Der Angriff kam so überraschend für Schneider, dass er gar nicht an Abwehr dachte. Verdammt! Schoss es ihm durch den Kopf. Das war zu viel; der ist ja unberechenbar!

Als erster hatte sich Strauch gefangen. Er fiel Roller in den Arm, riss ihn zurück. „Schluss! Sind denn alle hier übergeschnappt?“ Schneider strich sich über den Hals, und Roller bewegte die Hände, drückte, lockerte sie.

„Das hat noch ein Nachspiel“, sagte er, mehr an die Männer des Dorfes als an Schneider gewandt. „Das lass ich mir nicht gefallen. Der wird schon sehn ...“ Es klang drohend und kläglich zugleich.

„Dass ich nicht lache!“, versetzte Schneider, obwohl eine innere Stimme ihm riet: Genug! Kein Wort mehr!

„Wart’s ab!“, erwiderte Roller heiser, mit bebender Stimme. - „Wart’s ab!“ Und er ging davon, ohne sich umzuschauen. Mit einem Knall fiel hinter ihm die Haustür ins Schloss.

3

Als Roller gegangen war, verliefen sich die meisten Männer. Sie verließen den Hof, einzeln oder zu zweien, die Hacke oder die Schaufel geschultert, und fast alle streiften Schneider noch einmal mit dem Blick, kopfschüttelnd.

„Unglaublich! Nicht zu fassen!“ — Strauch versuchte offenbar, sich Schneiders Verhalten zu erklären. Er brachte es noch immer nicht über sich, ihn anzusehen und mit ihm zu sprechen.

Koch nur! dachte Schneider. Wenn du weich bist, sehen wir weiter. Da bemerkte er den Gärtner und einen anderen Mann, die seitab standen und herschauten. Der Gärtner hielt jetzt ein Paket unter dem Arm, und auch der andere drückte etwas, das in Papier gewickelt war, an den Bauch.

Beim Anblick der beiden befiel Schneider ein ungutes Gefühl, beunruhigend, gerade weil er es sich nicht erklären konnte. Er kannte beide kaum, den Untersetzten, Vierschrötigen dort noch weniger als den Gärtner; er hatte ihn bei früheren Besuchen ein-, zweimal auf dem Hof gesehen.

„Wer ist denn das?“, fragte er.

„Geht dich nichts an“, versetzte Strauch, ohne hinzuschauen.

Also hat er sie längst bemerkt, sagte sich Schneider, während er ihm folgte.

Die Tür, die Roller zugeschlagen hatte, die Tür zu seinem Haus ließ Strauch hinter sich offen. Über den Flur im Erdgeschoss, vorbei am Eingang zum Bürgermeisteramt und an der Wandtafel mit den Bekanntmachungen, stapfte er rasch, und erst auf der knarrenden Treppe verlangsamte er den Schritt.

Die alte Wunde, dachte Schneider. Er verschmerzt die Einquartierung nicht. Dabei hat er noch Schwein gehabt, fünfundvierzig bei der Bodenreform, mit einem Grundbesitz knapp unter der Grenze von hundert Hektar! Und mit seiner Verschleierungstaktik — ein Mordsschwein bisher; denn sonst wär’ es ihm schlecht ergangen.

Im ersten Stock, auf der Diele vor den Räumen, die er weiterhin mit seiner Frau bewohnte, verharrte Strauch, um mit den Pantoffeln auf dem Abtreter zu scharren. So ließ er Schneider herankommen, und dann trat er — eine stumme Aufforderung — beiseite.

Fatzke! dachte Schneider, und er übersah die Aufforderung, grinsend.

Da riss Strauch die Tür auf. „Bitte!“

„Endlich! Was war denn nur los? Dieser Roller ...“

„Frag ihn!“, fuhr Strauch die Frau an, indem er auf Schneider wies und die Tür hinter sich zuschmiss.

„Hugo, bitte!“ Sie sah ihn beschwörend an, bevor sie sich dem Besucher zuwandte.

„Guten Tag, Herr ...“

„Küss die Hand, gnä’ Frau!“ Und eh sie ihm die Hand entziehen konnte, hatte er sie genommen und an die Lippen geführt.

Sie ließ ihn gewähren, doch als er, sich aufrichtend, ein Auge zukniff, zuckte sie zurück.

Er wusste, dass sie ihn nicht mochte, ihn wegen seiner Besuche hasste, dass sein Aussehen und seine Dreistigkeit sie trotzdem nicht kaltließen, im Gegenteil, und er genoss diesen Zwiespalt.

Wie eine Hochwohlgeborene, dachte er. Das wär mal was anderes; die würde ich gern mal auf Touren bringen.

Sie war zu Strauch, ihrem Mann, ans Fenster getreten und hatte ihm die schmalgliedrige, bläulich geäderte Hand auf die Schulter gelegt. „Hugo, verzag nicht! Wir haben schon schlimmere Prüfungen bestanden, gemeinsam.“

Strauch nickte ihr zu, und atemzuglang verspürte Schneider Neid, brennenden Neid auf ihn wegen dieser Frau, wegen allem, was ihn umgab.

„Lieb von dir, Malwine. Und nun lass uns bitte allein!“

Sie ging, ohne Schneider eines weiteren Blickes zu würdigen.

Auch Strauch tat zunächst, als sei der Besucher Luft. Die Hände auf dem Rücken, lief er auf und ab zwischen dem schweren Tisch und dem wuchtigen Schrank; die Pantoffeln schlappten auf dem spiegelglatten Parkett.

In einem Bauernhaus Parkett! dachte Schneider. Die hatten’s dicke und wollten schon immer was Besonderes sein. - Dieser Pinkel! Einem nicht mal einen Stuhl anzubieten!

Er wollte bereits unaufgefordert Platz nehmen, da blieb Strauch vor ihm stehen. — „Ich warte auf eine Erklärung. Also?“

„Zwanzigtausend“, sagte Schneider leichthin und so bestimmt wie möglich.

Er hatte sich die Reaktion oft ausgemalt, doch nun übertraf sie noch seine Erwartungen: Strauch blinzelte und öffnete den Mund, schloss ihn wieder, schnappte erneut nach Luft.

„Geld? Aber wieso denn? Genügen dir nicht mehr - die Pakete?“

„Ich brauch’s. Ich will einen Wagen kaufen.“

„Zwanzigtausend Mark?“

„Auf die Hand - in einer Woche! Danach siehst du mich nicht wieder; das versprech’ ich.“

Eine Weile war es still. Strauch nickte, nickte und schüttelte dann langsam den Kopf. Und lachte plötzlich auf, gepresst. „Unmöglich! Zwanzigtausend, wie soll ich die beschaffen? In einer Woche! Woher nehmen und nicht stehlen?“

„Deine Hochzeit“, erwiderte Schneider. Er zog einen der Stühle zu sich heran und stützte sich auf die mit Schnitzereien verzierte Lehne, abwartend, sprungbereit.

„Aber setz dich doch!“, sagte Strauch in verändertem Tonfall. „Komm, setzen wir uns! — So lässt es sich besser reden.“

Schneider nahm sich Zeit. „Da gibt es nicht mehr viel zu bereden“, sagte er, während er die Beine, die nun doch ein wenig zitterten, übereinanderschlug.

Strauch faltete die Hände und stützte die Unterarme auf die schwere Tischplatte. Wieder wirkte er gedankenversunken, entrückt; dann hob er den Blick.

„Horst, du kennst mich. Mich und meine Verhältnisse. Du weißt, wie sie mir zugesetzt haben, wie sie mir zusetzen. Abgabesoll und Steuern und Einquartierung ... Es wird von Monat zu Monat schlimmer. Das Gesinde arbeitet immer weniger und verlangt immer mehr Lohn, und dieser Roller, dieser – Bürgermeister ...“ Er brach ab, wie erstickt von Hass.

„Ein Hitzkopf, der sich provozieren lässt“, sagte Schneider verächtlich, und höhnisch fügte er hinzu: „Dem bist du doch ein paarmal überlegen - dumm, wie er ist. ‚Lächerlich ungebildet‘, das hast du selbst gesagt.“

Er betonte diese Worte, die er empfunden hatte, als seien sie auch gegen ihn gerichtet gewesen; denn mit seiner eigenen Schulbildung war es ja gleichfalls nicht weit her.

Strauch überhörte den Unterton. „Als ob es um Bildung ginge!“, sagte er bitter. „Das alles ist zweitrangig; das kann man erwerben: Bildung, Besitz ...“ Die Handbewegung meinte mit Sicherheit mehr als die Einrichtung dieses Zimmers, und plötzlich sprang er auf und packte Schneider am Arm.

„Er hat die Macht hier, er und seinesgleichen regieren uns! Über kurz oder lang kriegst auch du ihre Herrschaft zu spüren. Mensch, Horst, wir sitzen doch alle im selben Boot!“

Schneider entzog seinen Arm dem Zugriff. „Mein - Boot“, sagte er gedehnt, indem er die Handbewegung nachahmte, „ist nicht so vornehm eingerichtet und nicht so komfortabel wie deins. Ein Loch zum Kochen und eins zum Hausen ...“

„Mann, Schneider, nun kleb doch mal nicht an solchen Äußerlichkeiten! Auch mir hat man den Wohnraum beschnitten, die Flügel gestutzt, ich aber denke weiter, an die Zukunft. Auch an deine Zukunft, Horst!“ Er hatte sich aufgerichtet und die Stimme erhoben — unversehens ein drohender Tonfall.

„Unsere Zukunft?“, fragte Schneider, bemüht, zu lächeln und Spott in die Stimme zu legen. „Wohl wieder eine eherne Volksgemeinschaft, ein trutziger Wall aus Treue und Kameradschaft?“

„Schweig! Für diese Ideale haben die Besten ihr Leben gelassen, Tausende und aber Tausende der besten Deutschen, und du ... du ...“

„Ich“, fiel Schneider ihm ins Wort, „ich denke auch an die ... zig Millionen Untermenschen, die dran glauben mussten. Bei einem runden Dutzend Polacken war ich ja selber dabei — damals, im August vierundvierzig, in diesem Kaff bei Lublin ...“

Er hatte die Stimme gesenkt, und Strauch war einen Schritt zurückgewichen. Nun duckte er sich. - „Vergiss nicht, dass auch du da mit drinsteckst! Auch dir ginge es an den Kragen.“

„Mir?“

Es war, als habe Schneider endlich den Punkt erreicht, den er seit geraumer Weile angesteuert hatte. „Mir nicht“, erklärte er mit breitem, selbstsicherem Grinsen. „Ich war nur Angehöriger der Wehrmacht, abkommandiert. Und außerdem ...“ Er fuhr in die Innentasche seines Jacketts, holte ein handtellergroßes, vergilbtes Foto heraus und hielt es hoch. „Außerdem, Kommandoführer, bin ich hier nicht mit drauf.“

Im nächsten Moment schnellte Strauch auf ihn zu und griff nach dem Beweisstück.

„Pfoten weg!“ Schneider war aufgesprungen. Geduckt, das Foto in der Hand, fixierte er Strauch, der die Fäuste auf die Tischplatte stemmte, keuchend, das Gesicht verzerrt.

„Du ... Du Lump! Du Verbrecher!“

„Beruhige dich, Strauch, lass die Luft ab!“

„Der Tag wird kommen, Schneider, verlass dich drauf! Dann rechnen wir auch mit dir ab!“

„Recht so, Strauch; alles zu seiner Zeit. Aber jetzt bin erst mal ich am Zug.“ Er Bewegte das Foto und lächelte starr.

Da sank Strauch auf einen Stuhl und wandte den Blick ab.

„Wahnsinn, mit diesem - Bild rumzuspielen“, sagte er. Seine Stimme klang brüchig.

„Das ist kein Spiel“, erwiderte Schneider mit Nachdruck.

„Nein? Was dann? Wie nennt man’s denn, wenn einer ein Erinnerungsstück präsentiert, von alter Kameradschaft spricht, ein Jahr lang Fresspakete kassiert und nun ... nun auch noch Geld verlangt?“

„Nenn’s, wie du willst!“, versetzte Schneider, und er steckte das Foto zurück in die Tasche. „Mein Angebot ist dir jedenfalls bekannt.“

„Dein — Angebot! Schon voriges Jahr, bei deinem zweiten Besuch, hast du dich erboten, das Bild verschwinden zu lassen.“

„Irrtum, Kommandoführer! Sie haben mich gebeten, meinetwegen: mich ersucht, Sie Pinkel! — Aber schön, reden wir Klartext: In einer Woche bin ich wieder hier, und dann wechselt das Foto den Besitzer. Zwanzigtausend, oder ...“ Er brach vielsagend ab, und Strauch hob den Kopf.

„Oder — was?“

„Oder Leute wie dieser Roller können sehn, was ihnen die Aufnahme wert ist.“

Strauch nickte, nickte und holte tief Luft, erhob sich und ging zur Tür.

Da ließ Schneider die Stuhllehne, auf die er sich gestützt hatte, los und fragte: „Was ist? Was hast du vor?“

„Beruhige dich!“ Strauch lächelte mühsam, verächtlich. „Ich hol’ nur den Speck für dich und die Wurst. Meine Frau wird dir so lang Gesellschaft leisten.“

4

Hugo Strauch drückte die Tür hinter sich zu und schloss die Augen. Atemzuglang stand er auf der Diele, ohne sich zu rühren; nur ein Muskel zuckte in seinem Gesicht.

Muttergottes, erbarme dich meiner, befreie mich aus dieser Bedrängnis, lass ein Wunder geschehn! Nur du, heilige Jungfrau Maria, kannst mich noch erretten. Hilf mir, bevor es zu spät ist! Strauch holte tief Luft. Da erblickte er seine Frau und stockte erneut.

Sie stand an der Wand gegenüber, als sei sie zurückgewichen, und schaute ihn an — ein nachdenklicher, ja abschätziger Blick unter den leicht schräg stehenden Lidern, die ihn seit je verwirrten und erregten.

„Du hast ...?“

„Still!“ Sie stieß sich ab und kam auf ihn zu. „Man hört ja jedes Wort durch die Tür.“

Strauch hielt abermals inne, erschrocken. „Haben — die da unten ...?“

Sie schüttelte den Kopf und lächelte jetzt. „Ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht; man muss schon recht nah herangehn. Nein, die da unten haben nicht gelauscht; da hab’ ich achtgegeben.“

„Lieb von dir“, sagte Strauch; doch ihr Blick, ihr Gesicht blieb hart. Da fragte er kleinlaut: „Und du — weißt alles?“

Sie nickte nur und legte ihm die Hand auf die Schulter, anders als vorhin, mehr drängend als tröstend. „Komm!“

Wie geführt von ihr und geschoben ging er zum Treppensturz. Auf der ersten Stufe blieb er ein weiteres Mal stehen und drehte sich um. „Aber vielleicht, Malwine, gibt er dann Ruh?“

„Der? — Nie! Nein Hugo, wir haben ihn unterschätzt. Der ist unersättlich, voller Lebensgier, voller Anmaßung, Brutalität und Unverschämtheit.“

Sie verstummte — im Blick ein Glanz, der Strauch betroffen machte. „Du sollst ihm Gesellschaft leisten“, sagte er. „Das heißt, ich habe ihm angeboten, ihm angekündigt ...“

„Ich weiß, Hugo.“ Sie lächelte. „Ich hab’s gehört.“

„Nimm dich in acht vor ihm, Malwine!“

„Keine Sorge, Hugo! Ich weiß solche Kerle zu nehmen. — Geh nun! Sie warten in der Laube.“

Nachdenklich stieg er die Treppe hinab, langsam, zögernd bei jedem Schritt. Die Stufen, fand er, knarrten aufreizend. Im Flur wandte er den Blick ab vom Brett mit den Bekanntmachungen, und auf dem Hof schaute er sich unauffällig um.

Nichts. Weder bewegten sich die Gardinen der Bürgermeisterei, noch war hinter den blanken Scheiben eines der anderen Fenster etwas zu erspähen. Strauch atmete auf.

Er ging vorbei an der Scheune, vorbei an den Ställen, unerreicht vom Schnaufen der Kühe, vom Stampfen der Pferde, vom wollüstigen Grunzen der Muttersau ... Erst der Gestank der übervollen Jauchengrube riss ihn aus den Gedanken.

Strauch verzog das Gesicht. So ist das nun, dachte er. Ich bin übriggeblieben, vielleicht als einziger von den Kameraden, und hocke noch immer daheim. Gerade ich! Gymnasium, Freikorps, Ostfront ... Jedes Mal bin ich zurückgekommen, hierher in die Verbannung, in diesen — nahrhaften Mist.

Er durchschritt den Rundbogen, den Eingang zum parkähnlichen Garten, der mit einer übermannshohen Mauer aus Granitquadern umgeben war. Unser Burgwall, dachte er. Unser Refugium ...

Sogleich fiel ihm der Steinbruch ein, der Granitbruch auf halbem Weg nach Mühlenau, ererbt wie alles hier, vor elf Jahren, nach dem Verlust der Ernte bei einem Unwetter, aber verloren, für einen Spottpreis verschleudert an einen einstigen Jugendfreund.

Jetzt lächelte Strauch. Schwein gehabt, sagte er sich. Ganze acht Jahre hat Wollmann, der Wucherer, an meinem Granit profitiert; dann war er enteignet. Ich aber, ich bin davongekommen, nur weil das Bruchgrundstück nicht mehr auf meinem Namen stand. Wenn das kein Schwein ist ...“ Er schreckte auf aus den Gedanken, blieb stehen.

„Guten Tag, Herr ...“

Strauch starrte die Alte an, als erblicke er sie zum ersten Mal. Idiot! ging es ihm durch den Kopf. Beschreist dein Glück, und im selben Moment taucht die auf! Er verspürte abergläubische Furcht.

„Wohl Kummer, Herr?“, fragte die Alte, indem sie den Rücken streckte und sich auf den Stiel des Rechens stützte.

Erst jetzt bemerkte Strauch die Mahd zwischen den Bäumen, das welke, duftende Gras, und erblickte auch Siegfried, der seiner Großmutter beim Wenden half. Den Mund mit den wulstigen Lippen offen, gaffte er. Strauch blickte rasch weg, wieder in das runzlige Gesicht der Alten, in die listig wirkenden Augen.

„Kummer ... Auguste, wie kommst du denn darauf?“

Gestützt auf den Rechen, humpelt sie näher, der Blick jetzt huschend, unstet.

„Herr, letzte Nacht hat wieder einer gegraben, drüben bei den Büschen. Ist umgegangen, unheimlich wie der Leibhaftige, hat das Bein mit dem Huf ...“

„Unsinn!“, fiel Strauch ihr ins Wort. „Guste, was redest du da?“

„... das Bein mit dem Huf nachgeschleppt, nur ganz wenig, mit Eisen geklirrt auf den Steinen und grässlich gestöhnt - so wahr ich hier steh’!“

„Hm ... Also auch gestöhnt hat er diesmal.“

„Grässlich, Herr! Es hat sich schrecklich angehört, schauerlich wie das Wehklagen aller verlorenen Seelen.“ Sie ahmte ein hohles, heulendes Geräusch nach und bekreuzigte sich.

„Guste, hör auf!“ Strauch winkte ab, belustigt und nachdenklich in einem. „Wer weiß, was du gehört hast? Vielleicht war’s der Wind; letzte Nacht hat’s immerhin tüchtig geweht.“

„Seit wann“, fragte sie verärgert, „schleicht der Wind im Garten rum und gräbt mit einem Spaten?“

„Schon gut, Auguste! Erkannt hast du ihn ja sicher auch diesmal nicht; ich meine: gesehen, wer’s war?“

„Gott behüte!“ Sie bekreuzigte sich wieder. „Ich werd’ doch nicht dem Leibhaftigen zu nah kommen!“

„Nein, Guste, natürlich nicht.“ Er schaute sie an, betreten, und warf einen Blick hinüber zu Siegfried.

Der Debile stand noch immer mit offenem Mund da. Jetzt verzog sich sein flaches, teigiges Gesicht zu einer Grimasse; er lächelte, tappte, die Schultern, die plumpen Hände hängend, ein paar Schritte näher und sagte lallend: „Nein, Guste, natürlich nicht.“ Es hörte sich an wie Hohn.

„Geh!“, sagte seine Großmutter sanft. „Friedel, geh an die Arbeit!“

„Arbeit“, wiederholte er vergnügt, mit maskenstarrem Lächeln. Auguste hatte wieder begonnen, das Gras zu wenden. Ohne Strauch, ihren Lohnherrn, noch zu beachten, drehte sie, den Rücken krumm, ein Stück der Bleiche nach dem anderen um; die dunklere Fläche wuchs zusehends.

Flink ist sie ja, sagte sich Strauch, während er weiterging, quer über den kurz geschorenen Rasen. Flink und fleißig. Den Garten hält sie in Ordnung, auch die Hütte, für ein paar Mark. Na, und wunderlich war sie eigentlich schon immer. Nicht ganz richtig im Kopf, aber sonst ...

Er blieb stehen und schaute hinüber zu den Büschen — Ahorn und Schneeball und Haselgesträuch längs der Mauer in lockerer, fast hundert Meter langer Hecke.

Die Maschinengewehre? überlegte Strauch, verwundert, weil ihm zuerst das Fernerliegende eingefallen war: jene acht SMG 08—15, die er vor beinah dreißig Jahren, im November neunzehnhundertachtzehn, vergraben hatte, irgendwo dort an der Mauer; genau wusste er die Stelle selbst nicht mehr.

Wahrscheinlich sind sie längst verrottet, sagte er sich. Außerdem schert sich niemand darum, keiner, seit Herzog — nicht mehr ist.

Er schob die Erinnerung an den Pfarrer beiseite, doch da fielen ihm Händl II und Greiner ein, die Männer, die auf ihn warteten. Er warf einen Blick durch die Bäume zur Laube, dachte an die Amphora, schaute erneut hinüber zu den Büschen, unschlüssig, ob er weitergehen oder erst nachsehen sollte.

Vielleicht hat doch jemand gegraben, letzte Nacht. Aber wer? Und vor allem: weshalb? — Von den Maschinengewehren weiß nur noch Händl, seit Herzog tot ist. Natürlich nichts Genaues, und auch das schon seit zweiunddreißig. Weshalb da auf einmal den alten Kram wieder aufwärmen? — Oder er sucht die Dokumente, mein Material, er oder Roller oder ...

Strauch stockte. Atemzuglang empfand er Angst, Angst, die ihm die Brust zusammenpresste, und dachte: Warum nur das alles? Wenn’s nach mir ginge, wären wir längst abgehauen; irgendein Auskommen hätte sich schon gefunden, drüben, wo kein Roller was zu sagen hat und kein Schneider einen kennt. Aber Malwine ... Wenn sie jetzt wenigstens hier wär! Fordern — das kann sie, einem zureden und zusetzen ...

Er schaute zurück zum Haus, zornig und sehnsüchtig zugleich, und da fiel sein Blick wieder auf Auguste und Siegfried. Die beiden hatten erneut ihre Arbeit unterbrochen und sahen nun her, die Alte, wie es Strauch schien, gespannt, ihr Enkel unverändert stupide.

Die belauern mich ja! Belauern mich! Das ist überhaupt die Erklärung: Die Alte hat mich vorgestern beobachtet, mich und nicht irgendwen, aber erkannt hat sie mich nicht. Sie muss eine Vermutung haben ... Klar! Und nun klopft sie auf den Busch und behauptet, auch letzte Nacht habe einer gegraben. Der Leibhaftige ... Dieses Luder!

Er drohte ihr mit der Faust, und unverzüglich begann sie, wieder den Rechen zu schwenken.

Erst jetzt hatte Strauch einen Blick für den Sonnenschein zwischen den Bäumen, für den blassblauen Himmel ...

Ein herrlicher Tag! dachte er, während er auf die Laube zuschritt.

5

Die Laube lag in einer Ecke des Gartens, beschirmt von der Krone einer gewaltigen Kastanie. Links daneben befand sich in der Mauer eine Pforte, die wie meist verriegelt war, und dahinter begann die Flur — kahle Felder an einem sanft ansteigenden Hügel, von dem das Krächzen einer Krähe herüberdrang. Sonst war es still - die gähnende Stille eines Tages im Frühherbst.

Ob sie wieder gegangen sind? überlegte Strauch. Er war stehengeblieben und setzte nun die Schritte hastiger auf den fußbreiten, überwachsenen Pfad.

Da erblickte er Josef Greiner, den Gärtner, und wusste, dass auch Händl II gewartet hatte. Wahrscheinlich hockt er auf der Bank und brütet, sagte er sich. Nein, die würden es nicht wagen, ohne meine Erlaubnis zu verschwinden, beide nicht, wie wütend sie auch sind.

Greiner, der Gärtner, wirkte sichtlich nervös. Er stand auf der Schwelle, geduckt, wie auf dem Sprung, und als er Strauch erblickte, streckte er sich, als nehme er Haltung an oder als raffe er allen Mut zusammen.

„Kehrt marsch!“, rief Strauch. „Aber, wenn’s geht, ohne Tritt!“, fügte er lachend hinzu.

Der Gärtner verzog das schmächtige, verwitterte Gesicht zu einem Lächeln, doch die Lider seiner kurzsichtigen Augen flatterten verräterisch.

„Du lässt uns heute ja recht lange warten“, sagte er mit einer Stimme, die selbst bei diesem Protest wehleidig und salbungsvoll klang.

„Seine Schuld!“, versetzte Strauch, indem er über die Schulter wies, mit solcher Schärfe, dass Greiner zusammenzuckte.

Strauch registrierte es als ersten Erfolg, und er nahm sich vor, jedes weitere Aufmucken im Keim zu ersticken. Betont entschlossen überschritt er die Schwelle.

Die Amphora, sah er, stand an ihrem Platz in der Ecke, und Max Händl II, der Gemeindediener, hockte tatsächlich auf der Bank, die sich an der Rückseite der Laube entlangzog. Jetzt schaute er auf, offenbar aus düsterem, ergebnislosem Brüten, und blickte zu Strauch - ein stumpfer und dennoch lauernder Blick.

„Tag, Max!“, sagte Strauch, und er hielt Händl II sogar die Hand hin - eine Aufforderung, die der Untersetzte, Vierschrötige nur langsam begriff und nur zögernd befolgte.

Den Gärtner begrüßte Strauch erst später und lediglich durch ein Kopfnicken. Da hatte er sich neben Händl niedergelassen, hatte geschwiegen und eine genau berechnete Weile auf die staubigen, rissigen Dielenbretter gestarrt.

„Komm, Josef, setz dich! Wir müssen überlegen.“

Befriedigt gewahrte Strauch, wie die Augen sich weiteten und die Lider wieder zu flattern begannen, wie der Gärtner Platz nahm, folgsam und offenbar auf das Schlimmste gefasst. Auch Händl II hatte den Kopf gehoben, lauernd.

„Er verlangt jetzt Geld“, eröffnete Strauch, indem er aufsprang. Den Türpfosten im Rücken, das eigene Gesicht im Schatten und die Mienen der beiden anderen vor sich, fügte er hinzu, jede Silbe betonend: „Dreißigtausend!“

„Drei ...!“, entfuhr es Greiner. Er hielt die Luft an.

Händl II schien noch gar nicht begriffen zu haben, worum es ging.

„Dreißigtausend Mark!“, erklärte Strauch. „Von jedem von uns — volle zehntausend!“

Er ließ die Worte wirken wie Saat, die aufgehen soll. Besaß er selbst schon nicht so viel Geld, zumindest nicht bar zur sofortigen Verfügung, war ein solcher Betrag für die beiden anderen erst recht eine Unsumme. Strauch wusste das, und darauf gründete sich der Plan, der ihn seit Monaten beschäftigte.

„Zehntausend Mark?“, fragte Greiner, als habe er sich verhört, als wolle er das Unglaubliche berichtigen lassen.

Auch Händl II schaute her, belustigt und ungläubig in einem.

„Zehntausend - von jedem!“, bestätigte Strauch mit Nachdruck.

Da sprang Greiner auf. „Das ist ... Das ist ja ...“

„Setz dich!“, herrschte Strauch ihn an.

„Erpressung ist das, glatter — Mord!“

„Schrei nicht so rum, verdammt noch mal! Und setz dich endlich wieder hin!“ Strauch hatte die Stimme gedämpft, doch auch sein Blick wirkte gebieterisch, drohend.

Greiner gehorchte zögernd, mit sichtlichem Widerstreben. Nicht nur die Lider, selbst sein Kinn schien zu flattern, und am Hals bildeten sich hektische Flecken.

Händl II lauerte reglos, den flachen Schädel mit dem wuchtigen Nacken geduckt.

Der Gorilla und der Schimpanse, ging es Strauch durch den Kopf. Affen sind beide, Affen, die ich dressiert habe, sechzehn Jahre und länger. Wird diesmal die - Vorführung klappen?

Greiner, sah Strauch, hielt sich nur mühsam zurück, ließ sich nur unter Anstrengung auf die Bank bannen. Etwas in ihm schien am Überkochen zu sein, kurz vor der Explosion - etwas, das sich nicht lenken ließ gegen Schneider, etwas Unberechenbares, das Strauch beunruhigte.

Macht nichts, sagte er sich. Mit seinen Nerven und seiner Frömmelei eignet er sich wahrscheinlich sowieso kaum — dafür. Es genügt ja auch für alle Fälle, wenn Händl losgeht wie ein Gorilla und Greiner, der Schimpanse, sich verdächtig macht mit dem Gezappel und allem, wozu ihn die Panik treibt. Also: weiter anheizen, aber vorsichtig!

„Natürlich“, sagte Strauch bedächtig, „ist es Erpressung. Glatter Mord – natürlich …“

Er hatte eigentlich nur die Worte von Greiner wiederholt und doch ihnen anderen Sinn gegeben, andere Richtung. Gespannt verfolgte er, wie der Pfeil sein Ziel erreichte: Greiner biss die Zähne zusammen, und Händl ballte die Fäuste.

Jetzt, dachte Strauch, jetzt geht ihnen ein Licht auf. Endlich ahnen sie, dass man was tun muss. Schluckt nur, schluckt! Je länger ihr dran rumkaut, desto vertrauter wird euch der Geschmack, der Gedanke.

„Ja aber“, begann Greiner, und er schüttelte den Kopf.

„Was — aber?“, fragte Strauch.

„Du sagst das so ... Man kann doch nicht einfach ...“ Er sah sich Hilfe suchend um.

Händl bewegte den Kopf, als brüte er weiter vor sich hin, doch unter den buschigen Brauen glomm bereits ein Funke.

„Nein“, sagte Strauch, „natürlich kann man nicht einfach zusehen und — zahlen. Wir haben schon viel zu viel gegeben, schon viel zu lange gewartet. Wir müssen endlich was tun!“

Jetzt flammte der Funke bei Händl auf, und auch Greiner nickte, nickte und fragte: „Aber was?“

Es klang wie ein Schrei, und Händl fuhr — eine Antwort — mit der geballten Faust durch die Luft.

„Du meinst ...?“ Greiner schaute ihn entgeistert an und blickte dann ratlos zu Strauch.

Da nickte auch der und sagte gebieterisch: „Es bleibt keine andere Wahl, wir müssen!“

Greiner zuckte zusammen und schüttelte langsam den Kopf. Wag’s nicht! dachte Strauch. Wehe, du brichst aus und widersprichst! Er versuchte, Greiner mit dem Blick zu bannen, sich im Voraus mit Hohn und Drohungen zu wappnen; alles in ihm spannte sich bis zum Zerreißen.

Und da, in der knisternden Stille, wurde plötzlich das Knacken eines Astes vernehmbar und gleich darauf ein tappender Schritt. Strauch fuhr herum und starrte in ein teigiges Gesicht, das sich zu einem Lächeln, zu einer maskenstarren Grimasse verzog.

„Wir müssen!“, sagte Siegfried vergnügt. Es klang wie ein groteskes Echo.

Im nächsten Moment hatte sich Strauch auf ihn gestürzt. Wie ein Besessener schlug er ein auf den Schwachsinnigen, der, sich duckend, die Hände über den Kopf hielt und zu schreien begann, quiekend, schrill.

„Strauch, bist du verrückt?“

„Mensch, Hugo, hör auf! Der schreit ja wie am Spieß!“

„So ein Idiot, so ein gottverdammter Kretin!“

„Strauch, versündige dich nicht!“

„Schluss, Hugo, Schluss!“

Greiner wie Händl II sind Strauch in den Arm gefallen, haben ihn zurückgerissen, weg von Siegfried, der noch immer die Hände über den Kopf hält, wimmernd.

„Ein armes, schwachsinniges Geschöpf — so zu schlagen!“, stößt Greiner keuchend hervor.

„Wie wenn man eine Sau absticht“, sagt Händl. „Wenn das bloß nicht der Roller gehört hat!“

„Mir doch egal!“, erwidert Strauch, und mit erhobenen Fäusten fährt er - ein letztes Aufflackern - Siegfried erneut an: „Hau ab! Verschwind hier!“

„Nun langt’s aber!“ Auch Greiner hat die Fäuste geballt. „Als ob der arme Kerl was ausposaunen könnte! Der begreift doch überhaupt nicht, worum es geht.“

Strauch winkt ab und schlurft zurück in die Laube. Dass Siegfried kaum gefährlich werden kann, weiß er selbst; sein Ärger hat einen anderen Grund. Alles kaputt, denkt er. Da hatte ich sie nun an der Kandare, da platzt dieser Idiot dazwischen und macht sie scheu, bringt sie auf gegen mich! - Der verdammte Jähzorn ... Aber auch so war die Wirkung im Eimer.

Er hat sich wieder an den Türpfosten gelehnt und bemüht sich nun, gleichmütig zu erscheinen.

„Setzt euch!“

Händl II nimmt Platz wie zuvor, ächzend, schwerfällig. Greiner hingegen bleibt stehen — mehr noch: Er tritt an Strauch heran, geht über zum Angriff.

„Entschuldige, Hugo“, beginnt er in der ihm eigenen weinerlichen Art, „mir gefällt das nicht.“

Sofort ist Strauch hellwach. „Glaubst du, mir gefällt’s?“, versetzt er höhnisch, und er versucht, den anklagenden Blick des Gärtners niederzuringen.

Greiner hält stand. „Ich meine“, sagt er schluckend, „nicht nur den Ausfall eben. Das waren die Nerven; das kann ich verstehn, und Verstehn heißt Verzeihen.“

Heuchler! denkt Strauch. Beunruhigt vom Tonfall des Gärtners, von der Festigkeit, fragt er barsch: „Was also willst du? Red nicht drum herum!“

„Was ich aber nicht verstehe“, fährt Greiner unbeirrbar fort, „das ist das Verhalten von diesem Schneider. Wie er uns erpressen will, so maßlos und so dumm ...“ Er bricht ab, schüttelt den Kopf.

Eine Weile, die ihm verräterisch lang erscheint, ist Strauch unfähig, etwas zu erwidern, ja sich zu regen. Dann endlich gelingt es ihm, sich loszureißen von diesem Blick, sich abzuwenden.